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Die letzte Liebschaft des Zeus

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Einmal in hellenischer Vorzeit schaute der Gott Zeus von seinem Wolkenthron auf die Erde herunter und erblickte ein Mädchen, das ihn bezauberte, (so wie es vorher schon Leda und Europa, Alkmene und Kallisto getan hatten). Ihre Augen waren dunkel wie die Mitternacht, ihre Lippen rot wie Granatäpfel, ihr Körper schlank und geschmeidig wie die goldbekrönte Hindin des Herakles. Im Alter von sechzehn Sonnenläufen war sie zu einer anmutigen Jungfrau gereift und wusste mit der Spindel so gut umzugehen wie mit dem Schwert, denn Kyrene war als Findelkind im Tempel der Göttin Athena aufgezogen worden.

Eines Nachmittags vergnügte sich Kyrene mit einer Schar junger Priesterinnen beim Kampfesspiel draußen am Rande des heiligen Hains. Nackt und mit Ölen gesalbt wie die olympischen Athleten bot sie einen Anblick, dem Zeus kaum widerstehen konnte. Doch der Gott fürchtete den Zorn der Athena, falls er eine ihrer Jungfrauen befleckte. So beschloss er, das Mädchen in seinen Himmelspalast zu entführen und dort heimlich seine Lust an ihm zu stillen.

Kyrene war nach dem fröhlichen Ringen staubbedeckt von den Haarlocken bis zu den Zehen. Am Rande des Hains sprudelte einladend eine Quelle, die ein von Marmorstein umfasstes, stilles Wasserbecken speiste. Glattpolierte Stufen führten in die dämmrige Tiefe. Kyrene schritt in das Becken hinab und seufzte, als ihr das kühle Nass bis zu den Hüften, dann bis zu den Brüsten und schließlich bis zu den Schultern stieg. Doch kaum hatte sie das Ende der Treppe erreicht, da verschwand plötzlich der Boden unter ihren Füßen, und sie wurde von einem Strudel hinab in die Dunkelheit gezogen.

Die Priesterinnen hatten ihren Schreckensschrei gehört und eilten sogleich herbei, doch sie kamen zu spät. Von Kyrene war keine Spur mehr zu sehen. So mussten sie glauben, das Mädchen sei einem Unfall zum Opfer gefallen und ertrunken. Und richtig, als Kyrenes liebste Gefährtin Danae ihr in das Becken nachsprang, zog sie nur einen bleichen Leichnam aus der Tiefe. Danae vergoss bittere Tränen um die Verlorene. Wie konnten sie ahnen, dass der leblose Körper in ihren Armen in Wirklichkeit nichts weiter als ein Schilfrohr war, das Zeus in diese trügerische Gestalt verwandelt hatte?

Kyrene aber fand sich unversehens in einem köstlichen Palast wieder, der ganz und gar aus Wolken geformt war. Alles um sie herum erstrahlte in purstem Weiß, riesige Säulen mit verzierten Kapitellen wuchsen aus dem Boden empor, lebensechte Statuen schmückten die Wandelgänge und nahmen bei jedem Lufthauch neue Formen und Stellungen ein. Kyrene selbst trug nun ein Gewand aus feinstem Nebelgespinst, das sich schmeichelnd um ihren Körper schmiegte. Als sie staunend durch die Gemächer schritt, federte der Boden unter ihren Schritten und fühlte sich so weich wie Lämmerwolle an.

Schließlich gelangte sie in den größten aller Säle, der dramatisch in Gewitterfarben gehüllt war. Wohl zwanzig Mannslängen über ihr schwebte ein Dach wie ein brodelnder Sturmhimmel, in dem glühende Blitze zuckten. Auf einem Thron, der aus dem goldenen Licht des Sonnenaufgangs geschaffen war, saß strahlend der Wettergott Zeus. Er hielt die Zeichen seiner Macht, den Szepter und den Donnerkeil, in den Fäusten.

Kyrene senkte den Blick, wie es sich gehörte, und sank auf die Knie. Zwar war Zeus nicht ihr Gott, doch selbst eine Dienerin Athenas hatte Respekt vor der Macht des olympischen Herrschers.

„Menschenkind“, sprach Zeus. „Fürchte dich nicht, denn ich will dir eine große Gnade erweisen. Du bist auserwählt unter den Sterblichen, schöne Kyrene. Bald sollst du alle Freuden der Lust mit mir teilen und der Acker für meinen göttlichen Samen sein. Steh auf und komm her zu mir, damit ich den Nektar deiner Lippen trinken kann.“ Er erhob sich von seinem Thron, streifte den Glanz des Überirdischen ab und näherte sich ihr in Gestalt eines menschlichen Jünglings.

Kyrene dachte bei sich, dass Danaes Lachen ihr tausend Mal süßer klang als seine leeren Schmeicheleien. „Edler Zeus“, sagte sie, „ich bin nur ein einfaches Mädchen und Eurer nicht würdig. Auch habe ich mein Leben der Athena geweiht und einen Schwur geleistet, dass ich so unbefleckt bleiben will wie meine Herrin. Verzeiht, dass ich Euer großzügiges Angebot ablehne.“

Und so sehr Zeus das Mädchen auch umwarb und all seine Verführungskünste aufwandte, Kyrene blieb standhaft.

Der Gott war es nicht gewohnt, dass man ihn abwies. Seine Laune verfinsterte sich, und das Himmelsdach über dem Saal begann zu donnern und zu grollen. Schließlich rief er zornig: „Du törichtes Weib! Ich sollte dich für deine Frechheit mit meinem Herrscherblitz erschlagen. Doch lasse ich Gnade walten und gebe dir Zeit, deine Lage zu überdenken.“ Ein Wink seiner Hand ließ Kyrene durch den Wolkenpalast wirbeln, bis sie in einer winzigen Kammer zu Boden fiel. Die Türöffnung, durch die sie hineingeflogen war, verschloss sich sogleich mit einer wabernden Nebelwand.

Kyrene presste die Hände gegen die weißen Mauern ihres Gefängnisses, die zwar federnd nachgaben, das Mädchen jedoch nicht hindurch ließen. Seufzend streckte sie sich auf dem Boden aus und dachte darüber nach, wie sie aus dieser misslichen Lage entkommen konnte. So verharrte sie lange Zeit, doch ihr wollte kein Ausweg einfallen.

Als sie die Hoffnung schon ganz aufgegeben hatte, teilte sich die Nebelwand, als würde sich ein Vorhang öffnen, und eine wunderschöne Frau trat herein. Sie trug die Tracht von Kreta, bunte Glockenröcke und ein Mieder, das die Brüste freiließ. Um ihre Arme wanden sich lebende Schlangen. Kyrene erkannte die stolze Gestalt sogleich: Es war die Muttergöttin Hera, die einst von Zeus gezwungen worden war, seine Gemahlin zu werden.

Hera legte den Finger an die Lippen und sprach mit gedämpfter Stimme: „Bleib ganz still, mein Kind, dass mein Gatte uns nicht hört. Ich bin gekommen, dir zu helfen. Zeus denkt, er habe dich vor mir verborgen, doch weiß ich stets, was in seinem Palast vor sich geht. Wahrhaftig, mein Mann ist wie ein verwöhntes Kind und glaubt, er könne sich alles greifen, was er haben will. Diesmal aber soll ihm seine Lüsternheit schlecht bekommen.“ Sie nahm ein wenig Wolkenstoff und formte daraus ihr Wappentier, die weiße Taube. Zuerst saß das Geschöpf leblos wie eine Skulptur auf ihren geöffneten Händen, doch die Göttin hauchte ihm Atem ein, und schon flatterte die Taube in die Luft empor und landete gurrend auf Kyrenes Schulter. „Es gibt einen Weg, nur einen einzigen, der aus diesem Wolkenreich herausführt. Folge dem Vogel, und er wird dich sicher zurück auf die Erde bringen. Schnell, mein Kind, bevor Zeus sich deiner erinnert und deine Flucht bemerkt.“

Die Taube erhob sich und flog durch den geöffneten Nebelvorhang davon. Kyrene besann sich nicht lange, gehorchte der Göttin und lief hinterher, bis sie hinaus durch das Eingangsportal kam. Da erstreckte sich zu ihren Füßen ein Garten bis zum Horizont, doch alles elfenbeinweiß, nur ein Trugbild aus Wolkendunst. Der Vogel hob sich kaum von dieser Umgebung ab, und Kyrene fiel es schwer, ihm mit den Augen zu folgen, als er durch blühende Agaven und Granatapfelbäume davonflog. Doch immer, wenn sie sich schon verloren glaubte, sah sie irgendwo ein Flügelflattern und lief mit frischem Mut in die Richtung, die Heras Taube ihr wies.

Endlich endete der Garten, und vor Kyrene lag der ungeformte Wolkenhimmel. Der Untergrund federte immer stärker, je näher sie dem Rand des Gartens kam, und bald wurde sie mit jedem Schritt ein Stück in die Luft geworfen. Mit einem kühnen Sprung landete sie auf der ersten der frei schwebenden Wolken. Im Flug sah sie weit unter sich den Erdboden, die griechische Bergwelt wie ein zerknittertes Stück gegerbtes Leder umgeben von tiefblauem Meer. Kaum war sie auf der Wolke gelandet, wurde sie auch schon elastisch zurück in die Höhe geworfen, und so schnellte sie in weiten Sätzen von einer schwebenden Insel zur nächsten. Lachend sprang sie mit flatterndem Haar durch den Himmel, dem Vogel hinterher … bis sie in der Ferne etwas höchst Seltsames auftauchen sah.

Zwei riesige Füße und behaarte Waden ragten durch die Wolken.

Die Fußsohlen waren nach oben gekehrt, als hinge der Betreffende kopfüber vom Himmel. Kyrene wurde mulmig bei dem Gedanken, sich einem Riesen zu nähern. Solche Geschöpfe waren unberechenbar und hatten nur allzu oft Appetit auf Menschenfleisch. Doch die Taube flog schnurstracks darauf zu, also folgte Kyrene gehorsam. Als sie nahe genug gekommen war, um den Rest des Körpers unter sich sehen zu können, erkannte sie den Titanen Atlas. Er stemmte sich mit den Füßen gegen das Himmelszelt und trug die Welt auf seinen Schultern. Kyrene starrte auf sein vor Anstrengung verzerrtes Gesicht und die Last auf seinem Rücken. Ihr schwindelte, als sich das Bild in ihrem Geist umkehrte, sodass sie nun an dem Riesen emporblickte, der den Globus auf seinem Körper balancierte wie einen gewaltigen blau-weißen Ball. Atlas war die Verbindung zwischen Himmel und Erde, von der die Göttin gesprochen hatte, der einzige Weg aus den Wolken zurück auf den Boden.

Kyrene verstand, dass sie den Riesenkörper entlang klettern musste, um wieder in die Heimat zu gelangen. Kurz entschlossen holte sie Anlauf und sprang mit einem federnden Satz auf seine Wade. Dort klammerte sie sich fest wie ein kleines Insekt, und der Titan schien sie nicht zu bemerken. Sein Bein glich von Nahem einer Landschaft aus Porenkratern und Stoppelgestrüpp. Kyrene wollte gar nicht darüber nachdenken, wie lange sie brauchen würde, um ganz oben anzukommen. Mühsam begann sie von Haar zu Haar empor zu steigen. Auf dem knubbelig vorstehenden Knie legte sie eine Rast ein und arbeitete sich dann weiter in Richtung der Lenden, wo ihr der Geruch von Schweiß und Moschus fast den Atem raubte. Doch wenigstens standen die Haare hier so dicht, dass ihr der Aufstieg leichter fiel. Als die Nacht hereinbrach, flocht Kyrene sich aus dem verfilzten Männerpelz ein Nest, in das sie sich hineinlegen konnte, und schlief bis zum Morgengrauen.

Beim Aufwachen nagte der Hunger an ihr, und der Weg bis zur Erde schien immer noch unendlich weit. Es dauerte nicht lange, bis Kyrene beim Aufstieg ihre Kräfte schwinden fühlte. Als sie den Bauchnabel erreicht hatte, wäre sie in dieser weichen, schützenden Höhle am liebsten für immer liegen geblieben. Doch Heras Taube ließ ihr keine Ruhe. Das lästige Tier setzte sich auf Kyrenes Schulter, gurrte und zupfte an ihrem Haar, bis das Mädchen sich erhob und den Weg fortsetzte.

Bald darauf hatte Kyrene, ohne sich dessen bewusst zu sein, den Äquator erreicht, den Mittelpunkt des Riesenkörpers. Ein paar Klimmzüge weiter, und sie wurde von der Anziehungskraft der Erde umfangen. Abermals schien sich schwindelnd alles umzukehren: Der Wolkenhimmel war oben und der Erdboden unten, wie es sich gehörte. Kyrene ließ vor Überraschung das Haar los, an dem sie sich festgehalten hatte, landete auf dem Riesenbauch und begann zu rutschen. Als Kind war sie einmal die winterlichen Hügel auf ihrem Bronzeschild hinabgerodelt und erinnerte sich, wie man steuerte. Bald sauste sie mit halsbrecherischem Schwung über die Bauchmuskeln und die gewölbte Riesenbrust, legte sich auf der Schulter scharf in die Kurve, sah den Erboden immer näher kommen und segelte die letzten Meter durch die Luft, bis sie mit einem gewaltigen Platschen landete. Sie war mitten in dem Quellbecken gelandet, aus dem sie entführt worden war.

Als sie nach Luft schnappend auftauchte und sich umschaute, war von dem Titan Atlas nichts mehr zu entdecken. Er war ihren menschlichen Augen wieder verborgen. Stattdessen fiel ihr Blick auf Danae, die alle Tage trauernd auf den Marmorstufen gesessen hatte. Gerade wollte sie die geliebte Freundin mit zahllosen Küssen begrüßen, da begann der Himmel über ihr zu grollen. Schwarze Gewitterwolken verfinsterten die Sonne, als würde mitten am Tage die Nacht hereinbrechen. Zeus hatte die Flucht bemerkt, und sein Zorn kannte keine Grenzen. Schon zuckten die ersten Blitze über den Himmel, und es würde nicht lange dauern, bis einer davon sein Ziel fand und Kyrene erschlug. Dann ertönte ein furchtbarer Donnerschlag, und ein gleißender Lichtstrahl fuhr hinab, direkt auf das schutzlose Mädchen zu. Doch er traf sie nicht, sondern wurde von einem silbernen Schild zurückgeschlagen. Die Göttin Athene war erschienen, um ihren Schützling zu verteidigen.

„Wie kannst du es wagen!“, rief sie in die Wolken hinauf. „Gibt es kein Gesetz, das dir selbst heilig ist? Wenn du mich herausfordern willst, dann komm herunter und kämpfe, statt dich wie ein Feigling in deinem Palast zu verkriechen!“

Als Antwort fuhr ein von Blitzen umtoster Wirbelsturm zur Erde nieder, und Zeus erschien in seiner Mitte, den Donnerkeil drohend erhoben. „Ich bin der Herr des Olymp“, dröhnte er, dass es vom Himmel widerhallte. „Meiner Macht kann niemand widerstehen. Auch du nicht, mit deiner weibischen Rüstung und deinem lächerlichen Schild!“

Da erklang plötzlich eine kühle Frauenstimme hinter ihm. „Mächtig magst du sein, aber an Verstand hat es dir schon immer gemangelt, mein lieber Gemahl.“ Hera trat vor, und an ihrer Seite standen all jene Götter, denen Zeus während seiner Herrschaft Gewalt angetan hatte: Prometheus und seine Brüder, Poseidon und Hephaistos, Apollon und Asklepios. „Athena kannst du vielleicht besiegen. Zusammen jedoch sind wir dir weit überlegen, großer Zeus“, sagte sie spöttisch. „Während du mit deinen Liebschaften beschäftigt warst, habe ich all jene um mich geschart, die deine Tyrannei leid sind. Gib mir den Donnerkeil zurück, den du mir einst gestohlen hast, oder es wird dir schlecht ergehen.“

Was blieb Zeus anderes übrig, als zu gehorchen? Widerwillig überreichte er Hera das Symbol seiner Macht, und in ihrer Hand wurde daraus wieder die kretische Doppelaxt, aus der die Waffe einst geschmiedet worden war.

So kehrte Frieden in den Olymp ein, Zeus wurde zu einem mustergültigen Gatten, und Hera regierte den Götterhimmel mit Weisheit und Güte. Kyrene aber fiel glücklich ihrer Danae in die Arme … und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.

Märchenhaft

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