Читать книгу Die Party - Ulrike Haidacher - Страница 5

Оглавление

Die Party war an dem Tag, an dem ich eigentlich zu meiner Schwester fahren wollte. Es ist nämlich so: Meine Schwester redet nicht mehr mit mir. Nein, man muss es anders zu erzählen beginnen: Ich habe jetzt eine Arbeit. Eine Arbeit, die offiziell als seriös bezeichnet werden kann. Ich bin Lektorin. An der Uni. Das liegt natürlich am Studium, das ich abgeschlossen habe, aber wie ich dann genau Lektorin geworden bin, das kann ich mir jetzt auch nicht immer so genau erklären.

Es ist eine Arbeit, die schon passt, aber nur weil etwas passt zu einem, heißt das noch lang nicht, dass man auch Geld damit verdienen kann. Also genug Geld jetzt. Ist ja nicht so, dass das Leben nichts kostet, und wer will nicht ein bisschen leben? Ich auf jeden Fall schon, also leben will ich, ein bisschen zumindest, habe ich mir gedacht, darum habe ich den Job an der Softeismaschine in dem Innenstadt-Restaurant auch nie aufgegeben. Während des Studiums nicht und danach auch nicht. Also jetzt weniger wegen Vernunft und Vorsorge habe ich diesen sicheren Job mit immerhin neun Euro in der Stunde nie aufgegeben, sondern weil ich das mit dem Kündigen immer aufgeschoben habe, auch nach dem abgeschlossenen Studium. Nicht, weil ich zu faul war zum Kündigen oder es vergessen hätte, sondern weil mir die Leute, die mit der Softeismaschine verbunden sind, leidgetan hätten, weil sie mir ja den Job einmal gegeben haben, und wenn mir jemand einmal etwas gegeben hat, will ich dem gleichen Menschen mich auch nicht wieder wegnehmen. Einmal, da hätte ich fast gekündigt, aber dann hat die Restaurantbesitzerin, eine freundliche Frau mit einer Frisur, die an eine vergangene Zeit erinnert, „schade“ gesagt, und wer will schon, dass jemand etwas wegen einem schade findet, wer will schon einen Menschen enttäuschen, der einen mag.

Und nach einiger Berufserfahrung an der Softeismaschine und vielen Überlegungen, was ich stattdessen machen könnte – es muss doch etwas geben, was man auch für mich als „richtigen Beruf“ bezeichnen kann, das hat man mir immer wieder mit fordernden Blicken gesagt, etwas „meiner Bildung Gemäßes“, „etwas Ordentliches“, einen Beruf, in dem Begriffe wie „Teambuilding“ oder „Aufstiegschancen“ oder „Karriereleiter“, „Anständigkeit“ und „Ehrlichkeit“ vorkommen – je mehr ich darüber nachgedacht habe, und je länger die Softeismaschine, die schon immer für mich da war, die man aber gemeinhin Nebenjob oder Studentenjob oder Übergangsjob nennt, wahrscheinlich weil sie kein Büro beinhaltet und keine Begriffe wie Teambuilding oder Aufstiegschancen oder Karriereleiter, sondern nur eine Softeismaschine und mich, je länger sie also zu meinem einzigen Job geworden ist, desto mehr Freude hat sie mir gemacht, und desto mehr habe ich für mich entschieden, sie von einem Job zu einem Beruf werden zu lassen, weil es schön sein kann, Menschen, die ich privat nie kennenlernen wollen würde, eine Freude mit einem Eis zu bereiten. Menschen, die sich auf dem Weg in ihre seriöse Arbeit noch ein gutes, cremiges Eis gönnen, dem sie nicht widerstehen können, von dem aber niemand wissen darf, dass sie es nicht können, bei dem sie gut darauf achten müssen, dass es nicht auf ihre seriöse Kleidung tropft, und das manchen so gut schmeckt, dass sie danach nicht mehr zufällig vorbeikommen, aber immer noch so tun, als wäre es zufällig, so erstaunt bemerken sie jedes Mal aufs Neue, dass sich in der Auslage des Restaurants jetzt eine Eismaschine befindet, und sie fragen mich jedes Mal unverbindlich nach dem Preis, bevor sie auffällig schnell über die Sorten in meinem Sortiment, das zugegebenermaßen nicht besonders groß ist, Bescheid wissen, zugreifen, das Eis bis zur nächsten Straßenecke in ihre Mägen leeren, oft schon um neun am Vormittag, schnell einen Blick in einen Autospiegel werfen, ob man ihren Mundwinkeln das Eis auch nicht mehr ansieht, und dann in ihrem Alltag verschwinden.

Es ist eine Freude, diese Menschen dabei zu beobachten, wie sie es sich gut schmecken lassen, und zu sehen, wie jeder auf seine individuelle Art mit dem Eisverzehr umgeht, es ist eine Freude, diese Menschen dabei so kennenzulernen, wie es außer mir sonst sicher niemandem gestattet ist, wer außer mir sieht Menschen mit strengem Gesicht, gut frisiertem Haar und korrekter Kleidung gleich bei einem ersten Treffen ein gutes Eis genießen? Außerdem kann es eine Freude sein, kein seriöses Kostüm tragen, ein Team nur mit einer Eismaschine builden zu müssen, vor der ich mein Eis auch nicht verstecken muss, nebenbei über Dinge nachdenken zu können, zum Beispiel darüber, wie das mit meiner Schwester passieren hat können, manchmal sogar ein wenig in einem Buch zu lesen und Zukunftspläne für mich und die Eismaschine zu machen.

Und als ich an einem kühleren Vormittag viel Zeit gehabt habe, mit meiner neuen Entscheidung, einen Job zu haben, den ich ab jetzt Beruf nennen will, zufrieden zu sein, ist aus dem Nichts der Anruf direkt von der Uni gekommen, die meinen Kontakt noch von einer Bewerbung gehabt hat, an die ich mich zu dieser Zeit schon gar nicht mehr erinnern habe können, aber jetzt haben sie angerufen, dass sie genau jetzt dringend jemanden brauchen zum Unterrichten, jemand ist ausgefallen und sie finden sonst niemanden, also es ist zwar nur für ein Semester und auch nicht wirklich so bezahlt, dass man davon leben könnte, aber immerhin eine Erfahrung und eine Chance auf mehr, und wie aus Reflex habe ich von einer Sekunde auf die andere vergessen, dass ich ja schon zufrieden war, mit dem was ich habe, und habe zugesagt. Was bei näherer Überlegung aber auch wieder nicht so schlecht war, weil, nur weil die Softeismaschine mir Freude bereitet, heißt das wie gesagt eben nicht, dass man von ihr leben kann, also kann es auch nicht schaden, für ein paar Monate einen Nebenjob zu haben, um mir diese Freude quasi zu ermöglichen. Es muss die Softeismaschine ja nicht für immer ein Nebenjob sein, mit dem Alter darf sich auch etwas ändern und so eine Uni kann zum Nebenjob von einer Softeismaschine werden.

Auf jeden Fall habe ich an diesem Tag, also an dem Tag, an dem ich eigentlich zu meiner Schwester fahren wollte, nach dem Unterrichten – was mir übrigens nicht schlecht gefallen hat, aber vielleicht nur deshalb, weil das Wissen in mir war, dass es in ein paar Monaten wieder vorbei sein wird – an der Softeismaschine gearbeitet. Und der Zufall war ein unglücklicher, weil ich an genau diesem Tag ein Buch mitgenommen habe, was ich sonst nie mache, also ein Buch mitnehmen, nein, lesen eigentlich auch nicht, also schon, sicher lese ich, aber ungern Bücher in letzter Zeit, was am Studium und dem Unterrichten liegen muss, aber weder das eine noch das andere dürfen meine Studierenden wissen. Aber an diesem Tag habe ich eben dieses Buch mitgenommen. Vielleicht war das das Unglück im Zufall oder auch das Glück, das kommt jetzt auf die Sichtweise an, dass es genau dieses Buch war, das ich mitgehabt habe. Das Buch habe ich nämlich zum letzten Geburtstag gekriegt, nicht nur einmal habe ich es gekriegt, nein, zweimal sogar, weil es eine Autorin geschrieben hat, „stell dir vor“, haben die Verwandten zu mir gesagt, „auch eine Frau ist die, so wie du, und jung ist sie auch, so wie du, und studiert hat sie auch, so wie du, und so ein freches Gör ist sie auch, so wie du.“ Wirklich, da waren überall Berichte über sie, über die Autorin, dass sie frech ist, aber auch schlau, dass sie einen tiefschwarzen Humor hat und mit ihrem österreichischen Frauenfinger in Wunden bohrt, in die sich sonst keiner zu bohren traut, nicht einmal ein normaler Männerfinger traut sich so zu bohren, aber sie traut sich das, die Frau, und das, obwohl sie jung ist und eine Frau, und studiert hat sie auch und ist auch noch frech dabei. Und wirklich schlau, ob das schon erwähnt worden ist, dass sie wirklich schlau ist? Und trotzdem schön? Und wirklich mutig, weil so was wie sie traut sich ja sonst niemand zu sagen! „Du, und da haben wir uns gedacht, das passt gut zu dir, vielleicht inspiriert es dich zu etwas Höherem als zur Eismaschine.“

Und ich war zwar einerseits verwundert, warum wir jetzt beide freche Gören sind, die Autorin und ich, nur weil wir beide jung sind und Frauen und studiert haben, aber manchmal ist es auch schön, Gemeinsamkeiten mit jemandem zu haben, den man nicht kennt, also habe ich das Buch natürlich gleich lesen wollen und war schon gespannt auf den Mut und die Neuheit ihrer Gedanken. Und dann ist etwas Interessantes passiert: In diesem Buch von dem jungen, frechen Gör, das auf dem Foto hinten im Buch eh wie eine ernst zu nehmende Person ausschaut, was mich durchaus überrascht hat, weil nachdem sie überall und von allen nur als „freches Gör“ bezeichnet worden ist, hätte ich mir weiß nicht was vorgestellt, vielleicht so einen kleinen, frechen Kobold, der irgendwo keck hervorlugt, aber jedenfalls keinen seriösen Menschen – wie auch immer – also, das Interessante war: In dem Buch dieser Autorin werden viele ältliche Philosophen zitiert, die schon lang nicht mehr leben, ihr Werk ist in Hexametern geschrieben, die auch schon lang nicht mehr leben, und in diesen Hexametern werden Themen besprochen, die auch schon lang nicht mehr leben, zum Beispiel wird die Frage aufgeworfen, ob denn niemand mehr Lust verspüren und Humor haben darf in dieser heutigen lustlosen Frauenzeit. Also für sie, die Autorin, ist ein freundliches Kompliment oder ein kleiner männlicher Witz noch keine Belästigung, was haben eigentlich alle gegen Komplimente in dieser heutigen Zeit oder auch gegen heimatverbundenen Humor, so ein Humor kann schon Freude machen und die Menschen verbinden, vor allem die jungen Menschen, so wie sie einer ist, sollten noch Freude empfinden und sich verbunden fühlen dürfen, was die meisten leider nicht tun, aber sie, die Autorin schon, sie empfindet Freude, nicht nur am Kompliment, sondern auch am Witz und an der Tradition, und die Tradition muss nicht immer heiter für sie sein, sie darf auch wehtun, da kann auch geschimpft und beschimpft werden, aber nur als Zitat und Kritik am Beschimpfen, nein, so klar wird das nicht, weil es sollen auch wirklich alle was zu lachen haben, und das sagt sie hiermit auf über 500 Seiten in traditionellen Reimen, die nicht so einen gegenwärtigen Ton besitzen, der nur Verbote beinhaltet, sondern einen freien Ton, der noch die Freiheit der damaligen Zeit charmant in sich trägt, ja, man könnte ihn auch als ironische Vintage-Poetry bezeichnen. Auf der Buchrückseite wird ein renommierter Wiener Regisseur zitiert, von dem ich bis zu diesem Zeitpunkt noch nie gehört habe, er sagt, dass die junge Autorin, also das freche Gör, wie er sie humorvoll, aber liebevoll nennt, DIE Stimme des zeitgenössischen Feminismus ist, weil es wirklich beeindruckend ist, wie sie auf den Feminismus und alles, was einem heutzutage sonst noch aufgezwungen wird, „scheißt“. Und dabei hat er „scheißt“ in Anführungszeichen gesetzt, was mich wiederum zu der Frage gebracht hat, warum er das macht, warum setzt er „scheißt“ in Anführungszeichen, meint er das ironisch oder hat er Sorge, dass „scheißt“ wörtlich verstanden werden könnte oder falsch, wie soll man ein einfaches Wort wie „scheißt“ falsch verstehen, so blöd kann ja keiner sein, jetzt habe ich mir die Frage aber nicht zu Ende stellen und somit auch nicht beantworten können, weil ich mir plötzlich vorstellen habe müssen, wie dieser Regisseur dieses Buch liest und dabei: „So eine Powerfrau, endlich denkt eine das, was schon immer alle gedacht haben, und das als Frau“ vor sich hin murmelt und sich dabei ausgiebig über seine Erektion streicht. Und danach habe ich das Buch auch wieder vergessen, bis zu dem Tag der Party, da hat eine Studentin mit Haarknoten und rotem Lippenstift aus dem Nichts gesagt, „unglaublich mutig diese Frau“, und hat damit die Vintage-Poetry- Autorin gemeint, in der sie ein Role Model sieht und über die sie bald ein Referat halten wird, und weil ich mir gedacht habe, in dem Fall sollte ich vielleicht eine Kompetenz aufweisen, habe ich das Buch erneut hervorgeholt und zum Arbeiten nach dem Unijob mitgenommen und fürs Erste auf die Softeismaschine gelegt. Dabei war ich mit den Gedanken eigentlich ganz woanders: Weil das Problem ist eben, dass meine Schwester nicht mehr mit mir redet, und das seit fünf Jahren, und seitdem trage ich diese Schuld mit mir herum. Aber so ein Nichtreden und Schuldsein kann zu so einer Normalität werden, dass man sie nicht einfach unterbrechen kann, das kostet schon was, eine Entschuldigung zum Beispiel, aber vielleicht war gar niemand an irgendetwas Schuld und es ist reiner Zufall, dass meine Schwester nicht mehr mit mir spricht. Und wenn ich mich jetzt nach fünf Jahren für etwas entschuldigen würde, was es gar nicht gibt, könnte das schon auch peinlich für mich werden. Außerdem habe ich mich an das Schweigen und die Schuld auch schon gewöhnt, sodass ich mir gar nicht mehr vorstellen habe können, ohne sie zu leben, weil was so lange mit einem lebt, wird man vielleicht auch vermissen, wenn es nicht mehr da ist. Das alles hätte mir aber auch egal sein können, ich hätte mir weder Gedanken über meine Schwester noch über meine Schuld machen müssen, wenn meine Schwester jetzt nicht auch noch ein Kind gekriegt hätte, das schon ihr zweites war. Und dieses zweite Kind ist genau an diesem Tag, an dem auch diese Party war, auf diese Welt gekommen, und weil ich diese Schuld jetzt schon so lange vor mir herschiebe, aber ich dem Kind als Geburtsgeschenk lieber etwas anderes geschenkt hätte als alte Schuld, wollte ich an diesem Tag dieser Schieberei endlich ein Ende setzen und zu meiner Schwester fahren.

Aber dann war da plötzlich dieser Mann, der sagt: „Einmal Erdbeere, bitte.“ Dieser Mann Ende vierzig, dem man ansieht, dass er einmal sehr hübsch gewesen sein muss, mit dunkelblonden, verwegenen Haaren bis kurz über die Schulter und kompetenten Bewegungen, dessen Leben auf seinem Körper aber einige Sichtbarkeiten hinterlassen hat, sagt einfach: „Einmal Erdbeere, bitte.“ Seine durchdringenden Augen kämpfen sich durch rötlich geschwollene Hautsäcke, während er an seiner E-Zigarette mit Waldbeergeschmack zieht und sich mit seinen großen Händen über den fettigen Film auf seiner Stirn streicht, wodurch ich vermuten muss, dass er einen ordentlichen Kater hat und jetzt seinen Brand mit Waldbeerduft und Erdbeereis löschen muss. Aber ich habe ihm das Erdbeereis natürlich widerstandslos gegeben, „einen Euro, bitte“, ich war nämlich auch recht froh, dass überhaupt jemand ein Eis kaufen wollte und ich dann sogar noch Zeit gehabt habe, den Ende vierzigjährigen Jugendlichen dabei zu beobachten, wie er geschäftig seiner Wege geht, aber an der nächsten Hausecke stehen bleibt und sein Erdbeereis konzentriert und eilig, aber nicht gierig finalisiert und – und wieder umdreht, zurückkommt und sagt: „Noch einmal Erdbeere, bitte“, und sich dabei völlig selbstverständlich mit der kleinen Serviette über den Mund wischt. Es ist ja nicht so, dass ich beim ersten „einmal Erdbeere, bitte“ nicht schon etwas erstaunt gewesen wäre, ich hätte nämlich nicht vermutet, dass dieser verblühte Mädchenschwarm Sätze wie „einmal Erdbeere, bitte“ sagt. Ich hätte mich nicht gewundert über „einen Espresso, bitte“ oder „ein Extrawurstsemmerl, bitte“ oder „Hast du auch einen Ayran?“ oder wenn er zumindest Pistazie als Eissorte gewählt hätte, was ich durchaus im Sortiment gehabt hätte, aber „einmal Erdbeere, bitte“, das hat mich schon wirklich verwundert. Und so habe ich gar nicht anders können, als ein bisschen berührt zu sein von dem aufgedunsenen Schönen mit seiner unstillbaren Lust auf das chemiefabrizierte Eis. Und aus dieser Berührung heraus habe ich zu sprechen begonnen, ich weiß bis heute nicht, wie das passieren hat können, weil ich beginne eigentlich nie zu sprechen mit Fremden, die ein Erdbeereis bestellen, genau deshalb, weil das ungeahnte Auswirkungen haben kann, so wie an diesem Tag, und so habe ich wie von selbst zu erzählen begonnen, während ich das Erdbeereis aus der Maschine rinnen habe lassen, dass ich auch Erdbeereis mag, was im Übrigen gar keiner Wahrheit entspricht, ich in dieser Situation aber sagen habe müssen, nur so kann ich mir meinen Redeschwall im Nachhinein erklären, um ihm zu zeigen, dass es für mich wirklich sehr in Ordnung ist, zwei Portionen Softerdbeereis einzunehmen, denn es hätte doch sein können, dass er sich für sein Wiederkommen nur wegen eines guten Eises geniert, wozu es keinen Grund gegeben hätte, und das wollte ich ihm zeigen, für so eine Eiseslust braucht sich niemand zu genieren, keine Sorge. Und ich erzähle, während ich das Eis professionell übergebe, dass ich erst letztens auch dieses Erdbeereis gegessen habe, auch mehrere Portionen, warum lüge ich, eine gute Wahl also, so ein Erdbeereis! „Einen Euro, bitte“, und in dem Moment, also viel zu spät, weil es war, nachdem ich mich schon um Kopf und Kragen geredet habe, ist mir erst aufgefallen, dass die Aufmerksamkeit des Mannes, dessen verblasste Attraktivität sich in genau diesem Augenblick kurz erahnen hat lassen wie eine Sonne im Dauernebel, gar nicht auf mich, sondern auf das Buch gerichtet war, das da vergessenerweise auf der Eismaschine gelegen ist, was mich ein bisschen geärgert hat, das muss man jetzt schon sagen dürfen, weil wenn ich schon wegen ihm lüge, könnte er mir auch die meiner Lüge gebührende Aufmerksamkeit schenken. „Guter Geschmack“, er klopft mit seinen Fingerknochen auf das Buch, mit einem Selbstbewusstsein, das offensichtlich zeigen will, dass er im Recht ist, und zwinkert mir verschwörerisch zu, als hätte ich irgendwas richtig gemacht, von dem ich aber nicht genau weiß, was das sein könnte, als ob nur wir beide etwas wüssten, was die schnöde Allgemeinheit nicht weiß. Und weil es mir auf einmal unangenehm ist, dass ausgerechnet ich jetzt die Verbündete sein soll von genau ihm, dem verblühten Erdbeereisjunkie, sage ich möglichst unbefangen: „Ah ja, das Buch … Hab ich noch gar nicht gelesen.“ Der Fremde hört mich nicht, schleckt eine kompetente Runde über sein Erdbeereis, fährt sich gleichzeitig nachdenklich durch sein Haar, schaut in die Ferne und sagt: „Ja, ja, ja. Ein Ausnahmetalent. Für mich ist sie DIE Stimme des zeitgenössischen Feminismus. Weißt du, ich darf doch Du sagen, oder? Neben ihrem scharfsinnigen Blick auf die österreichische Seele finde ich es einfach unglaublich, wie sie auf den Feminismus scheißt. Mutig. Wirklich mutig.“ Und bei dem Wort „scheißt“ deutet er mit seinen Fingern Anführungszeichen an und sagt: „Entschuldige, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Ich bin Künstler. Regisseur.“ Jetzt ist es so weit, jetzt hat er sich vorgestellt, das ist der Moment, in dem wir ein Gespräch beginnen müssen, der Moment, ab dem niemand mehr niemandem auskommt, hätte ich nur nicht zu sprechen begonnen! Da haben wir es wieder, man darf nicht zu viel mitfühlen mit den Menschen. Und alles nur, weil ich gedacht habe, er könnte sich für seine Eiseslust genieren, was er sicher nicht getan hat. Leute wie er genieren sich nicht, für nichts, Leuten wie ihm ist es scheißegal, ob es vielleicht einer Eisverkäuferin komisch vorkommen könnte, dass sie „einmal Erdbeere“ sagen, und das gleich zweimal, Leute wie er machen das einfach, sagen einfach zweimal „einmal Erdbeere“, das ist für Leute wie ihn völlig normal, und sie sagen dann auch noch „guter Geschmack“, klopfen mit ihren Fingerknochen dabei auf fremde Bücher und sagen, „ich bin Künstler“, wie bin ich überhaupt auf die Idee gekommen, dass sich irgendjemand für ein Eis genieren könnte, kein Mensch geniert sich für ein Eis! Ich schaue auf die Buchrückseite, dann auf den Regisseur, und nachdem ich in seinem Blick erkennen kann, wie er sich freut, dass er nicht nur Regisseur, sondern der Regisseur ist, der auf der Buchrückseite zitiert wird, was ihn nicht nur zu einem Regisseur, sondern zu einem renommierten Wiener Regisseur macht, ist meine Wut plötzlich weg und die Berührung von vorhin wieder da, und so will ich ihm seine Freude nicht verderben und bereite mich schon darauf vor, irgendwas zu sagen, was ihn freuen könnte, wie: „Ja, wirklich sehr beeindruckend, dieser Mut, sie legt den Finger wirklich dorthin, wo es wehtut, und das noch dazu als Frau, tiefschwarz und so mutig, und du, ich darf doch Du sagen, du hast es erkannt.“ Aber während der Vorbereitung für diese passenden Sätze kommt die Wut plötzlich zurück, allerdings habe ich jetzt überhaupt keine Zeit, darüber nachzudenken, warum, ob ich wütend bin wegen seines verschwörerischen Blicks, der noch immer da ist, der mir aber abgesehen von allem viel zu intim ist und, ganz ehrlich, ich habe jetzt keine Zeit für Intimitäten, oder ob ich wütend bin, weil der Regisseur nicht anerkennt, dass ich aus purer Selbstlosigkeit mit ihm zu sprechen begonnen habe, und er diese Selbstlosigkeit unverschämt ausnutzt, um nur über sich zu sprechen, und während ich keine Zeit habe, über all das nachzudenken, spricht aus mir plötzlich ein über die Maßen lautes „Hä?“ heraus, sodass ich selber einen Schrecken kriege. Es ist ein richtig fassungsloses, ja, ins Angewiderte gehendes „Hä?“, von dem ich bis dahin nicht gewusst habe, dass ich es überhaupt in mir trage, unglaublich eigentlich, wie viele gut versteckte Laute ein Mensch in sich herumträgt, und erstaunlich auch, wie unerwartet diese dann aus demselben Menschen heraustreten können. Und weil der Regisseur, der ebenfalls einen Schrecken kriegt, sodass er minimal zusammenzuckt und dadurch ein Erdbeereistropfen auf seinen alten Sneaker-Schuh tropft, mich völlig ratlos anschaut, weiß ich, dass ich dieses „Hä?“ zu erweitern habe, dass die Macht dieser Situation auf meiner Seite ist, dass er mir nicht mehr auskommt, so ein „Hä?“ kann selbst einen renommierten Wiener Regisseur mit Erdbeereis aus der Fassung bringen, reglos steht er da, traut sich keinen Finger zu rühren, und wir beide wissen, dieses „Hä?“ ist nur die Vorbereitung auf etwas Größeres gewesen, was der Regisseur so noch nie gehört hat, zum Beispiel: „Du, ich darf doch Du sagen, oder? Du kannst hundert Mal betonen, wie sehr du diese Frau bewunderst, du kannst auch hundert Mal betonen, wie mutig du sie findest. Ich aber, ich weiß genau, dass du nix anderes machst, als dich in deinen eigenen Sätzen zu suhlen, ich weiß, dass es deine eigenen Sätze sind, die dir das Gefühl geben, am Puls der Zeit zu sein, der Förderer unentdeckter Künstlerinnen, der sich nicht scheut, furchtlos und bestimmt das Talent junger Frauen anzuerkennen, denen du selbstlos nicht nur erstaunliches Talent zubilligst, sondern sogar auch noch Mut und Schlauheit, was du normalerweise nur dir selber zugestehst oder längst Verstorbenen. Du, der du gerne Visionär wärst, bist aber einfach nur feig und fad. Woher ich das weiß? Weil ich dich kenne! Du bist der Professor auf der Uni, der der Studentin mit Mittelscheitel, die über vergangene Mythologie schreibt, eine bessere Note gibt als der gleichen Studentin, wenn sie eine tiefe Stimme hätte und über was Echtes von heute schreiben würde, du bist der mit den großen Ideen, der es aber nicht einmal schafft, seine Kreditkarte zu kündigen, weil du noch immer vermutest, zu Höherem geboren zu sein, wofür bis heute aber jeder Beweis aussteht, und du bist auch der, der genau weiß, dass es Tausende andere gibt, bei denen der Beweis nicht mehr aussteht, weil diese Tausenden anderen im Gegensatz zu dir weder feig noch fad sind, und weißt du, was daraus folgt? Ich sage dir, was daraus folgt: Daraus folgt, dass du dich magisch angezogen fühlst von Menschen, die dir genauso ungefährlich sind wie du dir selbst oder die längst Verstorbenen, und wenn sie dann auch noch verpackt sind, diese Menschen, in junge Frauen, mit denen du dich aber nicht konfrontieren musst, weil sie eh keine Gefahr für dich sind, dann, ja, also dann, Verzeihung, darauf wollte ich hinaus, dann hast du das Gefühl, gewonnen zu haben. Weil dann bist du nicht nur Frauenförderer und entsprichst einem guten Bild, nein, du hast noch mehr davon, weil du liest in ihren Texten das, was du selber geschrieben haben könntest. Du bewunderst also nicht die Künstlerin. Du findest sie nicht einmal mutig. Du fühlst dich sicher. Weil sie das schreibt, was du dir denkst, was aber so banal und alt ist, dass du es dich nicht einmal in dein heimliches Tagebuch zu schreiben trauen würdest. Und weil diese Frau kein Dirndl trägt und keinen Knödeltopf in der Hand hat, sondern städtischen Schick besitzt und ein Fremdwort benutzt, schreibst du ‚revolutionär‘ und ‚neu‘ dazu. Aber der Inhalt ist alt. Älter als du und all die Verstorbenen je sein werden. Aber der Unterschied ist: Sie weiß wenigstens, was sie da tut. Bei dir bin ich mir nicht so sicher. Du feiger Sack.“

So circa habe ich mir das vorgestellt und deshalb auch so lange geschaut, aber das zu sagen wäre mir dann doch etwas zu langatmig geworden, so lange muss ich jetzt nicht mit ihm Zeit verbringen, außerdem war mein Dienst auch gleich vorbei, und ich sage also stattdessen: „Ja, voll. Nein … ich meine, ja. Mhm, spannend.“ Und der Regisseur steckt sich den letzten Rest von seinem Erdbeereis in den Mund und sagt in Gedanken versunken: „Ja. Spannend.“ Und dann, dass er es spannend findet, mit mir zu diskutieren, er mich zwar schweigsam findet, aber merkt, da ist noch viel dahinter, also durchaus spannend und vielschichtig findet er mich, ob er mir dieses Kompliment machen darf? Und dass er eine Party macht heute Abend, ja, das ist jetzt eine spontane Einladung, weil er das Gefühl hat, wir sind auf einer Ebene, und er ist da immer recht offen und lädt Leute, mit denen er auf einer Ebene ist, eben gerne ein, und es könnte auch für mich interessant sein, weil heute Abend kommen viele Leute aus vielen verschiedenen Kontexten, und zu dieser Verschiedenheit würde ich gut passen. Die Party ist übrigens in seinem Jugendhaus auf dem Lande, nicht weit von der Stadt, Nostalgie pur, da haben seine Eltern nämlich ein Wochenendhaus, in dem sie ihr Wochenende nie verbringen, und darum veranstaltet er dort regelmäßige Kochevents. Nein, das ist zu viel gesagt, eigentlich ist es viel schlichter: Kochpartys. Ja, das könnte das richtige Wort sein. Jeder bringt mit, was er will, und am Ende kommen viele verschiedene köstliche, individuelle Gerichte von vielen verschiedenen köstlichen, individuellen Menschen heraus. Das ist oft besser als ein Haubenrestaurant, die mag er sowieso nicht, er ist da eher schlichter, deswegen die schlichten Kochpartys mit dem schlichten Namen und das schlichte Selber-Mitnehmen und Selber-Kochen und so. Das macht er jetzt schon seit Jahren und es ist jedes Mal ein Riesenspaß. Ob mir das gefallen könnte? Und mir gefällt immer noch, dass er mich vielschichtig nennt, ich habe bis dahin nicht gewusst, dass man Menschen Vielschichtigkeit ansehen kann, aber gut zu hören immerhin, und darum sage ich einfach: „Ja, unbedingt. Danke für die Einladung“, obwohl ich jetzt schon weiß, dass ich ihn nicht wiedersehen werde, was ich gar nicht so schade finde, und bevor er die Möglichkeit hat weiterzureden, entschuldige ich mich, dass ich jetzt leider losmuss, runter in den Keller, Erdbeereisnachschub holen, und während der Regisseur seiner Wege geht, gehe ich meiner, die steile Kellerstiege hinunter, die nur von einer dumpfen Glühbirne beleuchtet wird, und ich frage mich, wenn er wiederkommen würde, würde er dann wieder Erdbeere bestellen oder eine Sorte, die besser zu ihm passt.

Die Party

Подняться наверх