Читать книгу (fe:liks) oder Die Stunde des Therapeuten - Ulrich Kunath - Страница 3

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 Der 7. Mai

Der Fluss der Worte gerinnt zu Zeichen auf dem Papier. Ich muss es loswerden. Ich befreie mich. Ich schreibe es auf: Ich habe versagt.

Bis zu jenem Tag, der mir unauslöschlich gegenwärtig ist, verlief mein Leben in wohl geordneten Bahnen, unangefochten und bis zu einem gewissen Grad berechenbar. Von folgenschweren Ereignissen, die im Leben eines Menschen eine Wende einleiteten, hatte ich oftmals gehört, war von ihnen selbst jedoch nie betroffen gewesen. Ich vertraute auf den unbehelligten Fortgang all dessen, was mich umgab. Dass dieses Vertrauen erschüttert werden könnte, befand sich außerhalb meiner Vorstellungskraft. Ich ruhte in mir und fühlte mich dadurch abgeschirmt von Missgeschicken jeder Art, war sogar überzeugt, mit eingeübter Gelassenheit mich vor Fährnissen bewahren zu können.

Noch tags zuvor, einem Mittwoch, an dem ich regelmäßig etwas früher Schluss mache, hatte ich meinen dreiundfünfzigsten Geburtstag gefeiert. Anstatt den Abend bei Tagesschau, Lottozahlen, Wetterbericht und irgendeinem Krimi zu verbringen, gingen Stefanie und ich essen, ins Canard, dem einzigen Restaurant der Stadt, dem der Guide Michelin vier Bestecke verliehen hat. Ich ließ ein Taxi kommen, um beim Menu nicht auf Wein verzichten zu müssen. Vanessa und Mirko, unsere Kinder, wollten uns nicht begleiten. In ihrem Alter finden sie in der Pizzeria die Gaumenfreuden, und ich neige nicht dazu, sie zu etwas zu zwingen. Zur foie gras ließen wir einen Tegrino Vin Santo, einen süßen Toskaner, servieren, zum überbackenen Seeteufel einen Chablis Premier Cru.

Ein entspannter Abend, an dem ich mich erneut in meine Frau hätte verlieben können. Bemerkenswert geistreich erzählte sie von ihrer Tätigkeit in der Gemäldegalerie, von ihren Kollegen, von der bevorstehenden Ausstellung, die sie mit zu organisieren hatte und ihren Kursen für die bildungshungrigen Laien. Mit Hingabe hörte ich ihr zu, was sie sichtlich beschwingter und lebhafter werden ließ. Beflügelt von Gefühlen, wie sie Verliebten eigen sind, dachte ich. Und dabei entzog sich ihre Oberlippe wieder einmal ihrer Kontrolle und sprang ungehemmt nach vorn und oben wie der Rocksaum einer Tänzerin in der Pirouette. Stefanie weiß um diese ungezügelte Lippe und zwingt sie absichtlich ein wenig nach unten, was ihrem Gesicht oft einen unglaubwürdigen Ausdruck von Verschämtheit und Bescheidenheit verleiht. Die ungezähmte Lippe ihres Mundes mag ich. Sie fesselt immer wieder aufs Neue meinen Blick, bis mich Stefanies Ist-Was? davon losreißt. Dieses körperliche Merkmal halte ich für ein Symbol ihres Wesens: Verhaltener Übermut, gespielte Scheu, nicht geäußertes Wissen, aber blitzschnell und treffsicher geurteilt im unvermuteten Moment. Das liebe ich an ihr. Und oft überrascht sie mich, weil sie ahnt oder zu wissen glaubt, was mich beschäftigt, noch bevor ich mich ihr mitgeteilt habe. Darin sehe ich einen Beweis für unsere Zusammengehörigkeit, das feine Aufeinander- Abgestimmtsein. Ich dagegen hinke in unserer Beziehung meist etwas hinterher und erfasse nicht sofort, was in ihr vorgeht. Ich erkenne, wenn ich gewollt beobachte, gezielt erforsche, während sie gleichsam intuitiv die Umstände in sich aufnimmt.

Attraktiv sah sie in ihrem schlichten schwarzen Kleid aus, das ihre Figur, aber auch ihre langen blonden Locken betont. Spät erst kamen wir nach Hause, in dem vom Wein erzeugten herrlichen leichten Schweben und der abermals bestätigten Gewissheit, dass das Schicksal es mit uns besonders gut meinte, als es uns zusammenbrachte.

Und nicht nur unsere harmonische Ehe ließ mich bis zu diesem Zeitpunkt mit meinem Geschick zufrieden sein. Beruflich bin ich erfolgreich, möchte sagen: Ich genieße Anerkennung, ja, über die Grenzen dieser Stadt hinaus ein Renommée, und erfreue mich eines Bekanntenkreises, der unsere familiäre Geborgenheit erweitert und bereichert. Manch einer mag darüber lächeln, wenn ich dies behaupte. Doch es war tatsächlich so: Wir sind im Du verbunden, wir treffen uns regelmäßig, feiern gemeinsam Feste, machen Exkursionen, auf denen wir uns weiterbilden, und reisen. Wir sind alle Mitglieder im hiesigen Golf-Club. Wir haben uns zum Ziel gesetzt, auf allen bedeutenden Golfplätzen der Welt einmal gespielt zu haben. Das ist nicht so einfach, denn man muss sich Monate im Voraus dort anmelden, und nicht jeder wird zugelassen. Mein Handicap jedenfalls auf mittelschwerem Platz liegt bei -16.

Doch ich wollte von dem Tag nach meinem Geburtstag berichten, dem 7. Mai, einem Donnerstag, der den Auftakt bildete, während die folgenden verstärkend wirkten wie bei einer Katalyse. Am Morgen noch hätte ich nicht vermutet, dass es jemals etwas geben würde, was mich, einen Psychotherapeuten, aus der Bahn werfen könnte.

Die Sonne schien auf unseren Frühstückstisch. Bereits zu dieser Stunde kündigte sich ein sehr warmer Tag an. Stefanie hatte wie immer zuvor unsere Kinder versorgt. die noch ins Gymnasium gehen. Wir selbst fangen erst gegen halb zehn mit unserer Arbeit an, wobei Stefanie sich ihre Zeit noch großzügiger einteilen kann als ich. Den SL stellte ich in der Tiefgarage ab und fuhr mit dem Lift in die 23. Etage. Hier befindet sich meine Praxis. Auf dem Schild steht Internist und Psychotherapeut. Aber ich bin nicht mehr internistisch tätig. Kaum hatte ich das Zeugnis Facharzt für Innere Medizin in der Hand, stürzte ich mich auf die Psychotherapie und betreibe sie seit nunmehr achtzehn Jahren. Die Menschen leiden heutzutage zunehmend mehr seelisch als organisch, eine Beobachtung, die ich bereits in der Klinik und während Praxisvertretungen machen konnte. Zudem fiel mir recht bald auf, wie leicht Patienten zu mir Vertrauen fassten und sich ihr Herz bei mir erleichterten. Ich spürte ihre inneren Konflikte und wie allein mein Zuhören sie wieder aufrichtete. Da wurde mir bewusst, dass ich keine Apparate brauchte, um Leidenden zu helfen. Ich strahlte Ruhe aus, versicherten sie mir. Und tatsächlich konnte mich nichts so leicht aus der Fassung bringen. Selbst die Lehranalysen, denen ich mich selbst unterziehen musste, deckten bei mir keine auffälligen psychischen Störungen oder Konflikte auf. Ich bin also aus der Inneren Medizin und nicht aus der Psychiatrie zur Psychotherapie gekommen und erblicke darin einen Vorteil: Meine Patienten sehen in mir den Arzt, der unter Umständen auch erkennen würde, wenn ein anderes als das seelische Leiden ihre Symptome verursachte. Dadurch fühlen sie sich bei mir gut aufgehoben.

Eine Bestätigung für meine fachliche Kompetenz sah ich in der rasch wachsenden Zahl meiner Patienten, die ich in meiner Psychotherapie-Praxis bald nicht mehr bewältigen konnte. Der zeitliche Aufwand für den einzelnen Patienten, die Sitzungen und die mehrmaligen schriftlichen Rechtfertigungen gegenüber den Krankenkassen, stand in keinem akzeptablen Verhältnis zur Vergütung. Ich gebe auch zu, dass ein Vergleich mit den Einkünften der Kollegen anderer Fachgebiete zu meinem Nachteil geriet. Die Ansprüche, die ich an meine Lebensführung hatte, lagen auf einem Niveau, das ich mit dem Entgelt für Kassenpatienten nie erreicht hätte: Die Mitgliedschaft im Golf-Club, unsere Reisen, Stefanies Flüge zu den internationalen Museen und Ausstellungen, das Pferd für die Tochter, Mirkos Cricket-Verein, hin und wieder der Besuch eines Feinschmeckerlokals und vieles mehr das alles kostet. Folglich beschloss ich, nur noch privat tätig zu sein.

Seit etwa acht Jahren behandele ich ausschließlich Privatpatienten, und aus dieser Klientel nur die Prominenz, und nicht nur aus dieser Stadt, aus dem ganzen Land: Manager der Industrie und des Bankwesens und Leute aus dem Show-Business. Es hat sich so ergeben, einer zieht den anderen nach. Meist helfe ich, Krisen zu bewältigen, Schaffenskrisen, das Burnout- Syndrom. Menschen, die ihre Begeisterung, ihr Engagement zu verlieren drohen. Neurotische und vor allem psychotische Patienten überweise ich an andere Kollegen. Zu schwierige Fälle sind das, meine ich, und die Heilungsrate ist gering. Die Honorare, die ich verlange, will ich hier nicht nennen. Ich treffe Vereinbarungen mit meinen Patienten und so viel darf ich sagen schätze deren Einkommen und orientiere mich daran. Von ihrer Leistungsfähigkeit hängen ihr Erfolg, ihr Verdienst, die Bonuszahlungen, die Dauer eines Vertrages ab und vielleicht noch mehr. Das weiß jeder Manager, und daher ist ihnen meine Behandlung auch etwas wert.

Meiner elitären Klientel mute ich keine Wartezeit zu. Es gibt Termine, die ich peinlich genau einhalte. Es reicht auch nicht ein Patient dem anderen die Klinke in die Hand. Ich selbst gönne mir zwischen den Sitzungen eine entspannende Ruhepause, fasse das soeben Gehörte unter Nutzung meiner Aufzeichnungen in einem Diktat für meine Sekretärin zusammen und bereite mich dann auf den nächsten Patienten vor. Frau Seidel sitzt im Vorzimmer und beherrscht perfekt die Terminplanung. Ich weiß, ihre Arbeit füllt sie nicht aus und übersehe daher das Buch, das sie unter dem Tisch verschwinden lässt, wenn ich in ihr Zimmer komme. Das macht nichts. Ich kann sie mir leisten.

Auf ein Wartezimmer kann ich verzichten. Der Patient kommt zu mir wie ein Gast. Er soll sich im Ambiente meiner Praxis wohlfühlen, vielleicht sogar etwas von seinem eigenen Lebensstil wiederfinden. Hochfloriger dunkelbrauner Teppichboden dämpft jeden Schritt. Gemälde moderner Künstler hängen an den Wänden, die in einem gedeckten Weiß gehalten sind. Frau Seidel sorgt dafür, dass in einer Vase von originellem Design stets ein frischer Blumenstrauß steckt. Auf dem antiken Sideboard platziert sie ihn im goldenen Schnitt. Das Möbel aus Rosenholz, von Gustave Herter gefertigt, der eigentlich Hagenlocher hieß, habe ich ersteigert. Es stammt aus dem 19. Jahrhundert und bildet einen Kontrast zu den Beistelltischen von Eileen Gray und den bequemen Ledersesseln von Charles Eames, auf denen meine Patienten Platz nehmen. Sie müssen nicht auf einer Couch liegen. Halb sitzend, halb liegend können sie sich völlig entspannt mir öffnen. Sie haben den Blick durch ein Panoramafenster, sehen ausschließlich den Himmel, nichts, was sie ablenken könnte von ihrer Konzentration auf ihr Inneres. Ja, im 23. Stockwerk sind Sie nahe den himmlischen Gefilden, sage ich manchmal scherzhaft, wenn jemand ans Fenster tritt und die Aussicht bewundert.

Selbst sitze ich seitlich von meinem Patienten. Er kann, wenn er will, sich zu mir drehen und mich anschauen oder seine Augen ziellos in das Blau oder Grau hinter den Scheiben schweifen lassen. Während er spricht, mache ich mir Notizen.

Nachdem sie sich gesetzt haben, sollen meine Patienten erst einmal fünf Minuten zur Ruhe kommen. Dann stelle ich ein oder zwei Fragen, lasse sie reden, was ihnen in den Sinn kommt und frage erst wieder nach, wenn längere Pausen eintreten. Liegt das Problem klar auf der Hand, bespreche ich es mit ihnen. Ich lenke sie jedoch darauf hin, dass sie lernen, auf ihre innere Stimme zu hören und im Einklang mit ihrem Wesen zu handeln. Und in der Tat, oft finden die Patienten die Lösung von allein, was am ehesten ein nachhaltiges Ergebnis verspricht. Am Ende fordere ich sie auf, noch fünf Minuten still sitzen zu bleiben, damit aufgewühlte Gefühle sich legen können. In der Zwischenzeit halte ich mich draußen bei meiner Sekretärin auf.

In der Regel sind die Krisen meiner Klientel nach sechs bis acht Sitzungen überwunden, was nicht heißt, dass sie auf Dauer stabilisiert sind. Manche kommen wieder nach Monaten oder nach ein, zwei Jahren, oft dann schon prophylaktisch, weil sie spüren, dass sie an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit geraten. Mir ist das recht, hält sich doch damit mein Einkommen konstant. Die chronischen Fälle mag ich nicht. Da komme ich mir oft vor, in einer Sackgasse zu stecken, nichts geht voran, kein Durchbruch. Aber sie sind eine verlässliche Einnahmequelle, und so ertrage ich sie, solange es nicht mehr als drei oder vier sind.

Ich komme zurück auf den 7. Mai, den warmen Frühlingstag, an dem eine Zäsur meinen gewohnten Praxisalltag zerbrach. Wenige Minuten zuvor war ein junger Mann, Ende Dreißig, gegangen. Seine erste Sitzung, in der ich als vertrauensbildenden Akt allgemeine Auskünfte über ihn erfragte: die Anamnese, seine privaten und familiären Verhältnisse, seinen Werdegang und das anstehende Problem. Er hatte dargelegt, dass er alleinstehend, leitender Angestellter einer Investmentbank sei und den Stress nicht mehr aushalte. Nach der einstündigen Exploration hatte ich ihm einen neuen Termin geben lassen und ihn verabschiedet.

Es war Mittagszeit. Eine Pause von gut zwei Stunden lag vor mir, und ich war mir noch nicht darüber klar geworden, ob ich unten in der Geschäftspassage einen Imbiss einnehmen oder einen Spaziergang am Flussufer machen sollte. Plötzlich öffnete sich die Tür und ein

Mann trat herein. Offenbar hatte Frau Seidel ihren Platz bereits verlassen und machte irgendwelche Besorgungen, denn gegen derartige Überfälle war ich durch sie geschützt.

Ich erschrak nicht, war eher überrascht oder vielmehr erstaunt, dass es jemand geschafft hatte, unangemeldet in mein Sprechzimmer vorzudringen. Der Mann passte so ganz und gar nicht zu meiner Klientel. Vielleicht war er über seine Unverfrorenheit selbst verwundert. Jedenfalls blieb er, nachdem er die Tür rasch hinter sich geschlossen hatte, dort stehen. Mir sprang ins Auge, dass er trotz der Wärme, die draußen herrschte, einen dicken grauschwarzen Wollmantel mit Fischgrätmuster trug, offen, so dass ich sein braunes Hemd und die zu kurze braune Hose sehen konnte. Was mich jedoch befremdete, ja abstieß, war seine abgetragene, verschlissene Kleidung, hier und da fleckig, staubig, zerknittert und an den Kanten durchgescheuert. Die nackten Füße steckten in Schuhen, die deutliche Zeichen des Verschleißes zeigten, an den Fersen ausgetreten und an einem klaffte seitlich die Naht. Erst auf den zweiten Blick schaute ich ihm ins Gesicht, das ein zerrupfter Bart rahmte, der ansatzlos in struppiges dunkelblondes Kopfhaar überging. Seine Gesichtshaut schien ungewaschen und machte ihn alt. Die schlanke Nase und sein verständiger, freundlicher Blick stachen dagegen ab. Ich schätzte ihn auf Ende Fünfzig.

„Sie sind nicht angemeldet! Wie kommen Sie hier herein?“ Eine Entrüstung wollte mir nicht gelingen, vielleicht weil mein Verhalten berufsbedingt auf Deeskalation angelegt ist. Er musste sogleich bemerkt haben, dass ich nicht daran dachte, die Polizei zu alarmieren, sondern unschlüssig war, wie ich mit diesem unerwarteten Zusammentreffen umgehen sollte.

„Sie müssen mir helfen. Ich weiß, dass ich hier hereinplatze. Aber im Augenblick haben Sie Zeit, mich anzuhören“, sagte er mit einer suggestiven Kraft, die Widerspruch nicht zu kennen schien.

Innerlich sträubte ich mich dagegen und versuchte, diesen unerbetenen, fraglichen Patienten abzuwimmeln, indem ich ganz entschieden sagte: „Ich mache jetzt Mittagspause. Das sollten Sie respektieren. Termine vergibt meine Sekretärin, falls überhaupt noch welche in absehbarer Zeit frei sein sollten. Aber “, fügte ich absichtlich arrogant hinzu, „ich glaube nicht, dass Sie sich mich leisten können.“

„Machen Sie sich um Ihr Honorar keine Sorgen! Ich werde am Ende begleichen, was Sie verlangen.“ Das nun wiederum konnte ich mir absolut nicht vorstellen und überlegte hastig, mit welchem Einwand ich ihm meine ärztliche Hilfe noch versagen könnte. Er schaute sich um.

„Könnte es aber auch sein, dass Sie einmal helfen, ohne dafür bezahlt zu werden?“ Er trat ans Fenster. „Sie haben den Überblick über das menschliche Leben, und nicht nur über die Stadt.“ Er wandte sich wieder mir zu und zeigte auf den geräumigen Sessel. „Darf ich Platz nehmen?“ Ohne meine Antwort abzuwarten, ließ er sich nieder und streckte die Beine gespreizt von sich.

Mir fiel keine schlagkräftige, den Überfall abwehrende Begründung ein. Nie hatte ich es in meinem Berufsleben mit aufdringlichen, ungepflegten Leuten zu tun. Und nie war mir auf solch rigorose Weise gezeigt worden, wie wenig Durchsetzungskraft ich besitze. So setzte ich mich denn mit einem Seufzer, den er hören sollte, und nahm mir vor, Frau Seidel anzuweisen, alles zu tun, dass mich dieser Mann nicht noch einmal belästige. Meinen Sessel rückte ich ein wenig nach hinten, um mich von seiner muffigen Ausdünstung, einer urinösen und säuerlichen Geruchsmischung, fernzuhalten.

Den Kopf ans Polster gelehnt, blickte er in den blauen Himmel, an dem Schönwetterwolken wie Wattebäuschchen hingen, sich auflösten und neu bildeten.

Als erfahrener Arzt durchschaute ich leicht, dass er meinte, eine innere Festigkeit zeigen zu müssen, die er im Grunde nicht besaß. Vor allem seine Hände verrieten mir dies. Andauernd versuchte er, während er sprach, sie zu bändigen: Mal faltete er sie im Schoß, mal strichen sie wie polierend über die Sessellehnen, mal verschränkte er sie unter den Achseln, dann rieb er sie aneinander oder über die Oberschenkel, und dieser Zyklus wiederholte sich während dieser Stunde. Ich setzte an, meine Routinefragen zu stellen, da kam er mir zuvor.

„Ich habe von Ihnen gehört, schon vor ein paar Jahren. Sie helfen, Konflikte zu lösen. Das brauche ich jetzt. Ich bin nicht verrückt, was Sie womöglich im ersten Moment gedacht haben. Auch nicht neurotisch. Nein. Sinnkrise könnte man es eher nennen. Und dafür sind Sie doch der richtige Mann, nicht wahr?“

„Ja, das ist mein Spezialgebiet. Aber wollen Sie nicht “ Er unterbrach mich. Anstatt sich mir vorzustellen und seinen Namen zu nennen, sagte er: „Auch ich übte einmal meinen Job in höherer Etage aus. 23. Stockwerk ist das hier ich saß, wenn ich nicht unterwegs war, im 29., über mir nur noch eine Etage. 23, 29 beides Primzahlen und die Quersummen ebenfalls.“ Er stieß einen heiseren Lacher aus. Wenn er einmal eine Spitzenstellung innehatte, dachte ich, dann ist er ziemlich tief gefallen. Und sogleich durchfuhr mich der Gedanke: Womöglich ist er schizophren: Eine Krankheit, die in Schüben verläuft, und jeder neue Schub ließ ihn sozial absteigen, seine Persönlichkeit verfallen. Und diese Gedankenflucht zu den Primzahlen ein Fall für die Psychiatrie. Behutsam würde ich ihn loswerden, nahm ich mir vor. Manchmal sind solche Leute unberechenbar.

„Ich errate Ihre Gedanken“, ergriff er wieder das Wort.

„Ich bin wirklich nicht verrückt. Ich bin abgestürzt, unverschuldet. Ich werde es Ihnen erzählen. Das brauchen Sie doch, die Anamnese, wie das heißt, um zur Diagnose und schließlich zur adäquaten Therapie zu gelangen.“ Ich nickte stumm, schaute verstohlen auf die Uhr. Na gut, eine Stunde gebe ich ihm. Soll er nur rasch zur Sache kommen! Seine sonderbare Erscheinung grenzte ans Widerliche, stand jedoch in augenfälligem Gegensatz zu seiner klaren, deutlichen Sprache, seinen rastlosen Händen, die mit schwerer Arbeit offenbar noch nie in Berührung gekommen waren, und einem Gesicht, das so gar nicht zur chronischen Trunksucht eines Clochards passte. Dies erregte meine Neugier.

„Es ging mir einmal so gut wie Ihnen“, fuhr er fort, „in finanzieller Hinsicht, meine ich. Oder täusche ich mich? Zumindest werden Sie auf nichts verzichten müssen, nicht wahr?“

Wenn er damit eine Frage an mich gerichtet hatte, so musste ich ihn jetzt enttäuschen, denn ich antwortete nicht darauf. Was hatten meine Patienten meine finanziellen Verhältnisse zu interessieren? Gab er vor, eine Krise bewältigen zu wollen, und spionierte er mich in Wirklichkeit aus? Ja, ich besitze ein großes Haus auf großem Grund mit reichlich Abstand zu den Nachbarn in ruhiger, bester Lage, ausgestattet mit Schwimmbad, Sauna und Fitnessraum, wovon ich fast täglich Gebrauch mache. Der Sorgenfreiheit im Alter dient ein breit gefächertes Portfolio. Aber all das ging ihn nichts an, und daher vermied ich zu antworten oder gar zu nicken. Er wartete auch nicht ab, hielt es wohl selbst für eine rhetorische Frage und sagte: „Ich habe Internationale Volkswirtschaftslehre studiert, Schwerpunkt Finanzwirtschaft, für Banken gearbeitet als Broker, mich früh als Trader selbständig gemacht. Mein Selbstbewusstsein war unverwüstlich. In den oberen Etagen der Großunternehmer bewegte ich mich trittsicher. Aus einem nicht unbeträchtlichen Erbe machte ich ein paar Millionen. Finanzjongleur werden Sie meinen und dabei nicht Unrecht haben. Handel mit Aktien, mit Puts und Calls, Arbitragehandel, auch hochriskante Short Straddles, na ja, die ganze Optionsstrategie rauf und runter, und logisch mit Immobilien und dabei auf Schnäppchen geachtet, aber nie überzogen, keine krummen Sachen wie ein Nick Leeson. Sie haben sicher von diesem irrsinnigen Spekulanten gehört, der in den Neunzigern eine weltweite Devisenkrise auslöste und die Barings Bank zu Fall brachte. Oder wie ein Jérôme Kerviel, der vor nicht allzu langer Zeit der Société Générale fast 5 Milliarden Euro Verlust einfuhr. Nein, ich habe mein Vermögen im Auge behalten. Verluste wurden rasch durch Gewinne wieder ausgeglichen, so dass die Bilanz letztlich positiv war und das Kapital wuchs über längere Zeit. Ich nehme an, Ihnen geht es im Grunde nicht anders. Wir wollen alle das Beste aus unseren Einkünften machen und uns am Luxus erfreuen, nicht wahr?“

Das hätte ich ihm bestätigen können mit meinen kostbaren Anschaffungen ich dachte an meine Uhrensammlung, an die Originale an den Wänden, die antiken Möbel, Blickfang in den Räumen meines Hauses. Aber ich reagierte wieder nicht. Mein Konzept hatte er bereits durchkreuzt, mein professioneller Einstieg war mir verwehrt, die Situation wurde von ihm beherrscht. Er fuhr fort:

„Eine Villa am Hang, oberhalb des Sees, mit weitem Blick über die bewaldeten Hügel das war sozusagen der Stammsitz. Ein Chalet an der Côte d‘Azur in der Nähe von St. Maxime, teils massiv, teils mit wunderschöner Holzverkleidung. Innen rustikale und trotzdem durchaus bequeme Möbel. Wir nutzten es oft für Festlichkeiten. Freunde und Bekannte kamen gerne dorthin, mehrmals im Jahr, und ein Apartment in der Nähe des Central Parks und eine Wohnung an den Champs-Élysées. Ich flog First Class. Wenn ich geschäftlich unterwegs war und oft mehrere Wochen in New York oder Paris verbringen musste, schätzte ich es, mich in den eigenen vier Wänden aufhalten zu können. Selbstverständlich war das nicht alles voll bezahlt. Das macht man nicht. Abschreibungsobjekte, Sie verstehen? Das Geld musste arbeiten. Und einen Ferrari Scagletti gönnte ich mir, solch ein Spielzeug haben Sie doch wohl auch! Muss ja nicht Ferrari sein, Porsche Carrera, SL 500 tut‘s auch. Macht Spaß, damit zu fahren, nicht wahr?“

Wollte er mich provozieren? Mir irgendwelche Informationen entlocken? Mich ausbaldowern? Könnte es sein, dass er mit einer Gang zusammenarbeitete, die sich durch Einbruch meine Wertgegenstände verschaffen wollte? Da hätten sie geringe Chancen. Mein Haus ist mit modernster Warnanlage gesichert, mit direktem Draht zur Polizei, wie bei Banken. Das ging mir plötzlich durch den Kopf. Deshalb versagte ich mir weiterhin jegliche Andeutung von Zustimmung oder Ablehnung. Er brauchte nicht zu wissen, dass mein SL in der Tiefgarage stand, dass ich zwar nicht so viele Domizile wie er erworben hatte, aber ein Landhaus in der Toskana, wohin auch wir hin und wieder Gäste einluden. Und mehrere Millionen würde ich mit meiner Arbeit wohl kaum schaffen. Darüber zu reden, war jetzt weder der Zeitpunkt, noch er der geeignete Gesprächspartner.

„Es ist der Spaß des Spielers, und zu ihnen zählte ich mich. Glauben Sie nicht, dass ich der Spielsucht verfallen bin! Nein, ich konnte jederzeit aufhören. Eine gesunde Scheu, alles auf eine Karte zu setzen, bewahrte mich davor. Und doch reizt es mich, noch heute, mein Glück zu versuchen. Ach, es hat nichts mit Glück zu tun. Das wissen Sie. Es ist eine Wette, die man gewinnt oder verliert. Und hin und wieder bin ich darauf eingestiegen. Unter uns Jugendlichen wurde bei jeder Gelegenheit gewettet, auch gern mal ein Los gekauft. Später habe ich des Öfteren an einem Glücksspiel teilgenommen, natürlich Lotto gespielt und in den Städten, in die ich kam, die Casinos aufgesucht. Von St. Maxime aus regelmäßig einen Abstecher nach Monte Carlo gemacht. Allerdings nie gepokert. Im Grunde hatte ich es nicht nötig. Ich spielte, wenn es sich ergab. Ich bin eben nicht süchtig, vielleicht eher neugierig die Experimentierfreude eines Jungen steckt in mir. Geld erwarb ich auf andere Weise und in größerem Stil, nicht durch schier unmögliche Zufälle. An der Börse zählen Wissen und ein Gespür für Entwicklungen, Treffsicherheit in der Vorausschau und natürlich Risikobereitschaft wie im Spiel.“

Das konnte ich nachempfinden. Geht es mir doch ähnlich, dachte ich: Mich reizt das Spiel, die Wette. Allein, ein Geldstück auf der Straße zu finden, obwohl ich genug davon besitze, erzeugt in mir ein erheiterndes Gefühl, und wenn ich ein Spiel gewinne, ist es noch stärker: Die aufgebaute Spannung bricht erlösend zusammen. Ja, auch ich spiele gelegentlich, nicht wegen des Gewinns, sondern um diesen Zustand zu erleben. Mag sein, dass sich dahinter der archaische Jagdinstinkt verbirgt die Freude, einen Treffer gelandet zu haben. An Urlaubsorten suche ich gerne ein Casino auf. Und sehr oft, wenn ich unten mittags in der Einkaufspassage am Kiosk vorbeikomme, fülle ich schnell mal einen Lottoschein aus, meistens mittwochs. Gewonnen habe ich noch nie etwas. Aber das macht nichts, allein das erregende Erwartungsgefühl genieße ich und verschaffe es mir von Neuem eine Woche später . Mein Gedankenfaden riss ab. Es war merkwürdig: Eine fremde Kraft zog mich weg von der distanzierten und beobachtenden Haltung des Therapeuten und nötigte mir einen persönlichen Bezug zu dem auf, was er von sich gab. Ich nahm es nicht, wie sonst, als Bericht zur Kenntnis, sondern erblickte mich in vergleichbaren Momenten, was mich verwunderte.

„Ich glaubte an das Geld, an die Macht des Geldes. Mir war bekannt, wie der schnelle Erfolg, wie das Geld verführt, zur Droge werden kann. Und anfangs hatte ich in der Tat keinen Kopf mehr für anderes, war sogar unfähig, mich an meinen Erfolgen zu ergötzen. Verweilen, Stillstand gab es nicht. Die 70StundenWoche in Maßanzug und Krawatte, drei flache Handys in den Taschen, überall und jederzeit erreichbar und verbunden mit den großen Börsen der Welt. So gerüstet, war ich überzeugt, klaren Kopf behalten zu können und meine Leidenschaft im Griff zu haben. Es gelang mir zumeist. Einmal allerdings habe ich den Zeitpunkt verpasst, nicht im Casino, nein, an der Börse. Sie erinnern sich vielleicht: Der Neue Markt, vielversprechend, die Welt war im Börsenrausch, die Aktienkurse stiegen rasant nach oben, die Provisionen flossen. Jeder wollte mithalten. Im März 2000 dann platzte die Blase. George Soros, ein erfahrener Investmentbanker, zig Milliarden schwer, hatte es kommen sehen. Ich wollte es nicht glauben. Bisweilen verfiel ich in der Tat der Naivität und bildete mir ein, Wunsch und Erfüllung gingen Hand in Hand ein wunderabhängiger Glaube, obwohl ich es längst hätte besser wissen sollen. Von meinen Millionen hatte ich in kurzer Zeit eine Handvoll verspielt. Und das nur, weil ich zögerte und die anhaltende Baisse nicht wahrhaben wollte. Nun ja, es blieb mir noch genug. Kostolany sagte: An der Börse verdient man Schmerzensgeld. Erst kommen die Schmerzen, dann das Geld. Jedoch, ich muss zugeben: Von diesen Schmerzen habe ich mich nie so recht erholt. Das Geld, das später floss, machte den Verlust nicht wett.

Ach, was rede ich von Besitz! Der wahre Reichtum sind Menschen, die man liebt und von denen man geliebt wird. Meine Frau lernte ich noch als Student kennen. Wir passten zusammen, vom ersten Augenblick an, und heirateten früh. Der gleiche Humor, das ist wichtig und ein gemeinsames Interesse. Uns verband Kunstgeschichte. Wo wir nur konnten, erkundeten wir die Museen. Spritzig war sie und Freundschaften schließen, das war das große Talent dieser warmherzigen und ausgeglichenen Frau. Im Aussehen ähnlich wie kennen Sie Cathérine Deneuve?

Ihr sah sie zum Verwechseln ähnlich diese klare, ebenmäßige Schönheit. Sie studierte Romanistik, sprach Französisch, als wäre es ihre Muttersprache, selbstverständlich auch Italienisch und Spanisch. Englisch konnte ich besser. Häufig begleitete sie mich auf meinen Reisen, anfangs und dann wieder, als die Kinder schon allein gelassen werden konnten. Kinder haben Sie Kinder? Sie müssen nicht antworten. Meine Fragen leiten nur über zum nächsten Punkt, auf den ich zu sprechen kommen möchte. Kinder sind der Reichtum schlechthin. In ihnen leben wir weiter sie verschaffen uns einen

Hauch von Unsterblichkeit. Ist nicht irgendwo noch ein Gen von Adam und Eva in jedem von uns? Ich weiß, es klingt pathetisch. Aber was ist wunderbarer, als die eigenen Kinder heranwachsen zu sehen, wie sie anfangs der Hilfe der Eltern, dann immer weniger ihrer bedürfen, wie sie Eigenarten entwickeln, die man von sich selbst kennt, einem im Äußeren ähneln, im Gangbild, im Tonfall, und sich dann zur selbständigen Persönlichkeit entfalten. Dies zu beobachten, war mir eine Freude. Wir förderten unsere Kinder Kosten spielten keine Rolle , wir trugen alles Mögliche an sie heran, damit sie ihre Fähigkeiten erproben konnten wir waren eine glückliche Familie, so banal es klingen mag.“

Er schwieg. Er hatte mit gedämpfter Stimme und langsam, aber eindringlich gesprochen, als bemühte er sich bewusst um die passenden Worte, was seiner Sprechweise das Einschläfernde nahm. Bei einem kurzen Blick auf ihn schien mir, als presste er hinter seinem Bart die Lippen aufeinander. Seine Hände rieben mit Kraft das Leder. Mit der Unsterblichkeit mochte er im biologischen Sinne Recht haben, zumindest für einige zigtausend Jahre. Als Individuen dagegen sind wir sehr bald vergessen, hätte ich einwenden können, tat es aber nicht. Dafür packte mich erneut der hypnotische Zwang, mich mit ihm zu vergleichen: Freude an meinen Kindern hatte auch ich, besonders als sie noch nicht zur Schule gingen. Seitdem wir uns finanziell alles leisten können, habe ich manchmal den Eindruck, unsere Halbwüchsigen, Vanessa und Mirko, gingen ihre eigenen Wege. Kann sein, dass ich mich täusche. Oder vielleicht lassen wir ihnen allzu viele Freiheiten, und sie bedürfen einmal mehr der Kontrolle .

„Ich muss zugeben, dass ich schönfärbe. In Wirklichkeit sah ich meine Kinder viel zu selten und hatte sehr wenig Zeit für sie. Mag sein, dass ich aus diesem Grunde etwas idealisiere. Das werden Sie mir nachsehen. Melanie hatte die Zügel in der Hand. Sie machte es richtig, darauf konnte ich mich verlassen. Mein Sohn Markus kam ganz nach mir, in Statur und Aussehen, etwas größer, wie es bei der heutigen jungen Generation fast die Regel ist. Manuela, unsere Tochter, glich ihrer Mutter, auch im Wesen. Gescheite Kinder, hatten nie irgendwelche Flausen im Kopf, lernten leicht und ließen sich von ihren Kameraden nicht zum Rauchen, Trinken oder irgendwelchen Drogen verführen. Melanie hatte ihre Freude an ihnen, berichtete mir am Telefon von ihren Leistungen und ihrem Fortkommen. Uns beiden galten sie, wenn sie gewollt hätten, gleichermaßen als verlässliche Nachfolger im Geschäft. Aber auch jede andere berufliche Neigung hätten wir unterstützt.“ Er unterbrach sich kurz und atmete geräuschvoll ein und aus, als stemmte er sich gegen eine Last. „Was die Kinder betraf, so waren Melanie und ich uns immer einig. Wir verwöhnten nicht, waren nicht übermäßig streng, eigentlich liberal, aber nicht nachlässig. Sie fanden bei uns Gehör, und selbst später, wenn wir beide mal verreist waren, konnten sie uns jederzeit erreichen. Sie waren selbstsichere, verständnisvolle junge Menschen.“

Obwohl abermals unzulässig, musste ich unwillkürlich an meine eigenen Kinder denken. Vanessa erst 16. Wenn ich sie sah, die Stöpsel des CD-Players im Ohr. Erst kürzlich hatte ich das Piercing an ihrem Bauchnabel entdeckt, war darüber etwas indigniert, konnte mich aber mit einer Bemerkung noch zurückhalten. Und Mirko wiederholte das Schuljahr, würde nicht mit 18 Abitur machen, wenn überhaupt. Ich hätte nicht sagen können, wofür er sich interessierte. Mein Patient schien stolz auf seine Kinder zu sein, und ich fragte mich, ob ich es auch sei. Doch bevor ich mir darüber klar werden konnte, sprach er weiter.

„Markus studierte Jura und Volkswirtschaft, mit Eifer und Erfolg. Dafür wollte ich ihm meine Anerkennung zeigen, ihm ein Geschenk machen. Ich wusste, was ihm mit Zwanzig Freude machen konnte, und schlug ihm vor, ein Praktikum an einer Großbank in New York zu absolvieren. Ich hatte für ihn den Flug gebucht, den letzten freien Platz, denn die ganze Maschine war gechartert worden für Teilnehmer einer Kreuzfahrt. Ich kannte den Organisator der Reederei. Er tat mir den Gefallen. Ist ja auch ein Erlebnis, in gut 3 Stunden über den Atlantik. Ich befand mich gerade in unserem Apartment in New York und wollte ihn am nächsten Tag einem Geschäftspartner vorstellen, damit er sich in dieser Stadt nicht vollkommen verloren vorkäme. Morgens gegen sieben Uhr rief Markus mich an, um mir zu sagen, dass die Maschine etwa eine Stunde Verspätung habe. Er wollte nicht, dass ich unnötig lange am Flughafen warte. Ich wechselte dann noch ein paar Worte mit Melanie, die ihn bis nach Paris begleitet hatte und scherzend meinte, sie würde am liebsten mitkommen. Ich aber musste zurück, sobald ich Markus hier eingeführt haben würde, und so hätte sich Melanies Besuch ohnehin nicht gelohnt. Wolkenloser Himmel über New York. Es versprach wieder ein sehr heißer Tag zu werden an diesem 25. Juli. Ich hatte noch etwas Zeit, und bevor ich zum Flughafen aufbrechen wollte, stellte ich am Fernsehgerät einen Sender ein, der mir laufend die Börsenkurse anzeigte.“

Er zögerte kurz und faltete die Hände hinter dem Kopf.

Momentan hatte ich den Eindruck, er hindere sich selbst am Fortgang seiner Geschichte und unterdrücke Emotionen, indem er sich in unwesentliche Details verlor. Dann aber sprach er mit einem Mal ganz bedächtig, Wort für Wort, weiter, und es schien mir, als beherrschte er sich mit größter Mühe.

„Es war der 25. Juli 2000 und in New York 9 Uhr, als der Sender sein Programm unterbrach und grauenhafte Bilder zeigte. Flug AF4590, sein Flug die Concorde war abgestürzt, alle Insassen verbrannt.“

Ich war wohl aufgesprungen, fand mich plötzlich mit dem Rücken zum Fenster vor ihm stehen und ihn anstarren. Er schaute durch mich hindurch, reglos.

„Setzen Sie sich ruhig wieder!“ hörte ich ihn sagen und wurde mir da erst meiner für einen Therapeuten unangemessenen Reaktion bewusst. In der Pause, die jetzt entstand, überlegte ich wie gehetzt, was ich ihm sagen, was ich ihn fragen, wie ich mit dieser unvermuteten Mitteilung umgehen sollte. In meinem bisherigen Therapeuten-Dasein war es noch nicht vorgekommen, dass ein Patient solch einen Schicksalsschlag erlitten hatte und dies noch scheinbar sachlich vorbrachte. Er wartete das Ergebnis meiner wirren Überlegungen nicht ab und sprach weiter.

„Ich bin nicht gekommen, weil ich mit dem Entsetzen, dem unfassbaren, unbegreifbaren Schlag, der mich traf, noch immer nicht fertig geworden sei. Man wird es nie, das sage ich Ihnen, nie verstehen, warum man auf einmal auf den geliebten Menschen verzichten muss. Das kann kein Therapeut auslöschen. Das sind Wunden, die auch vernarbt lebenslänglich schmerzen.“

Ich hatte mich wieder im Griff. Wenn er keine Hilfe benötigt, seine Trauer zu überwinden, was dann? fragte ich mich und schaute verdeckt auf meine Uhr. Er musste es bemerkt haben und sagte:

„Sie haben noch Patienten. Ich werde gehen. Aber ich bitte Sie, gewähren Sie mir Ihre Mittagsstunde, am besten jeden Tag, bis Sie meine Geschichte kennen, um mir dann zu helfen. Das können nur Sie.“ Er hatte sich im Sessel aufgerichtet und sah mich an, nicht anflehend, nicht verzweifelt, sondern durchdringend und entschieden, als gäbe er mir einen Befehl. „Und das Honorar ist Ihnen sicher“, fügte er hinzu. Dann stand er auf, steckte beide Hände in die Manteltaschen und wandte sich zur Tür.

Er will mir nicht die Hand geben, dachte ich. Für ihn ist die Aussprache noch nicht beendet. „Wie heißen Sie?“, fragte ich.

„Felix. Nennen Sie mich Felix!“ Und bevor ich noch

etwas einwenden konnte, hatte er die Tür zur Praxis hinter sich geschlossen.

„Wer war das denn!?“ stürzte Frau Seidel herein. Noch reglos hielt ich nach diesem Abgang die Türklinke in der Hand. „Ein Alptraum“, antwortete ich.

„Na, der hat vielleicht eine Duftmarke! Ich muss sofort lüften. Gleich kommt Frau - .“ Und sie nannte den Namen der nächsten Patientin.

„Ja, lüften Sie!“ Ich trat an den Schrank und trank ein Glas Wasser.

Felix war nicht nur unverhofft in meiner Praxis aufgetaucht, mir war, als hielte er seinen Fuß zwischen die Tür, selbst nachdem er gegangen war. Er war mir fortan gegenwärtig wie ein Ohrwurm, wie ein Bild. Er drängte sich zwischen meine Gedanken mit seiner nüchternen, unaufgeregten akzentlosen Sprache, zu der die fieberhafte Aktivität seiner Hände so gar nicht passte. Ich sah ihn vor mir, noch auf der Heimfahrt, wo ich doch normalerweise mit dem Abschließen meiner Praxisräume die Akten meiner Patienten schließe. Denn meine Profession beschränkt sich auf diesen Ort, und zu Hause spreche ich nie über das, was meine Patienten mir erzählen. Was in aller Welt hatte ihn zu mir geführt? Es fiel mir beängstigend schwer, nicht ins Grübeln zu verfallen. Dieser Schlag, den Sohn zu verlieren! Hatte das seinen finanziellen Absturz bewirkt? Offenbar hatte er den Tod des Sohnes irgendwie verarbeitet und war nicht aus diesem Grund zu mir gekommen. Und es verunsicherte mich, dass ich in dieser Sitzung nicht die Fäden in der Hand gehalten hatte, was auch dazu beitrug, dass Felix‘ Erscheinen wie ein ungelöstes Problem den ganzen Abend auf mir lastete.

Wir saßen am Tisch und aßen zu Abend. Mirko fehlte.

„Wo ist Mirko?“ Stefanie zuckte die Achseln.

„Wo ist Mirko?“ Ich hob Vanessas linken Kopfhörer hoch, damit sie meine Frage hörte.

„Irgendwo!“ sagte sie unwirsch und schob sich den

Stöpsel wieder passend zurecht.

„Hat er dir nicht gesagt, was er macht und wann er zurück sein würde?“

„Nein“, sagte Stefanie. „Er wird mit Klaus und den anderen Jungen zusammen sein.“

„Mit dem Moped!“

„Möglich. Was hast Du? Du bist doch sonst nicht dagegen. Um neun wird er zu Hause sein, wie immer.“

Stefanie brachte das so überzeugt, dass ich mir eingestehen musste, etwas ungehalten gewesen zu sein. In der Tat kam es nicht selten vor, dass Mirko zum Abendessen nicht erschien und oft schon mit seinen Freunden irgendwo etwas gegessen hatte. Dennoch sagte ich: „Findest du nicht, wir sollten abends alle zusammensitzen. Wir sehen uns den ganzen Tag nicht. Vielleicht gibt es etwas, was wir miteinander bereden sollten.“

Vanessa hörte nichts, wippte mit dem Oberkörper zum Takt ihrer Musik und schaute uns abwechselnd an, als redeten wir in einer fremden Sprache.

„Wir sprechen doch miteinander“, entgegnete Stefanie,

„und was die Kinder zu sagen haben, besprechen sie mit mir. Ich kann mir nicht vorstellen, dass dich das wahnsinnig interessieren würde.“

„Bist du dir da sicher?“

„Jedenfalls war es bisher nie anders, und du hast es auch nicht vermisst, dass ich dich mit dem Kram unserer Kinder nicht behelligt habe.“

Innerlich musste ich ihr Recht geben. Trotzdem störte es mich auf einmal, dass mein Sohn nicht mit am Tisch und meine Tochter mir mit Kopfhörern auf den Ohren gegenüber saß. Und für einen kurzen Moment schob sich das irritierende Bild von Felix vor meine Augen, gefolgt von einem zweiten, der brennenden Concorde, wie das Fernsehen es seinerzeit gezeigt hatte.

„Findest du nicht, er sollte mehr für die Schule tun?“, wechselte ich das Thema. „So wie er sich einsetzt, wird er wohl kaum das Abitur schaffen. Und wenn doch, was

fängt er mit einem gerade so eben bestandenen Abitur an?“

„Es muss nicht jeder studieren“, sagte meine Frau. „Mirko ist handwerklich geschickt. Soll er eine Lehre machen. Darauf aufbauen kann er immer noch. Was machst du dir Sorgen!?“

„Ist das so abwegig?“, fragte ich gereizt. „Kann es sein, dass sich unser Sohn auf den Lorbeeren, die sein Vater verdient hat, ausruhen möchte? Ich finde, er sollte mehr lernen und sich weniger herumtreiben. Und das werde ich ihm auch so sagen -, wenn er sich mal wieder hier blicken lässt.“

Stefanie sah mich erschrocken an. „Diese Entschiedenheit kenne ich ja gar nicht an dir! Glaubst du wirklich, du solltest Mirko zwingen, sich bis spät abends mit

Sprachen, Geschichte und Mathe zu beschäftigen? Er hat seinen eigenen Rhythmus. Das solltest du respektieren. Daher rate ich dir: Lass ihn laufen und seinen Weg selbst finden!“

„Nein! Dieses Laissez-faire muss ein Ende haben!“, sagte ich mit gebändigter Heftigkeit. Ich spürte, wie ich ärgerlich wurde - ganz und gar ungewohnt, denn Unbeherrschtheit kannte selbst ich nicht an mir. Ich stand neben mir, sah, wie ich mich über den Tisch beugte und Vanessa die Kopfhörer herunterriss, und hörte mich sagen: „So geht das nicht weiter! Wo sind wir hier? Ist das noch eine Familie? Wo ist Mirko? Ich will, dass er sofort herkommt.“

Stefanie war aufgesprungen. Vanessa hatte den Raum verlassen. Ich hielt mich an der Tischkante fest.

„Geht es dir nicht gut?“ Stefanie legte mir ihre Hand auf die Schulter. „Hattest du einen anstrengenden Tag? So hast du dich noch nie gebärdet. Was ist los?“ Sie nahm mich in die Arme. Und vor Augen hatte ich wieder Felix und die brennende Concorde.

An Stefanie gelehnt, verharrte ich wie benommen. Nach einer Weile setzte ich mich wieder. „Ich weiß nicht,

warum ich so ausgerastet bin“, sagte ich. „Es tut mir Leid. Ich muss darüber nachdenken. - Ich vermisse Mirko -. Er sollte längst da sein.“

„Er wird auch gleich kommen“, sagte Stefanie. „Leg dich hin und ruh dich aus!“

(fe:liks) oder Die Stunde des Therapeuten

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