Читать книгу Die Zweitreisenden - Urs Rauscher - Страница 5

III.

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Martin und Benjamin schlugen triumphierend mit den Händen ein. Sie hatten alles dabei. Ihr Geld, Ihre Kreditkarten, ihre Handys, das Koks. Auch die Formel steckte in ihren Hosentaschen.

Sie freuten sich auf ihre kleine Reise in die Vergangenheit. Sie hatten sowieso vorgehabt, in Kürze zu reisen. Einen Luxusurlaub auf den Malediven hatten sie bereits ernsthaft ins Auge gefasst. Den würden sie antreten, sobald ihr kleines Problemchen aus dem Weg geräumt wäre. Sie mussten nur ihre Kontaktmänner bei der Arbeitsagentur in Kenntnis setzen, und die würden dafür sorgen, dass in der Parallelwelt diejenige Person nicht bei der Polizei plaudern würde, die in der hiesigen Welt ausgepackt hatte. Alles würde beim Alten bleiben. Sie verspürten eine riesige Erleichterung.

Dann warteten sie. Sie fixierten die Ziffernleiste an der Wand.

Nick schien beim Eintippen sehr lange zu brauchen, doch allmählich nahm die Nummer Gestalt an.

Nur noch drei Ziffern.

Nur noch zwei.

Nur noch eine.

Sobald die letzte 7 in eine 4 umgesprungen war, begann alles zu vibrieren. Am stärksten vibrierten die beiden Freunde selbst.

Sie konnten kein Wort mehr sagen, nur noch stöhnen und schreien. Nach zwanzig Sekunden erbrach Martin Thunfisch im Pizza-Wein-Brei, Benjamin Teig mit Salami in roter Magensoße.

Dann vibrierten sie so sehr, dass sie die Münder nicht mehr aufbrachten.

Dann vibrierten sie so sehr, dass sie ihre Körper nicht mehr spürten.

Dann vibrierten sie so sehr, dass sie nur noch ein helles Licht sahen.

Schließlich spürten sie einen riesigen Schmerz im halben Körper, aber kein Vibrieren mehr. Es war dunkel. Aber nicht ganz dunkel.

Es ist dunkel, weil wir diesmal wirklich tot sind, dachte Martin.

Es ist dunkel, weil diesmal wirklich der Strom ausgefallen ist, dachte Benjamin.

Es ist dunkel, weil unsere Augen nicht richtig sehen können, sagten sie sich gleichzeitig.

Martin blinzelte. Es blieb dunkel und das wenige Licht, das er sah, waberte umher.

Benjamin blinzelte. Es blieb fast ganz dunkel und die paar Sonnenstrahlen, die er ausmachte, kamen ihm verschwommen vor.

Irgendetwas an meiner Haut ist anders, dachte Martin. Sie fühlt sich nass an.

Irgendetwas an meiner Haut ist anders, dachte Benjamin. Sie fühlt sich mal kühl und mal warm an.

Sie versuchten sich zu bewegen. Jede Bewegung war unendlich zäh.

Die Raumkapsel vibriert so sehr, dass sie sich anfühlt wie ein Tauchgang in einem lichtarmen Bad, dachte Benjamin.

Die Raumkapsel vibriert so sehr, dass sie sich anfühlt wie Schnorcheln in einer mondlosen Nacht, dachte Martin.

Alles nur Schwingungen, dachte Martin. Gleich sind wir auf dem Alex.

Ich hätte kein Koks nehmen sollen, dachte Benjamin. Dann sähe der Alex ganz anders aus.

Zeitreisen sind nur der Anfang, dachte Martin. Das hier ist eine Dimensionsreise.

Zeitreisen sind anstrengend, dachte Benjamin. Und nass.

Man kann nicht zum Alex gelangen, indem man in den Wannsee fliegt, dachte Benjamin. Experimentelle Logiker haben Recht.

Man kann nicht atmen, wenn man unter Wasser ist, dachte Martin. Biologen haben Recht.

Plötzlich fingen sie wie wild an zu paddeln. Als sie an der Wasseroberfläche waren, prusteten und schnauften sie.

Der Wannsee sieht komisch aus, dachte Benjamin. Die Uferbäume hatte ich auch anders in Erinnerung.

Dieser Baggersee ist merkwürdig, dachte Martin. Sein Strand ist gelb statt kiesfarben.

Ich habe nur auf einer Körperseite Schmerzen, dachte Benjamin. Die Raumkapsel schießt die Wasseratome in eine Richtung zu schnell.

Ich habe nur auf einer Körperseite Schmerzen, dachte Martin. Ich bin aus der Raumkapsel rückwärts gegen die Wasserwand gefallen.

Ich bin aus vielen Metern auf mit dem Bauch auf der Wasseroberfläche aufgekommen und eingetaucht, fasste Benjamin beider Gedanken zusammen. Hier ist ein exotischer Strand mit gelbem Sand und Palmen. Dies ist die verdammte Schuld von Nick oder ein Fehler im System, aber ich kann trotz meiner Schmerzen und meiner Schnappatmung schwimmen und meinem Freund, der durch denselben Fehler aus vielen Metern mit dem Rücken durch dieselbe Wasseroberfläche gebrochen ist, von der Rückenlage in die Brustlage helfen.

Sie waren ungefähr fünfzig Meter vom Ufer entfernt. Da sie Kleidung und Schuhe anhatten, brauchten sie eine gefühlte Ewigkeit, bis sie auf dem Sand zum Liegen kamen. Sie stöhnten und keuchten. Martin spuckte Salzwasser aus, Benjamin pustete sich Rotz aus der Nase. Sie robbten den Strand ein paar Meter hoch und kamen atemlos zur Ruhe. Ihre Köpfe fielen in den Sand, der sofort an ihren nassen Haaren zu kleben begann.

Beide konnten sie den jeweils anderen heftig atmen hören. Martin wimmerte wegen seiner Rückenschmerzen, Benjamin ließ einen langgezogenen Laut erschallen, weil seine Brust brannte wie Hölle.

Nach einer Weile, sie hatten immer noch kein Wort gesagt, bemerkten sie, dass die Luft unglaublich heiß war. Die Sonne brannte auf ihrer Haut, ihre Kleidung begann zu trocknen. Eine Salzkruste bildete sich auf ihren Händen und Hälsen, und die Haare waren schon fast wieder trocken. Innerhalb kürzester Zeit begannen sie zu schwitzen.

Sie vernahmen das Gekreische von Tieren, das Rauschen des Windes in den Palmen und das beharrliche Brausen der Brandung. Über ihnen zogen Vögel ihre Kreise. Es ging ein leichter Wind, der aber warm war wie Luft aus einem Föhn.

„Alles okay?“, fragte Benjamin, auf dem Rücken liegend.

„Geht schon“, antwortete Martin, auf dem Bauch liegend.

Mike kann nicht rechnen, dachte Martin.

Nick kann nicht tippen, dachte Benjamin.

„Mann!“, stieß Benjamin aus.

„Okay, okay“, sprach sich Martin gut zu und betrachtete die Hände.

Benjamin rollte sich auf die Seite. Martin versuchte, auf die Knie zu kommen, musste aber aufgeben.

Benjamin rubbelte sich Sand aus den Haaren.

Martin strich sich die Sandkruste von Backen und Stirn.

„Ich muss das alles nochmal überdenken“, sagte Benjamin.

„Was?“

„Ob ich die Millionen behalten will.“

„Kannst du dir sparen“, erwiderte Martin mit müdem Spott.

Benjamin ließ den Kopf hängen.

Martin schloss die Augen.

Benjamin ist schuld, dachte Martin. „Nick ist schuld“, sagte er.

Martin ist schuld, dachte Benjamin. „Mike ist schuld“, sagte er.

„Ich bring Nick um“, zürnte Benjamin, bevor sich wieder der Schmerz in der Brust meldete.

„Ich räche mich an Mike“, stimmte Martin in den Zorn ein.

Beide müssten sie für ihre Fehler büßen, waren sie sich einig. „Wir bringen sie um“, tönten sie synchron.

„Nur wie…“, begann Benjamin und wurde von beängstigenden Gedanken weggerissen.

Martin schlug mit der Hand in den Sand. „Ja, verdammt! Wie?!“

Benjamin wurde kreidebleich „Sie haben sie sicher schon zerstört.“

Irgendwie schafften sie es, sich auf ihre Hinterteile zu setzen.

„Albert hat Scheiße gebaut. Es gibt keine Formel. Es war alles nur Zufall“, meinte Martin.

„Dafür hat unser Brainmapping-Mann wenigstens gebüßt.“

„Oh, ja. Er hat lichterloh gebrannt“, sagte Martin mit Genugtuung.

„Muss ganz schön wehgetan haben.“

„Jedenfalls hat er geschrien ohne Ende.“

Benjamin erschauderte. „Kann ich mir vorstellen.“

„Ich hab Durst“, sagte er mit salzigem Mund nach kurzer Pause.

„Und ich Hunger“, erklärte Martin.

„Wir sollten ins Innere der Insel gehen“, schlug Benjamin vor, machte aber keine Anstalten, aufzustehen.

„Woher.“ Martin sah sich um. „Willst du wissen, dass es eine Insel ist?“

„Na, ja.“ Benjamin presste die Lippen aufeinander. „Wenn es scheiße kommt, kommt es richtig scheiße.“

„Wir sollten erstmal schlafen“, sagte Benjamin in einem Gähnanfall.

„Es ist helllichter Tag.“

„Es ist schon nach Mitternacht“, widersprach Benjamin. „Und das Koks lässt langsam nach.“

„Das Koks“, entfuhr es Martin. „Hast du es noch?“

Benjamin langte sich umgehend in die Hosentasche. Alles bis auf die Hausschlüssel war durchnässt. Sein Geldbeutel war ein klammer Lederbatzen mit aufgeweichtem Papiergeld und unbrauchbaren Kreditkarten. Dann Handy ließ sich nicht mehr anschalten. Das Koks sah aus wie ein Klumpen angerührtes Mehl. Der Inhalt des Beutels war um die Hälfte geschrumpft.

„Sofort trocknen!“, befahl Martin. Er ersparte sich den Blick auf die eigenen Habseligkeiten.

Benjamin legte den Beutel geöffnet in die Sonne.

Eine Weile saßen sie nur herum, verfielen in schwere Gedanken oder zerbrachen sich die Köpfe darüber, wie dies hatte passieren können und was sie nun tun sollten, Selbstmord oder Überlebenskampf. Aber das Denken war anstrengend, weil das THC in ihren Köpfen wieder die Oberhand gewann. Spätestens am nächsten Tag würde seine Wirkung jedoch nachlassen und in drei Nächten würden sie wieder träumen. Sie ängstigten sich schon jetzt davor.

Tagträumend sann Martin über dies und das nach. Das Meer glänzte in der Sonne. Eine feine Gischt bewegte sich in Schlangenlinien über die Oberfläche und rollte anschließend zurück, nur um mit dem Spiel erneut zu beginnen. Die Wellen zerschlugen am Strand, flossen wieder zusammen und bäumten sich abermals auf, um auf den gehärteten Sand zu klatschen. Auf der einen Seite der Bucht schloss eine Felsformation an, auf der anderen buschbewachsene Hügel. Über den beiden Freunden tanzten die Palmblätter im Wind und ließen ihre Schatten auf ihren Gesichtern spielen. Die Natur war hier in voller Harmonie. Nur eins störte irgendwie das Gleichgewicht: Benjamin.

Benjamin ließ seinen Ärger und seine Enttäuschung fahren. Er blickte aufs Meer hinaus, dann den Strand entlang. Das Blau des Himmels, das Grün der Palmen und das Gelb des Strandes ergaben die Farbpalette eines Paradiesmalers. Auch dieser Gogol hätte eine solche Komposition nicht besser hingekriegt. Das alles erinnerte ihn an Urlaub unter Palmen. Es fehlten nur ein Cocktail und eine barbusige Frau im String-Tanga, dann wäre alles perfekt. Es war traumhaft hier, aber irgendetwas trübte diesen Eindruck: Martin.

Als sie eine Kokusnuss um ein Haar verfehlte, ließen sie von ihren Träumereien ab.

„Ist das Zeug schon trocken?“, fragte Martin.

Benjamin, der schon auf diese Idee gekommen war, musste verneinen. Doch beide sahen sich außerstande, so zur Tat zu schreiten.

Dafür zogen sie sich die Klamotten aus und kehrten das Innere nach außen. Auch die Unterhosen. Nach Jahren des Zusammenwohnens, in dem sie sich nie wie Adam und Eva gegenüber gestanden hatten, kannten sie nun keine Scham mehr. Nach ihrer letzten Reise.

Da saß er: Benjamin mit seinen proportionierten Gliedern, seinem athletischen Körper, seinem großen Glied. Ganz so, wie ihn die Evolution laut Lamarck erschaffen hatte, indem seine Vorfahren über Generationen immer höher gegriffen, weiter gerannt, schwerer getragen und ausdauernder kopuliert hatten.

Hier war er zu sehen: Martin. Mit seiner gedrungenen Statur, seinen etwas zu kurzen Beinen, seiner jämmerlichen Brust. Ganz so, wie ihn die Evolution laut Darwin erschaffen hatte, indem sich seine genetischen Vorgänger durch Duckmäusertum und Versteckspielerei an Krieg und Zerstörung angepasst, und deshalb überlebt hatten.

Die längeren Deckhaare ihrer Sidecuts waren ihnen an Stirn und Schläfe geklatscht. Einzelne Locken Martin lösten sich beim Trocknen daraus und kräuselten sich ungewöhnlich stark. Benjamins blonde Schnittlauchlocken wirkten dünn und fusselig, und bereit, sich jederzeit von der Kopfhaut zu lösen.

Beide merkten sie, dass mal wieder ein Sonnenbrand im Anmarsch war, und rückten ein Stück in den Palmenschatten.

Als das Koks getrocknet war, legte Benjamin mit seiner MasterCard auf seiner Visa zwei Lines. „Der Klügere legt nach“, sprach er.

Der Klügere hat sein Koks leider nicht dabei, dachte Martin.

Bald könnten sie ihre weißen Hemden und weißen Leinenhosen wieder anziehen und in ihre salzverkrusteten Lederschuhe steigen.

Ihr Überlebenskampf konnte beginnen, dachte Benjamin. Sie würden durch den Urwald stapfen, Lianen hinter sich werfen, Gestrüpp zur Seite klopfen, über Baumbrücken klettern, Flüsse durchwaten, Bäche überspringen, Geschmeiß und Getier von ihrer Haut pflücken, Schlangen mit Schlägen vertreiben, Tiger mit Keulen verscheuchen, Vögel mit Farnsträuchern in die Flucht schlagen. Sie würden Feuer legen und so Insekten fernhalten, Fackeln entzünden und damit Fledermäuse verjagen. Sie würden bis zur Spitze des Vulkankegels gelangen und sich eine Übersicht über die Insellandschaft verschaffen, würden dann zurückkehren und am Waldrand mit Steinäxten Bäume schlagen und sich ein Floß bauen, um zur nächstgrößeren Insel oder zum Festland fahren. Dort würden sie ein neues Leben leben und die Hoffnung niemals aufgeben, dass die Maschine noch funktionierte.

Ihre Selbstmordversuche konnten nun unternommen werden, dachte Martin. Sie würden in den Wald gehen, sich sogleich verirren, in Gestrüpp hängenbleiben, von wilden Tieren bedroht werden. Von Riesenvögeln würden sie schwer verletzt werden, von Insekten zerfressen und von Tigern angebissen, und blutüberströmt und dem Hungertod nah am Verdursten sterben. Sie würden wieder aufwachen, große Schmerzen erdulden, weitertaumeln, weiterkämpfen, Kilometer für Kilometer, Stunde um Stunde. Sie würden in Schlammlöchern nächtigen und Kot von Beuteltieren speisen. Tage- und wochenlang würden sie umherirren, leiden und doch weitermachen, bis sie feststellen mussten, dass die Insel riesig war oder sogar Festland, und die Erde noch nicht von Menschen bevölkert. Sie würden die Hoffnung nicht verlieren, dass der Freitod ihre Rückkehr bewirken könnte.

Benjamin starrte auf das Wasser. Auch auf Inseln gibt es Fata-Morganas, sagte er sich. Dort sind es eben keine blauen Berge, sondern braune Boote.

Martin konnte seinen Blick nicht vom Horizont lassen. Auch in der Prähistorie gibt es Fata-Morganas, dachte er. Dort sind sie nicht allein durch Benjamin wahrnehmbar, sondern auch durch mich.

Das Boot wurde immer größer.

Fata-Morganas sind seltsam, dachte Benjamin. Nähert man sich ihnen, bleiben sie gleich groß, bleibt man an einer Stelle, werden sie größer.

Ich verstehe nicht so viel von Fata-Morganas wie Benjamin, dachte Martin. Aber das hier scheint die Fata-Morgana einer Fata-Morgana zu sein.

Als das Boot ankerte und Männerstimmen wild durcheinander riefen, gaben sie die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Fata-Morganas zugunsten einer möglicherweise sinnvollen Pragmatik auf.

Benjamin beugte sich nach vorne und griff nach seiner Unterhose, um sein Gemächt damit zu bedecken.

Martin bedeckte seins mit seinem Hemd.

Vier Männer kamen durch das Uferwasser gewatet.

Zur Flucht war es zu spät. Zumal sich die Männer unter Umständen im Wald einen Tick besser auskannten. Auch musste man wenigstens die Möglichkeit einräumen, dass sich die Typen in diesen Gewässern geschickter bewegten als man selbst. Auch die Bezwingung der Hügel und Felsen war unter Umständen stärker deren Domäne als die ihre. Es sei denn, sie waren ebenfalls Touristen.

Die Männer kamen näher. Sie hatten mehrfach gefaltete Tücher diagonal um ihre Beine geschlungen, trugen weite, an der Taille mit Kordeln geschnürte Hemden und keine Kopfbedeckungen. Auch Schuhe hatten sie keine an. Ihre Haare waren schwarz und ihre Schnurrbärte ebenso. Ihre Haut war dunkel. Sehr dunkel.

Die gekonnte Art, mit der sie sich bewegen, lässt nicht auf Touristen schließen, dachte Benjamin.

Die Art, wie sie angezogen sind, lässt nicht auf eine Zeit schließen, in der es schon Tourismus gibt, dachte Martin.

Komische Typen, dachten beide.

Mit entschlossenen Mienen schritten sie geradewegs auf die beiden Freunde zu. Ein älterer Mann mit weißem Haar schien das Kommando zu geben. Als sie sahen, wie unbekleidet die beiden Freunde waren, mischte sich Aufregung in ihren Ernst. Wild sprachen sie durcheinander und ihr Anführer verlor kurz die Kontrolle. Einen Meter vor den beiden Freunden erstarrten sie. Der Anführer befahl ihnen etwas, aber sie verharrten wie das Kaninchen vor der Schlange.

Daraufhin schritt er selbst zur Tat. Er ging zu Martin, fasste ihn fest am Arm und zog ihn auf die Beine. Er war einen Kopf kleiner als Martin, aber einen Mann stärker.

Der lediglich hingelegte Lendenschurz fiel herunter.

Die Männer hielten sich die Hände vor die Augen.

„Mataré. Men ki gu kan“, sagte der spitznasige Mann zu Martin.

Martin sah Benjamin fragend an.

Daraufhin wandte sich der kleine Alte an Benjamin: „Kene kingo rurrut mike bar?“

Benjamin blickte ahnungslos von einem Mann zum anderen. Vorsichtig öffneten diese einen Spalt zwischen ihren Fingern.

„Ferengi, ferengi“, murmelte der Alte abschätzig.

„Ferengi?“, fragte Martin und Benjamins Gesichtsausdruck besagte, dass er diese Frage besser nicht gestellt hätte.

„Ferengi, kalaki?“, fragte einer der jungen Männer den Alten.

„Ferengi“, bestätigte Benjamin mit Nachdruck und zog die Blicke auf sich. Er wusste nicht, was das Wort bedeuten sollte, aber so würden die Männer glauben, sie wüssten, mit wem sie es zu tun hatten.

Die Männer brummten verständig. Ihre Mienen spielten zwischen Erleichterung und Angst. Der Alte rief sie zur Ruhe.

Er überlegte, holte Luft, dann buchstabierte er: „Wosasch mersees sao Purtugesasch?“ Er hatte große Mühe mit der Aussprache.

Martin vermutete, dass das letzte Wort das Hauptwort war.

Benjamin vermutete, dass der Mann eine Fremdsprache gesprochen hatte und das letzte Wort das entscheidende gewesen war: „Purtugesasch“, sagte er und nickte. „Ferengi Purtugesasch.“

Jetzt halten sie uns für Ungarn, sagte sich Martin.

Sie sehen zwar nicht ganz so aus wie Russen, sagte sich Benjamin. Aber irgendwoher können sie deren Sprache.

„Hmm“, ließ der Alte verlauten. „Ne bar der ki Gua ne pri?“

Benjamin und Martin schüttelten den Kopf.

„Martin and Benjamin. No Russia“, stellte Benjamin sie vor.

„.Ferenc Puskas. But no Hungary“, fügte Martin eilig an.

„Ferengi Purtugesasch Germany“, verdeutlichte Benjamin.

„Scheiße. Gut. Ballack. Schweinsteiger“, warf Martin hinterher.

Begriffsstutzigkeit allerorten.

„Gulasch?“, fragte Martin.

Gulag, dachte Benjamin.

Die jungen Männer tuschelten.

Der Alte spuckte aus und machte eine Handbewegung, dass sie ihm folgen sollten. Er fuhr seine Begleiter an, weil diese immer noch herumstanden wie die Salzsäulen.

Man ließ ihnen gerade noch die Zeit, sich wieder zu bekleiden, dann wurde man etwas ruppig mit ihnen und zerrte sie zum Boot. Es war immer noch nicht entschieden, ob sie Gäste oder Gefangene dieser Fischer sein würden. Oder vielleicht war es das doch.

Obwohl sie ihre Hosen hochgekrempelt hatten, waren diese wieder Klatschnass. Die Schuhe hielten sie in ihren Händen. Benjamin hatte es geschafft, das Koks beim Waten über Wasser zu halten. Wie ein Soldat sein Gewehr.

Auf dem schlichten Boot fanden sechs Leute gerade so Platz. Man hatte die Netze eingeholt und am Bug standen zwei Eimer mit zappelnden Fischen. Offenbar war man auf dem Heimweg gewesen.

Gleich würden sie also in ihr Dorf kommen. Dort würde sich alles klären. Zumindest für sie beide.

Die zwei jüngsten Kerle, deren Schnurrbärte kaum mehr als ein Flaum waren, ließen sie keine Sekunde aus den Augen. Benjamin bot ihnen Koks an. Verlegen lachten sie ihn aus. Er gönnte sich eine Fingerspitze.

Die anderen Beiden ruderten, der Alte saß vorne und gab die Kommandos. Die vier Passagiere störten sich nicht daran, dass es so langsam ging. Ab und zu klatschte sich einer der Jungen Fahrwasser ins Gesicht. Benjamin und Martin taten es ihm bald nach. Noch war ihre Haut noch nicht ganz so dunkel wie die der Eingeborenen und deshalb sonnenempfindlich. Sie brauchte ständige Kühlung.

Die Küste war fantastisch. Auf dem Türkisblauen Wasser glitzerten die Sonnenstrahlen. Ein Sandstrand reihte sich an den anderen, dahinter schloss dichter Urwaldwuchs an und in der Ferne erhoben sich Berge. Ein leichter Dunst lag über dem kurvigen Horizont. Die Sonne ließ alles in den kräftigsten Farben erstrahlen. Vielleicht, dachten sich die beiden, ist es gar nicht so schlecht, wenn die Zeitmaschine nicht mehr funktioniert.

Die Jungen starrten. Martin und Benjamin starrten zurück.

„Das sind keine Perser“, sagte Martin.

„Nein“, sagte Benjamin.

„Das sind auch keine Mongolen.“

„Nein.“

„Was sind sie dann?“

„Ganz normale Idioten.“

Das Boot schaukelte ziemlich auf den Wellen, vor allem, wenn sie Landzungen zwischen Sichelbuchten umfuhren und deshalb weiter aufs Meer hinaus gelangten. Benjamin wurde etwas schlecht und er ergab sich ins Wasser. Sogleich sprudelte ein Schwarm Fische an die Oberfläche, um sich die Leckereien zu sichern.

Eine größere Welle erfasste das Boot und sie mussten sich an der Reling festklammern. Die Jungen lachten über ihr Getue.

Gottseidank ist es kein Einbaum, dachte Martin. Ihre Technologie ist weiter entwickelt als ihre Gastfreundschaft.

Gottseidank ist das Boot kein ausgehöhlter Stamm, dachte Benjamin. Wir sind also nicht mehr in der Steinzeit.

Einer der Jungen schien etwas zur erblicken. Er sagte etwas zum Alten. Die Ruderer hielten inne. Alle sahen sie in Richtung des Meeres. Benjamin und Martin drehten ihre Hälse. Ein Segelschiff mit breitem Bauch und weißen Segeln kreuzte in zweihundert Metern. Auf die Segel waren große rote Kreuze gemalt.

Eine Ambulanz zu Schiff, dachte Benjamin.

Christliche Fanatiker, dachte Martin.

Der sah zu ihnen herüber und deutete auf das Schiff. Dann wollte er anscheinend, dass sie etwas verstanden. „Purtu“, mühte sich mit dem Wort ab. „Gesesch“, krächzte er. Er sah sie erwartungsvoll an.

Die beiden Freunde nickten verständig. „Ferengi“, sagten sie.

Die berühmte russische Südmeerflotte, dachte Benjamin.

Die Ungarn, dachte Martin. Das große Seefahrervolk.

Das Schiff hielt geradewegs auf die Küste zu. Die beiden Freunde konnten weder einen Hafen, noch eine Festung sehen. Sie konnten sich kaum vorstellen, dass es in Nähe des Strandes ankern würde. Was auch immer die Ungarn oder Russen in diesen Gewässern vorhatten, sie hatten offenbar Kontakt zu den Einheimischen. Sie trieben Handel oder unterjochten die armen Fischer, um ihnen das Christentum oder die Segnungen der Ersten Hilfe näher zu bringen. Schiffe wie diese hatten Martin und Benjamin schon in diversen Piratenfilmen gesehen.

Das Schiff verschwand hinter einer hügeligen Landzunge.

Als ihr Boot jedoch die Landzunge ebenfalls umschippert hatte, war das Schiff nicht mehr zu sehen.

Die nächste Stufe der Fata-Morganas, dachte Benjamin.

Zu einer bestimmten Zeit der Menschheitsgeschichte konnten die Menschen zaubern, dachte Martin.

Doch als sie schließlich einen weiteren ins Wasser ragenden Felsvorsprung umschifften, sahen sie das Schiff wieder. Es war tief in eine beeindruckend breite Bucht eingedrungen, in die sie nun auch einbogen. Je weiter sie fuhren, desto klarer wurde ihnen, dass dies keine Bucht war, sondern die Mündung eines Flusses. Eine Kostprobe des Wassers bestätigte es ihnen. Die Bucht teilte sich schließlich. Sie folgten dem Schiff in die linke Mündung.

„Gua, Gua“, sprach der Alte. Es schien, als redete er mit ihnen.

„No Gua“, sagte Martin. „Ferengi Purtugesasch.“

„Ferengi Gua“, erwiderte der Alte vielwissend.

Wie auch immer, dachten die beiden Freunde.

Die Uferböschung war von Gras begrünt und von Bäumen gesäumt, deren Wurzeln direkt ins Wasser ragten. Strände gab es hier kaum noch, dafür erblickten sie kleinere Fischerdörfer, Ansammlungen von wenigen Häusern, in denen Frauen und Kinder ihren Tätigkeiten und Spielen nachgingen. Fischerboote legten ab oder landeten, manche davon passierten ihr Boot und die Männer grüßten den Alten, ohne sich an den beiden Hellhäutigen aufzuhalten, den er im Gepäck mit sich führte. Man kannte sich hier mit Piraten aus.

Was wohl Nick und Mike gerade machen, fragte sich Martin.

Nick und Mike verpassen was. Zu dumm für sie, dass sie die Maschine gerade zerstören. Das ist Fluch der Karibik in echt.

Zu ihrer Linken erschien die Mündung eines weiteren kleineren Flusses, aber sie folgten dem Hauptstrom.

Die Luft wurde immer dicker, schwüler. Neben der brennenden Hitze der Sonne, machte ihnen nun auch die Luft selbst zu schaffen. Doch das Wasserschaufeln half ihnen dagegen kaum noch. Das Flusswasser war warm und brackig. Schließlich rührten sie es gar nicht mehr an.

Längst war das Schiff außer Reichweite, aber das änderte nichts daran, dass Martin und Benjamin überzeugt davon waren, in das Piratennest gebracht zu werden. Sie würden den Rest ihrer Tage an Bord eines dieser Schiffe verbringen, das harte Leben der Gesetzlosen leben und sich mit leichten Ladies ohne Zähne die Nächte um die Ohren schlagen. Tagsüber hätten sie Pulverdampf in den Nasen und den Geruch von verbranntem Fleisch. Die Geräusche von berstendem Holz, sterbenden Menschen und sich kreuzenden Klingen würden ihnen zur Gewohnheit werden. Sie würden auf Holzbeinen humpeln, nur noch Pökelfleisch und Fisch essen und ungenießbaren Rum trinken.

Vielleicht gab es kein Leben, das für die beiden ungeeigneter war.

Vielleicht hätten wir doch am Strand bleiben sollen, kam Martin plötzlich ein Gedanke. Dort wären wir gemütlich verhungert.

Vielleicht wäre der Rachen eines Hais doch der bessere Ort für mich, erwog Benjamin. Dort wäre ich schneller gestorben.

Beide stellten sie fest, dass sie in den letzten 24 Stunden eine Reihe von Fehlern gemacht hatten. Sie konnten aber nicht mehr sagen, welcher darunter der größte gewesen war. Nur eines wussten sie mit Gewissheit: Dass der jeweils andere diesen begangen hatte.

Ein weiteres Mal teilte sich der Strom, der noch immer zehn Piratenschiffe breit sein mochte. Sie nahmen die rechte Abbiegung.

Die Jungen ihnen gegenüber kannten nun jede Runzel und jede Falte auf ihren Gesichtern, so lange starrten sie sie schon an. Benjamin machte Grimassen, aber sie starrten weiter. Martin redete ihnen freundlich zu, was sie zu bösem Gegacker verleitete. Benjamin gackerte genüsslich mit.

Noch vor kurzer Zeit hätten sie zu dieser Stunde die Hostessen-Agentur angerufen und sich ein Leckerli aus dem Menü bestellt. Die Zeit des Wartens hätten sie mit Zocken und Schniefen verbracht. Dann wäre irgendwann die Klingel gegangen und drei oder vier blendend aussehende Frauen hätten vor ihnen gestanden. Sie konnten nur hoffen, dass es im Piratennest einigermaßen akzeptablen Ersatz gab.

Dann erreichten sie das Ziel ihrer kleinen Bootstour. Am rechten Ufer erschienen, direkt in den Urwald hinein gebaut, die ersten Häuser. Sie unterschieden sich stark von den hölzernen Fischerhütten, welche entlang des Stroms anzutreffen waren. Bis auf ein paar schlichte Bauten unmittelbar am Wasser, waren die Behausungen der Piraten zweistöckig und aus weißgetünchtem Stein. Die Dächer bestanden aus roten Ziegeln und die Fenster zumeist aus Glas. Sie reflektierten beim Vorbeifahren in der Sonne.

Das ganze Ausmaß des Ortes wurde ihnen erst bewusst, als sie mit den Füßen auf Land standen. Über einen kleinen hölzernen Steg waren sie zwischen zwei offenen Handwerkerhäusern auf eine größere Straße gelangt. Dies war kein Dorf, auch kein Piratennest. Es war eine ganze Stadt. Es wimmelte hier nur so vor Menschen.

„Wo sind wir hier?“, fragte Martin seinen Freund.

„Nicht bei Piraten“, erwiderte der.

„Piraten?“, fragte Martin überrascht. „Du meinst Ungarn.“

„Was du meinst, sind Russen.“

„Ferengi Purtugesasch“, sprach der Alte und schubste sie vorwärts.

Die meisten hier waren Eingeborene. Aber man sah auch europäisch aussehende Menschen. Man erkannte sie daran, dass sie allesamt aus der Menge herausragten, weil sie zwei Köpfe größer waren als ihre einheimischen Nachbarn. Und dass sie verwahrloster aussahen.

„Diese Ferengi Purtugesasch sind mir unheimlich“, flüsterte Martin. Die vier Fischer hatten sie in ihre Mitte genommen und ließen sie nicht aus den Augen.

„Möchte auch ungern mit ihnen in einen Topf geworfen werden“, meinte Benjamin ebenso leise.

Sie kamen an einem Markt vorbei, wo Fische, Fleisch und Gemüse feilgeboten wurden. Menschen riefen durcheinander, drängten sich an den Ständen vorbei, gestikulierten. Zwei Männer gerieten in Streit und der eine streckte den anderen mit einem Messer nieder. Leute kamen und brachten den Leichnam fort. Die Geschäfte gingen weiter.

Die beiden Freunde sahen den Alten an. Der blickte seelenruhig zurück. „Bindi do bandu do“, sagte er.

Sie wollten die Szene so schnell wie möglich vergessen und richteten den Blick wieder nach vorn. In diesem Gewusel und Gewimmel hatten es ihre Bewacher schwer, sie immer in ihrer Mitte zu halten. Schließlich kamen sie auf eine Art Allee, an der die Häuser herrschaftlicher und höher wurden. An ihrem Ende strahlte das Weiß einer imposanten Kathedrale. Auf ihrem Vorplatz war ebenfalls ein Markt, wo man Stoffe, Tücher, Kleider und Lederwaren erstehen konnte. In diesem Teil der Stadt waren noch mehr Europäer unterwegs. Hier und da und dort staken ihre Köpfe aus der bunten Masse heraus. Die meisten von ihnen schienen Soldaten zu sein, sie hatten glänzende Helme auf und trugen Lederwämse, manche von ihnen schleppten sogar Brustpanzer mit sich herum. Daneben gab es noch Mönche in braunen Roben, deren Tonsuren durch die Sonne zu hellen Tupfern im dunklen Frisureneinerlei wurden.

Schon wieder Mittelalter, dachte Benjamin entgeistert.

Mike, der Idiot, dachte Martin. Noch nicht mal die Zeit stimmt.

Sie bogen in eine Seitengasse ein, in der nur Frauen bei der Arbeit waren. Sie schienen Nüsse und Früchte zu sortieren und schrien dabei maßlos durcheinander. Sie hatten bunte Tücher an.

Die Frauen hier sind gekleidet wie Inderinnen in der Gegenwart, dachte Martin.

Wenn ich es nicht besser wüsste, dachte Benjamin. Ich würde diese Leute hier für eine Art Inder mit Wachstumshemmung halten.

Nun gelangten sie abermals auf eine größere Straße an deren Ende sich eine weitere, bauähnliche Kathedrale befand.

Diese Leute hier sind keine Hindus. Sie tun nur so, als ob sie Inder wären, sagte sich Benjamin. Ich weiß nicht, was das bringen soll.

Muslime sind die Ferengi und die Purtugesasch auf jeden Fall schon mal nicht, dachte Martin. Persien ist also ausgeschlossen.

Sie schienen an ihrem Ziel angelangt zu sein. Es handelte sich um ein graues, schmales Gebäude, vor dem zwei Soldaten Wache hielten. Der Alte ging zu den Männern hin und krächzte etwas auf deren Sprache, was diese zunächst nicht verstanden. Er musste es mehrfach wiederholen. Dabei zeigte er auf die beiden Freunde.

Dann verstanden ihn die Wachen. Sie kamen direkt auf Martin und Benjamin zu und packten diese an den Schultern. Als diese schon durch die Türe ins Innere des Hauses gebracht werden sollten, begann der Alte zu quengeln und zu jammern. Er hängte sich an einen der Soldaten und versuchte sich wieder in der Fremdsprache. Der Soldat löste sich aus der Umklammerung und warf den Alten zu Boden. Der küsste den Staub und machte ein verzweifeltes Gesicht. Einer der Soldaten nahm einen Beutel, zog Geldstücke heraus und warf sie vor ihn auf den Boden. Alle Fischer stürzten sich auf den Alten.

„Bindi du bando do“, sagte Benjamin.

Die Zweitreisenden

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