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Intellektuelle im politischen Kräftespiel Ihre Präsenz in Deutschland und Frankreich
ОглавлениеDass es Intellektuelle noch gibt, sie wahrgenommen werden und über Deutungsmacht verfügen, will die Zeitschrift Cicero mit ihrer alljährlichen Rangliste der 500 wichtigsten Intellektuellen zeigen. Diese Erhebung basiert auf der Präsenz von Intellektuellen in den 160 wichtigsten deutschsprachigen Zeitungen und Zeitschriften. Außerdem werden Zitationen im Internet ermittelt und Treffer in der Suchmaschine Google Scholar gezählt. Ausdrücklich betont Cicero, es gehe dabei nicht um die inhaltliche Qualität der Einlassungen sondern um Quantität. Das wirft natürlich die Frage auf, ob diese Quantifizierung anstelle einer Qualifizierung nicht bereits Teil unseres Problems ist und auf das Schwinden des Intellekts im eigentlichen Sinne verweist. Denn originäre Qualität, Kreativität, Eigensinn und riskantes, offenes Denken als intellektuelle Potenz sind gerade jene Attribute, die Intellektuelle über Jahrhunderte ausgezeichnet haben.
Angeführt wird die Cicero-Rangliste 2019 von einigen noch verbliebenen „Großköpfen“: dem Philosophen Peter Sloterdijk, gefolgt von seinem Kollegen Jürgen Habermas, den Schriftstellern Hans Magnus Enzensberger, Martin Walser und Peter Handke, dem ehemaligen Politiker und anschließend erfolgreichen Publizisten Thilo Sarrazin – Politiker werden sonst nicht in dieser Liste geführt –, der Schriftstellerin Elfriede Jelinek, dem Ökonomen Werner Sinn und der Journalistin Alice Schwarzer. Diese Spitzenreiter haben alle das 70. Lebensjahr überschritten, was der Würdigung ihrer bisherigen intellektuellen Leistungen natürlich keinen Abbruch tut. Die Schriftstellerin Juli Zeh sorgt auf Platz elf dennoch deutlich für Verjüngung.
Das Messverfahren für dieses Ranking hat der Ökonom und Politikwissenschaftler Max A. Höfer entwickelt, der die Intellektuellen-Liste für Cicero bereits seit 2006 erstellt. Seither ist zu beobachten, wie sich die Positionierung der 500 Intellektuellen verschiebt. Die Kategorie „Intellektueller“ ist laut dieser Rangliste recht weit gefasst. Neben Schriftstellern, Sozial- und Geisteswissenschaftlern finden sich Ökonomen, Publizisten und ausgesprochen viele Journalisten – auch wenn Max A. Höfer inzwischen einen Abwärtstrend für Publizisten und Schriftsteller beobachtet, während Naturwissenschaftler, Mediziner und Ökonomen die großen Aufsteiger in diesem Ranking sind.
Die Häufigkeit der öffentlichen Präsenz in Gestalt von Zitaten, Büchern und Artikeln, aber auch leibhaftig auf Podien und in Talkshows macht die gelisteten Intellektuellen – durchaus auch in pekuniärer Hinsicht – zu jenen Spitzenreitern, die umtriebig in der Republik unterwegs sind und sich geschmeidig in den Kulturbetrieb einfädeln. Legt man als Maßstab hingegen eine etwas puristischere Definition des Intellektuellen an, die sich stärker an der historisch gewachsenen Rolle und den qualitativen Interventionspotenzialen orientiert, enttäuscht diese Rangliste. Zeigt sie im Resultat und in der Machart nicht gerade, dass jene Intellektuellen, die wir aus vergangenen Zeiten kennen, die mit scharfem Blick die Gesellschaft ins Visier nehmen, mit ihrer Skepsis ärgern und mutig an Glaubenssätzen, Sitten und Tabus rütteln, am Aussterben sind? Hat diese Figur des „Rüpels und Rebells“ nicht schon längst abgedankt?
Die Publizistin Hannelore Schlaffer erinnert in ihrer Erfolgsgeschichte des Intellektuellen an diese nonkonformistische Rolle, als der rüpelhaft-rebellische Intellektuelle als Kritiker noch ärgern konnte und zugleich als Erfinder neuer Lebensstile und Freiheiten geschätzt wurde. Als „Hofnarr und Missionar“ seiner Gesellschaft, konnte er ein „notwendiges Ferment der Aufklärung“ sein. Und eben eine solche Form des Intellektuellen meint der Medienwissenschaftler Norbert Bolz – selbst auf vielen Podien unterwegs – auch heute noch zu erblicken. In seiner Laudatio auf den Anführer der Cicero-Liste bescheinigt er Peter Sloterdijk Geistesgegenwart ohne Zeitgeistigkeit. Sloterdijk trotze dem medial wie politisch zugespitzten Konformitätsdruck. In einer Zeit, in der die Politik zum Gefälligkeitsdenken, die Medien zur Selbstinszenierung und die Universität zur Resignation verführe, brilliere er mit Eigensinn. Eine Figur, wie sie besonders häufig bei unseren Nachbarn zu finden ist.
Frankreich zehrt bis heute noch von seinem Ruf, das Land der Intellektuellen und gewissermaßen Erfinder dieser Spezies zu sein. Es wundert deshalb nicht, dass es dort unzählige Studien und regelrechte Bestseller über ihre Geschichte, ihren Aufstieg und Niedergang, ihren Verrat, ihre Verantwortung oder ihre Neuverortung gibt. Im Vergleich zu Deutschland war die Essay- und Zeitschriften-Kultur, in der auf hohem Niveau und dennoch breit rezipiert über den Zustand der Gesellschaft gestritten wurde, in Frankreich schon immer viel ausgeprägter. Dazu kam das hohe Ideal des institutionell unabhängigen Intellektuellen, der öffentlich interveniert: Der 2015 verstorbene Philosoph André Glucksmann verkörperte dies auf vortreffliche Weise. Vom ehemaligen Maoisten in der 1968er Studentenrevolte zum antitotalitären Liberalen gewandelt, provozierte er gern Debatten und sparte nicht mit Polemik. Im Gegenzug begleiteten ihn Anfeindungen, scharfe Kritik und Missgunst bis zu seinem Tod.
Einer seiner Kontrahenten war der Soziologe Pierre Bourdieu, der am ehrwürdigen Collège de France in Paris lehrte. Er galt als „Papst“ seines Fachs und war zugleich ein veritabler Vertreter jener akademischen Linken, die das Engagement der Intellektuellen einforderten. Institutionell verankert und stolz auf seine akademische Reputation, polemisierte er gern und zuweilen recht aggressiv gegen sogenannte „Medienintellektuelle“. Diese Vogelfreien, nicht eingebettet in eine wissenschaftliche Institution und Hierarchie, waren ihm zutiefst suspekt. Das war umso erstaunlicher, als sich der Soziologe völlig zu Recht seinen guten Ruf gerade mit Untersuchungen über Die feinen Unterschiede erworben hatte, mit akribischen Analysen sozialer Rangunterschiede und Dynamiken der Macht, der Anerkennung und des gesellschaftlichen Auf- und Abstiegs. Neben dem ökonomischen, sozialen und symbolischen Kapital führte er den Begriff des kulturellen Kapitals ein. Er untersuchte damit Bedeutung, Stellenwert und Nutzen, die der Bildung im sozialen Beziehungsgeflecht und der Genese von Machtstrukturen zukommt. In seinem Anfang der 1980er-Jahre erschienenen Buch Homo academicus setzte sich Bourdieu dann ausführlich mit der Frage auseinander, wer überhaupt die Definitionsmacht darüber habe, wer ein Intellektueller ist, und sich damit ermächtige, kulturelle Produktion zu bewerten.
Bestsellerlisten und Bestenlisten der großen Zeitungen und Zeitschriften, die Intellektuelle bewerteten und in eine Hierarchie einordneten, gab es schon damals. Unter der Überschrift „Die Hitparade der französischen Intellektuellen oder: Wer richtet über die Legitimität der Richter?“ mokiert sich Bourdieu mit beißendem Spott über das Ranking intellektueller Akteure. Er sieht dabei kulturindustrielle Mechanismen am Werk, wobei sich „Journalisten-Intellektuelle“ und „Intellektuelle-Journalisten“ aufs Engste miteinander verstrickten. Dieser Prozess „vollzieht sich auf mehreren Ebenen: auf der des ‚informellen‘ Austauschs privater, wenn nicht vertraulicher Urteile und Wertungen (‚Sag’s nicht weiter, aber das letzte Buch von X ist unter aller Sau‘) zwischen Journalisten, schriftstellernden Journalisten und journalistisch tätigen Schriftstellern, aber auch auf der Ebene der öffentlichen Verdikte, also der Rezensionen, Kritiken, Einladungen zu Radio- und Fernsehauftritten, schließlich auch der ‚Bestenlisten‘.“ (Bourdieu 1992)
Diese scharfsinnige Analyse des Soziologen gilt nicht nur für Frankreich. Auch in Deutschland können wir bis heute – und noch angetrieben und beschleunigt vom Internet und den sozialen Netzwerken – ganz ähnliche Mechanismen im Kultur-, Wissenschafts- und Medienbetrieb beobachten.