Читать книгу eins vorwärtsfallen - Ulrich Urthaler - Страница 6
Schritt 3
ОглавлениеNiemand wollte Tschusch glauben. „Eine Entführung. In München. Am helllichten Tag. In der Elsässerstraße, wo nur nette Menschen wohnen und ganz bestimmt keine Superreichen, die es sich zu kidnappen lohnt. So etwas gibt es nicht. Nicht in München. Nicht am helllichten Tag.“
So und ähnlich lauteten die Kommentare der Leute, denen er von der Entführung erzählte. Da konnte er noch so detailgetreu schildern, was vorgefallen war und gebetsmühlenhaft wiederholen, dass es eben nicht am helllichten Tag geschehen war: niemand nahm ihm die Geschichte ab.
„Haben Sie ein Handy“, war die erste Frage, die ihm der Beamte auf der Polizeiwache stellte, in die er sofort geeilt war, um das Verbrechen zu melden.
„Ja“, sagte Tschusch.
„Und können Sie damit filmen“, fragte der Diensthabende in einem gelangweilten Ton weiter, der Tschusch zumindest innerlich auf die Palme brachte.
„Ja“, sagte Tschusch.
„Und warum haben Sie das angebliche Verbrechen dann nicht gefilmt?“
„Hören Sie, Herr Wachtmeister“, erregte sich Tschusch, „das Ganze hat nur wenige Sekunden gedauert. Ich war starr vor Entsetzen, verstehen Sie?“
„Nein“, versetzte der Diensthabende. „Außerdem ist Polizeikommissar mein Dienstgrad. PK Bertram Fischl, um genau zu sein. Wachtmeister war früher.“
„Gut, Herr Peka Bertrand Fidschi.“ Tschusch wurde langsam sauer. Wertvolle Zeit verstrich, weil er es hier mit einem fettärschigen Vollidioten zu tun hatte, der ihn offenkundig nicht ernst nahm. Dabei wusste doch jedes Kind, dass die ersten Stunden nach einem Verbrechen die entscheidenden waren. Wegen der heißen Spur und solchen Sachen.
„Fischl“, sagte der Polizeikommissar, „nicht Fidschi. Und Bertram. Nicht Bertrand.“
Doch Tschusch gab so leicht nicht auf. „Soweit mir bekannt, sind Sie verpflichtet, einer Anzeige nachzugehen. Und hiermit erstattete ich offiziell Strafanzeige gegen Unbekannt. Wegen des Verdachts der kriminellen Entführung.“
Breit grinsend lehnte er sich über den Tresen, der die Arbeitsplätze der Beamten von den Besuchern trennte. Der Polizist starrte ihn wütend an. Er zerrte einen Vordruck aus der Schreibtischschublade und nahm das Protokoll auf. Tschusch hatte sich mittlerweile für einen Audi entschieden, einen Audi A8, doch war dies sekundär, denn natürlich hatte er sich das Kennzeichen gemerkt. Es war eine Salzburger Nummer.
„Österreich“, gab Tschusch an.
„Logisch Österreich“, brummte Fischl, „ich bin ja nicht blöd.“
„Ach so“, murmelte Tschusch.
Der Polizist hob den Kopf. „Was haben Sie gerade gesagt?“
„Ich?“
PK Fischl warf ihm einen strengen Blick zu, sodass sich Tschusch gleich verhaftet vorkam. „Wer sonst, Herr ...“ Der Beamte schaute auf seine Aufzeichnungen, „... Herr Barbár. Oder ist hier noch jemand außer uns zwei?“
„Bárbar“, sagte Tschusch freundlich. „Mit accent grave auf dem ersten A.“
„Reden Sie gefälligst deutsch mit mir“, gab der Polizist grob zurück. „Sie können doch deutsch oder?“
„Was machen wir denn die ganze Zeit“, erwiderte Tschusch lächelnd, „Kisuaheli quatschen?“
„Jetzt werden Sie nicht frech“, brüllte PK Fischl, der im Revier dafür berüchtigt war, schnell die Contenance, pardon, die Kontrolle zu verlieren. „Und was ist das überhaupt für ein Vorname: Tepko? Das klingt verdammt nochmal ziemlich slawisch.“
„Tschepko“, insistierte Tschusch, „die korrekte Aussprache ist Tschepko. Und wenn es nichts ausmacht: Ich bin Österreicher, das sehen Sie ja in meinem Pass. Aber können wir jetzt bitte mit dem Protokoll fortfahren?“
„Nur zu gern“, knurrte der Beamte. „Ich bin froh, wenn …“
„Wenn was?“
„Vergessen Sie's.“
Fischl winkte enerviert ab. Dieser eindeutig nach Cevapcici muffelnde Typ brachte ihn noch zur Weißglut. Der Beamte mochte zwar Cevapcici, aber keine Slawen. Und dieser Barbár war ganz klar einer vom Balkan, so wie der aussah, da konnte der noch so einen auf Österreicher machen. Schließlich kannte er seine Pappenheimer.
**
Tags darauf erschien Tschusch wieder im Revier. Er vertrat die bei Privatdetektiven weit verbreitete Meinung, dass man der Polizei immer schön auf die Finger schauen müsse, sonst rührten die keinen einzigen. Peka Fidschi hatte heute dienstfrei. Leider, denn Tschusch war nach wie vor auf Krawall gebürstet. An seinem Platz saß eine junge Polizistin, so hübsch, dass sich Tschuschens Laune sofort besserte. Sie hieß POM Hamberger und hatte bereits das Kennzeichen mithilfe der Salzburger Kollegen überprüft.
„Na also“, sagte Tschusch vorlaut. „Geht ja was voran.“
„Wie man`s nimmt“, antwortete die Polizeiobermeisterin. „Das Kennzeichen existiert nämlich nicht, Herr Bárbar.“
Überrascht blickte Tschusch sie an, weniger erstaunt, dass er einem falschen Kennzeichen aufgesessen war, so was war ja wohl üblich in Kidnapperkreisen, sondern, weil Pommi Hamberger seinen Namen richtig ausgesprochen hatte. Auf Anhieb. Wenn das kein gutes Omen war! Die Beamtin gefiel ihm nämlich. In ihrem blumenblonden Haarschopf sah sie so rein aus, als wäre sie einer duftenden Sommerwiese entwachsen, die kein menschlicher Fuß je betreten hatte. Tschusch fragte sich, ob sie vielleicht noch Jungfrau sei und schielte auf ihre Hände, ob da etwa ein Ehering klemmte. Doch da steckte nichts, was ihn an einem Annäherungsversuch hätte hindern können. Normalerweise war er ziemlich schüchtern, was Frauen anbetraf, doch seit dem Vorfall mit dem schwarzen Audi (oder war es doch ein BMW? Bei Automarken war Tschusch nicht ganz sattelfest.) fühlte er sich irgendwie auserwählt, war er doch der einzige Zeuge. Und wer auserwählt ist, kann das auch ruhig zeigen, glaubte er und charmierte, was das Zeug hielt.
Pommilein, wie Tschusch sie bereits bei sich nannte, zeigte sich gleichwohl unbeeindruckt, im Gegenteil. Sie hatte herausgefunden, dass der Anzeigenerstatter Tjepko Bárbar Privatdetektiv war, ein Berufsstand, der sich bei hauptamtlichen Schnüfflern gelinde gesagt nicht besonderer Beliebtheit erfreute. Sie hielt Tschusch folglich für einen aufgeblasenen Wichtigtuer, der eine ganz und gar unpassende Show abzog, indem er irgendwelche Entführungen erfand.
„Herr Bárbar“, fiel sie ihm in seine blumigen Worte, „ich habe mir die Mühe gemacht und nachgeschaut: es wird niemand vermisst, auf den Ihre Beschreibung passt. Und das Kennzeichen gibt es ja auch nicht. Wollen Sie immer noch behaupten, Sie hätten eine Entführung beobachtet?“
Tschusch war irritiert. „Was ich gesehen habe, habe ich gesehen“ beharrte er. „Vielleicht lebt der Mann ja allein und pflegt keine sozialen Kontakte. Oder er ist Ausländer, was weiß ich. Es muss ja kein Deutscher gewesen sein. Jedenfalls wurde da einer gekidnappt.“
„Soso.“ Die Beamtin lächelte ihn in der Art nachsichtiger Freundlichkeit an, wie man den Schwindeleien kleiner Kinder begegnet. Oder Schwachsinnigen. Tschusch verstand. Hatte er POM Hamberger aufgrund ihres blonden Haarschopfes und ihrer lustigen Kugeläuglein bislang mit einem Wintergoldhähnchen verglichen, Europas kleinsten und wohl auch putzigsten Vogel, mit einem hübsch gelben Kopfgefieder, so war sie jetzt ein Basstölpel für ihn, die größte Tölpel Art, einem gänsegroßen Vieh, dem auch seine gelbe Rübe nicht darüber hinweg half, dass es sich an Land reichlich schwerfällig bewegte.
Es war eine der Unarten Tschuschs, dass er Menschen ornithologisch einordnete, ein Erbe seines seligen Vaters, der sich selbst als einen Zilpzalp bezeichnet hatte; warum, wusste allerdings niemand. Erst als Marjan Bárbar auf der Suche nach diesem Vogel, weiland auch Weidenlaubsänger genannt, spurlos verschwunden war, und zwar für immer, erschloss sich der Familie der tiefere Sinn dieser wunderlichen Wahl. Wahrscheinlich, so Mutter Mojcas Vermutung, hatte er sich in einen Zilpzalp verwandelt, weil er zeitlebens lieber ein Vogel als ein Mensch gewesen wäre und sei einfach davon geflattert, seinen gefiederten Freunden nach Afrika ins Winterquartier folgend. Und in der Tat konnte Marjan Bárbar, der slowenische Vogelversteher, des Weidenlaubsängers Gesang am besten von allen Gezwitschern nachahmen. Dessen zilp–zalp, zilp-zalp ging ihm derart perfekt über die Lippen, dass selbst erfahrene Weidenlaubsängerkenner nicht unterscheiden konnten, ob jetzt da ein Mensch zilpzalpte oder ein Vogel.
Tschusch aber war enttäuscht, schwer enttäuscht. Warum nur glaubte man ihm nicht? Hielt man ihn wirklich für einen notorischen Lügner? Niedergeschlagen ging er nach Hause. Er setzte sich in seine Küche und starrte teilnahmslos auf den Müll, der sich allenthalben stapelte: Berge schmutzigen Geschirrs, Halden leerer Flaschen, paketweise Abfall. Doch Tschusch wäre nicht Tschusch, hätte er nicht für alles eine Erklärung parat. Seit seine Geschirrspülmaschine kaputt war, kam er einfach nicht mit dem Abwasch nach. Und die Flaschen: Ohne Auto war es mühsam, sie artgerecht zu entsorgen. Außerdem konnte er, falls er Geld brauchte, die Pfandflaschen sammeln und zurückgeben. Die Pfandflaschen waren demnach so etwas wie seine letzte Reserve, also. Und der Hausmüll, ja: Immer, wenn er die stinkenden Plastiksäcke wegbringen wollte, war die Mülltonne im Hof voll. Immer.
Tschusch verspürte Hunger, eigentlich Hunger auf Sex, aber man konnte sich ja auch anders behelfen und etwas essen. Er schaute im Kühlschrank nach, doch außer in schimmliger Brühe schwimmenden Essiggurken, zwei völlig vertrockneten Scheiben undefinierbarer Wurst und einem angebrochenen Glas Senf mit Haltbarkeitsdatum 21. März 2005 war da nichts, nur ein Tetrapak Milch. Er wollte den zehn Jahre alten Senf schon wegwerfen, da erinnerte er sich, warum er ihn so lange aufgehoben hatte. 2005, das war doch das Jahr des Uhus gewesen, dessen wissenschaftlichen Namen er so mochte: bubu bubu. Und das Jahr, in dem sein Vater verschwunden war. Also. Tschusch stellte das Glas wieder zurück. Dann eben die Milch. Auch hier war das Verbrauchsdatum verstrichen, aber nur um eine Woche. Er öffnete den Deckel und roch hinein. Alles in Ordnung. Relativ zumindest. Nur, was machte man mit Milch, wenn man eigentlich Hunger hatte? Ihm fiel ein, dass irgendwo noch eine Packung Reis sein musste. Er wühlte sich durch die Schränke und fand schließlich, wonach er gesucht hatte, Langkornreis der Spitzenqualität. In seinem Kopf war wohl gespeichert, dass man zu Milchreis spezielles Korn brauchte, aber sicher war das bloß wieder ein Marketing Gag der Hersteller, damit man mehr von ihrem Zeugs kaufte.
Allerdings wusste er nicht, wie man Milchreis zubereitete. Den Reis schlichtweg in die Milch schütten, ab auf die Herdplatte und los gings? Sicherheitshalber rief er das brasilianische Feuerwerk Dolores del Rio an. Dolores war ihr Künstlername. Richtig hieß sie Chantal Pallaschke und stammte aus dem sächsischen Pirna, aber das musste ja nicht jeder wissen. Tschusch wusste das, weil er ihr Stammkunde war und auch das musste nicht jeder wissen. Rein aus Zufall war er vor zwei oder drei Jahren auf ihre Sexhotline gestoßen, in einer einsamen Nacht, als er einmal wieder von irgendwem verlassen worden war. Von welcher Dame, konnte nicht einmal er sich noch entsinnen, doch spielte das keine Rolle. Tschusch wurde ständig von irgendwem verlassen.
Damals wollte er nur getröstet werden und Dolores hatte sich seiner angenommen, schließlich war sie am selben Tag ebenfalls Opfer einer Trennung geworden und ahnte um die Nöte des verzweifelten Anrufers. Seitdem hatte sich eine Art fernmündlicher Freundschaft entwickelt, das ganz ohne das blöde Gestöhne am Telefon auskam. Man unterhielt sich lediglich und tauschte Probleme aus, von denen jeder der beiden genug auf Lager hatte. Keiner wusste vom jeweils anderen, wie er aussah und das war gut so. Weniger gut war die monatliche Rechnung, die ihm die Buchhaltung der Sexhotline zustellte, eine der Hauptursachen seiner monetären Engpässe.
Leider hatte auch Dolores keinen Schimmer, wie man Milchreis machte, also verfuhr Tschusch nach dem Motto learning by doing. Das kurze Zeit später fertige Produkt konnte man aufgrund seiner zementartigen Konsistenz zwar nicht essen, doch Tschusch war selten um einen Ausweg verlegen und schmierte die Risse an der Außenwand seines Balkons damit zu, fertig.
Jetzt konnte er in Ruhe zum Geschäftlichen übergehen. Er nahm seine Utensilien, ein kleines, aber feines Fernglas, das sein Vater zur Vogelbeobachtung genutzt hatte, seinen Notizblock zum Aufzeichnen seiner Erkenntnisse, einen Strohhut, um sein Gesicht zu verschatten und die Adresse, die Florentine Gasteiger ihm gegeben hatte. Gewürzmühlstraße, stand in krakeliger Schrift darauf, die Hausnummer so undeutlich, dass sie kaum zu entziffern war. Die Zahl konnte eine elf darstellen oder eine siebzehn. Siebenundsiebzig kam auch infrage, aber Tschusch kannte die Gewürzmühlstraße. Sie war eher kurz. Und sie war nicht allzu weit von seiner Haidhauser Wohnung entfernt, also fußläufig in etwa einer halben Stunde erreichbar. Froh, dass er etwas zu tun hatte, brach Tschusch auf.
Gemütlich schlenderte er durch die Straßen. Es war ein wunderbarer Frühlingsnachmittag, die Luft wie geschnitten Glas. München leuchtete im spätbarocken Licht der gnädigen bayerischen Sonne, ein Licht, das es angeblich nur in dieser Stadt gab, wie Künstler aller Zeiten und Sorten stets geschwärmt hatten. Tschusch war so stolz auf seine schöne Stadt, als hätte er, der Geborene Spielfelder, sie mit eigenen Händen erbaut.
Die Pleite mit Pommi Hamberger hatte er bereits vergessen, als er die mit dem Schmelzwasser der nahen Berge angereicherte, hurtig strömende Isar überquerte, den die Stadt sonst eher träge durchfließenden Fluss. Im Gegensatz zur Isar hatte Tschusch keine Eile. Auf der Maximiliansbrücke hielt er an und fütterte die Enten und Möwen mit Betongemisch, wie er die Reste des Milchreises bezeichnete, bis ihm, dem Vogelfreund, der Gedanke kam, dass sich das zementöse Gebräu nicht nur zum Kitten von Wandrissen eignete, sondern auch, um kleine Piep Matz Därme auf ewig zuzukleistern und steckte die Tüte mit Milchreisklumpen schuldbewusst weg, verfolgt von den anklagenden Schreien hungriger Möwen.
In der Gewürzmühlstraße musste er nicht lange fahnden. Auf Anhieb entdeckte er das messingglänzende, nagelneue Klingelschild mit dem Namen Dr. Friedrich Gasteiger. Ein schönes Haus hatte sich der Bonvivant da für seine altersmüde Liebschaft ausgewählt, fand Tschusch, denn dass der Ausreißer sich hier ein seniorengerechtes Liebesnest gebaut hatte, daran hegte er nicht den geringsten Zweifel. Was sonst sollte denn einen alten Herrn dazu bewegen, als es nochmal mit einer jungen Knusprigen krachen zu lassen, bevor Gevatter Tod an die Tür klopfte?
Er läutete, drei Mal, doch der gute Friedrich öffnete nicht. Tschusch hatte es nicht anders erwartet, er selbst hätte auch nicht reagiert, konnte ja die Frau Gemahlin unten an der Türe stehen. Er ging die paar Schritte zum Thierschplatz, entnahm dem Zeitungskasten die Tagesnachrichten und setzte sich auf eine Bank. Von hier aus hatte er einen optimalen Blick auf Gasteigers Wohnhaus. Tschusch überflog den Titelbericht. Einmal mehr drehte sich die öffentliche Diskussion um die Flüchtlingswelle aus Afrika, um die Abertausende Verzweifelter, die auf mickrigen Booten versuchten, über das Mittelmeer dem Elend zuhause zu entkommen, um irgendwie ins gelobte Paradies Europa zu gelangen. Ihm taten die Leute leid, die so vieles riskierten, nur um auch ein Stück vom Kuchen abzukriegen. Doch er interessierte sich nicht für Politik und legte die Zeitung alsbald zur Seite.
Am Hause Gasteiger rührte sich nichts. Er erhob sich, um noch einmal zu läuten, dieses Mal Sturm, aber der alte Herr war entweder wirklich nicht da oder stellte sich taub. Er klingelte im obersten Stockwerk und rief „Postkurier“ in die Gegensprechanlage, worauf ihm anstandslos geöffnet wurde. Gasteigers Wohnung befand sich in der Beletage. Er presste sein Ohr an die Eingangstüre und lauschte. Nichts war zu hören. Tschusch blieb eine ganze Stunde im Treppenhaus, horchte ab und an, bis er sich sicher war, dass der Mann sich nicht in der Wohnung aufhielt. Vielleicht ist er inzwischen gestorben, dachte er grimmig, denn Ehebrecher konnte er im Tod nicht ausstehen, selbst wenn er partiell davon lebte.
Für heute hatte er jedenfalls genug. Der Hunger hatte ein großes Loch in seinen Magen gebohrt, mit der Folge, dass Tschusch schon nicht mehr klar denken konnte. Auf dem Heimweg investierte er den zwanzig Euro Schein, den Betschwester Judith ihm á conto gegeben hatte, in Wurst und Brot und ein Gläschen Baby Brei und schlief schließlich vollgefressen vor dem Fernseher ein. Er erwachte, als in den Spätnachrichten erneut von der Flüchtlingskatastrophe im Mittelmeer berichtet wurde, dass der Handel mit Menschen eine neue Dimension erreicht habe. Gewissenlose Schleuser hatten ein ausrangiertes türkisches Lastschiff, mit dem früher Vieh transportiert worden war, gechartert und mit tausenden Flüchtlingen vollgestopft. Die Mannschaft war dann in der Nacht heimlich von Bord gegangen und hatte das Schiff sich selbst überlassen. Bevor es an den Klippen der Insel Naxos zerschellte, war es Gott sei Dank von der griechischen Küstenwache aufgebracht und in den Hafen geschleppt worden.
Tschusch konnte das Elend schon nicht mehr hören, erinnerte es ihn doch an sein eigenes, selbst wenn er nicht um sein Leben kämpfen musste, sondern nur um seine Existenz. Er schaltete den Apparat aus und ging zu Bett, nicht ohne vorher noch ein Prickel Pit Brausebonbon aus seinem Prickel Pit Automaten gezogen zu haben. Den Automaten, der wohl der letzte in der Stadt, hatte er vor etlichen Jahren nach einer durchzechten Nacht irgendwo abgeschraubt und bei sich aufgestellt. Tschusch liebte Prickel Pit, das Brausebonbon seiner frühen Kindheit und die Sache mit dem Automaten Diebstahl hatte er nie bereut. So hatte er es sich zur Gewohnheit gemacht, statt Zähneputzen, zu dem er zu später Stunde zu faul war, sich den vom Tag abgenutzten Atem per Brause zu erfrischen, vorzugsweise mit Waldmeister Geschmack. Zufrieden plumpste er ins Bett und fiel in tiefen Schlaf.
An seine Träume konnte sich Tschusch stets erinnern. Sein Elefantengedächtnis ließ ihn selbst im Schlaf nicht im Stich und in jener Nacht hatte er einen sehr speziellen Traum. Ihm träumte, dass ein schwarzer Audi im Meer schwamm, vollgepresst mit dunkelhäutigen Menschen. Sogar auf dem Dach hatten welche Zuflucht vor den Haien gesucht, die um das anscheinend amphibische Fahrzeug kreisten. Die Haie selbst hatten menschliche Gesichter. Deutlich konnte er das von Pommi Hamberger und das von Peka Fidschi erkennen. Die anderen Haie ähnelten Politikern, deren Gestalten ihm vom Fernsehen geläufig waren. Sie versuchten, die sich an das Autodach Klammernden ins Wasser zu ziehen und einer der Haie, dessen dumme Fresse ihn an die Vorsitzende einer neuen, rechtsgerichteten Partei erinnerte, schrie dauernd: „ihr kommt mir nicht in unser deutsches Land, ihr kommt mir nicht in unser deutsches Land.“
Als Tschusch am Morgen erwachte, wusste er, was zu tun war. Dass er von dem schwarzen Audi geträumt hatte, schien ihm Menetekel genug. Und auch wenn ihm niemand glaubte, so hatte er mit eigenen Augen gesehen, wie ein Mann entführt worden war. Vielleicht waren die Kidnapper noch in der Stadt und da gab es nur eins: er musste den schwarzen Audi suchen.