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2. Die biologischen Grenzen


Im Zoo von Pjöngjang gibt es eine Schimpansin, die sich Zigaretten ansteckt und sie dann raucht. Dieses Tier war offensichtlich zu lange in direktem Kontakt mit Menschen, denn es kann jetzt etwas, was uns sehr irritiert: Es hat absichtlich ein Feuer entfacht und läuft vor diesem Feuer nicht weg. Auch der Tiger im Zirkus springt durch einen brennenden Reifen. Sein Fluchtinstinkt, der Shir Khan im Dschungelbuch noch zum Verhängnis wurde, ist bei ihm durch Dressur unterdrückt. Von Tieren erwarten wir aber eigentlich, dass sie sich instinktiv in ihren Grenzen bewegen. Dazu gehört bei Schimpansen, dass sie Nichtraucher sind und es bleiben.

Die Evolutionstheorie beschreibt die Entstehung der Arten. Sie erklärt uns, wie Lebewesen neben anderen Lebewesen entstehen und wie sie wieder von diesem Planeten verdrängt werden und aussterben. Verdrängen ist etwas, das Räume verändert. Die Evolution zeigt uns auf, dass, wie und warum sich eine Art in einem Gebiet durchsetzt. Diese Lebensräume sind durch biologische Grenzen markiert. Es ist einleuchtend, dass ein Fisch auf dem Land keine Überlebenschance hat, ebenso wenig wie der Schmetterling im Wasser. Bestimmte Gebiete der Erdoberfläche scheiden für diese Tiere aus, sie können dort nicht überleben, sind da verloren. Deswegen verläuft für sie am Rande dieser Räume ihre biologische Grenze. Schön beobachten kann man das bei den Pflanzen an den Vegetationszonen im Hochgebirge oder beim Reisen durch mehrere Klimazonen. Weil es diese biologischen Grenzen gibt, wachsen in unseren Breiten keine Zitrusfrüchte und hier leben auch keine Elefanten in freier Wildbahn. Sie vermeiden schon instinktiv die kalten Winter bei uns. Und natürlich rauchen Tiere normalerweise auch nicht, sondern fliehen vor dem Feuer. Es muss nicht immer gleich die schmerzhafte Erfahrung des sich Verbrennens sein, die sie hierzu veranlasst. In der Regel ist es schon der Instinkt, der den Lebewesen sagt, wo ihre Grenzen sind.

Wenn die Population einer Art wächst, wenn die Nahrung knapper wird oder wenn sich Lebensräume verändern, entwickeln alle Lebewesen den Drang, die für sie bisher bestehenden biologischen Grenzen auszudehnen. Alles Leben reagiert auf geographische und klimatische Veränderungen durch Anpassungsleistungen. Pflanzen und Tiere erschließen sich so durch die Weiterentwicklung ihrer Arten neue Regionen zum Leben. Auch die Instinkte der Tiere verändern sich im Laufe der Zeit, denn dadurch eröffnen sich ebenfalls neue Chancen, andere Gegenden zu bevölkern. Es gibt lungenatmende Landtiere, beispielsweise Meeresschildkröten oder Robben, die den Wechsel zwischen Land und Wasser perfektioniert haben. Sie haben den abgrenzenden Instinkt, das lebensfeindliche Element zu meiden, völlig überwunden und leben gerade deswegen erfolgreich in beiden. Hingegen ist nicht damit zu rechnen, dass sich die einmalige Instinktüberwindung im Zoo von Pjöngjang bei anderen Angehörigen dieser Art durchsetzen wird. Das Rauchen konnte sich aber in der Evolution der gesamten Menschheit durchsetzen, zumindest in dem Zeitraum von der Entdeckung Amerikas bis in die Mitte des vorigen Jahrhunderts.

Diese, manchmal sehr seltsamen, Vorgänge untersucht die Evolutionslehre und versucht, solche Entwicklungen zu erklären. Durch das Überschreiten biologischer Grenzen und die Anpassung an neue Gegebenheiten entstehen neue Rassen, hieraus neue Arten und so werden immer neue Möglichkeiten gefunden, diese Erde mit Leben zu erfüllen.

Tatsächlich ist die Erweiterung biologischer Grenzen für einzelne Lebensformen unterschiedlich aufwendig. Pflanzen haben den Nachteil, dass sie sich nicht fortbewegen können. Um sich räumlich weiterzuverbreiten werden deswegen interessante Wege gewählt. Wind und Wetter sind naheliegende Wege, das Überleben der Samen der eigenen Art im Verdauungstrakt von Tieren ist ein weniger naheliegender Weg. Aber auch ihn gibt es, sogar ziemlich häufig.

Tiere haben die Fähigkeit, sich auf der Erdoberfläche zu bewegen, und können so leichter ausprobieren, ob ein Überleben in Gegenden möglich ist, in denen es die eigene Art bisher nicht gab. Im Erfolgsfalle beschleunigt diese Fähigkeit eine rasante Ausbreitung von Arten in neuen Gebieten. 24 europäische Wildkaninchen wurden im Oktober 1859, einen Monat vor dem Erscheinen von „Die Entstehung der Arten“, in Australien ausgesetzt. Diese Art hat den Kontinent in kurzer Zeit überrannt. Das Fehlen natürlicher Feinde, das Klima und die Geologie Australiens sowie die Vermehrungsfrequenz der Kaninchen, die sich daraus erklärt, dass normalerweise viele Individuen der Art von ihren natürlichen Feinden gefressen werden, führte zu dieser Entwicklung. Insbesondere die milden Winter, die es den Tieren ermöglichten, sich auch in dieser Zeit zu vermehren, waren fatal. Australien hat das Problem bis heute nicht im Griff.

Eine vergleichbare Geschwindigkeit entwickelte der Homo Sapiens bei der Besiedlung Amerikas. Nachdem er die Landbrücke der Beringia überschritten hatte, benötigte er nur wenige tausend Jahre, um den gesamten amerikanischen Kontinent von Alaska bis Feuerland als neuen Lebensraum zu erschließen. Er besiedelte dabei die unterschiedlichsten Klimazonen, den Dschungel ebenso wie Hochgebirge und Wüsten. Als Fleischesser ist er seinen Beutetieren hinterhergezogen und hat sich so in wenigen Generationen überall festgesetzt.

Das wiederum ist dem europäischen Wildkaninchen nicht gelungen. Es hat zwar Australien erobert, konnte sich aber in Nordamerika nicht ausbreiten, obwohl es auch dort ausgesetzt wurde.

Den Tieren und Pflanzen sind ihre biologischen Grenzen somit wesentlich enger gezogen als den Menschen. Veränderungen ihrer biologischen Grenzen, die wir tatsächlich im Laufe eines Menschenalters beobachten könnten, sind selten. Betrachtet man hingegen die Geschwindigkeit der Verbreitung des Menschen auf der Erde und die Dichte, mit der wir sie inzwischen bevölkern, sieht man für uns nur noch wenige biologische Grenzen. Vielmehr ziehen wir uns mittlerweile eine selbstgemachte biologische Grenze, nämlich die Überbevölkerung, speziell in den explosionsartig wachsenden und kaum noch zu verwaltenden Mega-Metropolen.

Natürlich kann auch heute kein Mensch unter Wasser oder im Weltraum leben. Auch die Luft oder das ewige Eis sind für ihn nicht wirklich bewohnbar, vor allem nicht ohne großen Aufwand und technische Hilfsmittel. Aber einzelne Menschen können sich dort für eine gewisse Zeitdauer aufhalten und überleben und für den Rest der Menschheit ist es auch gar nicht verwunderlich, dass Menschen immer wieder entsprechende Versuche unternehmen: Der Gipfel des Mount Everest und der Mond wurden vor allem deswegen betreten, weil sie da waren und durch ihre bloße Existenz die Neugier, Abenteuerlust und sicherlich auch den Ehrgeiz der Menschen, dorthin zu gelangen, anstachelten.

Dass das so ist, ist Teil unseres genetischen Programms. Das Überschreiten biologischer Grenzen ist etwas, was unser Menschsein geradezu ausmacht und uns von den anderen Lebewesen unterscheidet. Es ist für uns schon deswegen eine vertraute Vorstellung, weil es gerade in der Neuzeit ein wesentlicher Teil unseres Lebens geworden ist. In den ersten Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts ertranken pro Jahr etwa fünftausend Menschen in Deutschland und nur etwa drei Prozent der damaligen Bevölkerung konnte schwimmen. Heute ist das Wasser für jeden, der das möchte, kein lebensfeindliches Element mehr; und er kann, wenn er das möchte, beim Tauchen sogar Tiefen erreichen, die viele Seefische schon wegen der dort herrschenden Dunkelheit und Kälte meiden.

Der eher symbolische Schritt Neil Armstrongs auf den Mond gehört somit ebenso zum Drang des Menschen, biologische Grenzen zu überschreiten, wie das Erreichen Feuerlands in nur drei- bis viertausend Jahren, nachdem die Menschen von Sibirien nach Alaska gelangt waren. Für uns Menschen versteht es sich von selbst, dass wir – zumindest die Wagemutigen unter uns – alles daransetzen, solche Schritte machen zu können. Die Frage, warum das so ist, müssen wir noch beantworten.

Der Erfolg des europäischen Wildkaninchens in Australien lässt sich aus den Regeln erklären, die einen Monat, nachdem die ersten Tiere dieser Art dort ausgesetzt wurden, als Buch erschienen. Der Erfolg des Menschen bei der Eroberung unseres Planeten dürfte viel mehr und sehr unterschiedliche Gründe haben. Diese müssen wir in der speziellen Entwicklungsgeschichte unserer Art suchen.

Wichtig ist, dass wir diesen Drang haben. Er ist im Lichte der Evolution sinnvoll, denn die Neugier auf Orte, die Menschen vorher nicht betreten haben, ist die Voraussetzung dafür, solche Orte eines Tages vielleicht einmal dauerhaft zu besiedeln.

Die Erforschung der Fauna abgelegener Inseln und Kontinente war der Beginn der Evolutionstheorie. Die Tierwelten der Galapagosinseln, Madagaskars und Australiens haben sich wegen ihrer Insellagen isoliert entwickelt und sind deswegen bis heute für Evolutionsbiologen wichtige Forschungsgegenstände. Die Meere waren zunächst auch für den Menschen biologische Grenzen. Aber sie waren es nur, solange er keine Boote oder Schiffe hatte. Schon in der Steinzeit, vor 44.000 bis 50.000 Jahren, gelangte der Homo Sapiens mit Einbäumen oder Booten von Sunda nach Sahul, von der Landmasse Südostasiens auf die Landmasse Australiens und Neuguineas. Im Laufe der Geschichte im engeren Sinne wurden Leif Eriksson, Christoph Kolumbus und James Cook deswegen mit Denkmälern gewürdigt, weil sie „für uns“ ins Ungewisse reisten und so diese biologischen Grenzen erneut überschritten und bis dahin unbekannte Welten entdeckten, wobei anzumerken ist, dass sie ja praktisch nirgendwo wirklich unbesiedeltes Land antrafen: Der Homo Sapiens war immer schon da. Denkmäler gibt es auch für Louis Mouillard, Otto Lilienthal und die Brüder Wright oder Juri Gagarin und Neil Armstrong. Ihre Vorstöße in die Luft und in den Weltraum haben für die Menschheit die Grenzen weiter verschoben.

Aber nicht nur die Entdeckung und Eroberung der Welt und des Weltraums war ein Überschreiten biologischer Grenzen. Jedes Leben endet irgendwann. Das Ansteigen des durchschnittlichen Lebensalters und das exponentielle Ansteigen der Weltbevölkerung indizieren, dass auch hier der Drang des Menschen, seine biologischen Grenzen zu überschreiten, erfolgreich war. Die Denkmäler für Ignaz Semmelweis, Louis Pasteur, Robert Koch und Alexander Fleming stehen ja auch schon. Und sie stehen vor allem deswegen, weil diese Mediziner und Wissenschaftler es geschafft haben, uns die wichtigen mikrobiologischen Zusammenhänge grundlegend neu zu erklären. Damit wurden Krankheit und Tod zwar nicht überwunden, aber sie wurden verständlicher. Seit den Fortschritten in der Medizin, die wir mit diesen Namen verknüpfen, begeben sich die Menschen auch wieder sehr viel lieber in die Behandlung von wissenschaftlich ausgebildeten Schulmedizinern. Es ist ja auch gut, dass die Ärzte heutzutage den Zeitpunkt des nächsten Aderlasses nicht mehr vom Sternzeichen ihres Patienten abhängig machen.

Das Überwinden von biologischen Grenzen durch die Menschen erfolgte aber nicht in geradlinigen Entwicklungen, sondern auf gewundenen Wegen, mit vielen seltsamen Zufällen und in Echternacher Springprozessionen. Jede große neue Erkenntnis oder Entdeckung war ein Schritt nach vorne, danach folgten aber immer auch Schritte zurück. Die Menschen „vergaßen“ besiedelte Kontinente für lange Zeit, beispielsweise Amerika und Australien; und deren Einwohner vergaßen, dass die Gattung „Homo“ ursprünglich, jedenfalls nach dem derzeitigen Stand der Forschung, vom Turkana-See stammt.

Das Überwindenwollen biologischer Grenzen ist allen Lebewesen immanent. Aber die hier geschilderte Form der Überwindung gibt es nur in der besonderen Entwicklungsgeschichte des Menschen. Er, die Art Homo Sapiens, war derjenige, der seine biologischen Grenzen bisher am deutlichsten überwinden konnte. Wie es dazu gekommen sein könnte, wird in den kommenden Kapiteln dargestellt.

Moral - aus dem Nichts?

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