Читать книгу Vor dem Erben kommt das Sterben - Ulrike Blatter - Страница 7
ОглавлениеProlog
3. März 2009
In dem Moment, als das Kölner Stadtarchiv einstürzte, stand Blanches Herz bereits seit einigen Sekunden still. Vielleicht hatte sie das Grollen gerade eben noch wahrgenommen. Diesen unterirdischen Pulsschlag, der wie ein Erdbeben durch das ganze Stadtviertel fuhr. Aber als der Putz von der Badezimmerdecke rieselte, war ihr Kopf schon nach vorne gesunken und Blanches Gesicht trug den Ausdruck dümmlicher Überraschung. Wie bei einer, die aus dem Halbschlaf geweckt wurde und nicht recht weiß, wo sie sich befindet, schienen ihre halb offenen Augen den knallorangenen Fön zu betrachten, der sich zwischen ihren bleichen, sommersprossigen Unterschenkeln auf dem Wannenboden drehte. Wie ein übergroßes Insekt mit trägem Flügelschlag setzte er das Wasser in Bewegung. Um und um rührte er das Fichtennadelgrün, das sich immer weiter erhitzen und schließlich auch die Farbe verändern würde. Und auch mit dem Duft nach frischem Wald wäre es dann bald schon vorbei.
Ob Blanche das Augenpaar erkannt hatte? Diesen Blick, der auf ihr ruhte, wenige Sekunden bevor der Fön ins Wasser fiel? Diese weit geöffneten Augen, trügerisch klar; man meint, durch sie hindurchzusehen bis auf den tiefsten Grund einer einsamen Seele. Aber ist nicht alles, was wir zu sehen meinen, eine Täuschung? Jedenfalls wird Blanche viel Zeit haben, über die ganze Angelegenheit gründlich nachzudenken. Solche Seelen wie ihre wandern lange. Ich weiß es genau. Mein Name ist Cleo. Ich bin über zweitausend Jahre alt. Ich lese die geheimsten Gedanken und durchschaue Menschen bis in den letzten Winkel ihrer Seele.
Ich spreche jedoch nicht mit jedem. Und nicht jeder, mit dem ich spreche, versteht mich.
Ein Schlag unten im Keller. Es wird dunkel. Der Fön surrt nicht mehr. Das Wasser kommt zur Ruhe. Draußen zuckt Blaulicht. An- und abschwellendes Sirenengeheul. Aber sie fahren an unserem Haus vorbei.
Mein Name ist Cleo. Ich bin die Beobachterin.