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Die Gnade

des Spitals

Wie war es im Mittelalter, ein Kind zu sein? Standen die Erwachsenen, wie der Mentalitätshistoriker Philippe Ariès behauptet, den Kindern gleichgültig gegenüber und behandelten sie als kleine Erwachsene, was ihnen – oder zumindest den privilegierten unter ihnen – zumindest ein von moralisierenden und pädagogisierenden Interventionen unbehelligtes Aufwachsen erlaubte? Oder hatten die Kinder für die Erwachsenen einen derart geringen Wert, dass diese jene, wie der Psychohistoriker Lloyd deMause vermutet, bei jeder Gelegenheit schlugen und sogar töteten, wenn sie sich von ihnen keinen Nutzen mehr versprachen?5 Das sind zwei extreme Positionen. Doch ihr Auseinanderklaffen zeigt, dass das mittelalterliche Leben nicht einfach zu rekonstruieren ist, ganz abgesehen davon, dass die Lebensweisen, die Sitten und Gebräuche je nach Region und Epoche beträchtlich variierten. Die Quellenlage lässt über den Alltag einfacher Leute im Mittelalter kaum gesicherte Aussagen zu; überliefert sind im schriftlichen Bereich vor allem offizielle Dokumente wie etwa Urkunden. Diese geben ohnehin keine Auskunft über die Lebenswirklichkeiten von Kindern. Wahrscheinlich litten diese unter der für das Spätmittelalter charakteristischen hohen Gewaltbereitschaft. Der Mediävist Arnold Esch berichtet von brutalen, tödliche Folgen nach sich ziehenden Züchtigungen durch Eltern und Geistliche. Ein Augenzeuge im Wallis des 15. Jahrhunderts erinnert sich, wie ein Vater seiner siebenjährigen Tochter eines Abends befahl, «sie solle singen. Aber sie wollte nicht. Wütend darüber, schlug er sie mit zwei Ruten aus einem Besen, und mit der flachen Hand stiess er sie zu Boden.»6

Die Armut dürfte im Hochmittelalter in städtischen Gebieten einer der wichtigsten Gründe gewesen sein, weshalb Kinder nicht bei ihren Eltern aufwuchsen. Sie stellte ein strukturelles Problem der mittelalterlichen Städte dar. Rund 20 Prozent der Bevölkerung sahen sich in ihrer unmittelbaren physischen Existenz bedroht. Das Spektrum der Betroffenen reichte von Waisen, Krüppeln, Kranken und Witwen über die sogenannten unehrlichen Berufe – etwa Scharfrichter, Prostituierte, Abdecker – und unselbständigen Lohnabhängigen, die in der Textilproduktion, im Bauhandwerk und im Agrarsektor tätig waren, bis zu den selbständigen Handwerken.7 Das gängigste Mittel, die Folgen der Armut abzuschwächen, war das Betteln. Bettelnde Menschen gehörten in vielen Gegenden Europas noch bis in das 19. Jahrhundert zum Strassenbild, doch im Mittelalter galt das Betteln als ein legitimes Mittel, sein Auskommen zu finden.8 Es unterlag – dies im Unterschied zu heute – keinerlei sozialen Ächtung. Die Bettler und Bettlerinnen gingen in den Augen der Gesellschaft einem anerkannten Beruf nach. In manchen Städten schlossen sie sich sogar zu zunftähnlichen Gebilden zusammen. Wer vom Bettel lebte, wurde deswegen nicht stigmatisiert. Wer um Almosen bat, dem wurde in der Regel gegeben.9

Ohne die Religiosität ist die mittelalterliche Wohlfahrt nicht zu begreifen. Die Furcht vor der Hölle und vor dem Jüngsten Tag, an dem durch die göttliche Rechtsprechung die Gerechten von den zur Hölle Verdammten geschieden würden, liess die Gläubigen – zumindest diejenigen, die es sich leisten konnten – nach «guten Werken» streben, die ihr eigenes Seelenheil sowie dasjenige naher Verstorbener garantieren sollten. Die mittelalterliche Frömmigkeit umfasste die Lebenden wie die Toten, die zwischenmenschlichen Bindungen einer Gruppe wurden durch den Tod nicht gelöst. Der Tote war eine unter den Lebenden gegenwärtige Person. Mit dem Mittel der Stiftung konnte die Gegenwart der Toten immer wieder erneuert und gesichert werden.

Der Stifter stellte Teile seines Vermögens für einen dauernden spirituellen Zweck zur Verfügung. Stiftungen waren im Mittelalter eine tragende Säule der Wirtschaft und Wohlfahrt. Die wichtigsten Stifter waren die adligen Stände, besonders die Könige und Kaiser. Sie stifteten Dome, Spitäler, Studentenheime, Klöster und Kanonikerstifte. Den Stiftungen lagen zwar auch weltliche Motive zugrunde: Schutz und Sicherung des Besitzes innerhalb der Dynastie, dessen Bewahrung vor Erbteilung, die Schaffung einer Versorgungsanstalt für Söhne und Töchter, politische Interessen, Machterhaltung, verwaltungstechnische Erfordernisse. Das wichtigste Motiv jedoch war ein religiöses: die Überzeugung, dass man mit einer frommen Stiftung den von der betenden klerikalen Gemeinschaft geschaffenen Zugang zum göttlichen Gnadenschatz erhalten würde. Der Stifter stiftete, und die Beschenkten gedachten seiner im unablässigen Gebet. Auch nach seinem Hinschied erneuerten sie das Gedenken an den Toten und versorgten dessen Seele, um ihr ein standesgemässes Schicksal zu garantieren.10

Die in der mittelalterlichen Stadt allgegenwärtige und gut sichtbare Armut galt nicht als Stigma. Der Reiche war auf den Armen angewiesen, damit er sein gutes Werk vollbringen und sich der Gnade versichern konnte. Armut war gar eine Tugend. Der Arme wurde als Abbild Christi gesehen, und Armut eröffnete den Armen wie den Reichen, welche die Armen mit Almosen versorgten, den Weg zum Seelenheil.11 Daraus zu schliessen, im Mittelalter sei das Leben in Armut und Not nicht auch entbehrungsreich und unmenschlich gewesen, wäre falsch. Doch unter den damaligen Verhältnissen dürfte der Arme nicht mit einer schneidenden Verachtung wie in späteren Zeiten konfrontiert worden sein. Noch heute, rund ein halbes Jahrhundert nach dem Aufbau des Sozialstaates, gilt Armut als ein Grund zur Scham. Wer arm ist, sucht dies in der Regel zu verbergen.

Das Kloster als Urzelle

Die Kinder armer und unter prekären Verhältnissen lebender Menschen waren dem erhöhten Risiko ausgesetzt, elternlos aufwachsen zu müssen. Für diese Kinder finden sich schon in der christlichen Spätantike Einrichtungen, die über die Aufnahme elternloser oder verlassener Kinder bei Verwandten oder in anderen Familien – die einfachste Art, elternlose Kinder zu betreuen – hinausgehen. Überliefert ist die organisierte Unterbringung von Waisenkindern bei Witwen und in Hospitälern. In einer die Benediktinerregel prägenden Mönchsregel des Kirchenvaters Basilius des Grossen (um 330–379) heisst es, Waisen sollten ohne Einschränkung aufgenommen werden, sodass die Mönche «nach dem Beispiel Jobs Väter der Waisen werden». Basilius gründete im Jahre 369 bei Caesarea (dem heutigen türkischen Kayseri) ein Hospital, das auch Waise beherbergte.12

Am Anfang der organisierten ausserfamilialen Betreuung von Kindern steht das Kloster. Es ist eine der historischen Wurzeln des Spitals. Oft ging es aus dem klösterlichen Gastraum hervor, wo jene Menschen vorübergehend Zuflucht fanden, die nicht dem Bettel nachgehen konnten.13 Das Kloster richtet seinen Zusammenhalt nach anderen Regeln als ein Verwandtschaftsverband aus. Hier lebt nicht zusammen, wer durch das Blut verbunden ist – sei es durch Abstammung oder körperliche Vereinigung –, sondern wer sich in der Nachfolge Christi zu dessen Idealen bekennt: der sexuellen Enthaltsamkeit und dem Verzicht auf die Anhäufung weltlichen Besitzes. Diese klösterlich-mönchischen Ideale sind, wie Josef Martin Niederberger festgehalten hat, mit dem familialen Leben nicht vereinbar.14

Daran sind drei Punkte bemerkenswert: Erstens ist es nicht selbstverständlich, dass eine Gesellschaft sich überhaupt planmässig derjenigen Kinder annimmt, die keine Obhut haben; denkbar wäre auch, sie sich selber oder den näheren Verwandten zu überlassen. Letzteres freilich dürfte vor der Unterbringung im Kloster – oder einer anderen religiösen Institution – in Betracht gezogen worden sein. Zweitens müsste die Versorgung der Kinder nicht in dieser Form geschehen; man könnte sie auch, wie dies historisch wohl häufiger der Fall war, beispielsweise als Arbeitskräfte verkaufen oder – wie in der Schweiz noch im 20. Jahrhundert üblich – verdingen. In diesem Fall profitierten die Erwachsenen gleich doppelt von den Kindern: Während die politische Autorität diese nicht zu verköstigen brauchte, konnte der das Kind aufnehmende Bauer auf eine günstige Arbeitskraft zurückgreifen. Drittens bringt die Gesellschaft die Kinder just an einem Ort unter, der von einem Prinzip strukturiert wird, das zur Mehrheitsgesellschaft im Gegensatz steht: der sexuellen Enthaltsamkeit. Anders als die Familie pflanzt sich der klösterliche Verbund nicht selbst fort. Den dort lebenden elternlosen Kindern kommt daher wie den religiösen erwachsenen Bewohnern ein besonderer Status zu, der sie im doppelten Sinne aus der menschlichen Gesellschaft heraushebt.

Im 13. Jahrhundert wurden viele Spitäler von dem um 1160 gegründeten Hospitalorden vom Heiligen Geist ins Leben gerufen, der sich die Betreuung von Findelkindern und Waisen zum Ziel gesetzt hatte. Die Entstehung des Ordens muss im Zusammenhang mit der kirchlichen Reformbewegung gesehen werden, die im 12. Jahrhundert auf grössere soziale Spannungen in den Städten antwortete. So übte etwa Franz von Assisi (um 1181–1226) Kritik am Wohlstand der Bürger und solidarisierte sich mit den Randgruppen.15 Im 13. Jahrhundert kam es auch in zahlreichen Schweizer Städten, so in St. Gallen, Bern, Schaffhausen und Winterthur, zu Spitalneugründungen, weil die Spitalfürsorge kommunalisiert und zentralisiert wurde.16

Wer seinen Unterhalt nicht durch den Bettel bestreiten konnte, der wurde im Spital untergebracht. Es bildete im Spätmittelalter neben dem Siechenhaus, in das Menschen mit ansteckenden Krankheiten eingewiesen wurden, die klassische Anstalt der Fürsorge und Versorgung schlechthin. Das mittelalterliche Spital hat mit dem modernen wenig gemein. Es war kein medizinisch spezialisierter Ort der Krankheitsbekämpfung, sondern erfüllte ein breites Feld von Funktionen: Es diente als Herberge für mittellose Reisende, als Asylstätte, als letzter Ort für unheilbar Kranke, als Verwahrungsanstalt für Irre, als Gefängnis und Versorgungsanstalt für bedürftige Verwitwete, Waisen und Findelkinder. Noch vor der Krankenbetreuung diente das Spital also der Fürsorge armer Menschen. Sie oblag in der mittelalterlichen Gesellschaft primär der römischen Kirche. Heute übernimmt der Sozialstaat diese Aufgaben. Die meisten Spitäler wurden von Orden und Bischöfen gestiftet, später auch von weltlichem Adel oder dem aufstrebenden städtischen Patriziat.17 Wurden sie anfänglich von religiösen Institutionen verwaltet, also von Klöstern und Kongregationen, gingen sie im Spätmittelalter oft in städtischen Besitz über.18

Das mittelalterliche Spital war nicht nur ein Sammelbecken aller «Elenden» und Randgruppen, ein Ort für Alte und Pilger; es nahm auch Kinder auf, die von ihren Eltern verlassen worden waren, die in oder vor der Kirche ausgesetzt wurden – Findelkinder, arme Kinder, körperlich und geistig behinderte Kinder, Waisenkinder. Als Waisen galten – anders als heute – nicht nur Kinder, deren Eltern gestorben waren, sondern alle verlassenen oder ohne Obhut lebenden Kinder. Das Aussetzen von Kindern war eine von armen Eltern gerade in wirtschaftlich schwierigen Zeiten oft angewendete Strategie, um diese zumindest in den ersten Lebensjahren von der öffentlichen Hand versorgen zu lassen. Es besteht eine Korrelation zwischen Bevölkerungswachstum, wirtschaftlichen Krisen und einer Zunahme von Kindsaussetzungen.19 Das Spital war also der Ort, an dem elternlose Kinder im Spätmittelalter am häufigsten aufwuchsen – wenn sie nicht von der Familie des Vormunds aufgenommen (falls das Kind einen Vormund hatte) oder an Pflegefamilien verdingt wurden.20

Zur Strafe

in der Kinderstube essen

Die Kinder wurden nicht konsequent von den übrigen Spitalinsassen getrennt. Manche Hospitäler verfügten zwar über sogenannte Waislinkammern, in denen Waisen untergebracht wurden.21 In diesem Fall lebten die kleineren Kinder getrennt von den erwachsenen Insassen des Hospitals, doch wurde diese Trennung nicht immer eingehalten.22 Oft dürften sich Kinder und Erwachsene in den gleichen Räumen aufgehalten, gegessen und geschlafen haben. Eine der frühesten überlieferten Quellen, die eine Art von stationärer Fürsorge für Waisenkinder belegt, ist die Gründungsurkunde des Spitals St. Gallen von 1228. Arme und verlassene Kinder, deren sich niemand annahm, sollten im Spital Zuflucht finden und mit den erwachsenen Insassen, also Pfründern, Kranken und Gebrechlichen, zusammenleben, bis sie ihren Lebensunterhalt selbst durch Bettel bestreiten konnten. Die Kinder erhielten also im Spital eine Zeit lang Obdach und Nahrung. Betreut wurden sie von einem Waisenvater.23 Freilich nahm das Spital in der Regel nur Bürgerskinder auf, also die Kinder jener privilegierten Stadtbewohner, die das Bürgerrecht innehatten und fähig waren, für ihren Unterhalt aufzukommen.

Auch das Spital von Freiburg beherbergte im 14. Jahrhundert Kinder, und zwar elternlose Kinder, uneheliche Kinder und Findelkinder. Sie lebten getrennt von den übrigen Spitalinsassen in einem eigenen Gebäude, der «Kinderstube». Überwacht wurden sie von einer Spitalmeisterin. Insassen, die sich eines Vergehens schuldig gemacht hatten, mussten zur Strafe in der Kinderstube essen, wo weder Fleisch noch Wein aufgetischt wurden. Das Spital von Luzern nahm neben elternlosen und unehelichen Kindern auch Kinder von Hingerichteten und Verbannten auf. Im Zürcher Spital hielten sich ebenfalls nicht nur Kranke, sondern auch Verkrüppelte, Geisteskranke, Pfründner, Arme – und Waisenkinder auf.24 Gleiches gilt für das Basler Spital. Dort hatte eine «Mutter» ähnliche Funktionen inne wie die Oberin von Ordensschwestern. Sie musste geloben, «die armen bedürftigen Kinder wohl zu warten».25

Neben den Klöstern und Spitälern gab es vereinzelt Institutionen, die sich exklusiv der organisierten Betreuung von elternlosen Kindern oder solchen, die ausserhalb der Verwandtschaft aufwuchsen, widmeten: Waisenhäuser und Findelhäuser. Im Jahr 787 wird in Mailand ein Findelhaus gegründet. Es nimmt nicht akzeptierte Kinder auf, die ansonsten oft ausgesetzt oder getötet werden. Ende des 12. Jahrhunderts eröffnet Papst Innozenz in Rom ein Heilig-Geist-Spital, das illegitime und unerwünschte Kinder aufnehmen sollte. Angeblich waren den Tiber hinuntertreibende Kinderleichen ein häufiger Anblick.26

Was für ein Geist herrschte im mittelalterlichen Spital, wie lebte es sich für die Kinder innerhalb von dessen Mauern? Das ist schwierig zu sagen, zumal hier die Gefahr des Anachronismus lauert. Weder kannte das Mittelalter den Begriff des «Kindes», wie wir ihn heute kennen, noch bildete es pädagogische Konzepte aus. Die Vorstellung, dass eine bestimmte elterliche Haltung gegenüber dem Kind zu bestimmten charakterlichen, kognitiven und psychischen Eigenschaften führt, ist eine moderne Erscheinung.

Im Spital dürfte ein klösterlicher Geist geherrscht haben. Ähnlich wie ihr Vorbild, das Kloster, gewährte diese Institution Zuflucht vor der Unbill des Lebens; freilich war das Spital primär ein Ort für Randgruppen. Absoluter Gehorsam gegenüber dem Spitalmeister oder der Spitalmeisterin war von den Kindern und Jugendlichen sicherlich gefordert; wer nicht parierte, musste mit harten körperlichen Züchtigungen rechnen. Die Kinder lebten zumeist nicht getrennt von den erwachsenen Armen und Kranken. Sie bekamen also deren Alltag, wohl auch deren Probleme und Konflikte ungefiltert mit. Und sie waren vermutlich deren Befehlen, Wünschen und auch eventuellen Misshandlungen ausgeliefert. Kinder besassen in der mittelalterlichen Gesellschaft keine Rechte.

Der Tagesablauf dürfte sich an der klösterlichen Ordnung orientiert haben. Gebete und Gottesdienste gehörten zum Spitalalltag. Die einfachen Mahlzeiten wurden an den nicht seltenen Fest- und Feiertagen durch fromme Gaben und Wohltaten von Stiftern aufgebessert.27 Da Armut in der mittelalterlichen Gesellschaft nicht negativ konnotiert war, dürfte sich der Aufenthalt im Spital kaum stigmatisierend auf die Insassinnen und Insassen ausgewirkt haben. Wer im Spital lebte, profitierte von der christlichen Barmherzigkeit und Gnade. Er musste sich – zumindest gemäss der religiösen Theorie – seinen Aufenthalt nicht eigens verdienen.

Die Reformation und ihre Moral

Das mittelalterliche Bild des Spitals, das verarmte und kranke verlassene Kinder sowie Erwachsene aus christlicher Barmherzigkeit in einem Gnadenakt bedingungslos aufnimmt – oft allerdings dürften in erster Linie Bürgerskinder von diesem karitativen Dienst profitiert haben –, evoziert eine in dieser Form nicht mehr bekannte Grosszügigkeit. Sie ist weder in den Arbeitshäusern des 18. Jahrhunderts anzutreffen, noch wird sie vom modernen Sozialmanagement vertreten. Im Mittelalter wurden Arme, Verlassene, Bettelnde nicht per se stigmatisiert. Ein Waisenkind, welches das Jugendalter erreicht hatte, verliess das Haus und machte sich, angehalten zu einem christlich guten Leben, als Bettler auf den Lebensweg. Eine Strafe hatte es dafür nicht zu gewärtigen. Freilich sollten die Verhältnisse im mittelalterlichen Spital nicht romantisiert werden: Der Umgang der Leitung mit den Insassen dürfte angesichts der verbreiteten Gewalttätigkeit in der spätmittelalterlichen Gesellschaft ruppig gewesen sein; in dem mit randständigen, alten und jungen Menschen gefüllten Haus kam es wohl zu gewalttätigen Übergriffen auf die Schwächeren nicht nur seitens der Spitalführung. Sehr wahrscheinlich war die Verpflegung – ebenfalls vor dem Hintergrund der damaligen krisenhaften Situation – eher karg.

Die Realisierungschancen der zumindest in der Botschaft des christlichen Evangeliums verheissenen Grossherzigkeit wurden im 15. Jahrhundert vermindert. In dieser Krisenzeit zeichnete sich eine grundlegende Änderung der gesellschaftlichen Einstellung gegenüber der Armut und dem Bettel ab. Das soziale Klima verhärtete sich. In vielen Städten kam es zu einer Wende sowohl in der Armenfürsorge als auch im Anstaltswesen. Eine ganz Westeuropa erfassende christliche Reformbewegung führte zu zwei normativen Neuerungen: Arme wurden im theologischen Diskurs in würdige und unwürdige geschieden sowie in eigene und fremde.28 Davon waren natürlich auch die ohne elterliche Obhut aufwachsenden Kinder betroffen.

Der im Prinzip alte Topos der gesunden und arbeitsfähigen «starken Bettler» (mendicantes validi), die den barmherzigen Mitmenschen ein Gebrechen oder eine Behinderung vortäuschten, wurde im Spätmittelalter aktualisiert. Ein Grund war ein wirtschaftlicher: Weil viele Menschen vom Land in die wachsenden Städte zogen, kam es dort zu einem Überschuss an Arbeitskräften. Da man viele Zugezogene aufgrund ihrer fehlenden Fähigkeiten nicht in den Gewerben einsetzen konnte, nahm die Zahl der Verarmten und im Prinzip arbeitsfähigen Bettler stark zu. Viele europäische Städte wurden ein erstes Mal vom Phänomen des Pauperismus getroffen.29 Der um 1800 in England als Reaktion auf eine neue Massenarmut entstandene Begriff bezeichnet den Umstand, dass der Arme, der «Pauper», sich durch Arbeit kein ausreichendes Einkommen mehr verschaffen konnte. Heute spricht man in Bezug auf dieses keineswegs verschwundene Phänomen von «working poor».

Sporadisch ausbrechende Unruhen verstärken im ausgehenden Mittelalter die Furcht vor Armen. In den städtischen Gesellschaften herrschte eine zunehmende Prekarität und Instabilität der Lebens- und Einkommensverhältnisse; Ursache der Armut waren neben ökonomischen Zyklen auch Seuchen und Krankheiten, betroffen waren besonders ältere und alleinstehende Menschen, schwangere Frauen und natürlich Kinder.30 In der Folge dieser wirtschaftlichen und sozialen Erschütterungen kam es zu heftigen Abwehrreaktionen gegen Randgruppen; Juden, Aussätzige, Prostituierte und Bettler mussten sich mit ihrer Kleidung als solche erkenntlich machen, Kriminelle wurden durch Verstümmelungen stigmatisiert. Kurzum: Abweichendes Verhalten wurde kriminalisiert. In dieser Zeit konzentrierten die städtischen Obrigkeiten Minderheiten auf bestimmte Orte; Leprosorien, Bordelle und die sogenannten Judengassen entstanden. Der Arme wurde von der Gesellschaft nicht länger als solcher akzeptiert, ja respektiert, weil er dem Reichen eine Möglichkeit zur Erlangung von Gnade bot. Die städtischen Obrigkeiten unterrichteten sich gegenseitig über die Machenschaften der betrügerischen Bettler. Es kursierten Verzeichnisse mit über 20 stereotypen Kennzeichen, anhand deren diese zu identifizieren waren.31 Fremde Bettler wurden konsequent vertrieben. Die Beichtväter sorgten dafür, dass die Verweigerung der Hilfe an die «starken Bettler» das gute Gewissen nicht beunruhigte. Sie vermittelten den Laien die Unterscheidung zwischen echten und arbeitsscheuen Bettlern und machten ihnen deren Beachtung gar zur Pflicht.32

Diese Verhärtung des sozialen Klimas wurde von der Reformation, die sich in den meisten grösseren Städten der heutigen Schweiz durchsetzen konnte, noch verstärkt. Die Armenfürsorge wurde erneuert und zentralisiert: Sie ging von der Kirche auf die Räte über. Unter dem Einfluss der reformatorischen Lehre rationalisierte, bürokratisierte und pädagogisierte die städtische Obrigkeit das Fürsorge- und Armenwesen. Unter dem Einfluss des neuen theologischen Diskurses über Arbeit und Armut wendeten die Räte die Unterscheidung zwischen guten und schlechten Armen, zwischen berechtigten und unberechtigten Armen konsequent an und schränkten ihre karitativen Leistungen auf Ortsansässige ein. Die Obrigkeiten behafteten die Unterstützungsempfänger auf ihre Arbeitspflicht und kritisierten mehr denn je Müssiggang, Völlerei, Trunk und Spiel.33

1523 verordnete die Stadt Zürich, 1527 die Stadt Bern die Kennzeichnung der eigenen Armen und Bettler durch Schilder, um sie sichtbar von fremden Vaganten abzugrenzen. Die Fürsorgeeinrichtungen nahmen nur solche Leute auf, die entweder einen finanziellen Beitrag leisten konnten oder wirklich gänzlich unfähig waren, sich irgendwie selber durchzubringen.34 1525 trat in Zürich die Almosenordnung in Kraft. Ihre wichtigsten Bestimmungen waren das Bettelverbot und die Scheidung der Armen in würdige und unwürdige.35 Sie unterschied nicht zwischen Erwachsenen und Kindern; für Letztere galt kein Ausnahmerecht. In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts mussten arme Kinder abends durch die Bettelvögte ins Spital geführt, fremde bettelnde Kinder aber sollten weggewiesen werden. Kinder, die beim Betteln erwischt wurden, sollten in den Turm gelegt, also inhaftiert werden; falls sie nochmals beim Betteln gesichtet wurden, waren sie erneut zu inhaftieren und auszupeitschen.36

Die Zentralisierung und Rationalisierung der Armenfürsorge und der Spitäler wirkten sich besonders deutlich in Genf aus. Vor der Reformation widmeten sich dort insgesamt sieben Spitäler der Fürsorge für Arme und Kranke. 1535 wurden diese Institutionen im Hôpital général straff zentralisiert, das auch Waisen, Findelkinder, uneheliche Kinder und solche aufnahm, bei denen die Obrigkeit der Ansicht war, sie würden bei den Eltern nicht gut versorgt, weil diese durch einen unziemlichen Lebenswandel auffielen. Die Zentralisierung lässt sich nicht nur in den reformierten Städten beobachten, sondern mit einigen Jahrzehnten Verzögerung im Rahmen der durch die Reformation ausgelösten Konfessionalisierung auch in katholischen Orten.37 So wurden in der Stadt Luzern in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts Bettelmandate erlassen. Die Obrigkeit behauptete, Kinder würden durch den Bettel zu «armen ungerathenen Lüthen». Wenn sie sich nach sechs Uhr abends auf der Strasse herumtrieben, wurden sie inhaftiert und ihre Eltern bestraft. Verlassene Kinder wurden ins Spital verbracht und von dort aus verdingt.38

Was bedeutete diese Verschärfung des sozialen Klimas, die Kategorisierung der Bettler in gute und schlechte sowie die Zentralisierung der Armenfürsorge für elternlos aufwachsende Kinder? Zum einen dürfte sich der Druck auf bettelnde Jugendliche verstärkt haben, da ja kaum zwischen Kindern – zumindest sobald diese sich selbst durchschlagen konnten – und Erwachsenen unterschieden wurde. Auch ein arbeitsfähiges Kind oder ein arbeitsfähiger Jugendlicher, der bettelte, wurde zum öffentlichen Ärgernis. Zum anderen dürfte sich der Druck auch auf die in den Spitälern untergebrachten Kinder erhöht haben.39 Auch hier galt wahrscheinlich: Wer arbeitsfähig war, hatte das Haus zu verlassen. Und die Insassen dürften mit einem neuen Anstaltsgeist konfrontiert worden sein; Ermahnungen nicht nur zu Gottesfurcht und Gebet, sondern auch zu Arbeitsamkeit und Fleiss. Zugespitzt kann man sagen: Während man dem gesunden mittellosen Waisenkind während seines Aufenthalts im mittelalterlichen Spital oder beim Betteln eine heilbringende Qualität nachsagte oder ihm zumindest mit Gleichgültigkeit begegnete, wurde es im ausgehenden Mittelalter und im Zug der Reformation zum Nutzniesser und Parasiten degradiert. Sicherlich erblickte das reformierte, von der städtischen Obrigkeit verwaltete Spital im Waisenkind einen Problemfall. Potenziell konnte aus jedem Waisenkind ein «starker Bettler» werden. Wer zu lange müssigging, zeigte sich für weitere Sünden empfänglich, etwa für Völlerei und Trunksucht.

Die erzieherische Vision

des Joan Luis Vives

Aus dieser Zeit des Umbruchs ragt das Werk des spanischen Humanisten Joan Luis Vives (1492–1540) hervor. In der flämischen Stadt Brügge lebend und mit Erasmus von Rotterdam und Thomas Morus korrespondierend, beschäftigte er sich mit dem Armenwesen und dem Schicksal der Waisenkinder.40 Vives ist deutlich geprägt von den Anschauungen seiner Zeit, besonders der Reformation. Er ist der Ansicht, dass der Arme, wenn er arbeitsfähig ist, zur Arbeit erzogen werden soll und dass die Fürsorge schon bei den Kindern ansetzen müsse. Stärker als seine Zeitgenossen aber folgte Vives einem erzieherischen Ansatz: Er wollte die Findel- und Waisenkinder mit den Kindern der Armen gemeinsam in einem Spital von Frauen erziehen lassen, damit sie nicht mehr durch ihre alte Umgebung gefährdet würden. Nach dem sechsten Lebensjahr würden die Kinder in einer Art Internat untergebracht, wo sie im Schreiben und Lesen unterrichtet und zu christlicher Frömmigkeit und guten Sitten angeleitet werden sollten. Städtische kultivierte Lehrer sollten den Schülern und Schülerinnen ihre guten Sitten weitergeben. Vives’ sich auf die Armenerziehung beziehenden Pläne sind allesamt durchdrungen von der Notwendigkeit der Erziehung. Er ging sogar so weit, auch die Erziehung der reichen, aber faulen Kinder zu verlangen, damit diese kein schlechtes Beispiel abgäben. Nur so könne die Armut überwunden werden.41 Anders also als der vorherrschende reformatorische und obrigkeitliche Diskurs seiner Zeit sah Vives die Ursache und Schuld für die Armut nicht bei den Armen selbst.

Die Realität der Fürsorge für verwaiste und verlassene Kinder war eine andere. Nicht Pädagogik, sondern Disziplinierung stand im Vordergrund. Auch wenn Vives’ Vision ihre disziplinierende Seite hatte, macht sie das Konzept einer auf Kinder zugeschnittenen Pädagogik sichtbar, das erst am Ende des 18. Jahrhunderts breiter formuliert und rezipiert werden sollte. Die Durchsetzung dieser Pädagogik war eng an die Vorstellung der bürgerlichen Familie beziehungsweise die Leitung der Anstalt durch ein Ehepaar geknüpft: die Hauseltern, den Hausvater und die Hausmutter. Das mittelalterliche Spital wurde von einer Ordensgemeinschaft geführt, die Kinder und Jungendlichen wurden mithin von Erwachsenen betreut und überwacht, die dem familial-sexuellen Leben entsagt hatten. Was das für Kinder bedeutete, ist nicht einfach zu sagen. Vermutlich dürfte die Integration in die bürgerliche Welt und deren Ideale nicht zu den Hauptzielen der Ordensleute gezählt haben. Im mittelalterlichen Spital, im Waisen- und Findelhaus wurde das Waisenkind mit dem Lebensnotwendigsten unterstützt und, sofern es dazu in der Lage war, wieder auf Betteltour geschickt; dass es bettelte, dürfte weder ein Skandal noch ein besonderes Ärgernis gewesen sein. Das änderte sich mit der Reformation, wobei dieses Ereignis als unmittelbarer Einschnitt und Umschlag nicht überschätzt werden darf. Sowohl in sozialals auch in kulturgeschichtlicher Hinsicht sind die Übergänge vom 15. ins 16. und 17. Jahrhundert fliessend.42 Die Reformation unterzog den internierten Jugendlichen nicht einer Pädagogik, aber einer Disziplinierung: Wer nicht arbeite, versündige sich, und wer bettle, sowieso. Der Arbeit kam ein neuer und hoher Stellenwert zu. Das von der Reformation zentralisierte und der städtischen Obrigkeit unterstellte Spital dürfte den Insassen diese neuen Grundsätze nachdrücklich eingebläut haben.

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