Читать книгу Trilogie des Mordens - Ulrich W. Gaertner - Страница 8

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Der gut gekleidete Reisende, der den Komfort der weichen Polster genießt, schreckt aus seinen Gedanken hoch. Die trennende Glastür ist mit einem Ruck aufgeschoben worden. Im metallenen Türrahmen steht plötzlich ein großer Mann. Sein Gesicht verbirgt sich hinter einer ABC-Schutzmaske. Wie bei der Bundeswehr zu meiner Zeit, registriert der Überraschte. Das ist nicht normal.

Mit einer blitzschnellen Handbewegung wirft der Eindringling etwas Blinkendes auf den Fußboden des engen, beleuchteten Raumes und tritt mit einer ebenso schnellen Bewegung darauf. Der Sitzende nimmt verwundert ein leises Knirschen wahr. Er richtet seinen Blick auf die Stelle, von der der Eindringling seinen Fuß schon wieder zurückzieht und mit einer gleitenden Bewegung den Raum mit den gepolsterten Sitzreihen verlässt. Als er die Tür zuschiebt, steigt bereits von dem zerbrochenen Gegenstand ein bitterer Geruch auf und füllt sekundenschnell den Raum in seiner Gänze aus. Urplötzlich springt der Passagier auf und umfasst mit beiden Händen seinen Hals, der keine Luft mehr zu den Lungen durchlassen will. Er erkennt die tödliche Gefahr. Taumelnd, mit herausquellenden Augen und rasendem Puls erreicht er die Glastür, die den Weg zum Leben versperrt. Doch der Maskierte auf der anderen Seite muss nicht einmal besonders viel Kraft aufwenden, um sie verschlossen zu halten.

Der Hilfesuchende knickt haltlos zusammen, sein Magen entlädt sich unkontrolliert. Die letzte Erkenntnis seines absterbenden Gehirns gilt seinem Mörder, den er trotz der Vermummung erkannt hat. Dann ist alles nur noch Dunkelheit um ihn herum und er nimmt nicht mehr wahr, dass der Maskierte gleichgültig über ihn hinweg steigt. Ein paar gezielte Handgriffe, und schon ist dessen Aufgabe erledigt. Die reglose Gestalt auf der grauen Auslegeware interessiert ihn schon nicht mehr, auch nicht der tödliche Dunst, den die Spezialfilter seiner Maske mühelos absorbieren. Auf seinem Weg in den Schatten der Nacht lässt er die Schiebtür geöffnet zurück. Sie hat ihren Zweck erfüllt.

Wie in einem Traum, beinahe lautlos, bewegen sich schemenhafte, fremde Gestalten – ab und zu in einen Lichtkegel getaucht – auf dem Weg in die Schatten. Auch ihre Gesichter sind dunkel maskiert. Gefahr geht von den Gestalten aus.

Die anderen beiden vertrauten Gestalten nehmen den Weg ins Licht. Ihre Schuhe erzeugen auf den rechteckigen Betonplatten des großen Bahnhofes ein dumpf stampfendes Geräusch. Mit Erstaunen nimmt der unsichtbare Beobachter eine weitere Gestalt im Augenwinkel wahr. Allzu Bekanntes spannt plötzlich den Bogen in die Erinnerung. Dann ist auch dieser Moment Vergangenheit.

Der vom Alkohol benebelte Mann realisiert noch nicht, was ihm seine Augen mit ihren Millionen von Sehzellen übermitteln Die dem Beobachter eigene Vorsicht rät ihm, dem Ort der zweigeteilten Handlung schleunigst den Rücken zu kehren. Nicht ahnend, dass sich das traumähnliche Vorkommnis zu einem Alptraum entwickeln wird.

Der Mitternachts-ICE ist schon mit Verspätung in Hamburg gestartet. Als er nun mit kreischenden Bremsen bei seinem außerplanmäßigen Halt auf Gleis 1 des leer gefegten Bahnhofes in Lüneburg zum Stehen kommt, sind der diensthabende Aufsichtsbeamte und die beiden Polizeibeamten in den dunkelgrünen Uniformen der Bundespolizei die einzigen, die gespannt das Eintreffen des Zuges erwarten. Nach einem Anruf des Zugbegleiters hat der Diensthabende seine Entscheidung getroffen. Der Triebkopfführer bringt den schnellen Zug mit der aerodynamischen cremefarbenen Nase so zum Stehen, dass die Wagen 28 und 29 direkt vor dem Ausgang zur erleuchteten Bahnhofshalle zum Stehen kommen. Der lange Rest des Fernreisezuges verliert sich am Ende des endlos scheinenden Bahnsteiges im Dunklen.

Der Bahnbeamte, der den zwei Bundespolizisten im Nachbargebäude die Eilt-Nachricht aus dem Dienstabteil des Zugführers persönlich übermittelte hatte, traf beide Beamte vor dem Fernseher dösend an. Die plötzliche Störung durch die unangenehme Nachricht hatte sofort hektische Aktivität ausgelöst.

Ein Toter im ICE 1403, in der Ersten Klasse, Wagen 28, Abteil 8, lautete der Text der Meldung.

Der frühlingskalte Nachtwind fegt von Westen über den Bahnsteig. Die Polizisten ziehen den Reißverschluss ihrer dunkelgrünen Einsatzjacken fast gleichzeitig hoch und blicken erwartungsvoll auf die Waggontür, die sich jetzt zischend öffnet. Dort erscheint der junge Zugführer in seiner dunkelblauen Dienstkleidung, darauf ein Namensschildchen.

Groß, schlank, dynamisch wirkend; eine ansprechende Erscheinung, wie auf den Werbeplakaten der Deutschen Bundesbahn, denkt Polizeihauptmeister Falkenberg, der ältere der beiden Polizisten und betrachtet wehmütig seinen leichten Bauchansatz.

Doch zu dem so souverän wirkenden Äußeren passt die Stimme des Mannes nicht. Blass und leicht krächzend wendet er sich an die drei Uniformierten, die auf dem Bahnsteig warten.

„Anja, meine Zugbegleiterin, kam kurz hinter Hamburg in mein Dienstabteil. Sie war völlig durcheinander. „In Abteil 8, Erste Klasse, vor dem Servicewagen, liegt ein Toter!“ Als wir der den Fundort erreichten, sah ich durch die offene Tür einen Mann auf dem Boden liegen. Es stank abscheulich nach Erbrochenem. Der Mann rührte sich auch nicht, als ich ihn einige Male mit dem Fuß anstieß.“

Aufgeregt unterbricht der Zugführer die lange Erklärung und wischt sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. Die beiden Polizisten blicken sich wortlos an.

„Na, dann lassen Sie uns mal ran, Herr Kollege.“

„Wird schon nicht so schlimm sein, oder haben Sie noch nie ’ne Leiche gesehen?“

Der Zugführer fasst sich ein Herz:

„Vielleicht habe ich mich ja auch getäuscht und der Mann lebt noch. Und außerdem müssen wir gleich weiterfahren.“

Polizeihauptmeister Falkenberg blickt den Gesprächspartner irritiert an und schüttelt ablehnend den Kopf.

„Ich glaube, da wird nichts draus, wenn Ihre Beobachtungen zutreffend sind“, dröhnt seine kräftige Stimme mit deutlich niederdeutschem Einschlag.

„Nu geih mol voran, Jung, dormit wi in Gang komen deien.“

Kommissar Brüning muss grinsen. Wenn es ernst wird, fällt der Kollege in seine plattdeutsche Mundart. Eilig steigen die drei Bundesbediensteten in den langen Abteilkorridor des kaum belegten Waggons. Eine Abteiltür wird geöffnet, und eine helle Frauenstimme fragt aufgeregt, was denn da los sei. Nach wenigen Schritten kommt den Männern schon der penetrante Geruch von Erbrochenem entgegen. Vor der offenen Tür des hellerleuchteten Abteils bleiben sie wie angewurzelt stehen.

„Bleibt bitte mal zurück.“

Polizeikommissar Brüning macht einige Schritte vorwärts, beugt sich über die auf dem Bauch liegende, zusammengekrümmte Gestalt. Vorsichtig dreht er den Mann auf die rechte Körperseite. Zielsicher ertastet er die Arterie an der linken Halsseite, verharrt eine Weile und schüttelt den Kopf.

„Sie haben jetzt ein echtes Problem, Herr Kollege. Sie werden den Mitreisenden klarmachen müssen, dass dieser Zug in den nächsten Stunden nicht weiterfahren wird."

Mit einem Ruck zieht Polizeikommissar Brüning die Abteiltür hinter sich zu.

„Hier darf jetzt nichts verändert werden. Können Sie die Tür verschließen, Herr …, ah Berkemüller?“

Er blickt den Zugführer erwartungsvoll an und greift nach seinem Notizbuch.

„Höchste Zeit für ein paar Daten. Was war eigentlich das Reiseziel?“

„Frankfurt/Main; Frankfurt Hauptbahnhof über Hannover, Göttingen, Fulda …

Sein Kollege unterbricht die Aufzählung.

„Halt, halt, das genügt. Ich werde schon mal den Notarzt verständigen.“

„Und gleich die Kripo dazu. Mein Bauchgefühl sagt, das könnte ein Fall für die Mordkommission werden.

„Die Mordkommission?“

Die krächzende Stimme des Zugführers klingt erschrocken.

„Auch das noch. Die hatten wir noch nie an Bord.“

„Einmal ist immer das erste Mal.“ Das ist die knappe Entgegnung von Falkenberg, der mit raschen Schritten den üblen Gestank hinter sich lässt und mit einem tiefen Atemzug die kalte Nachtluft des Bahnsteiges einsaugt.

Dort steht ungeduldig und frierend der Aufsichtsbeamte. Knapp zehn Minuten sind vergangen.

„Und wie geht es weiter, Herr Falkenberg?“

„Ja, wie wohl? Da habt ihr uns eine vollgekotzte Leiche serviert. Absolut erste Klasse, muss ich schon sagen. Der Zug bleibt stehen, bis Kripo und Notarzt hier sind.“

„Ach, du lieber Himmel. Ich muss sofort die Zentrale in Hamburg benachrichtigen. Die müssen entscheiden, wie es weitergeht. Wahrscheinlich werden die den Fahrplan komplett umstellen und einen Ersatzzug schicken.“

Bewegung kommt in den korpulenten Aufsichtsbeamten, der nun im Laufschritt in seine Diensträume eilt. Von dort vernimmt Polizist Falkenberg das schrille Läuten eines Telefons. Das wird eine unruhige Nacht. Ein Blick auf die große Bahnhofsuhr. Null Uhr zwanzig. In seinem Büro greift er zum Telefon und wählt die Nummer der Kriminalpolizei Lüneburg. Scheunen Schiet dat, denkt der gebürtige Heidjer.

In der Villa auf dem großen Areal in Blankenese mit Elbeblick verbreitet die abgedimmte Stehlampe im Jugendstil im Herrenzimmer mit den hohen Bücherwänden ein angenehmes Licht. In einem bequemen Ledersessel, dem englischen Kamin mit den müde flackernden Flammen zugewandt, sitzt der einzige wache Bewohner des Hauses. Der Mann mit den eisgrauen Haaren, dem energischen Gesicht lauscht dem leisen Knistern und der Melodie, die den Raum leise durchströmt. Er summt sie leise vor sich hin, während er gedankenverloren das geschliffene Kristallglas mit dem Single Malt aus der Familienbrauerei auf den Hebriden an die Lippen führt. Dabei verzerren sich seine Gesichtszüge vor Hass. Seine linke Faust ballt sich unwillkürlich. Ein Blick zur Kaminuhr, einem Erbstück seines Großvaters. Mitternacht ist lange vorbei.

Es war an der Zeit gewesen, den Schritt zu tun. Ein letzter Schluck des bräunlich gelben Lebenswassers, so wie die Schotten ihren Whisky nennen, weich und leicht rauchig mit dem Geschmack und der Farbe der Bachläufe auf der Insel. Zufrieden lehnt sich der Mann im Sessel zurück. Seine Züge glätten sich, der Puls findet zur normalen Frequenz. Nach einer Weile erhebt er sich geschmeidig, trotz seines über die Lebensmitte hinausreichenden Alters. Er lauscht in den hohen Raum und nach oben. Doch alles bleibt still. Seine Ehefrau, die schon lange ein eigenes Schlafzimmer hat, bleibt unsichtbar. Egal, sie wird jederzeit beschwören, dass ich die Villa nicht verlassen habe. Sie braucht schließlich mein Geld.

Bevor der Mann das herunterbrennende Kaminfeuer sich selbst überlässt, wirft er noch einen Blick in den kleinen Wandtresor hinter dem wertvollen Kandinsky.

Der Anblick der vielen gebündelten Scheine mit den vierstelligen Zahlen macht ihn zufrieden. Der Ist-Zustand ist wieder hergestellt. Mit leichten, fast beschwingten Schritten gelangt er über die breite Marmortreppe in die obere Etage, in denen sich seine Räume befinden. Heute werde ich wieder besonders gut schlafen, denkt der Mann, als er die Schlafzimmertür öffnet.

Der Anruf von der Polizeiwache erreicht Kriminalhauptkommissar Kluge in seiner ersten Tiefschlafphase, kurz nach ein Uhr morgens. Wenig später ist er hellwach, nachdem er mit dem schnurlosen Telefon in der Hand das Schlafzimmer verlassen hat.

„Tu mir einen Gefallen und sprich langsamer und leiser Kollege, ja?“

„Okay, Bernhard. Ich bin in einem ICE-Waggon auf einem Abstellgleis am hiesigen Bahnhof. Wir haben einen Toten in der Ersten Klasse, der nicht so gut aussieht.“

„Wie, was heißt das? Kannst du das etwas konkreter beschreiben, Kollege Bauer?“

„Also, männliche Leiche in Bauchlage, voll mit Erbrochenem und rosarote Hautverfärbung. Keine sichtbaren Verletzungen. Leichenstarre eingetreten. Könnte eventuell eine Vergiftung vorliegen.“

„Na, das ist doch schon eine ganze Menge.“ Kluge zögert.

„Gibt es sonst etwas Auffälliges im Abteil? Habt Ihr vielleicht schon Personaldaten?“

„Nein, darauf haben wir zunächst verzichtet. Ich gehe davon aus, dass wir die bei der Leiche oder dem Gepäck finden. Wir wollten aber nichts verändern, bis …

„Mit anderen Worten: Ich soll kommen!“

„Das ist unsere Bitte. Torsten und ich nehmen schon den äußeren Tatortbefund auf.“

„Das ist sehr vernünftig. Benachrichtigt schon mal den Erkennungsdienst. Den werden wir brauchen. Ach, noch was: War der Notarzt schon an der Leiche?“

„Nein; wir wollten erst mal …“

„Schon gut, dann gebt dem Erkennungsdienst Kenntnis.“

„Okay Bernhard, das veranlasse ich sofort. Du findest uns über die Kollegen von der Bahn … Äh, ich meine natürlich Bundespolizei. Die erwarten dich in ihrem Büro.“

„Bis gleich, Jürgen.“

Kluge beendet das Gespräch und betritt sein Arbeitszimmer. Im Schrank hängt immer eine komplette Garnitur, für den Fall, dass er plötzlich in den Dienst gerufen wird. Flink schlüpft er in die Hose, dann kurz ins Bad, fertig angezogen und runter in die Küche.

Schnell einen Pulverkaffee zubereitet, in der Zwischenzeit die Schuhe angezogen, ach ja und seinen Rauhaardackel Felix in den Garten gelassen. Als er hastig den heißen Kaffee trinkt, hört er Felix an der Terrassentür kratzen und gleichzeitig seine müde Frau die breite Steintreppe hinunter kommen.

„Ach, mein Lieber, musst du schon wieder zu einer Leiche? Die mögen dich wohl? Wie schröcklich, nöch?“

Ninette-Elaine, seine manchmal geplagte Ehefrau elsässischer Herkunft, schüttelt sich ein bisschen geziert. Kluge nimmt seine Frau zärtlich in die Arme und küsst sie sanft.

„Ich war so leise, und nun bist du doch wach geworden, mein Lieb.“

„Gräm’ dich nicht, ich bleib’ ja hier und kann weiter schlafen.“

Ihre dunklen Augen strahlen.

„Aber nun musst du mich endlich los- und deinen Jagdhund wieder hereinlassen, bevor er sämtliche Nachbarn weckt.“

In der Tat, so hört es sich an. Kluge hat das immer lauter werdende Knurren überhört. Gerade noch rechtzeitig öffnet er die Tür zur Terrasse. Flink wie ein Wiesel ist der kleine Hund im Warmen und springt um seine Rudelführer herum, als hätten sie ihn aus größter Not befreit. Beide blicken sich an und lachen.

„Felix, du hast es wirklich am besten, weil du jetzt mit Frauchen kuscheln kannst. Sehr wahrscheinlich in meinem Bett, ob wohl es dir mehrfach untersagt wurde.“

Der kluge Hund blickt seinen Herrn aufmerksam an, als wollte er sagen, Nun verschwinde endlich. Dann hat Kluge die Tasse leergetrunken und ergreift zur Einsatztasche. Kurz nach halb zwei. Auf geht’s.

„Schlaf noch gut. Notfalls erreichst du mich auf dem Bahnhof in Lüneburg.“

Elaines Blick ist fragend.

„Nein, nein, ich verlasse dich nicht, auch nicht mit dem ICE.“

Die beiden Eheleute, deren Kinder bereits aus dem Haus sind, geben sich einen Abschiedskuss, der schon dienstlich knapp ausfällt. Dann klappt die Haustür. Die Hausbeleuchtung erlischt. Wenig später brummt das Auto ab in Richtung Bahnhof Lüneburg. Kluge ahnt nichts Gutes von dem gerade beginnenden Tag.

In der gepflegten Doppelhaushälfte im ruhigen Viertel am Werrapark, unweit des Flusses gleichen Namens, gehen zur annähernd gleichen Zeit die Lichter an. Karin Lindholm, eine hübsche Vierzigerin und Büroleiterin in der ehrwürdigen Kanzlei Schubert & Schubert am Markt der kleinen Stadt Hann. Münden, in der die Touristen die Statue des Dr. Eisenbart bestaunen, greift zum wiederholten Mal zu ihrem Wecker. Zwei Uhr durch; Hans-Georg ist nicht nach Haus gekommen. Ein unbekanntes Angstgefühl macht sich breit. Bei ihrem letzten Telefonat nach 21.00 Uhr hat er glücklich und erleichtert geklungen. Es hat alles geklappt in der Besprechung. „Ich habe den Auftrag an Land gezogen. Nun werden wir unsere Schulden los, mein Herz.“ Sie hatte große Erleichterung verspürt, so wie sie jetzt unerklärliche Angst hat. Quatsch, denkt sie. Alles nur Einbildung. Der ICE aus Berlin hat nur Verspätung. Das kommt häufig vor. Doch dann wird ihr plötzlich heiß; ihr Herz fängt an zu rasen. Es ist etwas Schlimmes passiert mit Hans, sie fühlt es. Nun hält sie nichts mehr im Bett. Mit ein paar Schritten ist sie im Badezimmer, dreht den Wasserhahn weit auf und lässt sich kaltes Wasser über ihre Handgelenke laufen. Das verschafft ihre deutliche Erleichterung. Mit einem Handtuch trocknet sie sich flüchtig ab und schleicht leise die Treppe hinab. Nicht leise genug. Die Tür von Timms Zimmer öffnet sich.

„Was is’n los Mama? Ist Papa schon da?“ Timm reibt sich in der Tür stehend die Augen. Sie zuckt erschrocken zusammen.

„Es ist alles in Ordnung. Der ICE hat Verspätung. Deshalb ist Papa nicht mehr von Göttingen wegkommen. Er hat mich gerade angerufen“, lügt sie tapfer und streicht ihrem Sohn liebevoll über die Haare.

„Geh nur wieder schlafen, mein Großer.“

Damit schiebt sie ihn sanft in sein Zimmer zurück.

„Ist wirklich alles in Ordnung?“

„Alles in Ordnung. Und nun schlaf gut, mein Schatz.“

Als sie den Lichtschalter betätigt und die Tür leise hinter sich zugezogen hat, kann sie sich kaum noch beherrschen. Wie ferngesteuert gelangt sie hinunter ins Wohnzimmer. Tränen rinnen unkontrolliert über ihre Wangen. Als sie sich wieder gefasst hat, greift sie zum Telefon. Wenig später meldet sich die freundliche Stimme einer Frau von der Auskunft.

„Geben Sie mir die Nummer des Bahnhofes in Göttingen, nein, besser verbinden Sie mich bitte gleich.“

Der Ruf geht raus, Karin Lindholm zählt die Frei töne mit. Beim neunten Mal ist die Verbindung da.

„Deutsche Bahn in Göttingen. Mit wem darf ich Sie verbinden?“

„Bitte geben Sie mir den diensthabenden Stationsvorsteher, es ist dringend.“

Eine Weile tut sich gar nichts. Dann Geräusche und eine weitere Frauenstimme.

„Bahnhof Göttingen, Leitstelle Christina Schäfer. Was kann ich für Sie tun?“

„Karin Lindholm, Kanzlei Schu…, äh ich meine aus Hann. Münden. Frau Schäfer, können Sie mir sagen, ob der Intercity 403, Abfahrt 22.01 Uhr in Berlin Hauptbahnhof, pünktlich um 02.10 Uhr in Göttingen angekommen ist?“ Nach der Frage bleibt es still. Nur ein kurzes Räuspern.

„Frau Schäfer, haben Sie mich verstanden oder soll ich die Frage wiederholen?“

Lindholms Stimme hat an Schärfe zugenommen, so wie manchmal in der Kanzlei, wenn vergessliche Klienten nach neuen Terminen fragen. Gespannt wartet sie, hört aber nur ein mechanisches Summen und dann zwei Stimmen. Das andere ist eine Männerstimme. Dann nur noch das Summen. Die Leitung ist unterbrochen.

„Frau Schäfer, bitte antworten Sie. Es ist dringend. Es geht um meinen Mann.“

Doch in der Leitung bleibt es stumm. Karin Lindholm zittert die Hand. Da stimmt was nicht. Nochmal dieselbe Nummer. Besetzt. Nochmal. Endlich der Frei ruf.

Und dann die Automatenstimme: „Leider rufen Sie außerhalb unserer Geschäftszeiten an. Wir sind von 08.00 Uhr bis 22.00 Uhr für Sie da. Außerhalb dieser Zeit haben Sie die Möglichkeit, uns Ihre Wünsche auf Band zu sprechen. Wir bedienen Sie dann in der Reihenfolge Ihrer Anrufe“, erklärt eine weibliche Stimme.

„Hat sich was mit Reihenfolge.“ Wütend knallt Lindholm den Hörer auf. Dann ist das Handy dran. Mit Druck auf die Speichertaste geht der Ruf an ihren Mann, den Abteilungsleiter des großen Pharmaunternehmens, der spezielle Kunden persönlich betreut. Mit dem beruflichen Aufstieg hat sich das Leben ihrer kleinen Familie verändert. Es ist wieder Geld geflossen. Die Darlehen bei verschiedenen Banken konnten zum Teil abbezahlt werden. Und dann die überraschende Nachricht gestern Abend über den großen Auftrag. „Wir haben es geschafft, mein Herz!“

Karin Lindholm hört im Geiste noch die vor Freude vibrierende Stimme ihres Mannes. Zurück in die Wirklichkeit: „The person you have called is temporarily not available.” Hans-Georgs Handy ist ausgeschaltet. Das ist ungewöhnlich. Wieder spürt sie die Angst in sich hochsteigen. In den vergangenen zwei Wochen wirkte er oft gereizt, ohne einen erkennbaren Grund. Wahrscheinlich ist er doch noch in Berlin aufgehalten worden. Vielleicht hat er mit seinen Mitarbeitern einen Kudamm-Bummel gemacht oder ist mit ihnen „Unter den Linden“ versackt. Grund zum Feiern gab es ja.

Ja, so wird es sein. Das ist zwar nicht unbedingt seine Art, aber bei einem so großen Auftrag schon mal möglich. Er wird in Berlin übernachten. Die Firma hat immer ein Platzkontingent im „Plaza“ zur Verfügung. Morgen früh rufe ich dort an. Dann wird Hansi ausgeschlafen sein und froh und glücklich nach Hause kommen. Aufgeräumt schaltet sie das Handy ab. In der Küche trinkt sie ein Glas Mineralwasser. Kühl sprudelnd vertreibt es die Trockenheit in ihrem Mund.

Auf dem Weg ins obere Stockwerk horcht sie an Timms Tür. Alles ist ruhig. Bevor sie sich endgültig zum Schlafen hinlegt, hängt sie übertrieben sorgfältig ihren Hausmantel auf, bürstet ihr fülliges, dunkelbraunes Haar und klopft das aufgewühlte Bett zu Recht.

Nach letztem Blick auf die Uhr rollt sie sich auf die Seite. Suchend streicht ihre Hand über das leere Kopfkissen.

„Komm’ bitte wieder nach Hause, mein Hansi, lass mich nicht allein“, flüstert sie leise. Die beruhigenden Geräusche des plätschernden Flusses, die durch das gekippte Fenster hereindringen, lassen sie schnell einschlafen.

Im Erste Klasse Abteil des leeren Waggons 28 des ICE haben die weiß gekleideten Männer der Spurensicherung alle Hände voll zu tun. Die Leiche des unbekannten Mannes, bekleidet mit einem teuren, dunklen Anzug, liegt nun in Rückenlage auf einer ausgebreiteten Plane, direkt unter dem hellen Licht einer hohen Halogenlampe des Bahnsteigs. Rund 20 Meter entfernt parkt der dunkle Mercedes-Kombi der Bestatter Firma. Die Träger warten im Auto auf einen Wink von Kriminalhauptkommissar Kluge. Der steht mit beiden Kollegen vor dem Toten. In den weißen Schutzanzügen ähneln die drei übergroßen Schmetterlingsraupen in ihren Kokons. Der junge Notarzt des Rettungsdienstes richtet sich gerade wieder auf.

„Ich heiße Kluge“, sagt der Kriminalhauptkommissar.

„Carstensen, Dr. Carstensen“, antwortet der Mediziner.

„Sind Sie neu?“, fragt Kluge

„Ich bin schon einige Zeit dabei.“

„Aber ich habe noch nie was von Ihnen gehört.“

Carstensens Gesicht verfärbt sich im Licht der Bahnhofslampe.

„Ich von Ihnen auch noch nichts. Und außerdem arbeite ich meistens nachts.“

„Na gut, meinetwegen. Was ist mit dem Toten hier?“

„Ach ja. Erstens: Der Mann ist eindeutig tot. Zweitens: Zur Todesursache noch nichts Genaues. Der Mann hat sich vermutlich kurz vor seinem Tod erbrochen. Äußerliche Verletzungen sind zumindest jetzt nicht zu erkennen.“

„Das sind ja überzeugende Erklärungen. Könnten von mir stammen.“

Die Ironie in der Stimme des Ermittlers ist nicht zu überhören. Die beiden Kollegen blicken erwartungsvoll. Sie kennen Kluge.

„Also natürlicher Tod, oder auch eine Vorerkrankung als Todesursache, Doktor?

Kluge blickt den Mediziner forschend an.

„Das ist durchaus möglich. Auch mit einem Angina-Pectoris-Anfall kann Erbrechen einhergehen. Aber ich denke, Sie sollten eine Leichenöffnung veranlassen. Das habe ich auch in den Totenschein geschrieben.“

„Wann war die Todeszeit?“

„Ungefähr vor zwei bis drei Stunden“ „Genauer geht’s nicht, Doktor?“

„Da müssen Sie wohl die Obduktion abwarten, Herr Hauptkommissar. Sind Sie doch, oder?“

Kluges Ermittler müssen grinsen. Das macht ja richtig Freude zuzuhören.

„Ist Ihnen sonst noch etwas an der Leiche aufgefallen, Doktor?“

Der Mediziner überlegt und blickt Kluge verdutzt an.

„Wenn Sie mich so fragen, Herr Hauptkommissar. Da war etwas Auffälliges. Fast hätte ich es vergessen. Als ich im Abteil bei der Leiche war, glaubte ich einen ganz leichten Geruch nach Mandeln wahrzunehmen. Aber das war sofort wieder vorbei.“

„Nach Mandeln? Meinen Sie etwa Bittermandelgeruch?“ Kluge spannt sich deutlich.

„Mein Kollege hat von einer auffälligen Hautverfärbung im Gesicht des Toten berichtet. Rosarot. Ich hatte es der Bauchlage zugeschrieben. Aber es könnte vielleicht eine andere Bedeutung haben.“

Die beiden Männer, der jüngere Mediziner und der ältere Kriminalist, schauen sich an. Jetzt sind sie auf Augenhöhe. Jetzt zählen nur noch die Fakten.

„Lassen Sie uns noch einmal genau das Gesicht betrachten, Doktor. Es ist möglich, dass das Kunst licht hier die Hautfarbe beeinflusst.“

Dr. Carstensen beugt sich konzentriert über den Oberkörper des Toten. Aus seiner Tasche zieht er eine kleine Maglite Taschenlampe. Der helle Lichtstrahl gleitet langsam über Wangen und Stirn des Toten. Nun erkennen Kluge und seine Kollegen sehr deutlich: Die Gesichtshaut des Mannes weist einen rosaroten Farbton auf, der sich zum Halsbereich erweitert, als der Arzt die Krawatte lockert und den Kragen öffnet.

„Ziemlich eindeutig.“ Der Mediziner lässt die kleine Lampe verschwinden.

„Was meinen Sie damit, Doktor? Passt es zu Ihrer Vermutung mit dem Geruch?

„Vermutlich ja. Nach den jetzigen Feststellungen kann ich sagen, dass der Mann vermutlich vergiftet wurde. Durch Blausäure. Wie, weiß ich nicht – ich meine, wie das Gift in seinen Körper gelangt sein könnte. Das müssen Sie herausfinden.“

Die drei Kriminalisten blicken sich eine Weile sprachlos an.

„Auf jeden Fall ist Blausäure ein äußerst wirksames und absolut schnell tötendes Gift. Man kann es oral verabreichen, aber auch durch Inhalation der freiwerdenden Cyan-Dämpfe.“

Die Ermittler staunen.

„Donnerwetter, Doktor, woher …?“

„Ja, Herr Kluge, ich hatte während meiner AIP-Zeit im Krankenhaus die Möglichkeit, mit einem Pathologen zusammen zu arbeiten, der eine Koryphäe in Toxikologie war. Von dem habe ich viel gelernt. Aber nun sind Sie mit Lernen dran, Herr Kommissar.“

Der Arzt blickt zufrieden lächelnd auf die Uhr; fast zeitgleich beginnt sein Rufmelder zu summen.

„Also, tschüss die Herren Kriminalisten. Die Arbeit ruft. Ich stelle Ihnen einen neuen Totenschein mit der wahrscheinlichen Todesursache aus: Tod durch Intoxikation, vermutlich einer Cyanid Verbindung.“

Mit eiligen Schritten verschwindet der weiß Gekleidete in Richtung Bahnhofsgebäude und lässt drei ratlose Kriminalisten zurück.

„Den Schein können Sie heute Vormittag im Städtischen abholen lassen“, hallt es über den leeren Bahnsteig.

„Na, das ist ein tolles Ding, Bernhard, was?“

Jürgen Bauer blickt nachdenklich auf die Leiche des Mannes, dem die Aussage des Mediziners gilt. Was mag dem grausamen Tod vorangegangen sein?

„Dann war es doch richtig, dass wir dich aus dem Bett geholt haben!“

Bauer grinst ironisch.

„Mord oder Selbstmord, das ist hier die Frage, die uns auch heute noch der Staatsanwalt stellen wird. Aber erst mal muss jetzt die Leiche weg, danach sehen wir uns nochmal den Fundort an, okay?“

Kluge reibt sich unruhig die Nase.

„Außerdem ist mir noch etwas aufgefallen, Kollegen.“

„Ich glaube, ich habe diesen Mann schon mal irgendwo gesehen. Vor längerer Zeit. Aber mir fällt im Moment nicht ein, wo.“

Der zweite Beamte, Torsten Wender, auch Kriminaloberkommissar, nickt zustimmend.

„Dann sollten wir uns unbedingt das Gepäck ansehen. Vielleicht bringt uns das weiter, Bernhard.“

Kluge winkt den Bestattern zu. Wenig später kommen die zwei grau gekittelten Männer mit einem ebenfalls grauen Transportsarg aus Kunststoff heran geeilt. Vorsichtig wollen sie die Leiche mitsamt der Plane in den Sarg betten.

„Halt, halt. Einen Moment noch.“

Die Männer blicken verdutzt.

Kluge zieht aus seiner Tasche zwei große Plastikbeutel und reicht sie Wender.

„Streif’ sie bitte der Leiche über die Hände. Und unten zukleben. Vielleicht finden wir an den Fingern Hinweise auf das Gift – oder etwas unter den Nägeln.“

Der Beamte nickt. Jetzt haben die Bestatter freie Bahn.

„Noch weitere Wünsche, Herr Kluge?“, fragt der Ältere grinsend.

„Alles im grünen Bereich, meine Herren. Also, die Leiche kommt in die Pathologie des Städtischen Krankenhauses!“ Kluge betont den Bestimmungsort.

„Und nicht wie das letzte Mal in die Friedhofskapelle am Waldfriedhof!“

Jetzt ist er es, der ironisch grinst.

„Und nun mal los. Verfahren Sie sich nicht.“

Peng, das hat gesessen. Die Ermittler grinsen voller Schadenfreude hinter den beiden Graukitteln her, als diese düpiert mit dem schweren Sarg zum Fahrzeug stapfen.

„Haben wir schon die Personalien des Toten, Jürgen?“

„Bis jetzt noch nicht. Im Jackett habe ich nichts gefunden. Aber vielleicht im Gepäck. Ich meine, da lag ein schwarzer Aktenkoffer in der Ablage.“

„Okay. Ich will den Kollegen vom Bund Bescheid sagen, dass der Waggon noch hierbleiben muss. Danach können die das Flatterband vom Bahnsteig einsammeln.“

Kluge blickt auf die Uhr. Schon nach vier. Frisch ist es auf dem Bahnhof geworden. Die ersten Frühreisenden sind zu sehen. Die nächtliche Kühle lässt ihn frösteln und an sein warmes Bett denken. Von der Stadt dringen die Geräusche fahrender Autos herauf. Wahrscheinlich die ersten Lieferanten und Wochenmarktaussteller. Aber auch wir werden heute reichlich zu tun haben. Was wird uns der neue Fall bringen? Welches Schicksal verbirgt sich dahinter, und was für ein Mensch war der Tote? Hatte er Frau und Kinder? Nach seinem Äußeren zu urteilen, bestimmt niemand aus dem Sozialhilfemilieu. Aber das will nichts sagen. Dann geht Kluge mit seinen raschen Schritten in Richtung Bahnpolizeiwache. Der Notarzt fällt ihm ein. Dem geht es auch nicht viel besser als uns. Im Gegenteil. 36-Stunden-Schichten sind im Krankenhaus ganz normal.

Der neue Fall hat sich schnell auf der Dienststelle herumgesprochen. Als Kluge nach Abschluss des „Ersten Angriffs“, also den ersten Ermittlungen am Tatort, das Dienstgebäude erreicht, wird er auf dem Großen Hof von den Kollegen des Fahrdienstes angesprochen.

„Na, Bernhard, da habt ihr wieder ein schönes Scheißding an den Hacken, was?“

So oder ähnlich lauten auch die Sprüche der später eintreffenden Kollegen, die besorgt an ihr Wochenende denken. Der eine oder andere gehört der Mordkommission an, und das bedeutet grundsätzlich Abordnung zum Dienst auf unbestimmte Zeit. Kluge grinst in sich hinein. Er kennt das. Aber ob bei dem jetzigen Sachstand bereits eine Kommission mit hohem Personaleinsatz erforderlich ist, kann erst nach einer Lagebeurteilung und Besprechung mit dem Leiter der Polizeiinspektion entschieden werden.

Ungefähr zwölf Stunden später, Freitagnachmittag um viertel nach Vier, hat sich das Dienstgebäude der Polizeiinspektion bis auf wenige Beamten geleert. Ein Frühlingswochenende steht vor der Tür, und da sieht jeder zu, dass er möglichst weit weg ist von der Dienststelle. Im Fall der unbekannten ICE-Leiche hält der Leiter des Zentralen Kriminaldienstes, des junge Kriminalrat Tödter, die Einrichtung einer Mordkommission für erforderlich. Kluge als Leiter des Fachkommissariats für Tötungsdelikte hingegen hat sich noch nicht entschieden.

„Meine Leute reichen aus. Außerdem müssen wir das Obduktionsergebnis abwarten. Hinzu kommt, dass unsere Staatsanwaltschaft noch mit der Staatsanwaltschaft in Hamburg abklärt, durch wen die Sachbearbeitung erfolgen soll, weil der Tatort auf Hamburger Gebiet liegt.“, erklärt Kluge. Nachdem er über den Fund eines vermutlich gedruckten und nicht mit einer Schreibmaschine geschriebenen Abschiedsbriefes berichtet hat, der bei der Spurensicherung im 4. Kommissariat auf Fingerspuren ausgewertet werden soll, stimmt der ZDK-Leiter widerstrebend zu. Deshalb sitzen kurz darauf zwei Kriminalbeamtinnen und fünf männliche Kollegen in Kluges großem Dienstzimmer, das er als Leiter und Nachfolger der vorzeitig pensionierten Ersten Kriminalhauptkommissarin Gundula Michels beziehen durfte.

Zusammen stellen sie die Mannschaft des 1. Fachkommissariats dar, die mit gleich bleibend hoher Motivation versucht, den schweren Sexualdelikten, Brandstiftungen und Tötungsverbrechen in Stadt und Landkreis Lüneburg, Herr zu werden. Zur Motivation trägt die hohe Aufklärungsquote in diesen Deliktgruppen bei, die im Gegensatz zu Raub- und Diebstahl Delikten zwischen 65% und 95 % beträgt. Aber diese Ergebnisse müssen in mühseliger, zeitraubender und hartnäckiger Art und Weise erarbeitet werden. Die Kaffeetassen scheppern, als Kluge seinem Vertreter Kriminalhauptkommissar Scharnhorst das Wort erteilt.

„Fang’ bitte an, Winfred. Der Tag ist schon alt genug.“

Dieser greift zu den Aufzeichnungen von der Obduktion.

„Schöne Grüße von den Hamburger Gerichtsmedizinern. Sie bedanken sich für den Auftrag und würden dich gern mal wieder sehen …“

Kluge grinst abwartend, und schon erfolgt die spontane Reaktion von Mike Gebert, einem jüngeren Oberkommissar mit scharfem Mundwerk.

„Liegend oder stehend? Wenn ich mir das so vorstelle, Bernhard nackt auf dem kalten Metalltisch, brrr…“

Die aufgebaute Spannung und der vorhandene Frust über ein zu erwartendes, arbeitsreiches Wochenende, entladen sich in fröhlichem Gelächter. Nachdem sich der Lärm gelegt hat, setzt Scharnhorst nochmals an.

„Todesursache: Intoxikation nach Inhalation von Cyan, also Blausäure.“ Er macht eine bedeutungsvolle Pause.

„Als der Doktor den Mageninhalt freilegte, konnte man den typischen Bittermandelgeruch wahrnehmen. Ganz schwach zwar, aber immerhin Ähnlich war es bei der noch in den Lungenflügeln vorhandenen Luft. Als der Doc den Brustkorb zusammendrückte und die Rippen knackten, strömte aus Mund und Nase ein ähnlicher Geruch.“

„Na klar, du musstest ja wie üblich deine Nase wieder in alles rein stecken.“

Das ist er wieder, der vorlaute Mike. Doch dieses Mal lacht keiner. Es klopft an der Tür. Auf Kluges „Herein!“ erscheint der Spurensicherer vom 4. Kommissariat. Ein blonder junger Mann, Angestellter, bekannt für seine Zuverlässigkeit. Auch er war bei der Obduktion dabei. Kluge schiebt ihm einen Stuhl hin. Gleichmütig setzt Scharnhorst seine zum zweiten Male unterbrochene Erläuterung fort.

„Am gesamten Körper keine äußeren Merkmale von Gewaltanwendung. Der Tod muss innerhalb von Sekunden eingetreten sein“, leiert er herunter.

Die seit einem Jahr im Kommissariat arbeitende Polizeioberkommissarin Jutta Schneider wendet sich an den Vorleser.

„Winfried, könntest du mir bitte zum besseren Verständnis den physikalischen Ablauf nach der Giftaufnahme erklären?“

„Na gut, wenn’s sein muss. Im Organismus wird nach der Inhalation – also nach dem Einatmen der freigewordenen Cyan-Verbindung – das toxisch wirkende Zyanid freigesetzt. Das führt zu einer sofortigen Blockierung der Zellatmung, die eine Sauerstoffverwertung im Gewebe verhindert. Dadurch kommt es zur inneren Erstickung. Das ist doch richtig, Bernhard, oder?“

„Total, dem ist nichts mehr hinzuzufügen. Oder ist jemand anderer Meinung?“

Jutta Schneider ist zufrieden mit der Erklärung und fährt sich mit den Händen durch ihre dunkelblonde Lockenmähne.

„Die beiden Doktors haben die erforderlichen Proben an Körperflüssigkeiten aus Magen-Darm-Inhalt und Nieren sowie Blut entnommen und in besonders dichten Behältnissen asserviert. Der Gasinhalt in den Flüssigkeiten darf vor der Untersuchung nicht verlorengehen.“

„Und haben die beiden eine Vermutung, wie das Gift verabreicht worden sein könnte?“

„Beide halten es für möglich, das sich die Blausäure, also Cyanwasserstoff in einer kleinen Kapsel befunden hat und nach deren Zerstörung frei wurde, also bei Körper- oder Raumtemperatur verdampft ist.“

„Das würde implizieren, dass der Tote die Kapsel in den Mund genommen und zerbissen haben hat, wenn er denn Suizid begehen wollte.“

„So wie die Nazi-Größen nach dem Krieg“, wirft Jens Ehlers ein, der dunkelhaarige Hauptkommissar, der ein ruhiger und sehr zuverlässiger Ermittler ist.

Das Schrillen des Telefons unterbricht die Unterhaltung.

„Kripo Lüneburg, Erstes Fachkommissariat, Kluge.“

Die Stimme eines unbekannten Sprechers ist leise zu hören. Kluge deckt die Sprechmuschel ab.

„Die Zeitung, unser Starreporter“, flüstert er.

„Ich grüße Sie, Herr Meierhof.“

Dann können die Ermittler an Hand der Antworten ihres Leiters mit verfolgen, was die örtliche Presse interessiert.

„Wir stehen noch am Anfang, Herr Meierhof, und wir müssen erst das Obduktionsergebnis vorliegen haben, bevor ich zur Todesursache etwas sagen kann.“

Das ist der abschließende Satz, bevor Kluge mit höflichem Abschiedsgruß auflegt. Die Zuhörer grinsen, als Kluge den Faden wieder aufnimmt und sich an Gebert wendet.

„Ich glaube, für heute ist dein Redebedarf gedeckelt, mein lieber Mike. Hilf uns jetzt lieber bei der Syllogistik, was den möglichen Handlungs- oder Tatablauf angeht. Ihr habt mit bekommen, dass Meierhof am Ball ist. Der fragt morgen früh wieder nach.“

Der Angesprochene hat den Rüffel seines Chefs verstanden.

„Davon ausgehend, was unser K-Leiter schlussfolgert, hätten im Mund der Leiche Rückstände oder Spuren zu finden sein müssen. Oder auch in der Speiseröhre. Soviel ich über diese Form der Vergiftung weiß, vergehen bis zum Todeseintritt und völliger Reaktionslosigkeit doch noch einige Sekunden.“

„Mit anderen Worten“, schaltet sich Ehlers ein, „würde das für Schlucken oder Inhalation von kleinsten Teilchen, angenommen Glassplittern, völlig ausreichen.“

Alle blicken gespannt auf Scharnhorst.

„Tatsache ist, dass bei der ersten Untersuchung von Mundhöhle, Rachenraum, Speise- und Luftröhre keinerlei Fremdkörper gefunden wurden.“

Kluge fasst den Vortrag zusammen.

„Das macht das Ganze nicht leichter. Fakt ist jedoch, dass die Todesursache in der Inhalation des Cyangases zu suchen ist. Natürlich gibt es auch noch andere Möglichkeiten der Zerstörung eines Behältnisses. Heutzutage müssen solche Minibehälter auch nicht mehr aus Glas sein. Mir fallen da die Kapseln für Infarktgefährdete ein, die nach dem Zerbeißen Nitroglyzerin freisetzen.“ Kluge blickt Scharnhorst fragend an.

„Auch so etwas konnten die beiden Obduzenten in den Verdauungsorganen nicht nachweisen. Und ihr wisst, die Doktoren sind sehr genau und wissen, wonach sie suchen müssen. Ich sag mal so: Wenn irgendwelche körperfremden Rückstände vorhanden gewesen wären, unsere Gerichtsmediziner hätten sie gefunden.“

Erneut öffnet sich die Tür.

„Soll ich euch noch Kaffee aufsetzen, Bernhard?“ Die fürsorgliche Frage kommt von Ronda Kubitzke, der einzigen Angestellten im Kommissariat. Sie ist zuständig für die Tagebuchführung, das Ein- und Austragen von Vorgängen, das Anfertigen von Diktaten, sowie zeitweilig für das Kochen von Kaffee.

Erstaunlich und überraschend für alle diese Frage, so kurz vor Feierabend. Kocht ihn euch doch selbst, lautete manches Mal die schnippische Antwort von Ronda, wenn sie zuvor ein schwieriges Gespräch mit ihrer Schwiegermutter per Telefon hinter sich gebracht hat. Und das drei Mal in der Woche. Heute ist sie anders. Das Wochenende steht vor der Tür. Die Vertretung für ihre Schreibtätigkeit am Samstag ist geregelt.

„Okay, Ronda, das hört sich gut an. Ja, setze bitte noch eine Kanne auf. Wir unterbrechen für fünfzehn Minuten.“

Kluge erhebt und streckt sich. Ein langer Tag seit heute Morgen. Langsam werde ich müde.

Alle Mitarbeiter außer dem Spurensicherer stehen ebenfalls auf.

„Winfred, wenn der Kaffee aufgesetzt ist, könntest du Ronda noch die WE – Meldung, wichtige Eilmeldung, diktieren, bevor sie entschwindet? Text in etwa: Unbekannter Toter im ICE von Berlin nach Frankfurt/Main. Erstes Ermittlungsergebnis: Suizidverdacht, Fremdverschulden zur Zeit nicht ausgeschlossen oder so ähnlich. Du weißt schon. Deine Unterschrift und das Ganze in der üblichen Form, damit die im Ministerium in Hannover auch zufrieden ins Wochenende gehen können.“

Im Polizeikommissariat Hann. Münden, in der Welfenstraße 3 herrscht am Freitagmorgen Hochbetrieb. Die kleine Dienststelle gehört zur Polizeiinspektion Göttingen und betreut den gesamten Landkreis, der im Norden an den der Stadt Göttingen angrenzt. Zwei schwere Verkehrsunfälle von der vergangenen Nacht machen viel Arbeit, einer ereignete sich auf der Bundesstraße 3, kurz hinter Dransfeld, der andere auf der Bundesstraße 80 zwischen Vaake und Reinhardshagen. Die Beamten der Nachtschicht sind noch mit dem Ausfüllen der Unfallanzeigen beschäftigt.

Um zwanzig Minuten vor acht betritt eine jüngere Frau den gesicherten Eingangsbereich des Gebäudes. Durch das schussfeste Glas blickt sie erstaunt auf das hektische Treiben in den Diensträumen. Dann hört sie durch die Sprechanlage eine ruhige und sympathische Stimme.

Hinter dem Panzerglas steht ein Polizeibeamter in einem exzellent gebügelten, grüngelben Diensthemd mit je drei silbernen Sternen auf den Schultern und einer maßgeschneiderten Hose. Freundlich fragt er die frühe Besucherin „Guten Morgen, was kann ich für Sie tun Frau …?“

„Lindholm, Karin Lindholm von der Kanzlei Schubert & Schubert. Mein Mann ist nicht nach Hause gekommen.“

Die Miene des Beamten wird ernst.

„War Ihr Mann heute Nacht mit dem Auto unterwegs?“

„Nein, nein. Eigentlich sollte er heute Nacht mit dem ICE in Göttingen ankommen.“

Karin Lindholm knetet aufgeregt die Hände.

„Da bin ich aber froh für Sie“, sagt der Beamte freundlich. „Wir hatten heute Nacht zwei schwere Verkehrsunfälle mit mehreren Verletzten. Ich dachte schon, Sie wären eine Angehörige. Umso besser. Aber wenn ich Sie richtig verstanden habe, wollen Sie Ihren Mann als vermisst melden. Ist das so?

Lindholm beginnen die Beine zu zittern. Gleich nach dem Aufstehen hatte sie zweimal im „Plaza“ in Berlin angerufen. Erst beim zweiten Mal, unter Hinweis auf ihre Tätigkeit in der Anwaltskanzlei, hatte sich der Frühportier bemüht, seine Meldeliste durchzusehen. Auf ihre hartnäckigen Fragen hatte er beschwörend gemeint, dass ein Hans-Georg Lindholm nicht im Hotel übernachtet hat, auch keine anderen Angehörigen der Firma „Marks“ aus Frankfurt.

Der aufmerksame Beamte betrachtet die müde aussehende Frau prüfend.

„Ja, das möchte ich.“

Der stehen plötzlich Tränen in den Augen.

„Einen Moment bitte, ich lasse Sie herein.“

Benommen registriert sie den Türsummer.

„Kommen Sie bitte, Frau Lindholm.“

Der Mann führt sie in ein übersichtlich eingerichtetes Büro.

„Bitte nehmen Sie Platz. Ich glaube, ein Kaffee würde Ihnen gut tun. Und dann wird sich ein Mitarbeiter der Kriminalpolizei um Sie kümmern. Ich bin der Leiter hier und muss zusehen, dass die Kriminalität in unserer schönen Stadt an den drei Flüssen nicht überhandnimmt.“

Dabei lacht er und weiße, gepflegte Zähne werden sichtbar. Schnell ist er aus der Tür. Wenig später erscheint eine junge Uniformierte mit einer Tasse Kaffee.

„Mein Chef hat mich geschickt. Ich soll den hier loswerden.“

Karin Lindholm bedankt sich und nimmt einen kräftigen Schluck. Sie lauscht auf die Geräusche vom Flur. Telefone klingeln, Stimmen sind zu hören – ähnlich wie in ihrer Kanzlei. Dann kommt der Vorgesetzte mit einem zweiten Mann in Zivil und offenem Hemdkragen zurück.

„Das ist Kriminaloberkommissar Robert Schwerdtfeger. Er hat mit Vermisstenanzeigen zu tun.“

„Genau so ist es.“

Der Mann mit dem Schnauzbart blickt ebenfalls freundlich in die Welt.

„Frau Lindholm, wollen Sie mir bitte folgen? Bei mir ist es ruhiger als bei unserem Chef. Aber trinken Sie erst Ihren Kaffee aus.“

Lindholm nickt. Die beiden Beamten sind vor die große Wandkarte getreten und besprechen etwas.

„Ich habe ausgetrunken, meine Herren.“

Sie reicht dem Uniformierten die Hand.

„Herzlichen Dank für den Kaffee. Sie haben mir etwas Ruhe zurückgegeben.“

„Ich wünsche Ihnen viel Glück und hoffe, dass sich die Abwesenheit Ihres Mannes bald klären lässt.“

Dabei schmunzelt er. Die Frau aus der Kanzlei hat eine sympathische Ausstrahlung. Vermutlich ist ihr Mann mal seine eigenen Wege gegangen. Das kommt selbst in den besten Familien vor. Dann geht es eine Etage höher. In einem wesentlich kleineren Raum bietet Robert Schwerdtfeger einen Stuhl an.

„Nun erzählen Sie mir bitte die ganze Geschichte.“

Karin Lindholm blickt auf ihre Uhr; viertel nach acht. „Um neun beginnt der Kanzleibetrieb. Ich muss mich kurz fassen.“

Dann beginnt sie ihre Schilderung von der Tätigkeit ihres Mannes bei der großen Pharmazie-Firma „Marks“ in Frankfurt, die er nach abgebrochener Bundeswehrlaufbahn und seiner Eheschließung, angetreten hat. Als Pharmazie-Referent im Außendienst hatte er sich zum Abteilungsleiter hochgearbeitet und darüber hinaus neue zahlungskräftige Kunden für das Unternehmen gewinnen können. Am gestrigen Abend haben beide nach 21.00 Uhr telefoniert und er hatte mitgeteilt dass er in Berlin einen guten Abschluss gemacht habe und die Rückfahrt mit der Bahn antreten wolle. Gegen zwei Uhr nachts hätte er eigentlich zu Hause sein müssen; er sei aber nicht eingetroffen. Seit dem Telefonat habe sie nichts mehr von ihm gehört. Sein Handy sei ausgeschaltet, was äußerst ungewöhnlich sei.

Oberkommissar Schwerdtfeger macht sich Notizen und stellt zwischendurch persönliche Fragen.

„Wissen Sie, Frau Lindholm, dass Ehemänner mal für einige Tage verschwinden, ist für uns nicht ungewöhnlich. Dafür gibt es unterschiedliche Gründe, die manches Mal auch im privaten Bereich liegen. Deshalb hat der Gesetzgeber hier einen Freiraum gelassen, in dem amtliche Maßnahmen zur Erforschung des Aufenthaltes nichts zu suchen haben.“

Scharnhorst legt eine Atempause ein.

„Wir unterscheiden bei der Polizei sehr genau zwischen Vermisst-Werden und einer Veränderung des Aufenthaltsortes. Will damit sagen, dass bei Kindern, alten, kranken Menschen oder hilfsbedürftigen Personen, die einer Gefährdung ausgesetzt sind, sofortige polizeiliche Maßnahmen greifen.“

Schwerdtfeger blickt sein Gegenüber prüfend an.

„Haben Sie das so weit verstanden, Frau Lindholm?“

„Aber ich spüre, dass meinem Mann etwas passiert sein muss. Soweit ich weiß, wollte er eine größere Summe Bargeld mitbringen.“

Panik ist plötzlich in ihrer Stimme. Der Beamte betrachtet die Frau vor sich sehr aufmerksam.

„Davon haben Sie bisher noch gar nichts gesagt, Frau Lindholm.“

Diese ist blass geworden.

„Meinen Sie, es könnte sein, dass Geld eine Rolle beim Verschwinden meines Mannes spielt?“

„Gegenfrage, Frau Lindholm. Um wie viel Geld geht es denn?“

„Das weiß ich nicht genau“, erfolgt die leise Antwort. Tränen treten ihr in die Augen.

„Am Telefon hat er gesagt, dass wir uns nun wegen unserer Schulden keine Sorgen machen müssen.“

Der Kriminalbeamte schluckt. Verdammt noch mal, was verschweigt die Frau denn noch?

„Wir haben eine Hypothek von 150.000 DM auf unser, mein Haus aufgenommen, um seine Schulden zu bezahlen.“

Ehe Schwerdtfeger sie unterbrechen kann, folgt die Erklärung.

„Es waren Spielschulden und Behandlungskosten in zwei Psychiatrischen Einrichtungen in Niedersachsen und Hamburg“

In Erinnerung daran fängt Lindholm an zu zittern und tupft sich den Schweiß von der Stirn. Nachdenklich betrachtet der Ermittler sie. Die Frau tut ihm leid. Vorsichtig und mit ruhiger Stimme stellt er die letzten Fragen.

„Frau Lindholm, bevor wir unterbrechen, würde ich gern wissen, von wem ihr Mann das Geld bekommen hat?

„Das weiß ich eben nicht. Das Geld sollte die Provision für einen Großauftrag meines Mannes sein, den er für seinen Chef erledigt hat.“

„Kennen Sie den Mann oder wissen Sie, wo er wohnt?“

„Das ist es ja, ich weiß es nicht. Hans-Georg spricht immer voll Bewunderung von seinem Chef, den er „Captain“ nennt. Ich weiß nur, dass mein Mann sich mit ihm in einem Hotel treffen wollte. Den Namen hatte er mir nicht gesagt, nur erklärt, Den brauchst du nicht wissen, wegen der Steuer und so.“

Der Beamte wird plötzlich sehr aufmerksam.

„Mit anderen Worten, Frau Lindholm. Es wurde vermutlich Schwarzgeld übergeben. Das müssten Sie als Kanzleivorsteherin doch wohl einschätzen können.“

Diese erstarrt.

„Woher wissen Sie das, ich meine von meiner Tätigkeit?“

„Von meinem Chef. Die Kanzlei Schubert & Schubert kennt doch hier jeder.“

Der Beamte legt seine Unterlagen auf den Schreibtisch.

„Ich hol’ uns noch mal Kaffee. Ich glaube, den haben wir beide nötig, Frau Lindholm.“

Er verlässt das Zimmer; die Tür bleibt halb geöffnet. Um Karin Lindholm herum beginnt sich alles zu drehen. Sie greift in die Handtasche und steckt sich ein Pfefferminzbonbon in den Mund. Der scharfe Geschmack hilft. Wenig später ist der Beamte mit Kaffee und einem Glas Wasser zurück.

„Bitte, bedienen Sie sich.“

Hastig greift sie zum Glas.

„Besser so? Also, ich mache Ihnen folgenden Vorschlag. Ich nehme jetzt eine Vermisstenanzeige auf, mit den Daten Ihres Mannes sowie seiner Personenbeschreibung. Dann speichere ich alles in einer bundesweiten Fahndungsdatei zur Aufenthaltsermittlung.“ Schwerdtfeger hält ein, damit sein Gegenüber folgen kann.

„Mehr kann ich im Moment nicht für Sie tun. Und ich muss Ihnen sagen, dass ich auch damit gezögert hätte, wenn Sie mir nicht das mit dem Geld gesagt hätten.“

„Und wenn mein Mann gefunden wird, bringt ihn die Polizei nach Hause?“

„Nein. Nach Dienstanweisung werden Sie von seinem Aufenthalt in Kenntnis gesetzt und müssen selbst die Initiative ergreifen, ich meine, Kontakt zu ihm aufnehmen. Nur, wenn Ihr Mann aus irgendwelchen Gründen bei seinem Aufgreifen hilflos wäre, müssten sich die Behörden um ihn kümmern.“

Der Kriminaloberkommissar steht auf und geht zu einem Schreibtisch, auf dem ein Bildschirm matt grün leuchtet.

„Setzen Sie Sie doch bitte hier herüber. Dann brauchen wir beide nicht so laut sprechen.“

Lindholm nimmt den neuen Platz ein. Sie hat sich wieder gefangen und bemüht sich, stark zu sein.

„Wichtige Frage, bevor ich anfange: Haben Sie zufällig ein Lichtbild von Ihrem Mannes dabei, Frau Lindholm?“

Diese entnimmt ihrer Handtasche ein farbiges Passbild ihres Mannes. Ein schlankes Gesicht mit einem sympathischen Lächeln blickt Schwerdtfeger an.

„Ich habe mir schon gedacht, dass Sie danach fragen werden.“

Chefermittler Bernhard Kluge legt müde, aber zufrieden den Hörer auf. Es ist Abend geworden und bereits dunkel an diesem grau gebliebenen Apriltag. Kluges Uhr zeigt 20.22 Uhr. Die Bürotür ist geöffnet, aber vom Flur dringen kaum Geräusche herein. Die vier noch anwesenden KollegenInnen haben mit laufenden Ermittlungen zu tun. Kluge fährt sich durch das lichter gewordene Haar, das schon begonnen hat, an den Seiten grau zu werden. Vor ihm, auf dem Schreibtisch, liegt die Eiltmeldung , die er immer wieder zur Hand nimmt. Was steckt hinter dem Tod des noch unbekannten Mannes? Die Spurensicherer haben im Abteil zwar eine teure, lederne Akten-Reisetasche gefunden, darin aber keinerlei Hinweis auf den Besitzer. Die Unterlagen, Prospekte, Vertragsvordrucke ließen bei einer ersten Durchsicht den Hinweis auf eine Tätigkeit im pharmazeutischen Bereich zu. Von draußen sind Schritte zu hören. Kluge schreckt hoch.

„Bist du etwa müde, Chef? Der Tag hat doch gerade erst angefangen.“

Sein jüngerer Vertreter wedelt mit einem Blatt Papier.

„Du hast gut reden, Winfred. Mir fehlen ein paar Stunden Schlaf. Aber das kennst du ja. Unsere letzte Moko liegt nicht allzu lange zurück. Der Russe, der das Fliegen lernen sollte, aus dem zehnten Stock, weißt du noch?“

„Natürlich, erinner’ mich bloß nicht daran. Das war eine Katastrophe mit den abgefüllten Typen, die nicht mal mehr piep sagen konnten ohne zu kotzen. Ekelhaft.“

„Setz’ dich Winfred. Apropos Staatsanwalt. Ich habe gerade mein Gespräch mit ihm beendet. Die Staatsanwaltschaft Hamburg wird den Vorgang übernehmen. So, wie er ist.“

Kluge macht eine Pause und beobachtet seinen Kollegen und Freund. Scharnhorst blickt überrascht.

„Juche! Gott sei’s gedankt“, ruft er frohlockend.

„Ich weiß auch noch nicht genau, ob das für uns gut oder schlecht ist.“

„Was meinst du damit?“

„Ich bin einerseits natürlich heilfroh, dass wir nicht schon wieder eine Moko haben. Aber ich würde ich zu gern wissen, was hinter dem Tod des ICE-Reisenden steckt. Suizid oder doch Mord? So einen Giftmord hatten wir noch nie.“

„Hier, vielleicht hilft uns das weiter. Lies mal.“

Scharnhorst reicht seinem Kollegen einen Ausriss der „Bild“ vom Samstag.

Kluge rückt die Schreibtischleuchte näher heran.

„Tränengas-Anschlag auf ICE 1403.“

„Moment mal.“

Er legt den Ausschnitt zur Seite und greift nach dem Fernschreiben.

„Das kannst du dir sparen, Bernhard. Es ist unser Zug.“

Kluge lehnt sich nachdenklich zurück.

„Du vermutest richtig, Bernhard.“

„Auf ‚unseren‘ Zug ist ein Anschlag mit Gas, offensichtlich Tränengas, verübt worden. Das war auch der Grund für die Verspätung in Lüneburg.“

„Aber warum? Gibt es da einen Zusammenhang mit unserem Toten?“

„Erinnere dich an die Aussage des Gerichtsmediziners, Todeseintritt nach wenigen Sekunden.“

Bernhard Kluge greift den Faden auf.

„Und nach Aussage das Zugführers kam die Zugbegleiterin gleich hinter Hamburg zu ihm gerannt und berichtete ihm vom Leichenfund in der Ersten Klasse.“

Beide Ermittler schweigen nachdenklich.

„Es könnte sein, dass der Gasanschlag gezielt durchgeführt wurde, um den Zug nicht abfahren zu lassen. Hypothetisch könnte der Täter in dieser Zeit zugeschlagen und in dem Durcheinander den Zug verlassen haben.“

Kluge reibt sich die Nase.

„Das könnte erklären“, fährt sein Kollege fort, „warum die Gerichtsmediziner an der Leiche keine Spuren finden konnten.“

Kluge nickt.

„Um den Faden zu Ende zu spinnen: Es könnte so gewesen sein, dass sich Täter und Opfer kannten. Der Täter wusste, wo sein Opfer im Zug sitzt und hat den Angriff genau in dem Moment ausgeführt, als es auf dem Bahnsteig Tumult gab.“

„Richtig!“

Hauptkommissar Scharnhorst hält es nicht mehr auf seinem Stuhl. Er fixiert seinen Vorgesetzten.

„Und dann hat der Täter die Cyan-Ampulle im Abteil zertreten.“

„Danach brauchte er nur noch für eine halbe Minute die Tür fest zu halten und zusehen, wie sein Opfer jämmerlich krepiert.“

Auf Scharnhorsts Stirn erscheinen Falten.

„Aber der Abschiedsbrief? Was ist damit?“

„Ich glaube, dass der Täter gut ausgerüstet war und vielleicht mit einer Maske geschützt das Abteil betreten, den Abschiedsbrief deponiert und seinem Opfer alles weggenommen hat, das zu einer schnellen Identifizierung hätte führen können.“ Überzeugt blickt er seinen Vertreter an.

„Ja, so könnte es gewesen sein. Nur der Abschiedsbrief stört mich.“

Scharnhorst wirkt skeptisch.

„Du meinst, weil der offensichtlich auf einem PC geschrieben wurde?“

„Richtig. Das ist auf jeden Fall ungewöhnlich. Üblich sind eher handgeschriebene Abschiedsbriefe.“

Kluge blickt nachdenklich.

„Wir werden den Brief sehr sorgfältig auf Fingerabdrücke untersuchen lassen. Dann sehen wir weiter. Wenn das Schreiben von dem Toten stammt, müssten auf dem Papier Fingerabdrücke von diesem zu finden sein. Wir hatten doch vor der Obduktion noch Vergleichsabdrücke genommen?“

„Natürlich, ist doch Routine.“

Vor Kluges Tür wird es laut. Die restlichen Kollegen, Jens Ehlers, Mike Gebert, Polizeioberkommissar Schneider und Kriminalhauptkommissarin Frauke Malz, für Vermissten Listen zuständig, treten ein.

„Donnerwetter, Bernhard, was ist denn bei euch los? Ich hab’ schon geglaubt, ihr kriegt euch in die Plünnen.“

Das ist Kriminalhauptkommissar Ehlers in seiner bodenständigen Art. Alle lachen.

„Nun setzt euch schon. Ich wollte euch eh’ gerade rufen, weil es etwas Neues gibt.“

Neugier macht sich breit.

„Also das Gute zuerst: Wir werden die Ermittlungen ans LKA Hamburg abgeben. So besprochen heute Abend mit dem Abteilungsleiter I bei unserer Staatsanwaltschaft und der Hamburger Staatsanwaltschaft.“

Kluge blickt gespannt in die Runde, aber die erwartete Erleichterung bleibt aus.

„Nanu? Habe ich etwa was Falsches gesagt?“ grinst Kluge. „Also gut, ihr ahnt natürlich, dass da noch mehr ist. Wie immer.“

„Mach’s nicht noch spannender, Bernhard. Wahrscheinlich kennst du den Mörder schon.“

Das war wieder Mike. Verdammt gute Intuition, die Kollegen.

„Winfred und ich haben unsere Hausaufgaben gemacht. Nach dieser Meldung aus der ‚Bild‘ dürfte unser Unbekannter in seinem Erste-Klasse-Abteil noch auf dem Hamburger Hauptbahnhof umgebracht und auch beraubt worden sein. Die ‚Bild‘ berichtet aber nur von dem Tränengas-Anschlag. Das andere wissen die noch nicht.“

„Hier, seht mal die Überschrift.“

Kluge reicht die halbe Zeitungsseite herum.

„Obwohl wir den Vorgang abgeben, sollten wir so schnell wie möglich unseren Erkennungsdienst noch mal in Waggon 28 schicken. Vielleicht finden die Kollegen auf dem Fußbodenbelag Spuren, die uns bisher entgangen sind.“

Kluge blickt die unruhigen Kollegen an.

„Ich weiß, ich weiß, wo gehobelt wird, da fallen Späne. Aber wir wussten heute Morgen nicht, wonach wir suchen sollten. Also Jens, stell’ bitte bei der Bundespolizei fest, wo der Waggon steht, und schnapp’ dir die Kollegen vom Erkennungsdienst. Es wäre super, wenn wir tatsächlich Rückstände von einer Cyan-Kapsel finden könnten.“

Jens Ehlers nickt und macht sich auf den Weg.

„Grundsätzlich bleibt es nach dem Tatortprinzip dabei, das wir den Vorgang abgeben. Aber bis Montag muss er abgabefertig sein.“

Nun erheben sich auch die beiden Kolleginnen.

„Also werden wir morgen doch arbeiten müssen?“

„Allerdings Frauke, Restvernehmungen und Vermerke. Aber das ist überschaubar. Vorher kannst du noch in aller Ruhe auf dem Markt einkaufen gehen.“

„Das ist gut. Sagst du den übrigen Kollegen Bescheid, oder soll ich das übernehmen?“

„Gute Idee, mach’ du das bitte. Das spart mir Zeit.“

Kluge blickt gehetzt auf die Uhr.

„Gleich zehn, aber es nützt nichts. Wir bringen es zu Ende.“

Die Ermittler sind sich einig. Für ihren Chef und um der Sache willen hängen sie schon mal ein Arbeitswochenende an. Frauke eilt aus dem Zimmer.

„Ich setze noch einen Kaffee auf. Ich glaube, der tut uns gut“, hören die Männer sie vom Flur rufen.

„Du hast eine gute Truppe versammelt.“

Kluge blickt seinen Vertreter erstaunt an. Dann grinst er.

„Was du aber alles merkst. Und du gehörst dazu, mein Freund.“

Zufrieden setzen sich die Ermittler an den runden Tisch, um die nächsten Schritte zu besprechen.

„Unabhängig vom letzten Sachstand habe ich ein Fernschreiben mit der Frage nach Erkenntnissen mit der Beschreibung des unbekannten Toten, einschließlich seiner Bekleidung, bundesweit abgesetzt. Ich hoffe, in deinem Sinne, Bernhard.“

„Ich will wissen, wie viele ungeklärte Todesfälle es bei Bahnreisen bundesweit mit dem Verdacht auf Fremdverschulden gegeben hat – und in diesem Zusammenhang wie viele Hinweise auf Vergiftungen.“

„Sehr gut. Könnte von mir stammen. Die nächste Mordkommission leitest du, dafür sorge ich.“

Jetzt ist Scharnhorst der Überraschte. Er freut sich über das Lob seines Vorgesetzten, mit dem er ein freundschaftliches Verhältnis pflegt. Das motiviert.

„Supi, aber das muss ja nicht gleich übermorgen sein.“

Am Samstagmorgen, Viertel nach Neun, kündet der Gong über der Haustür den Bewohnern der Doppelhaushälfte, Breite Lade 12, nahe der Werra, frühen Besuch an.

Karin Lindholm schreckt am Frühstückstisch hoch und lässt den „Mündener Anzeiger“ auf die Kaffeetasse fallen, die prompt umkippt.

Dann tönt der Gong ein zweites Mal. Die erschrockene Frau bindet mit zitternden Händen ihren Hausmantel zu und eilt an die Tür. Vor ihr stehen zwei ernst blickende Männer, von denen sie sofort weiß, dass es Polizisten sind. Der Mann mit dem Schnauzer tritt näher. Karin Lindholm erkennt ihn wieder. Es ist Schwerdtfeger von der Anzeigenaufnahme im Polizeikommissariat. Sie wird blass und gerät ins Wanken. Geistesgegenwärtig greift der Kriminalbeamte nach ihrem Arm.

„Wir haben eine Nachricht zu Ihrer Vermisstenanzeige. Aber wir sollten das drinnen besprechen, Frau Lindholm.“

Schweigend geht diese voraus in das unaufgeräumte Wohnzimmer, in dem sie eine unruhige Nacht auf dem Sofa verbracht hat. Beide Kriminalbeamte blicken sich besorgt an. Während die Frau fahrig die Wolldecke zusammenrafft, verlässt Schwerdtfegers Kollege, Kommissar Fehling, das Haus. Die erfahrenen Ermittler haben schon erlebt, dass Angehörige bei der Überbringung schlechter Nachrichten zusammengebrochen sind. Heute haben sie vorgebeugt und vorsorglich einen Notarzt in Kenntnis gesetzt. Schwerdtfeger zieht das Fernschreiben der Polizeiinspektion Lüneburg über den Fund des unbekannten Toten heraus, obwohl er den Inhalt mittlerweile auswendig kennt. Er ist sich sicher, dass es sich dabei um den Vermissten Hans-Georg Lindholm handelt. Das sagt ihm seine Berufserfahrung und seine Intuition.

Die Betroffene hat auf dem Sofa Platz genommen, und ihr ängstlicher Blick gleitet unablässig von dem Stück Papier zum Gesicht des Beamten. Sie kann die zitternden Hände nicht verbergen.

„Frau Lindholm, wir haben eine Meldung der Kripo Lüneburg herein bekommen, in der es um einen Mann geht, der mit Ihrer Personenbeschreibung eindeutig übereinstimmt und der in Lüneburg auf dem Bahnhof in einem Zug …“

Weiter kommt er nicht. Ein hoher Schrei, wie von einem todwunden Tier. Lindholm ist aufgesprungen.

„Was ist mit meinem Mann? Sagen Sie es mir!“

Sie zerrt mit aller Kraft am Revers des völlig überraschten Kriminalisten. Aber Schwerdtfeger ist Herr der Lage. Vorsichtig löst er ihre verkrampften Hände und führt sie zurück zum Sofa. Tränen strömen über ihr Gesicht.

„Ist er tot, mein Mann? Ist er tot? Ich habe es geahnt, ich habe es geahnt. Mein Hansi, mein Ein und Alles. Oh Gott, warum lässt du das zu?“

„Frau Lindholm, versuchen Sie bitte, sich zu beruhigen. Wir wissen ja noch nicht genau, wer der Mann aus dem ICE ist. Aber es ist richtig; der Mann ist tot.“

Mühsam unternimmt der Beamte den Versuch, sie zu beruhigen. Es gelingt nicht.

Herzzerreißendes Schluchzen erfüllt den Raum.

„Frau Lindholm, ich sagte es doch schon. Wir wissen noch nicht mit abschließender Sicherheit, ob es sich wirklich um ihren Ehemann handelt. Aber wir müssen mit ziemlich großer Wahrscheinlichkeit davon ausgehen. Die Beschreibung der Kripo in Lüneburg stimmt genau mit der ihres vermissten Mannes überein.“

Die Reaktion erfolgt spontan. Laut weinend schlägt sie die Hände vor das Gesicht und wirft sich in die Sofakissen. Betroffen erhebt sich der Ermittler und blickt ungeduldig zur offenen Wohnzimmertür.

„Der Notarzt muss gleich eintreffen“, ertönt von dort die Stimme seines Kollegen.

Stumm erleben sie den Zusammenbruch eines fremden Menschen. Trotz aller Routine geht ihnen das Leid der Frau unter die Haut. Immer noch weint sie vor sich hin, nur ist sie leiser geworden. Hoffnungsloser. Die Männer vernehmen die Signale herannahender Fahrzeuge. Endlich.

„Ich sage schon mal Bescheid.“

Schwerdtfeger nickt.

„Frau Lindholm? Hallo, Frau Lindholm! Wir haben einen Arzt bestellt. Der wird sich gleich um Sie kümmern.“

Schwerdtfegers kräftige Stimme zeigt Wirkung. Mühsam richtet sich die Angesprochene auf.

Wachsbleich ist ihr Gesicht, und Schweiß steht auf ihrer Stirn. Der Blick irrt rastlos hin und her. Die Frau steht unter Schock.

„Bitte legen Sie sich aufs Sofa, Frau Lindholm. Und die Beine anziehen.“

Dann hört Schwerdtfeger, wie Autotüren zugeschlagen werden und rasche Schritte. Wenig später betreten der Notarzt und zwei Rettungsassistenten den Raum.

„Jetzt sind wir dran, Herr Kollege.“

Der Arzt hat mit einem Blick die Situation erfasst und schiebt den Ermittler freundlich zur Seite.

„Danke, Doktor, dass Sie so schnell kommen konnten. Wir hätten hier nicht weiter gewusst.“ Schwerdtfeger reicht dem Arzt die Hand.

„Warten Sie bitte eine Weile draußen. Danach besprechen wir, wie es weitergeht.“

Im obersten Geschoss des mit den großen Glasfronten versehenen modernen Gebäudes mitten im Zentrum der alten Hansestadt, sitzt der Mann, der auch „Captain“ genannt wird. Leichter Regen läuft in langen Perlenreihen die Scheiben hinunter. Typisches Schmuddel Wetter in der Großstadt an der Elbe. Aber das beeindruckt ihn nicht, er ist damit groß geworden.

Nach dem opulenten Frühstück in seiner Villa, serviert von der Haushälterin mit ihrem weißen Häubchen auf dem Kopf, blättert der gut gelaunte Mann interessiert nun die morgendliche Presse durch.

Nichts hat seine Nachtruhe stören können, aber jetzt wecken die Titel der Boulevard Zeitungen seine Aufmerksamkeit. Und er wird fündig. In einem Artikel des Hamburg-Teils auf Seite fünf findet er die erwartete Meldung. Der „Captain“ faltet die stark nach Druckerschwärze riechenden Blätter zufrieden zusammen. Nichts, was ihm Sorgen bereiten müsste. Sein Blick fällt das Symbol der weltweiten Kirche seines Glaubens an der Wand. Überheblich grinsend drückt er den Knopf seiner Sprechanlage, die ihn mit dem Vorzimmer verbindet.

„Verbinden Sie mich mit dem „CSO“, unserm Continental Security Office, Regine!“ Kurz und knapp ist der Befehl an die Mitarbeiterin im Vorzimmer. Kurz darauf meldet sich eine bekannte, metallisch klingende Männerstimme.

„Sind Sie zufrieden mit unserer Arbeit, Captain?“

„Ausgezeichnet. Genau zum richtigen Zeitpunkt. Das hat den Geschäftsabschluss erfolgreich gemacht.“

„Haben Sie zurzeit noch weitere Aufträge?“

„Nein, danke. Das war alles. Ich komme wieder auf Sie zurück.“

„Danke, Captain, Sie wissen, wir stehen immer Gewehr bei Fuß, wenn es darum geht, schnell etwas zu bereinigen.“

Dann knackt es leise, und die Verbindung ist unterbrochen.

Zufrieden steht der Field Director der weltweiten Glaubensgemeinde auf und tritt vor das wand hohe, aus teurem Tropenholz hergestellte Regal, das mit Büchern des von ihm verehrten Sektengründers gefüllt ist. Immer wieder faszinieren den gebildeten Mann die Visionen des längst Verstorbenen, die bis in die Gegenwart hinein nichts von ihrer Überzeugungskraft und Glaubwürdigkeit verloren haben. Aber es steht noch viel Arbeit bevor, um über die Spitzen des gesellschaftlichen Establishments hinaus Wirtschaft, Industrie, Politik und Bildung umzugestalten, so wie es der Große Religionsgründer in seinen Lehren und Schriften fordert. Bekannte Größen aus der Medien- und Filmbranche konnten als Zugpferde gewonnen werden.

Der Captain blickt zuversichtlich über die geschäftige Großstadt zu seinen Füßen, als er wieder an seinen Glasschreibtisch, seine „Kommandozentrale“, tritt.

Der Bildschirm seines Computers, der über die aktuellste Software verfügt, leuchtet. Nachdem er sich eingeloggt hat, gibt er ein weiteres Passwort ein. Jetzt erst öffnet sich das hausinterne und hervorragend gesicherte Insert-Programm. Wenige Bedienschritte auf der Tastatur geben das Terminfenster für eine Vorschau auf die nächsten 14 Tage frei; eine komfortable Errungenschaft des Providers aus den USA, extra für das globale Netzwerk mit den vielen Einheiten konzipiert und mit allen erdenklichen Sicherheitscodes versehen.

Montag, 9.4., 10.00 Uhr. Konferenz in Raum 14. Einziger Tagesordnungspunkt: Erweiterung der Technologieanwendungen im Mittelständischen Spektrum. Der Mann blickt auf die teure Uhr mit dem Schweizer Label unter dem Seidenzwirnärmel seines Anzuges. Er hat sich im Sinne der Lehre wie immer ideologisch und fachlich gut aufgestellt, wobei er an diesem Tag nur die Moderation übernimmt. Seine untergeordneten Mitarbeiter mit Managerstatus tragen die Veranstaltung, die die expansive Zielsetzung hat, weitere externe Firmen vertraglich in das bestehende Netzwerk des „Weltinstitutes für Entwicklung und Forschung“, WfEF, einzubinden. Gedankenverloren lässt er den Mauspfeil weiter gleiten.

Ah, nächste Woche, ab Dienstag, den 10.4., ist er wieder in seinem Büro des großen Pharmazie Unternehmens, seines Arbeitgebers, präsent. Dort muss er sich nach einem neuen Abteilungsleiter umsehen. Ein Nachfolger des so plötzlich Ausgeschiedenen schwebt ihm bereits vor Augen. Es wird jemand sein, der hinter den Lehren des großen Meisters steht.

Das ebenmäßig geschnittene Gesicht des erfolgreichen Mannes mit den grauen Schläfen verzieht sich zynisch. Bisher hat er jeden, der ihm in die Quere gekommen ist, rechtzeitig und ohne persönlichen Schaden zu nehmen, „ausgegliedert.“ Manchmal auch mit Hilfe des perfekt arbeitenden Continental Security Office der Oberen Zentrale, von der Außenstehende nicht mal etwas ahnen. „Unternehmenssicherheit“, wie er es nennt, ist das A und O für das kommunikative Funktionieren der verschiedenen Einheiten. Dafür haben die „Gläubigen“ aus dem Bereich der Telekommunikation gesorgt. Drei seiner Leitungen, auch die zum „CSO“, sind absolut abhörsicher. Auf der vierten Leitung finden die „normalen Gespräche“ der alltäglichen Anfragen und Auskünfte statt. Der Captain weiß sehr wohl um den Argwohn der Hamburger Politiker und nimmt ihn nicht auf die leichte Schulter. Aber bisher hält sich der Schaden für die regionale Einheit in Grenzen, was ihm ein besonderes Lob seiner oberen Führungsetage beschert hat. Er rafft ein paar Schriftsätze zusammen – Entwürfe für Motivationsseminare – und geht ins Vorzimmer. Dort werden die Unterlagen von der Assistentin nochmals auf sprachliche Ausrutscher geprüft, ehe sie sie an die Druckerei weiterleitet. Ein guter Tag heute. Der verstorbene Meister, dessen Portrait an der Wand prangt, wäre mit seinem treuen Untergebenen zufrieden.

Drei Stunden später, um die Mittagszeit, erreicht das Antwortfernschreiben aus Hann.Münden die Fernschreibstelle der PI Lüneburg. Sechs Minuten später liegt das amtliche Schriftstück, geschrieben von einem Kriminaloberkommissar Schwerdtfeger auf Kluges Schreibtisch. Er überfliegt den kurz gefassten Text, dann ruft er die vier Mitarbeiter zusammen.

„Der Kollege Schwerdtfeger aus Hann.Münden teilt uns mit, dass es sich bei dem Toten aus dem ICE mit größter Wahrscheinlichkeit um den Pharmaziereferenten Hans-Georg Lindholm handelt, geboren 11.3.1953, also gerade 43 Jahre alt geworden. Es liegt dort eine Vermisstenanzeige vor.

Kluge fährt fort.

„Der Verstorbene war verheiratet, ein Kind; Junge, zehn Jahre alt. L. lebte in Hann.Münden, Breite Lade 12, in Werranähe.“

Kluge blickt in die Runde.

„Da einige von uns dort zur Ausbildung waren, erinnert ihr euch vielleicht an die Örtlichkeiten, wobei das aber für unseren Fall ohne Bedeutung ist.“

„Ich war da nie“, fährt der besserwisserische Mike Gebert dazwischen. „Muss ich da nun extra hin fahren, um zu wissen, wo der Pharmazievertreter wohnte?“

Kluge schüttelt verärgert seinen Kopf.

„Vielleicht kannst du ja mal etwas ernster sein, Mike. Immer kann man zu deinen Geistesblitzen nicht applaudieren.“

Das sitzt.

„Nun weiter. Der Kollege teilt mit, dass die Ehefrau zurzeit vernehmungsunfähig ist. Sie hat bei der Benachrichtigung einen schweren Schock erlitten. Weitere Erkenntnisse erst am kommenden Montag. Ich möchte, dass wir das Fernschreiben weiter an das LKA 41 in Hamburg steuern. Dann können die sich direkt mit der Dienststelle in Münden kurzschließen.“

„Und was ist mit der Identifizierung, Bernhard?“

Die berechtigte Frage kommt von Jens Ehlers.

„Wir werden Frau Lindholm für Dienstag einbestellen. Dann fährst du mit ihr in die Pathologie und ziehst die Identifizierung durch.“

Zustimmendes Nicken von allen Anwesenden, die im Wesentlichen ihre Berichte und Vernehmungen zum Sachstand abgeschlossen haben. Nur Mike Gebert reagiert nicht.

„Gut, dann sollten wir für heute Feierabend machen.“

Kluge hebt seine Stimme.

„Mike, du kümmerst dich bitte noch um die Steuerung des Fernschreibens aus HMü. und teilst dem Kollegen Schwerdtfeger mit, dass er den Termin zur Identifizierung der Leiche mit Frau Lindholm für kommenden Dienstag festmachen möchte.“

Kluge erhebt sich und drückt dem verdutzten Oberkommissar das Eingangsfernschreiben in die Hand. Der zuckt mit keiner Miene.

„Und bevor du ins Wochenende gehst, Mike, möchte ich beide Fernschreiben wieder auf meinem Tisch haben.“

KOK Gebert hat die längst fällige Retourkutsche seines K-Leiters wortlos weggesteckt. Dass die anderen Kollegen zufrieden grinsen, ist er gewohnt. Am Ende wird der Sack zugemacht, denkt er bissig, bevor er aus dem Raum eilt. Stühle rücken, grinsende Gesichter, aber kein Nachtreten. Wer austeilt, muss auch einstecken können, lautet eine Devise in der Runde des speziellen Fachkommissariats.

„Ich wünsche euch allen ein angenehmes Restwochenende, Kollegen. Bis Montag früh. Mein Bedarf an Leichen ist fürs Erste gedeckt. Aber nach dem Gesetz der Serie … Na, lieber nicht.“

Kluge schüttelt seinen Leuten nacheinander die Hand, bevor sie sein Dienstzimmer verlassen. Noch eine kleine halbe Stunde, dann bin ich auch zu Hause, denkt er zufrieden. Dann können wir wenigstens noch den Sonntag genießen.

In den frühen, nachtdunklen Morgenstunden des Sonntag schrillt an der Haustür des kleinen Mittelreihenhauses die Türklingel im Dauerton. Der auf dem Haustürpodest schwankende, spärlich bekleidete Mann gibt unartikulierte Laute von sich. Mit der rechten Hand presst er ein zusammengeknülltes Handtuch gegen den blutenden Hals, während er mit der linken kraftlos gegen das Holz der Tür schlägt.

„Hilfe, Hilfe, helft mir“, krächzt er, bevor er in den Knien einknickt.

Endlich eine Stimme in der Sprechanlage.

„Wer ist da, was wollen Sie?“

Die blecherne Stimme erreicht den Verletzten wie aus weiter Ferne. Sein Blick verschleiert sich.

„Helft mir“, gurgelt er mit letzter Kraft, ehe er auf dem Podest zusammenbricht. Dass sein Kopf dabei gegen den Türknopf schlägt, nimmt er nicht mehr wahr. Keine Minute später wird die Haustür vorsichtig und nur spaltbreit geöffnet.

Der Mann im Hausmantel ringt nach Atem, als er nach draußen sieht. Es ist ein Anblick wie aus einem Horrorfilm: Auf den Fliesen, liegt ein stark am Hals blutender Mann, der einen Lacklederanzug trägt. Er gibt kaum noch Lebenszeichen von sich.

Eine unsichtbare Hand presst das kranke Herz des Hausbewohners zusammen, ihm wird schwindelig. Doch dann handelt er schnell. In der kleinen Diele reißt er den Telefonhörer hoch. Die flatternde Hand wählt den Polizeinotruf. Mehrmaliges Tuten, dann die Stimme eines Polizisten.

„Bartold hier, Herbert Bartold. Kommen Sie sofort in die Steinstraße 147. Vor unserer Haustür liegt ein Mann. Er rührt sich nicht. Und schicken Sie einen Rettungswagen mit.“

Der Anrufer beginnt vor Aufregung zu stottern.

„Ich glaube, der Mann verblutet. Kommen Sie so schnell wie möglich.“

Routiniert fragt der Beamte nach der Anschrift des Anrufers.

„Wir sind in Kürze bei Ihnen. Ein RTW rückt mit aus.“

Händezitternd legt der Bartold auf. Neben ihm steht seine junge Frau, die bereits vor die Tür gesehen hat. Sie klammert sich ängstlich an ihren Mann.

„Ich glaube, das ist Giovanni, der da draußen liegt. Was sollen wir machen, Herbert?“

Der reißt sich aus seiner Benommenheit.

„Giovanni? Bist du verrückt. Etwa d ein Giovanni, von nebenan?“

Plötzliche Wut macht sich in dem Mann breit.

„Hol’ mir ein Handtuch. Vielleicht kann ich die Blutung aufhalten, bis der Notarzt kommt.“ Hastig rennt er die wenigen Schritte zu dem Mann, der reglos auf seiner rechten Körperseite liegt. Vorsichtig bewegt er ihn und glaubt, ein leises Stöhnen zu hören.

„Beeil’ dich, Susanne, mach’ schnell. Ich glaube, er lebt noch.“

Sekunden später reicht ihm seine Frau ein Handtuch und stürzt mit bleichem Gesicht in die Gästetoilette neben der Haustür. Herbert Bartold vernimmt würgende Geräusche. Im Licht der Außenbeleuchtung erkennt er den Mann mit dem blutverschmierten Gesicht ist. Tatsächlich Giovanni, der „nette“ Italiener, einen Hauseingang weiter. Weiter reichen seine Gedanken nicht, als er das Handtuch auf die Halspartie presst. Ein unangenehmer Geruch umgibt den reglosen Mann. Angewidert betrachtet Bartold den Lacklederbody. Verdammt, das hat das Schwein verdient. So wie ich den kenne, übersteht der das auch.

„Bleib ja im Haus, Susanne. Das ist nichts für dich.“

Bartold beugt sich über den Ohnmächtigen. Die Blutung ist durch den Druck mit dem Handtuch zum Stillstand gekommen. Bartold lauscht in die stille Nacht. Wo bleiben die Sanis denn? Nichts zu hören. Zeit für einen schnellen Sprint ins Haus, zurück zum Verletzten. Ein plötzliches, lautes Stöhnen. Dann endlich aus der Ferne die Geräusche von Einsatzfahrzeugen, schnell näher kommend. Als er den Hals reckt, um die Straße hinunter zu sehen, erblickt er zu seiner großen Erleichterung die herannahenden Scheinwerfer und erkennt im Licht der Bogenlampen den hohen Aufbau eines RTW. Mühsam erhebt sich Burger und wankt den Rettern entgegen. Dann sind zwei Uniformierte vom Polizeikommissariat Winsen/Luhe an seiner Seite und führen ihn zu ihrem Einsatzbus.

„Das Schwein, das das getan hat, müsste man lynchen“, murmelt Bartold aufgebracht.

„Ich glaube, Kollege, der Mann hier ist auch ein Fall für den Notarzt“, hört er die ruhige Stimme des Beamten, der besorgt auf seine blutigen Hände sieht und ihn behutsam auf die Sitzbank des Einsatzfahrzeuges schiebt.

Acht Stunden später reihen sich zwei gut gekleidete junge Leute, eine blonde Frau und smarter Banker Typ unter die vielen Passanten des Hamburger Rathausviertels ein.

Auf dem großen Platz, dem Rathausmarkt, ist an dem sonnigen Apriltag mit ungewöhnlich wenig Wind richtig Betrieb. Zum Tag des Handels sind dutzende Stände mit einer breiten Palette von Waren und Produkten aufgebaut. Quirlig geht es schon zu, als die beiden Aussteller den für sie reservierten Standplatz einnehmen, auf dem ein drei mal vier Meter großer Zeltpavillon mit gelbem Dach und einem mehrgliedrigen Kreuz im Kreis errichtet ist. Es fehlen zwar noch einige Aussteller und Händler, aber bis zum offiziellen Beginn um 10.00 Uhr, ist auch noch eine halbe Stunde Zeit. Routiniert baut der Mann seinen Klapptisch auf, während die junge Frau zwei Regiestühle platziert. Anschließend verteilt sie wirkungsvoll auf der signalroten Papierauflage Dutzende Broschüren und Bücher.

Der fleißige Mann mit dem sympathischen Lächeln und dem Kurzhaarschnitt beschäftigt sich mit der Installation des wichtigsten Ausstellungsteiles, einem technischen Gerät aus dunkelblauem Kunststoff mit einer Menge Knöpfen, Schaltern und Tasten. Es handelt sich um ein DIN A4 großes, rundes Messgerät, das über eine Spannungsquelle, Elektroden sowie eine Messeinrichtung verfügt, die den Hautwiderstand und somit Reaktionen von Menschen registriert, die mit unbequemen Fragen konfrontiert werden. Insider bezeichnen es als „Wahrheitsmesser“ abgekürzt W-Meter, der in der Lage sein soll, bewussten und unbewussten emotionalen Schmerz der Probanden zu messen. Beide Aussteller blicken sich zufrieden grinsend an; mit ihrem Stand fallen sie schon aus der üblichen Kategorie ihrer Nachbarn. Kostenloser Persönlichkeitstest und Kostenlose Auswertung, steht in großen Lettern auf einem Transparent oberhalb des geöffneten Pavillon-Einganges. Im Innern sind ebenfalls mehrere Klapptische mit Stühlen zu sehen die mit Blumensträußen dekoriert sind. Auch das soll Neugierige anlocken. Ein zweiter Wahrheitsmesser wartet hier auf seinen Einsatz. Während der Mann im Pavillon verschwindet, ordnet die attraktiv wirkende Frau im dunkelblauen Kostüm noch einmal das Sortiment der ausgestellten Drucksachen. Sie blickt vernimmt von draußen die tiefen Schläge der großen, historischen Uhr vom Rathaus. Zehn Uhr.

Vom erhöhten Podium, direkt vor dem ehrwürdigen Rathaus der Hansestadt, ertönt ein brummendes Geräusch. Das Standmikrofon mitsamt den Lautsprecherboxen wurde eingeschaltet. Auf dem mit Girlanden geschmückten Podest erscheinen Frauen und Männer in Prunkgewändern der mittelalterlichen hanseatischen Zünfte und Stände. Die attraktive Ausstellerin erkennt die schlanke, hochgewachsene Gestalt des Ersten Bürgermeisters mit dem schmalen Gesicht und den weißblonden Haaren, der vor das Mikrofon tritt. Nun erfolgt die Festansprache des Ersten Hanseaten mit einem historischen Rückblick, aber auch mit einer zuversichtlichen Prognose der neuen Handelswege in den östlichen Teil Deutschlands.

Die junge Beobachterin mit abgeschlossenem Studium der Wirtschaftswissenschaften interessiert die kluge Ansprache nicht, die vom Zusammenwachsen der alten und neuen Bundesländer und den sich daraus ergebenden Chancen Bezug handelt.

UWs, denkt sie gehässig über den erfolgreichen Politiker. Oder noch schlimmer. Unwissende Personen. Damit bezeichnet ihre Organisation Menschen, die noch nicht den Weg zur richtigen Lehre des Meisters gefunden haben, diese negieren oder sogar bekämpfen. Dazu zählen auch die geistlichen und politischen Führungsspitzen der Hansestadt, die alles tun, um unsere Tätigkeit zu erschweren, denkt die Frau voller Hass. Aber das sieht man ihr nicht an. Auffordernd lächelt sie mit ihren auffällig rot geschminkten Lippen die Passanten provozierend an, so dass die biederen Händlerehefrauen aus der ländlichen Region Vierlanden ihre unruhig werdenden Männer zur Ordnung rufen müssen. Dann sind die Festansprachen vorbei, auch das Präsentieren und Verteilen der Geschenkkörbe. Die mit Blumen, Kleinwaren und leckeren Genussmitteln aller Art gefüllten Präsentkörbe stellen ein breites Spektrum der heimischen Hersteller dar. Aber das ist nur ein kleiner Teil des Angebots. Lauter Beifall macht sich breit, als der Bürgermeister erklärt, dass das reichhaltige Angebot aus Vierlanden und aus den Speichern der hanseatischen Sponsoren den Obdachloseneinrichtungen der Stadt zur Verfügung gestellt werden soll. Das ist der Abschluss des offiziellen Teils. Das übliche Schmausen und Feiern kann beginnen. Appetitanregende Düfte hängen in der Luft. Musik von verschiedenen Gruppen setzt ein. Fröhliche Menschen genießen diesen besonderen Tag.

Jetzt wird es gleich losgehen, denkt die Frau zufrieden. Ihr Begleiter hat sich unbemerkt neben sie gestellt und beobachtet das flanierende Publikum. Die erfahrenen „Street Runner“, mit ihrer Überzeugungskunst bemerken sehr schnell: Es herrscht noch Schwellenangst. Der Mann verschwindet im Auswertungs-Pavillon. Wenig später tönen aus unsichtbaren Boxen einschmeichelnde Klänge spiritueller indischer Musik. Die junge Frau nimmt einen Stapel dünner Broschüren und stellt sich damit als attraktiver Blickfang den Neugierigen in den Weg. Die Wirkung lässt nicht lange auf sich warten. Zwei junge Männer im Freizeitlook kommen an dem lebendigen Hindernis nicht vorbei.

„Habe ich Sie neugierig gemacht, meine Herren?“

Mit gurrender Stimme, tiefen Blicken und aufreizenden Bewegungen fordert sie die beiden zum Stehenbleiben auf.

„Ich sehe Ihnen doch an, dass Sie nach geistigen Werten suchen und wissen möchten, wie Sie Ihre Innere Quelle finden können.“

Die beiden Männer, etwa zwischen Anfang und Mitte zwanzig, blicken sich amüsiert an und grinsen frech.

„Also Puppe, wenn du meinst, ich sollte meine Innere Quelle suchen, dann musst du mir schon zeigen, wie das geht. Am besten heute Abend.“ Die Männer lachen laut; sie fühlen sich überlegen. Aber die knallharte Sekten-Lady kann mit damit umgehen.

„Darüber könnte man reden, mein Lieber. Aber Voraussetzung dafür ist die Testteilnahme, damit du erkennen lernst, mit wie viel Problemen du in Wirklichkeit vollgepackt bist.“

Nun sind die Rollen vertauscht. Einer der beiden Männer, nicht unattraktiv, Typ Handwerker mit biederem Gesichtsausdruck, fühlt sich überrumpelt.

„Was iss’ n das für ’n Test?“

Der hinzugetretene Teamführer mischt sich ein.

„Ein kostenloser Persönlichkeitstest, begleitet von unserer Technik hier“, er zeigt auf das Messgerät, „Dazu gibt’s die kostenlose Auswertung.“

Nun ist auch der Jüngere der Männer hinzugetreten. Interessiert betrachtet er das Gerät.

„Hat Ähnlichkeit mit ’nem Lügendetektor aus den US-Krimis.“

„Richtig, mein schlauer Freund. Nur dient dieses Gerät nicht dazu, Lügen aufzudecken, sondern dazu, die eigenen Wahrheiten zu finden.“

Die beiden beeindruckten jungen Männer erkennen nicht den Doppelsinn der verdrehten Erklärung. Intuitiv ergreift die Frau das Heft.

„Sie können natürlich auch beide einen solchen Test machen, bei mir oder meinem Partner, und zwar jetzt gleich“, schnurrt sie wieder.

Dabei öffnet sich wie zufällig ihre eng geschnittene Kostümjacke und lässt den Blick auf ihre üppigen Brüste unter dem dünnen T-Shirt zu. Darunter trägt sie keinen BH.

„Was meinst du, Lothar?“, fragt Jan, der Ältere, der schon Feuer gefangen hat.

„Also, ich meine“ – der Gefragte beginnt zu stottern – „… ich würde den Test gern von der Dame durchführen lassen.“

„Hmh.“ Jan überlegt noch, während er der Blonden ungeniert auf die prallen Brüste starrt.

„Ich muss sagen, die wäre mir auch das Liebste.“

Die „Street Runner“ grinsen sich heimlich an. Immer dasselbe, aber die Masche zieht.

„Gut, dann mache ich einen Vorschlag. Sie gehen beide mit meiner Partnerin in den Pavillon und legen nacheinander den Test ab. Und dann gibt’s die Auswertung. Einverstanden?“

Die Männer nicken.

„Okay, und wie lange dauert das?“

Lothar, der Jüngere, will es genau wissen.

„Nun ja, da wir nicht arbeitsteilig vorgehen können, dauert es für beide rund eine Stunde. Sonst nur die halbe Zeit. Trotzdem lohnt es sich für Sie immer, weil Sie ganz viel über sich in Erfahrung bringen. Bei einem Psychiater würden Sie ein Dutzend Sitzungen absolvieren und müssten einen Haufen Kohle abdrücken.“

Das ist ein überzeugendes Argument des routinierten Teamführers, der die Sprache der „Generation Golf“ beherrscht und damit letzte Einwände beseitigt.

„Kommen Sie, meine Herren!“

Mit raumgreifenden Schritten ihrer makellosen Beine und wiegenden Hüften schreitet die erfahrene Überredungskünstlerin den beiden zukünftigen Seminar Anwärtern voraus. Sie sollen es bald bereuen, dass sie an diesem schönen Tag wie die Fliegen am Honigtopf in Gestalt der provozierenden Blonden hängen geblieben sind. Der smarte Teamführer übernimmt derweil am Bücherstand geübt die Rolle eines kompetenten Beraters. Das war schon mal ein guter Start. Der Captain wird sich freuen, wenn die Erfolgsliste heute Abend länger ist.

Im Haus der Kluges in der kleinen Gemeinde nahe Lüneburg findet am Sonntagmorgen das gemeinsame Frühstück statt. Der Tisch in der Diele ist liebevoll gedeckt. Gelbe Narzissen verbreiten ihren angenehmen Duft. Auch die seltene Aprilsonne meint es gut an diesem Morgen.

„Möchtest du noch etwas Kaffee, Lieber?“

Ninette-Elaine Kluge, bereits für den Tag angekleidet, winkt mit der halbvollen Kanne.

„Na klar, mein Schatz, schenke ein. Dein Kaffee schmeckt mir am besten.“

Kluge legt die Wochenendausgabe der LandesZeitung zur Seite und blickt seine Frau aufmerksam an.

Sie sieht immer noch gut aus. Einige Falten auf ihrer Stirn zeugen von den Sorgen des hinter ihnen liegenden gemeinsamen Lebens. Trotzdem blicken ihre Augen weiterhin liebevoll und optimistisch in die Welt. Was Besseres konnte mir gar nicht im Leben passieren, als ihr zu begegnen. Unwillkürlich fährt er sich über das dünner werdende Haar und lächelt seine Frau nachdenklich an. Dann streichelt er zärtlich über ihre Hand, als sie den Kaffee nachschenkt. Wo ist die Zeit geblieben? Die Kinder sind lange aus dem Haus und haben bereits eigene großzuziehen und ihre eigenen Sorgen. Habe ich eigentlich den Bedürfnissen und Wünschen meiner Frau immer genügend Raum gegeben?

„Bernhard, träumst du?“

Elaines melodische Altstimme führt ihn an den reich gedeckten Frühstückstisch zurück.

„Und stell’ deine Tasse ab, mein Schatz, sonst gibt es eine Überschwemmung“ kommt die belustigte Ergänzung hinterher.

„Du bist wieder mal meine Lebensretterin.“

Er lehnt sich entspannt zurück und beobachtet seine Frau, die nun zu ihrer Lieblingszeitschrift für Einrichtung und Accessoires greift. Das ist ihr Faible, weil sie einen vollendeten Geschmack und ein ausgeprägtes künstlerisches Empfinden für Proportionen und Gestaltungen hat. In jungen Jahren hatte sie ein Innenarchitekturstudium begonnen, das sie jedoch ihrer glücklichen Ehe zuliebe aufgegeben hatte.

Kluge kommen die Erinnerungen wieder hoch wie er – nun schon viele Jahre zurückliegend – den entsetzlichen Gefängnisaufenthalt im Ost-Berliner Staatssicherheit Gefängnis durchstehen musste. Unwillkürlich wird ihm die Kehle trocken, bei den Gedanken an den grauenhaften Alptraum, der ihm an der Schwelle zum Tod die Augen über sich selbst geöffnet hatte. Hastig greift er zur Kaffeetasse, ein klirrendes Geräusch. Die in ihrer Welt versunkene Gattin blickt verstört auf weil das teure Kaffeegeschirr zu zerbrechen droht. Par bonheur. Gerade noch mal gut gegangen.

Sie blickt aufmerksam auf ihren geliebten Mann, heute im ungewohnten Hausanzug, der wieder zur Zeitung greift. In der letzten Zeit wirkt er sehr angespannt und nachdenklich. Es ist sein Beruf, der ihn über die Dienstzeit hinaus fordert. Nicht nur „immer bereit sein“, auch die sich mehr verschlechternden Rahmenbedingungen und eine ständig wechselnde Führungsebene mit Menschen, die immer weniger bereit sind, Verantwortung zu übernehmen.

Sie kennt nach den langen, nicht immer harmonischen Ehejahren jeden Gedanken und die Stimmungen ihres Mannes sehr genau. Wie oft hat er auf ihr Drängen hin über die internen Schwierigkeiten im Dienst berichtet. Diese, verursacht durch kurzsichtige, inkompetente Vorgesetzte, erschweren ihm das Leben. Sie weiß, dass er mit seiner Geradlinigkeit und Offenheit, den Ecken und Kanten seiner Persönlichkeit, längst nicht bei allen Entscheidungsträgern beliebt ist. Aber es gibt immer noch genügend ähnlich Denkende, sodass er seine Ideen und Vorschläge meistens umsetzen kann. Ihr entfährt ihr ein leiser Seufzer. So manches Mal kommt er aber auch enttäuscht und niedergeschlagen nach Hause.

Fast zeitgleich blicken sich beide über den Tisch hinweg an. Zu Kluges prüfendem Blick gesellen sich Zuneigung und Zärtlichkeit. Dasselbe strahlen auch ihre Augen aus. Dann tritt eine ruhige, gelassene Entspannung ein, begründet in der inneren Harmonie beider Partner. Elaines Wangen haben sich leicht gerötet, als sie belustigt bemerkt, dass es Bernhard auch so geht. Mit einem lauten Räuspern hält Kluge die aufgeschlagenen Zeitungsseiten so hoch, dass seine Frau nur die Reste seines ehemals dunkelblonden, üppigen Haares erblicken kann. Über allem sonntägliche Stille. Kluge liebt diese morgendlichen Stunden.

Als er konzentriert die Fortsetzung der Berichterstattung von Seite eins – Unbekannter Toter im Erste-Klasse-Abteil des ICE – beendet, nehmen ihn die Schlagzeilen über den Rinderwahn-Skandal in Großbritannien und die erfolglose Fahndung der Hamburger Sonderkommission in der Entführungssache Jan Philipp Reemtsma in Beschlag.

Lebt der Mann noch? Wo und wie? Auf jeden Fall müssen Profis bei diesem Verbrechen am Werk gewesen sein. Wie mag sich der Entführte jetzt fühlen?

Vor Kluges innerem Auge kocht seine hilflose Situation im Stasi-Gefängnis wieder hoch. Zwar nicht eins zu eins vergleichbar, aber Kluge kann sich in die Angst und Hilflosigkeit des Entführten versetzen. Schon ist er mit seinen Gedanken mitten im Dienst. Demnächst ist eine große Übung geplant, mit Beteiligung unterschiedlicher Polizeieinheiten. „Geiselnahme/ Entführung“, lautet das brisante Thema, das als fiktiver Fall angenommen wird. Er leitet den Abschnitt „Ermittlungen“, der den Zeitpunkt des Bekanntwerdens der fiktiven Entführung/Geiselnahme als Beginn der Ermittlungen voraussetzt. Für ihn und die anderen Kommissariatsleiter bedeutete das zusätzliche Arbeit. Nachdenklich legt er seine Zeitung auf den Frühstückstisch. Ein Griff zur Kaffeetasse – natürlich ist der inzwischen kalt geworden.

„Liebes, nun dürfen wir kein Roastbeef aus England essen, sonst bekommen wir alle den Rinderwahnsinn in den Kopf.“ Mit einem nahtlosen Übergang und dieser bewusst banalen, aber auch abschreckenden Botschaft aus der Presse, erreicht er erneut die Aufmerksamkeit seiner Frau.

„Du bist wohl nicht ganz bei Trost, mon cher! Rohes Roastbeef von diesem Inselvolk, ein Gräuel, Bernhard Kluge. Das weißt du genau!“

Ihre Augen blitzen kämpferisch.

„Ich wiederhole es hiermit noch einmal deutlich: Es ist für mich ein Gräuel. Ende, Herr Kriminalhauptkommissar.“

Der so Angesprochene steht lachend auf und geht zu seiner plötzlich zickig blickenden Frau.

„Ich liebe dich, mein Schatz.“ Er küsst einmal, zweimal und schließlich ein drittes Mal ihre warmen Lippen. Der dritte Kuss dauert noch an, als das Telefon in der Diele leise anschlägt.

Kluge reagiert nicht, auch nicht beim fünften Läuten . Heute ist Wochenende, verdammt noch mal. Die Kinder können es nicht sein, da mit ihnen ein Anrufsignal vereinbart wurde.

„Nun geh’ schon, die Kollegen brauchen dich“, sagt sie leise, aber deutlich. Sie kennt das schon.

„Scheiße“! Dann reißt Kluge den Hörer an sich.

Sein Ton ist unfreundlich, als die Stimme eines unbekannten Kollegen aus der Nachbarstadt etwas von einem Toten mit aufgeschlitztem Hals berichtet.

„Und was haben wir in Lüneburg damit zu tun, Herr Kollege?“ Die aufmerksame Elaine, die anfängt, das Frühstücksgeschirr zusammenzuräumen, hört nur die Antworten ihres Mannes. So knapp hatte sie ihn auch schon erlebt.

„Dann rufen Sie eben meinen Chef an und klären das mit dem. Der soll entscheiden, wer die Ermittlungen übernimmt.“

Ärgerlich legt Kluge auf. Das ist ein Ergebnis der Polizeireform. Die Arschgeigen da oben haben die Fachkompetenz der Kriminalpolizei zerschlagen – und jetzt fehlen die notwendigen Leute. Seine Frau kommt mit dem Tablett aus der Küche, um den Tisch abzuräumen.

„Meinst du, dass das so richtig war? Der Anrufer steht doch viel mehr unter Druck als du.“

Kluge taucht wie aus einer trüben Wolke auf.

„Ach, so ist es doch immer. Die Leute, die am Wochenende erreichbar sind, erwischt es ständig. Und du weißt doch, mein Herz, was mir ein gemeinsames Wochenende bedeutet.“

Sein Blick taucht tief in ihre Augen ein.

„Aber du bist ein Verantwortlicher, Bernhard, und keiner von diesen Weicheiern mit ihrem Acht-Stunden-Schreibtischtag. Und das wissen die, die dich anrufen.“

Nachdenklich blickt der Grollende seine Frau an. Eine kluge Frau hast du. Im Prinzip hat sie ja Recht … aber nicht immer.

„Zu Befehl, Madame General“, lacht er. „Wenn also mein Chef anruft, bist du mich für heute los.“

Es gilt nun, die Einsatztasche zu packen.

„Schmier’ mir bitte zwei Scheiben Brot mit der guten Landleberwurst. Ich habe das Gefühl, es könnte wieder mal spät werden.“

Ein Blick auf die antike Dielenuhr. 10.15 Uhr. Sonntag, ade, denkt er abschließend, als er nach oben ins Bad eilt, um sich fertig anzukleiden.

Einen Tag später, annähernd zur gleichen Zeit, findet der jüngere der beiden WG-Bewohner und Mieter im hohen, alten Stadthauses im Hamburger Stadtteil Stellingen zurück in den nüchternen Alltag. Der Kopf schmerzt und ihm ist speiübel, als er im Garderobenspiegel mit Mühe sein verquollenes Gesicht erkennt. Gaumen und Mund sind wie ausgetrocknet. Nur mit einem Slip bekleidet stolpert er an die großen Fenster und zerrt die einfachen Vorhänge zurück.

Ungewohnter Sonnenschein blendet ihn. Verdammt, stinkt das hier immer noch nach Nuttendiesel! Frische Luft muss rein. Dann zum Kühlschrank, die Mineralwasserflasche herausziehen und das kalte Getränk in die Kehle laufen lassen. Die Reaktion ist zunächst hilfreich. Entspannt lässt er sich in den alten zerschlissenen Sessel plumpsen. Noch einen langen Schluck. Als sich wenig später die aufgestaute Kohlensäure einen Ausgang sucht, zerstört ein gewaltiger Rülpser die sonntägliche Stille. So laut, dass nebenan aus dem Zimmer seines Kumpels ähnliche Geräusche erkennen lassen, dass auch dieser wieder ins Leben zurückfindet.

Der Mann, Hans-Frieder, genannt Fred, blickt sich abwesend im Raum um. Mühsam registriert er das Chaos, entstanden durch herumliegende leere Sekt- und Bierflaschen und umgekippte Gläser. Mit leerem Blick betrachtet er das Ganze, bis seine Gedanken langsam ihren Weg finden. Krampfhaft versucht er sich an die vergangene Nacht zu erinnern. Aber die bohrenden Kopfschmerzen lassen das nur eingeschränkt zu. Wie war das bloß noch? Ach ja. Alex und er waren am frühen Abend mit dem Taxi zur Reeperbahn gefahren. Ganz lässig. In seiner Gesäßtasche hatte er reichlich Patte, den verdienten Lohn für eine Nacht außerhalb Hamburgs.

Damit hatten beide in den Kneipen und Clubs so richtig die Sau raus gelassen. Lange hatte es nicht gedauert, bis sich zwei Schnallen aus dem Club „Ritze“ oder ähnlich, bei ihnen eingehängt haben, um Billigsekt zu teuren Preisen loszuwerden. Zwischendurch heizten sich beide so richtig an den Tanzkünsten der scharfen Tussys auf.

Alex, der andere Mann, groß geworden in einer stillen Region des Bayerischen Waldes und der so etwas bisher nur aus Pornoillustrierten kannte, war rattenscharf wie ein Terrier. Deshalb war es naheliegend, dass sie sich in den frühen Morgenstunden in ein Taxi pflanzten und dem Fahrer den Auftrag gaben, zwei geile Bräute aufzureißen.

Er, Fred, hatte dem Driver einen „Hunni“ rübergeschoben, sodass es nicht lange dauerte, bis jeder eine Braut vom Strich an der Kastanienallee auf dem Schoß hatte. Die Fummelei und Knutscherei war schon im Großraumtaxi losgegangen. Dem Fahrer hat das nichts ausgemacht; der kannte das schon. In der Wohnung im dritten Stock ging es dann richtig zur Sache. Die Klamotten flogen quer durch die Zimmer, und der Penny-Sekt aus dem Kühlschrank floss in Strömen. Die beiden Bordsteinschwalben hatten längst gecheckt, mit wem sie es zu tun haben. Sie wechselten von einem zum anderen, bis die beiden WG – Bewohner nicht mehr auf die Beine kamen und er auf seiner Babsi eingeschlafen war.

Verdammt, hoffentlich hatten die beiden Nutten kein Aids. Die letzten Nummern waren ohne Gummi, weil auch die Bräute mächtig abgefüllt waren.

„Alex“, grölt er. „Kommst du auch mal wieder ans Tageslicht, alte Socke?“

Grunzende Geräusche, ein Poltern. Dann ein erneuter Furz und ein schwerfälliges Tappen. Im offenen Türrahmen steht schwankend, nur mit seinem T-Shirt bekleidet und unten völlig frei, sein Kumpel.

„He, was is’ Alter? Haste noch zu saufen oder was?“

Mit stierem und immer noch trunkenem Blick versucht Alex, in den Tag zurückzufinden.

„Wo iss’n Manuela, die geile Taube?“

Dabei greift er sich an das Geschlechtsteil und bemerkt sein schlaffes Glied. Er betrachtet es nachdenklich und schüttelt verständnislos den Kopf.

„Mich so im Stich zu lassen, Johannes, schäme dich.“

„Mann, das kann doch keiner mit ansehen. Zieh dir endlich deine Unterhose an. Die Party ist vorbei, Kumpel.“ Freds Stimme zeigt Wirkung.

„Nur, wenn du mir was zu saufen gibst. Ich fühle mich ausgetrocknet wie ein Stockfisch.“

Der Angesprochene wirft ihm lässig die halbvolle Flasche Wasser zu. Grinsend sieht er, wie sich sein Kumpel das kühle Nass in die Gurgel schüttet. Danach versucht er schwerfällig eine Kehrtwendung wie bei der Bundeswehr. Das bringt ihn aber nur heftig zum Stolpern.

„Verdammter Scheißteppich, das.“ Mit blankem Gesäß schwankt Alex zurück in sein Zimmer.

„Verdammt, wo ist mein Slip? Den hatte ich doch gestern noch“, hört ihn Fred fluchen. Und wenig später ist das gewohnte Schnarchen zu hören.

Das wäre wohl für mich auch das Beste, so lange zu pennen, bis die Birne richtig klar ist. Er zieht sich mit den Füßen den zweiten Sessel heran und macht es sich bequem. Der Kopfschmerz hat nachgelassen. Nachher koch’ ich mir einen doppelten Espresso, der wird das wieder richten. Erneut schlagen seine Gedanken unkontrolliert den Bogen zum Abend und zur Nacht zuvor. Bildfetzen tauchen in seinem benebelten Bewusstsein auf. Die Fahrt mit dem Zug zu zweit, mit dem kleineren, aber älterem Mann, den er zuvor auf dem Hamburger Hauptbahnhof kennengelernt hatte. Schon auf den ersten Blick hatte er erkannt, dass Giovanni Gay war. Genau der Typ Mann, auf den Alex und er sich eingestimmt hatten, nachdem sie mehr als zwei Monate arbeitslos gewesen waren und die letzten Reserven verbraucht hatten. In einer Stehkneipe in der Steinstraße hatten sie das Treiben der Drogennutten und der Schwulen genau beobachtet, die für eine schnelle Nummer immer gut waren.

Aber das war nicht das, was sie wollten. Im Gay-Klub auf St. Pauli hatten erfahren, dass die große Bahnhofshalle ein Treffpunkt für zahlungskräftige Schwuchteln und ihre Freier war. Es gab nur ein Problem dabei. Fred und Alex waren nicht schwul und auch nicht bi. Für sie stand die Kohle im Vordergrund, die von den Tunten zu holen war.

„Schwulenklatschen“ heißt das bei Insidern: Der Freier geht zum Schein auf das Angebot eines erwartungsvollen Gay ein und fährt mit ihm in eine Steige. Zur Enttäuschung des Schwulen kommt es aber nicht zu dem erwünschten sexuellen Kontakt, sondern zu Gewalthandlungen mit erheblichen Körperverletzungen und dem nachfolgenden Ausrauben der Überraschten. So war es bisher immer mit Erfolg für die beiden Männer gelaufen. Die erbeutete Kohle hatte für Miete und Lebensunterhalt gereicht, zumal das Risiko, erwischt zu werden, sehr gering war, da die „gerupften“ Schwulen nie zu den Bullen gingen.

Alex hatte anfangs noch Bedenken, doch Fred ist von einem anderen Schlag. Er empfand für Schwule keine besondere Sympathie. Er nutzte deren meist körperliche Unterlegenheit und das immer noch geächtete Triebleben aus, Menschen die am Rande der Gesellschaft leben. Mittlerweile hatten sich beide auf die sprudelnde Einnahmequelle eingestellt und sich von der Kohle nach und nach ordentliche Kleidung beschafft. Damit spielten sie in einer Liga, in der Schwulen anspruchsvoller sind und sich nicht auf dem Straßenstrich oder Pissoirs anbieten.

Vorgestern Abend war es scheiße gelaufen.

Alex hatte keine Lust und hing vorm Fernseher rum. Also hatte er sich allein von einem Taxi zum Hauptbahnhof fahren lassen. Dort war lange Zeit tote Hose. Nur ein paar Penner und abgetakelte Nutten hingen dort rum. Sie peilten nach den Bullen, die auf einmal nur noch als Doppelstreife unterwegs waren. Am Kiosk hatte jemand erzählt, dass der Grund dafür ein Tränengasanschlag auf einen ICE war. Als er dann eine halbe Stunde vor Mitternacht die Segel streichen wollte, sah er ein Taxi vorfahren, dem ein gut gekleideter kleiner, dunkelhaariger Mann, offensichtlich Italiener, entstiegen war. Der angetrunkene Typ mittleren Alters war zur Abfahrtstafel gegangen und hatte sie intensiv studiert. Fred checkte schnell, dass der Typ anschließend zu einem Coffee-Shop schlenderte und sich dort etwas bestellte. Das war der richtige Zeitpunkt für die Kontaktaufnahme. Im Glas einer spiegelnden Scheibe hatte er seine blonden Haare gerichtet und sich dann direkt neben den kleineren Mann gestellt. Das war der Beginn. Zwanzig Minuten später hatten sie in einem Zugabteil des leeren Nachtzuges in Richtung Hannover gesessen.

Die Fahrt mit Streicheln und heißen Blicken von Giovanni hatte nicht lange gedauert und sie hatten für den Rest der Nacht einen Betrag von fünfhundert Mark ausgehandelt. Die anschließende Fahrt mit dem Taxi vom Bahnhof zu einer Reihenhaussiedlung hatte sie zu einem gepflegt wirkenden Mittelreihenhaus gebracht. Auch das Innere hatte diesen Eindruck wiedergegeben. Giovanni hatte mehrere starke Grappas serviert und war schnell im Bad verschwunden gewesen.

Treffer, hatte er, Fred zu dem Zeitpunkt gedacht. Der Typ hat Knete ohne Ende. Auch oder vielleicht gerade, weil er Italiener ist. Eigentlich waren Ausländer nicht sein Ding. Das hatte ihm seine konservative Familie eingeimpft. Aber drauf geschissen, Geld stinkt nicht. Und dann war Giovanni in einem schwarzen Lacklederbody, penetrant nach schwülstigem Parfüm riechend zurückgekommen. Voller Erregung hatte er Fred in das große, französische Bett unter dem riesigen Deckenspiegel gezerrt. Wohl oder übel hatte der das Spiel mitgemacht und sich bis auf den roten Seidenslip ausgezogen. Dann musste er sich auf Giovannis Wunsch zu den Klängen einer CD mit Opernarien hin – und her wälzen und Fickbewegungen machen, bis der kleine Italiener einen Steifen bekam. Na gut, was soll’s. In zehn Minuten ist es vorbei, ich habe die Kohle und verschwinde, hatte er gedacht. Er hatte sich auf den Bauch gelegt, seinen Slip heruntergezogen, und Giovanni hatte versuchte, seinen mickerigen Ständer in seinem Arsch unterzubringen. Das war aber nicht gelungen, und zum Schluss hatte er die erträumte Nummer laut fluchend aufgegeben.

„Blas mir sofort einen, du blondes deutsches Schwein oder du kriegst keine einzige Mark von mir“, hatte er völlig besoffen geschrien. Fred hatte das Gefühl, einen Schlag auf den Kopf bekommen zu haben.

„Du verfickter Makkaroni, das war so nicht abgemacht“, hatte er wütend geschimpft.

Was dann passierte, war im Nebel seines alkoholisierten Bewusstseins untergegangen. Plötzlich hatte Giovanni schreiend und blutüberströmt vor ihm gestanden und ihn mit seinem Messer bedroht. Mühelos konnte er an dem Verletzten vorbei laufen. Im Hausflur hatte er noch dessen schwarze Handgelenktasche an sich gerissen. Hastig hatte er sich im Laufen angezogen und war gerannt so schnell er konnte. Nur weg von dem blutigen Finale. Ziellos irgendwohin, in den Schatten der Nacht hinein. Die gurgelnde Stimme des Italieners hatte ihn nicht losgelassen. Die weitere Flucht war wie in Trance verlaufen. Unter einer trüben Laterne, in der Nähe von Lagerhäusern hatte er die Herrentasche untersucht. Fast zweitausend Mark. Eilig riss er das Geld heraus und schleuderte das leere Behältnis in den Straßengraben. Schließlich war er an den Stadtrand gelangt und las auf einem buntem Übersichtsplan den Namen der Stadt, – Winsen/Luhe. Betont gelassen konnte er an einem Taxi-Stand in der Nähe einer Kneipe ein Fahrzeug anheuern. Fahrtziel Hamburg – Reeperbahn. Dort konnte er mühelos untertauchen und mit einem weiteren Taxi in die Nähe ihrer Wohnung gelangen. Er hatte in solchen Dingen genügend Erfahrung gesammelt. Alex war längst im Schlaf, als er sich unter die Dusche gestellt hatte.

Am anderen Morgen war alles wie sonst gewesen. Er hatte Alex nur die Kohle gezeigt und gemeint, dass sie am Abend so richtig einen drauf machen würden. Sein Kumpel hatte sich an dem Bündel Scheine nicht satt sehen können und immer wieder wissen wollen, wie Fred dazu gekommen war. Später vielleicht mal, aber heute Abend lassen wir richtig die Sau raus.

Fred stöhnt leise vor sich hin und zermartert sein Gehirn. Aber es will ihm nicht einfallen, was im Schlafzimmer des Italieners passiert war.

„Ich brauche einen Kaffee. He Alex, du alter Fickfrosch. Setz’ mal einen auf.“

Doch Alex nebenan grunzt nur.

Mühsam wälzt Fred sich hoch und quält sich in die kleine Küche. Schrank auf, Kaffeedose her, Deckel auf: Leer.

„Verdammter Mist. Alex, du faule Bazille. Du solltest doch vorgestern Espresso mitbringen.“

Doch Alex ist das in seinem Rausch egal.

„Dann mache ich mir eben einen starken Tee. Der wird mir gut tun – und dir auch.“

Alex reagiert auch weiterhin nicht erkennbar, sondern gibt nur eine akustische Antwort.

„Oh nee, nicht das auch noch. Wie kann ein Mensch nur so stinken?“

Er flüchtet zurück in den Wohnraum. Leise fluchend beginnt er die leeren Sektflaschen aufzusammeln. Dann bemerkt er ihn plötzlich und wird beinahe starr vor Schreck. Unter dem zweiten Stuhl liegt ein einsamer Blauer, ein Hundertmarkschein. Das Blut schießt in den Kopf. Mit einem Sprung ist an er an der kleinen Vitrine, in sich die Kassetten stapeln. Mit einer wilden Handbewegung schleudert er die beiden Reihen auf den Fußboden und greift dahinter ins Leere. Kein einziger Schein ist mehr in seinem Versteck. Alles weg. Runde tausend Mark waren übrig nach dem Absturz mit den beiden Nutten. Siedend heiß wird ihm plötzlich.

„Alex, die beschissenen Nutten haben uns abgezogen. Unsere Kohle ist weg.“

Die wütenden Schreie und nachfolgenden Flüche erreichen endlich auch seinen Kumpel. Ein zweites Mal erscheint er im Türrahmen. Doch jetzt mit weit aufgerissenen, erschrockenen Augen.

„Was sagst du? Ich höre immer, die Nutten haben uns beklaut?“

„So ist es.“ Freds Augen sprühen vor Wut.

„Wir halten die hier aus, schieben denen die Sektpullen in den Arsch – und die ziehen uns ab! Ich fass’ es nicht.“ Stumm und vor Wut zitternd starrt er seinen Mitbewohner an.

„Die Kohle holen wir uns wieder, darauf kannst dich verlassen. Nicht umsonst wurde ich im Knast in Landsberg Fred Feuerstein gerufen.“

Am Nachmittag, als KHK Kluge der agilen Ronda Kubitzke den Sachstandbericht für die Kollegen des LKA 41 in Hamburg diktiert, klopft es kräftig an der Tür. Unwillig blickt Kluge auf. In der Tür steht ein junger Schutzmann von der Wache und deutet auf eine dunkel gekleidete, jüngere Frau hinter ihm.

„Das ist Frau Lindholm aus Hann. Münden.

„Ja, das ist richtig, Herr Kollege. Wir erwarten Sie schon.“ Kluge erhebt sich.

„Willkommen, Frau Lindholm. Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Fahrt.“

Dann fällt ihm das in diesem Fall Unpassende der Situation auf.

„Entschuldigung. Wenn Sie mir bitte folgen wollen. Gehen wir in mein Dienstzimmer.“

Bislang hat Karin Lindholm keine Gelegenheit gefunden, etwas zu erwidern. Mit ernster Miene folgt sie.

„Ronda, ich möchte die nächste halbe Stunde nicht gestört werden. Auch nicht am Telefon.“

Hinter der Besucherin schließt er die Tür. Die Frau bleibt einen Moment unschlüssig im Raum stehen, wobei ihr Blick an Kluges Gesicht hängen bleibt.

Kluge stellt fest, dass die Frau einen sehr gepflegten Eindruck macht und außerdem dezent nach einem teuren Parfüm duftet.

„Möchten Sie nicht ablegen?“

„Ja, natürlich gern. Draußen war es ziemlich ungemütlich.“

Er nimmt den leichten Wollmantel entgegennimmt und hängt ihn auf.

„Bitte nehmen Sie hier Platz, Frau Lindholm.“ Er deutet auf den runden Besprechungstisch und rückt ihr höflich einen Stuhl zurecht.

„Darf ich Ihnen eine Tasse Kaffee anbieten?“

Sekundenlang blickt ihm Karin Lindholm prüfend in die Augen, dann nickt sie.

Dieser Blick … Habe ich die Frau schon mal gesehen? Hinter sich greifend erwischt er den Telefonhörer und drückt blind eine Taste.

„Ronda, bring’ uns bitte Kaffee. Und gib Jens Bescheid, dass er dazu kommen möchte.“

Er nimmt gegenüber seiner Besucherin Platz. Wieder dieser packende Blick der dunkelbraunen Augen.

„Ja, ich hatte eine relativ angenehme Fahrt, Herr Kluge. Ich musste mit der Bahn fahren, weil mir die Fahrtstrecke mit dem Auto unbekannt ist.“

Dabei streicht Karin Lindholm den schwarzen Rock ihres Kostüms zurecht, der beim Sitzen eine Handbreit über ihr dunkel bestrumpftes Knie hochgerutscht ist. Kluge sieht ihr dabei so fasziniert zu, als würde er so etwas zum ersten Mal in seinem Leben sehen. Seine Stimme klingt ein wenig heiser.

„Ich kenne die Strecke nur allzu gut. Viele Jahre habe ich die anstrengende Fahrt an den Wochenenden ertragen müssen.“

„Sie kennen meine Heimatstadt, Herr Kluge?“

Überraschung klingt aus der dunklen Stimme seiner Besucherin.

„Ich habe dort meine Ausbildung absolviert. In der Landespolizeischule, an der Gimter Straße.“ Dann tritt ein dienstlicher Ton in seine Stimme.

„Aber ich glaube, wir sollten jetzt zur Sache kommen, da wir im Städtischen Krankenhaus avisiert sind.“

Etwas Nachdenkliches liegt jetzt in dem ebenmäßigen Gesicht der Frau mit den braunen Augen und den schön geschwungenen Brauen. Aber dann ist es auch schon verflogen.

„Ja, da haben Sie gewiss Recht, Herr Kluge. Bitte beginnen Sie.“

Dann erklärt Kluge in einfühlsamen Worten den genauen Ablauf der Identifizierung. Er versucht, seiner Besucherin etwas von dem Schrecken der Prozedur zu nehmen, nachdem er bemerkt, dass der Frau Tränen in die Augen treten. Sie blickt ihn sehr aufmerksam an und horcht auf seine Stimme. Er ist froh, dass endlich die Tür aufgeht und Ronda ein Tablett mit Tassen, Milch, Zucker und einer Kaffeekanne auf den Tisch stellt. Als er aufsteht und fahrig die Kanne ergreift, um seiner Besucherin Kaffee einzuschenken, berühren sich zufällig ihre Hände. Kluge zuckt zusammen.

„Lassen Sie mich das bitte machen, Herr Kluge. Ich bin es aus meiner Kanzlei geübt.“

Dabei erfährt Kluge etwas über den Beruf seines Gegenübers. Willig überlässt er der Besucherin das Einschenken und beobachtet dabei ungewollt die gewandten, schmalen Hände, die harmonischen Bewegungen. Bestimmt ist sie acht Jahre jünger als meine Frau. Verflixt, was ist los mit dir, Kluge? Dann öffnet sich die Tür erneut. Ehlers blickt herein.

„Störe ich?“

„Natürlich nicht. Komm’ herein Jens.“

„Frau Lindholm, darf ich Ihnen Kriminalhauptkommissar Jens Ehlers vorstellen? Er wird Sie zum Städtischen Krankenhaus begleiten.“

Und an diesen gewandt. „Ich habe Frau Lindholm bereits das Wesentliche erläutert. Aber ich denke, du hast sicher noch einige Fragen an Sie.“

Jens Ehlers freundliches Lächeln wird ernst.

„Dann kann ich die Zeit nutzen und Ronda meinen Bericht zu Ende diktieren.“

Bedauernd blickt er Lindholm an.

„Ich möchte mich von Ihnen schon verabschieden. Sollten Sie nach der Identifizierung noch Fragen haben, können Sie diese gern bei Herrn Ehlers oder mir loswerden, einverstanden?“

Wieder dieser intensive Blick. Ungewöhnlich in dieser Situation. Wie die ganze Frau.

„Danke, Herr Kluge. Ich komme gern auf Ihr Angebot zurück.“

Sie reicht ihm ihre schmale, warme Hand.

Kluge verbeugt sich leicht und ist froh, dass er den Raum verlassen kann. Im Flur bleibt er einen Moment stehen. Was ist los, Bernhard? Lässt du dich von Frau, die wahrscheinlich schon Witwe ist, durcheinanderwirbeln? Irgendwie kommt die Frau mir bekannt vor. Aber woher?

Trilogie des Mordens

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