Читать книгу Wöltu - Ulrike Jonack - Страница 5
Erster Teil
ОглавлениеKatharina Brauer saß auf dem Platz des Kommandanten und schaute auf den Hauptmonitor. Simon, der gelbe Stern der Sol-Klasse, dessen System sie vor knapp einer Woche erreicht hatten, funkelte als heller Stern im linken unteren Eck. Im Zentrum des Bildschirms prangte Simon drei.
„Die Sonde ist raus“, meldete William Base vom Pilotenpult, das sich links neben Brauers Platz befand.
„Wann kommen die ersten Bilder?“
Von links antwortete Tomasz McMay: „Ab sofort, wenn du willst. Die Messungen laufen.“
„Nicht unbedingt. Die Standard-Prozedur reicht mir.“
McMay nickte und tippte etwas in das Copilotenpult. Brauer sah ihm dabei zu. Wenn Tomasz so konzentriert arbeitete, wurden seine Augen ein wenig schmaler und der harte Zug um seine Lippen vertiefte sich. Katja mochte diesen Ausdruck, für sie sah es nach Kraft aus. Andere fanden Tom in solchen Momenten noch unzugänglicher, als er ohnehin wirkte. Er bemerkte Katharinas Blick, wandte sich um und lächelte ihr kaum sichtbar zu.
Als wäre das ein Signal, drehte sie sich zum Sensorterminal zu Frank Brown um. „Kommt alles?“
Er nickte.
„Gut.“ Brauer lehnte sich zurück. Alles lief nach Plan, so, wie sie es liebte.
Hinter ihr kam Bewegung in die bisher stille Zentrale. Chris Yali war die Erste, die sich einfand. Das war eher ungewöhnlich, denn normalerweise war die Schwester der Kommandantin dafür bekannt, immer erst im letzten Moment aufzutauchen. Außer Brauer regte sich niemand darüber auf. Jetzt sah sie ihre Schwester fragend an.
Die schaute nicht weniger fragend zurück. „Ich dachte, es geht jetzt los.“
„Ja. Die Sonde ist grad raus, wenn du das meinst.“
„Eigentlich nicht. Ich dachte, die Bilder kommen jetzt an.“
„In zehn Minuten“, antwortete McMay an Brauers Stelle.
„Kann ich warten?“, fragte Yali.
„Dir wird nichts anderes übrig bleiben. Die Bilder kommen nicht eher“, antwortete Brauer und grinste breit.
Das Auftauchen von Jon Donald und Ricardo Thomas unterbrach die Antwort, zu der Yali angesetzt hatte.
Nach und nach traf die gesamte Besatzung ein. Brauer lächelte. Niemand wollte die ersten Bilder verpassen, falls sich der Planet als Leben tragend erweisen sollte. Obwohl es nicht der erste belebte Planet wäre, den die Menschen fanden, ging von der Aussicht, außerirdisches Leben zu finden, noch immer eine offenbar unwiderstehliche Faszination aus.
„Wir haben jetzt das Bild“, sagte Base. „Ich leg es auf den Hauptschirm.“
„Tu das!“
Ein Schalter klickte und auf dem Bildschirm wechselte die Außenaufnahme der Emanuel mit der der Sonde. Eine gelbliche Kugel schob sich langsam ins Bild. Simon drei. Die Sonde ging schnell näher, so dass der ein wenig dunstig wirkende, lehmgelbe Farbton des Planeten schon bald nahezu den gesamten Schirm ausfüllte.
„Sonde im Orbit“, meldete Base.
Der Horizont von Simon drei verschwand am oberen Bildrand. Trübe Wolkenfetzen hingen über dem goldockerfarbenen Grund. Die Planetenoberfläche schien, von hier aus betrachtet, ohne ausgeprägtes Profil, ohne Gliederung zu sein. Selbst an der Tag-Nacht-Grenze, die die Sonde eben passierte, waren kaum Schatten von Erhebungen zu sehen.
„Erste Umrundung beendet.“
Brauer hörte jemanden enttäuscht schniefen. Sie drehte sich nicht danach um. „Bremsen und Bild vergrößern!“, befahl sie, noch bevor die Sonde wieder die Tagseite erreichte.
Dann kehrte das Ocker der Oberfläche auf den Schirm zurück. Es löste sich in verschiedene Farbtöne auf. Die Grenzen waren unscharf, oft als solche gar nicht zu erkennen. Ganz allmählich wurde die Fläche bräunlicher, grünlicher, gelber …
„Sieht aus wie ein riesiger Sandkasten“, kommentierte Jon Donald.
Brauer lächelte flüchtig. So unrecht hatte er nicht. Die Daten, die Brauer von den Anzeigen ihres Pultes ablesen konnte, charakterisierten Simon drei als einen kleinen erdähnlichen Planeten mit geringer Anziehungskraft. Außer in den wenigen Wolken schien es nirgends Wasser zu geben. Selbst während des Winters, in dem schon in den mittleren Breiten arktische Temperaturen herrschen dürften, konnte es kaum mehr als eine dünne Raureifschicht auf dem lockeren Verwitterungsmaterial geben, das die geschlossene Gesteinshülle von Simon drei bedeckte.
Brauer schaute auf die vier kleinen Bildschirme ihres Pultes, wo die Aufnahmen der Außenbordkameras der Emanuel zu sehen waren. Die Spiralbahn der Sonde war als dünne rote Linie eingezeichnet.
„Wann geht sie in den Funkschatten?“, fragte Brauer zum Piloten hin.
„In zwölf Minuten“, antwortete Base.
Brauer nickte sich innerlich zu: richtig geschätzt. Sie schaltete das Sondenbild auf einen ihrer Monitore. „Gib mir die Handsteuerung!“
Er betätigte ein paar Tasten. „E1 an Kommandant direkt“, meldete er.
„Übernommen.“
Brauer lenkte die Sonde tiefer in die Atmosphäre. Auf dem Bildschirm verschleierten immer häufiger dünne Wolken den Blick auf die Planetenoberfläche, die sich scheinbar zu formen begann. Allmählich wurden Höhenzüge sichtbar – Relikte ehemaliger Meteoritenkrater, vom ständig wehenden Wind zu sanften Wellen abgeschliffen.
Brauer warf einen kurzen Blick auf die Daten der Luftanalyse, die Brown ihr unaufgefordert auf einen der Pultschirme projizierte. „William! Such’ mir einen Landeplatz ohne Treibsandgefahr!“
„Sofort! Da ist eine Art Plateau. Nein“, unterbrach er sich, „das wird zu knapp.“
„Zeig mal!“
Base markierte auf Brauers Bildschirm einen Punkt der Planetenoberfläche nahe der Horizontlinie.
„Wie groß ist das Plateau?“, erkundigte sich Brauer.
„Sechzig mal achtzig Meter ungefähr.“ Base drehte sich zu ihr um. „Aber in vier Minuten verschwindet es auf der Schattenseite.“
„Kein Problem!“ Sie sah kurz zu McMay. Er erwiderte den Blick und nahm einige Schaltungen auf seinem Pult vor.
Brauer ließ die Sonde durch die Wolken tauchen und wechselte auf Gleitflug. Am Rand des Bildschirms erschien die Kante einer Tragfläche. Kurz darauf kippte das Bild ab und die Sonde raste wie im freien Fall auf die Planetenoberfläche zu.
Jemand hinter Brauer stöhnte leise auf. Sie reagierte nicht darauf.
Die Oberfläche kam beängstigend nah. Jeden Augenblick konnte die Sonde aufschlagen! Im letzten Moment bremste Brauer den Fall, ließ die E1 wenige Meter über dem Boden ausgleiten und brachte sie über dem Plateau zum Stehen. Langsam senkte sich die Sonde. Die Landestützen versanken um Zentimeter im weichen Sand, ehe sie Halt fanden. Federleicht setzte die Sonde auf. Brauer tippte noch den Befehl zur Bodenanalyse ein, dann brach der Kontakt ab. Sie lehnte sich zurück und atmete tief durch.
„Dreieinhalb Minuten“, sagte Base.
Brauer sah zu ihm herüber. Sein Blick machte klar, dass er es nicht anerkennend gemeint hatte.
„Das hätte schief gehen können“, meinte auch Jon Donald.
Brauer tat, als ob sie es nicht gehörte hätte. Sie drehte sich zur Besatzung um und sagte: „Das war’s, Leute. Vorerst zumindest. Tut mir leid.“
„Naja“, sagte Donald in das enttäuschte Schweigen hinein und erhob sich. „Dann kann ich ja in Ruhe mittagessen und muss nicht befürchten, dass ich was verpasse, wenn die Sonde sich während meiner wohlverdienten Pause wieder meldet.“ Er vergrub die Hände in den Hosentaschen und schlenderte aus der Zentrale.
Brauer stand auf und trat zu Brown. Sie spürte, wie sich der Raum hinter ihr allmählich leerte. Sie versuchte, das Gefühl zu ignorieren, und studierte die Anzeigen des Sensorpultes. Sie hätte sich die Daten auch auf ihr Pult holen können, aber das schien ihr auf einmal nicht dasselbe zu sein.
Frank Brown tippte einen Befehl in das Terminal und deutete mit einer winzigen Kopfbewegung auf die erscheinenden Daten.
Brauer hob überrascht die Brauen. „Wieso hat Tang das nicht bemerkt?“
„Es ist seine Rechnung“, korrigierte Brown. „Er bat mich nur, sie zu überprüfen.“
„Trotzdem. Er hätte es eher sehen müssen. Das ist sein Job.“
„Die Konstellation ist sehr ungünstig. Wir haben erst jetzt die Daten exakt genug.“
„Ach so. Na gut.“ Brauer sah den Piloten an. Der nickte andeutungsweise.
Brauer drehte sich um. Sie sah Lothar Wiesner im Hintergrund der Zentrale sitzen und sie beobachten. Er tat das auf diese für ihn so eigene Weise, die sie immer daran erinnerte, dass er mal ihr Lehrer gewesen war. Sie ging zu ihm, setzte sich in den Sessel neben ihm und sah ihn fragend an. „Hab ich was übersehen?“
„Du hättest die Sonde beinahe verloren.“
Brauer runzelte die Stirn. „Die …? Ich dachte, du meinst, ich hätte Lebenszeichen oder so übersehen.“
„Du? Meine beste Schülerin? Nein.“
„Und was ist mit der Sonde?“
„Wem wolltest du was beweisen?“
„Be…? Ich verstehe nicht.“
„War das nötig? Dieser knappe Flug?“
„Nötig nicht, aber … Frank hätte das Notfallprogramm parat gehabt, es konnte nichts passieren.“
Wiesner antwortete nicht. Er stand auf und ging.
Brauer sah ihm nach. Sie hatte eine vage Ahnung, was ihn störte. Sicher, Risikobereitschaft war früher nie ihre Stärke gewesen, aber seit Schule und Studium war einiges passiert. Und: So hoch war das Risiko doch gar nicht gewesen. Oder doch? Nein, sagte sie sich, nicht mit Frank und Tom an ihrer Seite.
Brown holte Brauer in die Realität der Zentrale zurück. „Gehst du jetzt in die Messe?“
Sie sah auf. „Was? Nein. Nein, ich habe vorhin schon etwas gegessen. Wie sieht’s bei dir aus?“
„Die Checkliste ist noch abzuschließen und der neue Kurs muss programmiert werden.“
Base drehte sich um. Brauer ignorierte es. Sie legte ihre Hand auf Browns Arm und sagte: „Ich mach’ das schon. Du bist schon in der zweiten Schicht hier! Ich brauche nachher eine einsatzfähige Crew.“
Brown nickte knapp.
Die Kommandantin ging nach vorn und tippte McMay an. „Tom? Das gilt auch für dich.“
„In Ordnung!“ Er schloss alle Kanäle auf seinem Pult und folgte Brown.
Katja sah ihnen einen Moment lang nach. Das war schon ein ungleiches Paar: Tomasz groß, kräftig gebaut, eher kühl und kraftvoll wirkend, und Frank, kleiner und wendiger, romantisch, vielleicht glutvoll … Und sie, Katja, mittendrin.
Brauer lächelte und setzte sich. Sie aktivierte das Kommandopult. „William?“
Base sah herüber. „Ja?“
„Würdest du bitte die große Checkliste durchgehen, wenn die Sonde sich wieder meldet?“
„Ja, sicher. Aber denkst du nicht, dass der Planet zu trocken ist? Wenn dort eine Basis errichtet wird, muss man praktisch das gesamte benötigte Wasser extra dorthin schaffen.“
„Stimmt schon, aber vielleicht finden wir auf den inneren Planeten Wasser, so dass der Weg nicht so weit wird. Der Hauptvorteil von Simon vier ist seine geringe Anziehungskraft und dass er seismisch inaktiv ist.“
„Du meinst Simon drei.“
„Nein. Ich meine den gelben Planeten, Simon vier.“
„Aber …“, setzte Base an.
Brauer unterbrach ihn mit einer Handbewegung. Sie drückte die Inter-Komm-Taste ihres Pultes. „Eine Mitteilung an alle“, sagte sie. „Wir haben einen neuen Planeten entdeckt. Er bewegt sich noch im Sensorschatten hinter Simon, so dass Tang ihn erst bei der Korrelation der aktuellen Bahndaten der anderen Planeten feststellen konnte. Der systematische Name dieses Planeten ist Simon drei, das heißt, die Nummerierung der schon untersuchten Planeten verändert sich um eine Zahl nach oben. Korrigiert das gegebenenfalls in euren Unterlagen! Im Übrigen fliegen wir genau auf Simon drei zu, er ist unser nächstes Untersuchungsobjekt. Die genauen Zeiten gebe ich euch durch, sobald der neue Sondenkurs berechnet ist. Ende der Mitteilung.“
Sie sah zu Base. „Genügt das als Erklärung?“, fragte sie lächelnd.
Base zögerte.
„Was?“
„Nichts. – Simon drei also.“
„Ja.“
„Lebenssphäre?“
Brauer nickte.
„Na dann …“
„… auf ein Neues!“, vollendete Brauer. Sie kontrollierte kurz die programmierten Kursdaten und korrigiert sie um wenige Grad, so dass das Schiff näher an den neu entdeckten Planeten herankommen würde. Nahe genug, damit die Schwerkraft von Simon drei die Emanuel in eine Umlaufbahn im hohen Orbit zwang.
„Du kannst jetzt den Autopiloten einschalten, Willy“, informierte sie den Ersten Offizier.
„Okay! – Ich habe jetzt die Sonde wieder.“
„Gut. Kommst du mit ’ner halben Stunde für den Check hin?“
„Sicher. In dieser Zeit kann ich sogar noch ’n Nickerchen machen.“
„Ich gebe dir gleich die neuen Kursdaten …“
Im Hintergrund schmatzte leise die Tür. Brauer warf einen Blick auf Stanislav Tich. Sie stellte fest, dass sie den Planetologen schon erwartet hatte.
Tich kam nach vorn und schaute ihr über die Schulter. „Wann meldet sich die Sonde wieder?“, fragte er.
„Schon da“, antwortete Base und schaltete das Sondenbild auf den Hauptschirm.
Brauer sah auf. Die Außenkameras der Sonde schwenkten herum, sie präsentierten das Panorama einer Wüstenlandschaft. Brauer unterdrückte ein Gähnen und konzentrierte sich auf die Kursberechnung.
Wenige Minuten später projizierte sie das Ergebnis auf Base’ Pult und streckte sich. Sie lehnte sich in ihrem Sessel zurück, registrierte, dass Tich im Copilotensessel Platz genommen hatte und offenbar Daten auf dem Pult verfolgte. Eigentlich war das nicht regelgerecht, der Planetologe hätte an das Sensorpult gehen müssen, aber Brauer beließ es dabei. Sie betrachtete den großen Bildschirm an der Stirnseite der Zentrale. Base war offensichtlich gerade dabei, die Sonde umzusetzen: Sie glitt in geringer Höhe über den sandigen Untergrund hinweg.
„Irgendwas Interessantes gefunden?“, erkundigte sich Brauer.
Base schüttelte den Kopf. „Überhaupt nichts. Der Planet ist so aufregend wie ein Glas Wasser bei Regen.“
Brauer lächelte matt. Sie sah zu Tich hinüber. „Bei dir?“
„Auch wenn der Vergleich bei Jon geklaut ist: Er ist zutreffend.“
Base verzog das Gesicht. „Geklaut – was für ein hartes Wort! Sagen wir lieber, ich habe mir den Vergleich geliehen.“
„Wie auch immer“, seufzte Tich. „Simon dr… vier ist absolut langweilig. Also der beste Platz für eine Basis.“
Brauer drehte sich zum Schmatzen der Tür um. ,Ich muss Joseph unbedingt wegen der Dichtung ansprechen‘, dachte sie. ,Das klingt ja richtig …‘ Ihr fiel kein treffendes Wort ein.
Yali, die die Zentrale betreten hat, empfand offenbar ähnlich, denn sie warf der Tür einen vorwurfsvollen Blick zu. Dann ging sie in aller Seelenruhe zu Brauer und fragt: „Was is’n das für ein neuer Planet?“
„Interessieren dich die Bahnparameter oder die mutmaßliche Masse und Größe?“
„Weder noch, um ehrlich zu sein. Ich bin Chemiker, kein Planetologe.“
„Dann wirst du wohl oder übel noch ein Weilchen in deiner Neugier schmoren müssen, Schwesterlein.“
„Was heißt ein Weilchen?“
Brauer schaute fragend zu Base.
„Ich bin in zehn Minuten hier fertig“, antwortete er.
„Zehn Minuten nur?“ Brauer hob die Augenbrauen. „Was ist mit den Tiefenanalysen?“
„Die vorletzte habe ich gerade fertig.“
„Mhm. Na gut. Also!“ Sie blickte auf ihr Steuerpult. „Wenn William die Sonde in zehn Minuten von Simon vier hochholt, kann sie in einer reichlichen halben Stunde die ersten Bilder von Simon drei liefern und, wenn nichts dazwischen kommt, in anderthalb Stunden in eine Orbitbahn einschwenken.“ Sie schaute zu Yali auf. „Genügt die Auskunft?“
Sie nickte großzügig.
„Na da bin ich ja beruhigt! Nichts ist so schlimm wie eine unzufriedene Besatzung.“
„Dann lass von den Technikern mal die Türdichtungen reparieren“, entgegnete Yali. „Neuerdings gibt sogar die Tür in der Messe so obszöne Geräusche von sich. Ich meine, wenn dich das bei der Arbeit nicht stört … Beim Essen stört es mich ganz erheblich.“
Brauer sah Base verstohlen in sich hinein schmunzeln. Tich gab vor, stark mit den Sondendaten beschäftigt zu sein. Noch ehe Brauer etwas erwidern konnte, ging die Tür erneut, und die beiden Ärzte betraten die Steuerzentrale. Frantisek Skoda drehte sich missbilligend nach dem Schmatzen um. „Das wird ja immer schlimmer“, brummte er.
Inéz Cartena sah ihn verwirrt an.
„Ich meine dieses Geräusch“, erklärte Skoda. „Die Tür zur Krankenstation klingt auch schon so. So …“ Er suchte nach einem passenden Begriff.
„So obszön?“, bot Brauer an. Sie versuchte, dabei möglichst ernst zu bleiben.
„Obszön. Das ist genau das richtige Wort!“
„Ich werde mit Joseph reden“, versprach Brauer lächelnd.
„Mr. Romp hat momentan keine Zeit für derartige Banalitäten“, entgegnete Yali ein wenig spitz. „Als ich ihn heute früh deswegen fragte, hat er gesagt, dass er jede Minute braucht, um die E2 zu reparieren.“
Brauer runzelte die Stirn. Sie hatte nicht gewusst, dass der Schaden an der Sonde so groß war. Als die E2 von Simon sechs zurückkehrte, schienen nur ihre Hitzeschilde etwas überstrapaziert zu sein. Brauer nahm sich vor, so bald wie möglich mit dem Chefingenieur über die zweite Sonde zu sprechen.
„Er braucht doch sicher nicht das ganze Technikerteam dazu“, sagte Tich. „Was ist mit Jan zum Beispiel?“
„Jan Meister? Ich kann ihn ja mal fragen“, schlug Yali vor.
„Ja, tu das!“, bat Brauer. Sie warf einen Blick auf den Bildschirm, nahm ein paar Schaltungen auf ihrem Pult vor und gähnte verstohlen angesichts der Angaben, die die E1 von der inneren Struktur des gelben Planeten lieferte.
„Ich komme aber nicht wegen der Türen“, hörte sie Skoda sagen und schaut zu ihm.
„Sondern?“, fragte sie.
„Seit die E1 zum ersten Mal gestartet ist, hast du kaum noch geschlafen.“
„Es ist nett, dass du dir Sorgen machst, aber ich fühle mich topfit.“
„Das heißt nicht, dass du auch topfit bist. Und außerdem ist es nicht nett von mir, auf deine Gesundheit zu achten, sondern meine Aufgabe.“
„Franta! Ich kann jetzt hier nicht weg. In einer halben Stunde kriegen wir die ersten Bilder von Simon drei.“
„Dann hast du ja eine halbe Stunde Zeit, dich hinzulegen.“
„Das lohnt sich doch gar nicht“, entgegnete Brauer mürrisch. Sie sah zu Cartena. Die Ärztin hatte mitbekommen, dass Brauer heute Morgen in der Krankenstation gewesen war, um sich einen Tranquillizer zu holen. Und tatsächlich: In Inéz’ großen samtgrauen Augen stand Sorge. Brauer wich ihr aus. Sie wusste ja, dass sie mit derartigen Medikamenten sehr vorsichtig sein musste. „Okay!“, lenkte sie also ein und drückt die Inter-Komm-Taste. „Ricardo?“
„Ich bin im Hangar“, tönte die Stimme des Piloten aus dem Lautsprecher. „Was gibt’s?“
Brauer schaltete alle Kanäle bis auf die Verbindung in den Hangar aus. „Kannst du für die nächste Stunde den Copilotenplatz übernehmen?“
„Na klar doch! Ich wollte sowieso gerade hochkommen. Ist die E1 schon mit dem Gelben fertig?“
„Fast“, antwortete Base. „Ich beende eben die letzte Tiefenanalyse.“
„Fein. Also ich bin sofort da. Ende!“
Brauer schloss die Verbindung und stand auf. Kurz vor der Tür drehte sie sich noch einmal zu den Ärzten um und hob den Zeigefinger. „Aber wirklich nur eine halbe Stunde! Wehe ihr weckt mich dann nicht! Und wenn es irgendwas besonderes gibt …“
„Ja!“, unterbrach sie Cartena. „Dann rufen wir dich.“
Es war gar nicht so einfach, wach zu werden. Katjas Gedanken trudelten noch durch wirre Träume. Eine große gelbe Fliege summte nervtötend und grinste mit grellrotem Mund von einer kalkigen Clownsmaske. Dabei wusste Katharina ganz genau, dass sie die Fliege eben mit dem Wecker erschlagen hatte. Oder umgekehrt?
Katja tastete nach dem Wecker. Polternd fiel etwas zu Boden. Katharina blinzelte träge aus den Kissen, über die Bettkante, hinunter auf den Fußboden. Das Saftglas. Wenn’s weiter nichts war!
Aber es summte.
Warum summte das Saftglas?
Der Wecker summte!
Schlaftrunken fingerte Katja weiter nach der Uhr und drückte schließlich auf den Abstellknopf.
Er rührte sich nicht.
Katja runzelte verwirrt die Stirn. Dann war sie mit einem Schlag hellwach: Wenn es nicht der Wecker war, blieb nur der Summer der Bordkommunikation.
Brauer sprang aus dem Bett und war mit zwei Sätzen am Kom-Pult. „Ja?“
„Kommandant?“, hörte sie die Stimme von Ricardo Thomas. „In fünfzehn Minuten geht die Sonde in den Orbit von Simon drei.“
„In fünfzehn Minuten?“, schnaubte Brauer fassungslos. „Danke, dass ich schon geweckt werde!“
Thomas ignorierte den vorwurfsvollen Ton. „Gern geschehen!“
Brauer stieg brubbelnd in ihre Sachen. „Wo sind Tom und Frank?“
„Werden gerade geweckt.“
,Wieso geweckt?‘, wollte Brauer fragen, als ihr einfiel, dass die Männer ja noch länger im Dienst gewesen waren als sie. Für einen Moment spielte sie mit dem Gedanken, die Piloten wieder ins Bett schicken zu lassen. Als sie sich jedoch Franks Reaktion vorstellte, die zweifellos in einem leicht amüsierten Lächeln bestehen würde, ließ Brauer die Idee fallen.
Fünf Minuten später betrat sie die Zentrale. Wie immer galt ihr erster Blick dem Hauptbildschirm. Sie blieb verblüfft stehen. Simon drei war blau!
„Wie die Erde, was?“, hörte sie Eik Meister sagen. Sie blickte die Chemikerin an. Ihr fiel erst jetzt auf, dass nahezu alle Besatzungsmitglieder in der Zentrale waren. Und sie hätte Simon drei beinahe verschlafen!
Brauer schaute sich nach Brown und McMay um. In diesem Moment ging hinter ihr schmatzend die Tür, Brauer verzog angeekelt das Gesicht und drehte sich zu den Piloten. Falls die beiden Männer über die vertraute, nichtsdestotrotz seltene Färbung des Planeten überrascht waren, konnten sie es ausgezeichnet verbergen.
Ricardo Thomas räumte den Copilotenplatz für McMay. Brown ging zum Hauptterminal. Brauer setzte sich in den Kommandantensessel und aktivierte das Pult. Sie registrierte, dass Thomas hinter ihr stehen blieb. Er tippte auf eine der Anzeigen und Brauer ließ die Zahlen in eine Bildschirmgrafik übersetzen. Die starrte sie fünf Sekunden ratlos an, begriff plötzlich und blickte dann überrascht zu McMay hinüber. Er führte eine paar Schaltungen auf seinem Pult aus und betrachtete das seltsame Ergebnis auf den Monitoren.
Brauer drehte sich um: „Frank?“
„Ich habe keine Vorstellung, was das sein könnte.“
„Was was sein könnte?“, fragte Tich. Er schaute suchend auf den Bildschirm vor ihm.
„Das da!“, entgegnete Donald und versah von seinem Pult aus eine der Datenreihen auf Tich Konsole mit einer blinkenden Markierung.
Der Planetologe neigte irritiert den Kopf und betrachtete die entstehende Grafik aus den Augenwinkeln heraus. „Na eben!“, machte er und neigte den Kopf zur anderen Seite.
Yali räusperte sich. Sie sagte, ohne Brauer aus den Augen zu lassen, in Cartenas Richtung: „Das ist das Wunderbare an solchen Gesprächen: Alle wundern sich. Die einen, weil sie Informationen haben, und die anderen, weil sie keine haben.“
Ricardo Thomas setzte sich in den freien Sessel der zweiten Reihe, schwenkt ihn herum. „Einer der Sensoren markiert eine kompakte Schicht in der oberen Atmosphäre“, erklärt er. „Das Problem ist, dass kein anderes Gerät davon Notiz nimmt.“
„Ein Defekt?“, erkundigte sich Joseph Romp.
„Wenn, dann ist er von hier aus nicht zu finden“, antwortete Donald.
Brauer bemerkte Romps Erleichterung und versuchte abzuschätzen, welche Art von Fehlern nicht vom Schiff aus festzustellen sein könnte. Ihr fiel nichts ein.
Base trat zu Donald und schaute auf dessen Pult. Brauer beobachtete, wie der Erste Offizier die Kontrollen musterte. Donald, der als Beauftragter der Raumsicherheit die Stelle des Zweiten Offiziers einnahm, lehnte sich im Sessel zurück und verschränkt die Arme in einer Na-wenn-du’s-besser-weißt-Geste vor der Brust.
„E1 schwenkt eben auf die äußere Umlaufbahn ein“, meldete Brown.
Base richtete sich auf und Donald konzentrierte sich wieder auf die Steuerung der Sonde.
Brauer lehnte sich zurück. Sie beobachtete den Bildschirm, auf dem die Außenaufnahme der Sonde zu sehen war. Es war wirklich seltsam, wie sehr Simon drei der Erde ähnelte. Nicht nur, dass sich der Planet in dem selben grünschattierten Blau präsentierte, das in der gleichen, an Perlmutt erinnernden Weise durch die Wolkenschleier schimmerte und den Planeten wie eine kostbare Kugel aus zerbrechlichem, ein wenig rauchigem Glas erscheinen ließ. Auch die Angaben, die die Sonde über Schwerkraft, Atmosphäre und Oberflächenstrukturen übermittelte, erinnerten eher an die Erfindungen eines extrem fantasielosen Science-Fiction-Autors als an einen realen Planeten, Lichtjahre von der Sonne entfernt. Sogar Tages- und Jahresrhythmus wichen nur unwesentlich von denen der Erde ab.
Cartenas Stimme unmittelbar hinter ihr ließ Brauer den Kopf wenden. „Das Grüne – sind das Pflanzen?“
„Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit“, antwortete Brauer. Sie lächelte über die Begeisterung, die sich deutlich in Inéz’ Gesicht abzeichnete. Einen Augenblick lang fragte sie sich, ob es an der mädchenhaften, beinahe noch kindlichen Gestalt der Ärztin lag, dass sie ständig das Gefühl hatte, Inéz beschützen zu müssen. Und ob es den anderen ähnlich ging. Dann sah Brauer wieder zum Bildschirm.
Eine rote Linie umschloss eine Fläche des Planeten. „Das ist der mittlere von drei Kontinenten“, erklärte Brown, der die Markierung auf den Schirm projiziert hatte. „Er liegt in der Äquatorzone, es dürften dort also tropische Temperaturen herrschen. Die Pflanzendecke ist den Sondendaten nach sehr dünn. Hier oben“, Brown erzeugte eine gelbe Linie im Bild, „ist ein Stück des zweiten Kontinents zu sehen. Dichte Vegetation, gemäßigtes Klima. Der dritte Kontinent wird jeden Moment sichtbar. Er liegt auf der derzeitigen Nachtseite von Simon drei.“
„Wie sieht es mit Tieren aus?“, erkundigte sich Wiesner.
„Gibt es sicher auch“, entgegnete Brauer. „Aber Definitives können wir erst sagen, wenn die Sonde noch näher herangegangen ist.“ Sie schaute zu Donald, der völlig in die Anzeigen seines Steuerpultes vertieft war. „Registriert die Sonde noch immer diese Schicht in der Atmosphäre?“
Donald blickte nur kurz auf und nickt. „Ja. – Ich gehe jetzt langsam tiefer.“
„Okay, tu das!“
Der Horizont von Simon drei rückte aus dem Sichtfeld des Monitors. Brauer macht schwache Strukturen im Nachtdunkel aus, die auf den dritten Kontinent hindeuteten. Brown verfremdete die Farben etwas, so dass das Bild deutlicher wurde.
Der dritte Kontinent war um vieles größer als die beiden anderen. Brauer konnte filigrane Linien erkennen, die von einem Flusssystem kündeten. Die Ströme mussten gewaltig sein, wenn sie von hier aus zu sehen waren.
„Was is’n das?!“, platzte Yali plötzlich heraus.
Brauer drehte sich irritiert um.
„Da oben war eben was!“, beteuerte Yali. „Es sah aus wie ein Blitz.“
Brauer schaute zu Brown.
Der hantierte am Terminal und betrachtete offenbar die Aufzeichnungen der letzten Sekunden. Dann blickte er zu Brauer. „Stimmt. Da war ein schwacher Lichtreflex.“
„Wo?“
Er markierte auf dem Hauptbildschirm die entsprechende Stelle.
„Katja“, meldete sich Ricardo Thomas. Er kam zu ihr vor und beugte sich über das Pult. Er zeigte auf eines der Fremdfarbenbilder. „An der Stelle, wo der Reflex entstand, gibt es einige seltsame Strukturen. Dort, siehst du?“
Brauer versteifte sich unwillkürlich und starrt auf den Monitor. „Was ist das?“
„Ich weiß nicht“, gab Thomas zu.
„Frank?“, fragt Brauer, ohne sich umzudrehen.
McMay antwortete: „Das fragliche Gebiet war nur ganz kurz im Erfassungsbereich der Sensoren. Wir können erst bei der nächsten Umrundung genauere Angaben bekommen.“
„Okay“, entgegnete Brauer knapp. „Jon! Ich brauch’ die Sonde dann näher an diesen Koordinaten.“
„Geht klar, Chefin!“
Brauer starrte auf ihr Pult, auf die Daten und Bilder, die die Sonde übermittelte. Der Planet wirkte so ungemein friedlich, beinahe sanft. Gerade überflog die E1 den Äquatorkontinent, der in der IR-Erfassung in hellen Farben glühte. Auf einem anderen Sensorbild sah Brauer, wie ein unregelmäßiger Fleck aus unzähligen Einzelpunkten wie eine Amöbe über die Steppe kroch: eine riesige Herde von offenbar recht großen Tieren, die den Kontinent durchwanderten.
Brauer bemerkte, dass sie sich vorgebeugt hatte, als könne sie dadurch besser sehen. Sie lächelte über sich selbst.
Der Ozean kam wieder ins Blickfeld. Die fasrigen Wolken verschleierten die Sicht nur unwesentlich. Brauer glaubte, einen Schwarm von Vögeln über dem Wasser zu erkennen, sah eine Insel, von der die Anzeigen behaupteten, sie sei erst vor wenigen hundert Jahren aus einem Vulkan entstanden. Die Frau registrierte, dass sich offenbar eine ganze Vulkankette unterseeisch vom Steppenkontinent hin zu dem Landsockel erstreckte, der auf der Südhalbkugel den zweiten Kontinent bildete und der in Küstennähe von einer niedrigen aber sehr dichten Pflanzendecke überzogen war. An einer Stelle wurde sie von einem Bergmassiv unterbrochen, das die Fortsetzung der unterseeischen Kette darstellte.
Brauer überlegte, dass die Idee, auf Simon vier eine ständige Basis zu errichten, durch den üppig grünenden dritten Planeten noch interessanter wurde, als sie es durch die günstige Lage unmittelbar hinter dem Knoten ohnehin schon war. Simon drei könnte eine echte Kolonie werden, anders als die kleinen Siedlungen, die die Menschen auf einigen Planeten entlang der wichtigsten Trassen förmlich hingekleckert hatten.
Inzwischen hatte die Sonde den zweiten Kontinent überflogen. Im Bild tauchte bereits die Küste des schlafenden dritten Kontinents auf. Die Sonde steuerte genau auf das Delta des riesigen Flusses zu, schien den Strom aufwärts zu verfolgen …
Plötzlich brach das Bild zusammen.
Ein unterdrückter Schrei von Inéz Cartena.
Donald hantierte hektisch an seinem Pult. Schließlich lehnte er sich zurück und sagt trocken: „Aus.“
Brauer fuhr herum. „Was heißt aus?!“
„Aus eben. Funkstille. Verbindung weg.“
„Aber warum?!“
Donald hob die Schultern und legte die Außenaufnahme des Schiffes auf den Hauptschirm.
Brauer schaute zu McMay. Der schüttelte den Kopf. „Das Schiff ist in Ordnung. Es muss an der Sonde liegen.“
Die Kommandantin schwenkte samt Sessel herum. „Frank?“
„Es sieht so aus, als habe sich diese Schicht ausgedehnt. Eine Extrapolation der Entfernungsanzeigen lässt den Schluss zu, dass die Sonde beim Eintreten in diese Schicht verstummt ist.“
„Oder“, präzisierte Brauer sinnend, „wir können ihre Signale seitdem nicht mehr empfangen. – Okay!“ Sie schwang zurück an ihr Pult. „Jon! Kann sich das Rückkehrprogramm aktiviert haben, als wir den Kontakt zur E1 verloren?“
„Nein, die Automatik war außer Betrieb. Ich bin nicht dazu gekommen, sie zu aktivieren. Die Sonde wird irgendwo auf der südlichen Halbkugel abstürzen. Tut mir leid, Chefin!“
„Nicht deine Schuld. – Jos?“
„Ja?“
„Ist die E2 wieder okay?“
„Vollständig“, bestätigte Romp.
„Gut. – Frank, berechne einen Kurs für die E2, der außerhalb der Schicht bleibt und das Gebiet überstreicht, wo wir den Lichtreflex gesehen haben!“
„Sofort, Kommandant!“
„Tom? Wann ist Simon drei vom Schiff aus zu sehen?“
„Er muss jeden Moment hinter dem Stern auftauchen.“
„Gut … Jos, ich möchte, dass die E3 gecheckt wird.“
Der Chefingenieur wandte sich zum Gehen.
„Und die Lander!“, rief Brauer ihm nach.
Romp blieb verblüfft in der Tür stehen. „Die Lander?“, vergewisserte er sich.
„Ja. Ich möchte sie einsatzbereit haben.“
Joseph Romp nickte mit einer kleinen Verzögerung und verließ die Zentrale.
„Kommandant“, meldete sich Brown. „Der Kurs für die E2 ist berechnet.“
„Gut. Gib ihn an Jon!“ Brauer drehte sich halb zu Donald. „Sobald du fertig bist, startest du sie!“
„Geht klar!“, antwortete er. „Wir haben jetzt übrigens Sicht auf Simon drei, Kommandant.“
Brauer schwenkte den Sessel zum Bildschirm. Ihr schoss der Gedanke durch den Kopf, dass es irgendwie praktischer wäre, wenn der Kommandant im Hintergrund der Zentrale sitzen würde. Dann hätte er die volle Übersicht, ohne ständig kreiseln zu müssen. Es war ja – verdammt noch mal! – nicht damit getan, alle technischen Daten auf dem Pult abrufen zu können! Irgendwie sollte man auch seine Leute im Blickfeld haben. Meist waren die nämlich ein weitaus besserer Indikator für ungewöhnliche Situationen als alle Sensoren der Welt. Und man würde sich auch nicht so beobachtet fühlen. Und … Brauer merkte, wie sich ihre Gedanken an diesem Thema festhalten wollten, und rief sich zur Ordnung. Sie konzentrierte sich auf den großen Bildschirm.
Dort bot sich der nun schon vertraute Blick auf den blauen Planeten. Vor dem sternenübersäten schwarzen Samt des Alls prangte Simon drei wahrhaftig wie eine kostbare Perle. Brauer erinnerte sich, dass sie ganz ähnlich fühlte, als sie zum ersten Mal die Erde verlassen und vom Beobachtungsdeck des Linienschiffes zurück auf die Heimat geblickt hatte. Das war so unsagbar schön gewesen, beinahe schmerzhaft schön. Sie hatte wirklich geweint damals.
Die E2 schob sich ins Bild des Hauptschirms und holte die Kommandantin damit in die Gegenwart zurück. Die Sonde bewegte sich sehr schnell auf den Planeten zu. Brauer beugte sich über ihr Pult und verfolgt die einlaufenden Daten.
Die rätselhafte Schicht wurde sichtbar. Man konnte sie durchaus für eine Art Kapsel halten, die sich schützend um Simon drei gelegt hatte. Aber eine Kapsel woraus? Kein Material lieferte einerseits deutliche Absorptionslinien, ohne nicht auch gleichzeitig durch andere Sensoren erfassbar zu sein. Rein theoretisch konnte es gar keinen Stoff mit derartigen Eigenschaften geben. Andererseits passten die Daten auch auf keine der bekannten Energieformen …
Je näher die Sonde dem Planeten kam, desto deutlicher wurde die Kapsel. Brauer versuchte zu erkennen, in welcher Höhe sich die Schicht in der Atmosphäre erstreckte. Sie hob überrascht die Brauen: Der Radius der Kapsel vergrößerte sich!
„E2 auf der Umlaufbahn“, meldete Donald.
Brauer blickte auf. „Okay. Diese Höhe halten!“
„Höhe halten“, bestätigte Donald.
Brauer schaute wieder auf ihr Pult. „Mm??“, machte sie und blickte irritiert zu McMay. Der war ganz mit den eingehenden Sondendaten beschäftigt und offenbar genauso ratlos wie Brauer.
Die Schicht bewegte sich nicht mehr!
„Chefin?“
Sie sah zu Donald. „Ja?“
„Ich habe da so eine Idee … Darf ich mal was probieren?“
Brauer zögerte. „… und was?“
„Nur mit der Sonde ein Stückchen runter gehen.“
Die Frau runzelte die Stirn, nickte aber. „Okay …“
Donald verringerte die Höhe der Sondenbahn und sofort setzte sich auch die Schicht wieder in Bewegung.
Brauer sah aus den Augenwinkeln heraus, wie Tomasz zu Donald trat und auf dessen Pult blickte. „Sieht aus, als würde jemand oder etwas diese Schicht der Sondenbewegung anpassen“, sagte er und schaute zu Brauer, die sich zu Brown herumdrehte.
Brown schüttelte unschlüssig den Kopf. „Das ist … nicht sehr wahrscheinlich. Die … scheinbare Bewegung der Schicht verhält sich zwar proportional zur Annäherung der Sonde an den Planeten, aber … Es könnte sich höchstens um eine hochsensible Automatik handeln, denn es sind keine noch so kleinen Reaktionsverzögerungen zu beobachten. Außerdem ist die Proportionalität der beiden Größen im Rahmen unserer Messgenauigkeit absolut konstant.“
Brauer drückte die Inter-Komm-Taste an ihrem Sessel. „Zentrale an Hangar! Ist die E3 einsatzbereit?“
„Ja“, bestätigte eine Stimme.
Brauer hob erstaunt die Brauen. „Jan? Wo ist Joseph?“
„Beim zweiten Lander. Soll ich ihn holen?“
„Nicht nötig, danke! Zentrale Ende. – Tom?“
„Bin schon dabei“, antwortete McMay und wenig später wurde die zweite Sonde auf dem Bildschirm sichtbar.
Brauer hörte hinter sich leises Murmeln. Auch das war äußerst unpraktisch, fiel ihr ein, und sie nahm sich vor, dem Flottenkommando den dringenden Vorschlag zu machen, die Steuerzentrale völlig umzugestalten und eine Art Beobachtungsraum einzurichten, von dem aus die Besatzungsmitglieder Sondeneinsätze und dergleichen mitverfolgen konnten, ohne die Piloten abzulenken. Die Frau fragte sich, ob sie tatsächlich die Erste war, der diese Sache auffiel, oder ob einfach die Trägheit der Bürokratie schuld daran war, dass sich seit siebzig Jahren kaum etwas an den Bauprinzipien der Out-of-Orbit-Ships geändert hatte.
Ein lautes „Bingo!“ von Donald lenkt sie davon ab. Sie sah ihn fragend an.
„Ein veralteter Begriff für Volltreffer“, erklärte Donald obenhin und sagte: „Du hattest recht!“
„Womit?“
„Die E3 meldet die Schicht an einer anderen Stelle als die E2“, antwortete Donald und Brown ergänzte: „Und der Proportionalitätsfaktor ist identisch mit den schon ermittelten Werten der anderen Sonden.“
„Gut“, atmete Brauer auf. „Dann wäre wenigstens das geklärt. Lässt sich die tatsächliche Höhe feststellen?“
„Schon geschehen“, entgegnete Brown. „Alle Extrapolationen liefern vier siebenundsiebzig Komma zwei Kilometer über normal null.“
„Das ist verdammt weit draußen“, stellte Donald fest.
Brauer nickte. „Ja. Das wird ’ne ganz schöne Friemelarbeit werden.“
Jemand räusperte sich hinter ihr. Sie reagiert nicht darauf. Erst als Yali sie direkt ansprach, drehte sie sich um. „Eh … Katja! Ich weiß ja, dass ich nicht viel Ahnung habe, aber … Ich verstehe immer nur Bahnhof. Was ist gut daran, wenn zwei Sonden das gleiche Objekt an verschiedenen Stellen lokalisieren?“
Brauer atmete tief durch. Es war wirklich extrem unpraktisch, wenn die Besatzung im wahrsten Sinne des Wortes in die Arbeit der Crew hineinreden konnte. Und es auch tat!
„Also! In Kurzform: Die Schicht existiert in vierhundertsiebenundsiebzig Kilometern Höhe. Die Sonden erfassen sie aber in einer Höhe, die abhängig ist von ihrem eigenen Abstand zum Planeten. Das Einzige, was sich also bewegt bei der Sache, sind die Sonden. Was bedeutet, dass wir uns über eventuelle Steuermechanismen und deren Erbauer und oder Bediener keinen Kopf zu machen brauchen. Klar?“
„In etwa.“
„Na prima!“, sagte Brauer mit der Betonung von ,Na hast du’s endlich kapiert?‘ Als ihr dieser Tonfall bewusst wurde, ärgerte sie sich: Sie hatte kein Recht, jemandem Begriffsstutzigkeit auf einem Gebiet vorzuwerfen, mit dem derjenige im Normalfall nichts zu tun hatte. Gleichzeitig war Brauer erleichtert, dass ihre Schwester die Frage gestellt hatte und so das Ganze quasi in der Familie blieb. Obwohl … Chris hatte ja eigentlich nur ausgesprochen, was die anderen dachten. Und insofern war ihre Antwort eigentlich ein Affront gegen alle.
Brauer versuchte, möglichst sachlich zu klingen, als sie sich erkundigte, ob es noch Unklarheiten gab.
„Was wird ’ne Friemelarbeit?“, fragte Yali auch prompt.
„Diese Strukturen zu analysieren. Wir müssen ja mit der Sonde außerhalb der Schicht bleiben.“
„Warum?“, fragte Yali mit aller ihr zur Verfügung stehenden Naivität.
„Warum?!“ Brauer glaubte im ersten Moment, sich verhört zu haben. Dann allerdings ahnte sie, worauf ihre Schwester hinaus wollte, und wandte sich an den Piloten: „Tom?“
„Den Versuch wäre es wert“, antwortete er und blickte kurz zu Brown.
Brauer registrierte, dass Frank zu rechnen begann, und schwenkte zu Donald herum. „Also wir machen Folgendes: Wir schicken die E2 mit einem speziellen Programm unter diese Schicht. Die E3 beobachtet von draußen, was mit der E2 passiert. Wenn wir Glück haben, kann die E3 aus unmittelbarer Nähe diese Strukturen analysieren und bringt nach der automatischen Rückkehr ein genaues Bild davon mit.“
„Und wenn wir Pech haben?“, fragte Ricardo Thomas.
„Verlieren wir die Sonde. Entweder, weil die Automatik versagt und die E2 abstürzt, oder weil sie zerstört wird.“
„Zerstört wird?“, fragte Inéz Cartena tonlos.
Brauer schaute zu ihr, versuchte, möglichst optimistisch auszusehen, und nickte. „Das ist nicht auszuschließen. Auch wenn ich nach allen bisherigen Ergebnissen glaube, dass es auf Simon drei keine Zivilisation mit einem halbwegs technischen Standard gibt, kann es sich bei diesen noch völlig rätselhaften Strukturen zu Beispiel um eine intakte Basis von Raumfahrern handeln, die vor uns den Planeten entdeckt haben und uns nun möglicherweise als Feinde einstufen.“ Sie verstummte, selbst einigermaßen erstaunt über diesen Gedankengang.
Donald holte tief Luft. „Heißt das, du rechnest mit einem Angriff?!“
Sie blieb betont gelassen. „Es ist nicht unmöglich.“
„Na toll!“, machte Donald und breitete die Arme aus. „Ich wollte schon immer mal wissen, wie man sich als Zielscheibe fühlt!“
„Ach hör auf“, entgegnete Brauer matt. „Wenn überhaupt, dann ist die E2 die Zielscheibe und nicht wir.“
„Aja? Dann hoffe ich, dass die da unten dieselbe Spielanleitung gelesen haben wie du“, erwiderte Donald sarkastisch und nahm auf seinem Pult die von Frank berechneten Daten entgegen. „Also meinetwegen kann es losgehen“, brummte er.
Brauer registrierte es mit einem Nicken und drehte sich zur Besatzung um. „Für den Fall eines Angriffs werden wir von der gegenwärtigen Position aus durchstarten und den Abstand zu Simon drei vergrößern. Kümmert euch darum, dass die Kabinen und Arbeitsräume entsprechend gesichert werden! Ich erwarte dann eure Bereitschaftsmeldungen.“
Sie wandte sich wieder ihrem Pult zu, ließ sich von McMay die Kontrollen über das Schiff geben, so dass er sich nur noch auf die E3 konzentrieren musste. Sie hörte, wie Brown den Technikern im Hangar Bescheid gab, und bemerkte, dass William Base, Ricardo Thomas und Brown in der zweiten Sesselreihe Platz nahmen. Und dann kam auch schon die erste Bereitschaftsmeldung der Besatzung …
Der Gang lag im Dämmern der Nachtbeleuchtung. Katharina Brauer schloss die Tür hinter sich, tappte im Dunkel der Kabine zur Bar und macht die kleine Lampe an, die ein warmes gelbes Licht auszustrahlen begann und das Zimmer wie in Kerzenlicht tauchte. Dann goss sie sich Gin in eines der Whiskygläser und füllte es mit Orangensaft auf. Stirnrunzelnd stellte sie fest, dass sie vergessen hatte, neues Eis anzusetzen. Naja, es würde schon reichen. Sie ging zum Tisch und ließ sich in einen der Sessel fallen.
Eine Siedlung also. So viel konnte man auf den Aufnahmen der E2 immerhin erkennen. Leider war das Programm so vorsichtig gestaltet worden, dass die Sonde zurückgekehrt war, ohne sich näher um die einzelnen Gebäude zu kümmern. Naja. Sicher würde Tom mehr herausfinden, wenn er morgen selbst unter die Schicht tauchte. Komisch, dass diese Schicht von unten gar nicht zu erkennen war …
Brauer stellte das Glas ab und streckte sich gähnend. Sie warf einen Blick zur Uhr: gleich Mitternacht. Vielleicht hätte sie doch noch mal in die Zentrale gehen sollen. Ach Quatsch! Tom kam nach dem Dienst bestimmt hierher.
Sie lehnte sich im Sessel zurück und schloss die Augen. Eigentlich müsste sie glücklich sein. Sie hatte doch alles erreicht, was sie wollte: Pilotenpass, Einsatzflotte, Raumsicherheit und dann Forschungsflotte. Kommandobrief. Eine richtig gute Crew und eine tolle Besatzung. Die hatte sie sich sogar selbst zusammensuchen dürfen.
Brauer lächelte matt bei der Erinnerung daran. Es war ihre Bedingung dafür gewesen, dass sie die Emanuel übernahm. Eigentlich verwunderlich, dass das Flottenkommando mitgespielt hatte. Na gut: Durch das Ausbleiben der Vulkan stand das Kommando ganz schön unter Zeitdruck. Trotzdem war es nahezu unlogisch, einem praktisch blutjungen Piloten, der sein erstes Kommando übernehmen sollte, nicht nur Mitspracherecht bei der Crew einzuräumen, sondern auch zu gestatten, die eigentlich schon fertige Liste der wissenschaftlichen Besatzung nach seinen Wünschen kräftig umzumodeln.
Wie gesagt: Eigentlich müsste sie zumindest zufrieden sein. Ihr erstes Kommando hatte bis jetzt keine wirklichen Probleme gebracht, und die Wahrscheinlichkeit, dass die Bewohner dieser typischen Bauernsiedlung irgendeine ernsthafte Gefahr darstellen könnten, war, bei Lichte besehen, verschwindend gering. Sollte eigentlich nur der Ruhm bleiben, die erste außerirdische Zivilisation gefunden zu haben.
Aber nicht einmal das baute Brauer jetzt auf. Sie fühlte sich rundum müde. Nicht nur körperlich. Sie hatte diesen schalen Geschmack im Mund, wenn sie an den nächsten Tag dachte. Daran dachte, dass Tom in dem Lander sitzen würde, der unter die Schicht tauchen und damit unerreichbar werden würde. Warum flog nicht Frank?
Katharina zog die Beine an und legte den Kopf auf die Knie. Es würde nichts ändern. Frank war ihr nicht weniger wichtig. Eigentlich war es absoluter Zufall gewesen, dass sie damals Tomasz als Partner wählte. Was heißt wählte? Es war eine völlig spontane Entscheidung gewesen. Selbst im Nachhinein durch nichts zu begründen. Was nicht hieß, dass sie sie bereute. Und trotzdem.
Katharina spürte, dass Tom die Kabine betrat. Sie sah auf.
„Du bist noch wach?“, fragte er. „Angst?“
Katja antwortete nicht. Natürlich hatte sie Angst. Und er wusste das auch.
Er holte sich einen Saft und setzte sich auf die Liege Katja gegenüber. „Komm!“ Er nahm ihre Hand. „Vergiss es bis morgen! Es ist eine Routinesache!“
Katja lächelte. ,Ich weiß‘, hieß das. Sie setzte sich neben ihn und fuhr sein Profil mit dem Finger nach. Tomasz lächelte und küsste ihre Fingerspitzen. Sie ließ einfach geschehen, dass er ihr den Overall von den schmalen Schultern streifte, seine Hände ihren Rücken streichelten. Seine Finger berührten sanft ihren Hals, malten Kreise auf ihre Brust, glitten zu den Hüften. Katja schmiegte sich an ihn, ließ sich in seine Zärtlichkeiten fallen. Es tat gut, alles andere zu vergessen …
Als McMay am Vormittag aufwachte, war Brauer schon fort. Er fand sie in der Zentrale. Wie vermutet hatte sie bereits ihren Platz als Kommandantin neben Base eingenommen. Der Raumprojektor zeigte den Planeten und als seinen Satelliten die Emanuel. McMay beobachtete den roten Punkt. In einer Stunde würde ein zweiter, kleinerer seine Bahn unterhalb des ersten ziehen.
McMay warf einen Blick zu Brauer. Sie gab sich, als wäre alles wie sonst. Kaum zu glauben, dass sie gestern noch das kleine schwache Mädchen gewesen war, das in seinen Armen Schutz gesucht hatte. Er trat zu ihrem Sessel, legte ihr die Hand auf den Arm. Sie schaute hoch. Er ahnte ihr Nicken mehr, als er es sah. Als er die Zentrale verließ, dreht sich Brauer nicht um.
Brauer ließ ihre Gedanken schweifen. Sie hätte mit Tom frühstücken sollen. Warum eigentlich? Sie taten das sonst auch nie. Frühstücken zumindest. Aber gemeinsam zum Dienst gehen, das taten sie. Oft zumindest. Warum diesmal nicht? Es wäre ihr wie in böses Omen erschienen, auch nur den Anschein zu erwecken, die gemeinsamen Minuten auskosten zu wollen. Tom hätte das auch gar nicht gewollt. Und es war ja auch nicht nötig. Er war verdammt gut. Der Beste. Neben Frank natürlich. Aber der Beste …
Brauer merkte kaum, wie sich die Zentrale nach und nach füllte. Erst als Cartena sie ansprach, blickte sie auf.
„Frank macht den zweiten Lander klar“, sagte das Mädchen.
Brauer bemerkte, dass sie wirklich ,Mädchen‘ dachte.
Base schaute überrascht zur Kommandantin. „Ein zweiter Lander war nicht geplant“, sagte er.
Sie beruhigte ihn. „Er wird außerhalb des Orbits bleiben und nur im Notfall runtergehen.“
„Und wer wird ihn fliegen?“
„Frank.“
„Frank? Aber …“ Base holte tief Luft, wie um zu einer langen Rede anzusetzen. Dann aber fragte er nur: „Wann hast du das entschieden?“
„Eben gerade.“
„?“
„Ich wusste nicht, dass Frank den Lander fertigmacht“, erklärte Brauer. „Aber es ist vernünftig. Und deshalb ist es okay.“
„Weiß Frank wenigstens, dass er fliegen soll?“
„Sicher“, lächelte sie. „Sonst wäre er jetzt nicht im Hangar.“
„Also hat er eigentlich entschieden …“
„Ist das nicht egal? Es ist vernünftig.“
„Ich meine ja nur. Eure … wortlose Kommunikation ist schon … beachtlich.“
Ehe sie noch etwas erwidern konnte, stürzte Donald in die Zentrale.
„Ich habe eben Frank beim Hangar getroffen. Er sagt, ich soll die Copilotenstelle beim Manöver einnehmen. Kannst du mir erklären, was das soll?“, bestürmte er Brauer.
Sie bemühte sich um Ruhe. „Frank wird auf eine Umlaufbahn über Tomasz gehen, um schnell bei ihm zu sein, falls er gebraucht wird.“
„Wird er das? Na toll!!“ Donald stützte die Hände in die Seiten und lachte laut auf. Dann fuhr er Brauer an: „Willst du nicht auch gleich mit raus? Zur Sicherheit?!“
„Jon!“, wies Cartena ihn zurecht, doch der Mann ließ sich nicht bremsen.
„Was heißt hier Jon! Wer hat denn was von Gefahr erzählt?! Bloß weil die Sonden unbeschädigt geblieben sind, gilt das auf einmal nicht mehr?! Wissen wir denn, was mit höherem Leben beim Passieren der Schicht geschieht?! Wissen wir, wie die Leute in den Häusern …“ Er sah demonstrativ zu Brauer, „… wir hatten uns doch auf Häuser geeinigt? Oder? Wie reagieren die, wenn da was vom Himmel fällt? Das wissen wir nicht. Wir wissen gar nichts. Und du wunderst dich, dass ich mich aufrege? Wieso ist bei der Beratung gestern kein Wort darüber gefallen? War das überhaupt eine Beratung? Oder ein Alibi?! – Okay!“ Er machte eine Geste wie sich ergeben. „Katja ist der Kommandant, Frank und Tomasz die Piloten, und die Crew hat das Recht, so was zu entscheiden. Aber mal ganz abgesehen davon, dass weder Rico, der auch zur Crew gehört, noch der Erste Offizier etwas davon wussten – von mir als Sicherheitschef mal ganz zu schweigen! – finde ich es ziemlich arrogant, den anderen vorzumachen, ihre Meinung sei tatsächlich gefragt! Ich nenne so was Verarschung, Frau Brauer!“ Damit drehte sich um und verließ geräuschvoll den Raum.
Betretenes Schweigen machte sich breit.
Brauer schluckte.
Ein Signal tutete in die Stille hinein.
Base forderte mit gedämpfter Stimme von den Piloten die Bereitschaftsmeldungen und gab letzte Anweisungen für das Ablegen.
Der Countdown begann.
Wenig später zogen die Lander in weiten, weichen Bögen zum blauen Planeten. Jon Donald nahm im Sessel des Copiloten Platz, Brauer reagierte nicht darauf.
Base übernahm die Kontrolle über die Lander. Er viertelte den Hauptschirm, um neben den Außenaufnahmen der Emanuel auch McMays und Browns Bilder im Auge zu haben.
Als McMay die kritische Höhe erreichte, herrschte Totenstille. Sein Viertel des Bildschirms erlosch. Dafür meldete sich Brown, auf dessen Fremdfarbenbild McMays Lander auch weiterhin deutlich sichtbar war. Jemand atmete auf. Es klang unnatürlich laut.
„Alles verläuft erwartungsgemäß“, tönte Browns Stimme im Raum. „Der Lander ist gut zu erkennen. Er ist jetzt über der Steppe. Er dreht ein wenig nach Norden ab, um nachher direkt die Häuser zu überfliegen …“
Jemand bewegte sich raschelnd, Tasten klickten. Flüstern. Normalität. Brauer stand auf. Ohne auf die Blicke der anderen zu achten, verließ sie die Zentrale und ging wie in Trance zu ihrer Kabine.
Kurz vor der Tür holte Inéz Cartena sie ein. „Was ist los?“, fragte sie besorgt.
Brauer schüttelte abwehrend den Kopf.
Cartena musterte sie. „Alles in Ordnung?“
„Ja. Es ist nur … Jon.“
„Jon?“
Brauer nickte.
„Ach, er ist nur ein bisschen laut geworden. Du kennst ihn doch, er schäumt schnell über.“
Brauer nickte. „Ja. Aber er hat Recht. Ich … habe mich unprofessionell verhalten.“
„Jon hat’s nicht so gemeint“, versucht Inéz, sie zu trösten.
Katja wischte sich über die Augen. „Ich weiß. Aber dummerweise hat er recht.“
„Und wenn schon. Komm mit zurück!“
Brauer schüttelte den Kopf.
„Und Tomasz?“
„Ich kann von hier aus sowieso nichts machen. Und außerdem ist ja Frank da.“
Cartena nickte. „Ja.“ Dann sagte sie: „Ihr seid ein tolles Team, weißt du das?“
Brauer versuchte zu lächeln. „Ja, ich weiß.“
„Es ist … eben nur manchmal schwer, damit umzugehen. Ihr macht eure Sache allein. Versteh mich nicht falsch, ihr macht sie gut, aber … Es ist manchmal schwer, nicht dazuzugehören.“
„Tatsächlich?“ Etwas Sinnvolleres fiel Brauer nicht ein.
Cartena nickte.
„Das wusste ich nicht.“
„Woher auch. Du gehörst ja dazu.“
Brauer schwieg fragend.
„Es … Man kommt an keinen von euch ran, das ist es. Nicht wirklich. Ich meine, Tom ist ja sowieso eher … verschlossen, aber Frank zum Beispiel …“
Brauer glaubte zu begreifen: „Ist es das? Dass du … nicht an Frank herankommst?“
Cartena stutzte. „Dass ich …? Nein!“ Sie schüttelte heftig den Kopf. „Nein nein nein nein nein. Es … Nein.“
Brauer lächelte. „Du liebst ihn, oder?“
Cartena zögerte mit der Antwort. Dann verneinte sie.
„Sondern?“
Sie schwieg.
„Ich sag’s auch nicht weiter …“, versuchte Brauer zu ulken.
Inéz Cartena holte tief Luft und sagte: „Ich liebe dich.“
Das Lächeln in Katjas Gesicht erstarrte.
„Vergiss es!“, winkte Inéz ab. „Es war dumm von mir. Du bist mit Tom zusammen und … Vergiss es einfach!“ Sie drehte sich um und ging, lief beinahe.
Katharina sah ihr nach. Damit hatte sie nicht gerechnet. Nicht einen Moment lang. Es war so … absurd. Sie waren Freunde. Oder? Inéz war … das kleine Mädchen, das sie beschützen musste. So wie es damals sie beschützt hatte. Katja fühlte Tränen aufsteigen. Sie hatte für Inéz sorgen wollen und wusste nicht mal, was in ihr vorging.
Sie hatte versagt.
24. 9. 2285, 22.25 Uhr Bordzeit der Emanuel
Es war ein langer Tag. Und ein ziemlich durchwachsner, was schöne und unerfreuliche Begebenheiten angeht. Erst der Anpfiff von Jon. Zu recht, und deshalb um so niederschmetternder. Dann Inéz ’ Liebeserklärung.
Mein Gott! Ich versteh das einfach nicht! Bin ich denn wirklich so blind?! Das Schlimmste ist: Es tut weh. Ja, es tut richtig weh. Ich … mag das Mädchen. Ich liebe sie.
Aber nicht so!
Mit ihr zu reden war immer … wie ein angenehmes Bad. Ein Ausgleich zur Kühle der Zentrale. Entspannung. Seltsam: Ich konnte mich in ihrer Gegenwart sogar besser entspannen als mit Tomasz …
Man beachte die Vergangenheitsform dieser Aussage!
Scheiße!
Scheiße, Scheiße, Scheiße!
Das vermiest mir sogar die Entdeckung der Zivilisation auf Simon drei. Und das will was heißen! Immerhin sind es die ersten außerirdischen Intelligenzen, die die Menschheit gefunden hat. Auch wenn sie uns verteufelt ähnlich sehen.
Als Tomasz über das eine Gehöft flog, kam gerade die Bäuerin heraus. Sie guckte ziemlich perplex in die Kamera, ließ dann den Trog fallen und stürzte schreiend in die Kate zurück. War ’n bisschen fies von Tomasz, die Gute so zu erschrecken. (Grins, grins.)
Wir werden morgen Nacht landen. Ich weiß, dass es sehr unüblich ist, mit dem Mutterschiff auf einen Planeten runter zu gehen, aber durch die dumme Schicht bleibt uns kaum etwas anderes übrig.
Es ist mir völlig schleierhaft, was das für ein Feld ist. Nach menschlichem Ermessen dürfte es gar nicht existieren können! Es scheint auch nicht auf dem Planeten erzeugt zu werden, zumindest haben wir nichts gefunden, was wie eine Apparatur dafür wirkt.
Allerdings ist da in der Zentralsiedlung dieser Turm. Naja … Man kann nicht reinsehen, das ist das Problem. Bei allen anderen Gebäuden, auch den großen Gebäudekomplexen rund um den Turm, kann man im Inneren die Räume erkennen. Und die Leute, die sich darin aufhalten. Aber beim Turm versagt unsere Technik.
Na, wir werden sehen! Jetzt werde ich erstmal ins Bett gehen. Und vielleicht noch etwas über Inéz nachdenken.
Inéz.
Wieso …? Was mach ich denn jetzt? Ich kann doch nicht wirklich vergessen! Ich muss Abstand zwischen uns bringen. Aber das kann ich doch nicht. Ich meine, sie hat mir das Leben gerettet! Sie …
Wann zum Teufel ist das eigentlich passiert?!
Und warum tut es so weh?