Читать книгу Die Zweitreisenden - Urs Rauscher - Страница 4
II
Оглавление„Okay. Klingeln“, sagte Benjamin und fuhr unschlüssig in der Luft über die Klingelleiste.
„Mach schon!“, drängte Martin und stellte sein Bier ab.
„Wo?“
„Irgendwo. Nur nicht ganz oben.“
Benjamin klingelte in der Mitte. Auch er stellte sein Bier ab. Nachdem niemand aufmachte, klingelte er unten.
Sie hatten Glück. Jemand machte ihnen ungefragt auf. Sie traten ins Treppenhaus. Dann aber öffnete sich im ersten Stock eine Tür und eine männliche Stimme rief, wer denn da sei. Sie gingen unter der Treppe in Deckung und stellten sich tot, bis das Licht ausging
„Okay. Jetzt die Jacken aus“, sagte Martin.
Sie streiften die Jacken ab und legten sie unter die Treppe. Nach weiteren fünf Minuten gingen sie im Dunkeln ins oberste Stockwerk. Es gab zwei Wohnungen. Auf der rechten Seite klingelten sie. Den Werkzeugkasten trug Martin unter seinem weiten Wollpulli.
Es dauerte eine Weile, dann machte ihnen ein Mann auf; Typ argloser Vater, breite Zähne, langer Mund, schmales Gesicht, Brille; und über allem: eine gedeihende Halbglatze. „Ja?“
„Wir kommen von unten“, ergriff Benjamin die Initiative. „Unsere Toilette ist verstopft.“
„Von wo kommen sie?“, fragte der Mann verdutzt und rührte sich keinen Fleck.
„Ein Stockwerk tiefer“, sagte Martin. „Wir sind Nachbarn. Wir sind neu eingezogen, vielleicht haben Sie uns deshalb nicht…“
„Mittschneider oder Fläßiger?“
„Mittschneider“, sagte Martin.
„Fläßiger“, sagte Benjamin fast gleichzeitig.
„Er wohnt bei Fläßiger, ich bei Mittschneider“, erklärte Martin dem Mann, der nun sehr verwirrt dreinblickte.
„Wusste gar nicht, dass beide ausgezogen sind…“
„Das kann schnell gehen“, sagte Martin.
Der Mann kratzte sich am Kopf. „Offenbar.“
„Wir müssten mal bei Ihnen einkehren“, insistierte Benjamin mit gequältem Gesichtsausdruck.
„Fäkal“, ergänzte Martin.
Beide guckten sie untröstlich.
Der Mann zuckte angewidert mit dem Mund. „Und in beiden Wohnungen ist die Toilette verstopft?“, wurde er misstrauisch.
„Muss das gleiche Rohr sein“, erklärte Benjamin. „Irgendwie geht gar nichts mehr.“
Voller Ekel zog der Mann die Augenbrauen hoch und fragte: „Und Sie müssen also beide gleichzeitig…?“ Er zeigte mit dem Daumen hinter sich.
„Ja“, sagten die beiden Freunde synchron.
„Na, dann“, brummte der erweichte Familienvater und tat einen Schritt zur Seite.
Martin und Benjamin schoben sich in die enge Wohnung. Als der Mann Martins kastenförmigen Bauch erspähte, fragte er: „Was haben Sie da?“
„Übergewicht“, sagte Martin.
Der Beschwindelte guckte, als müsste er einem Leid tun.
Martin ging als erster auf die Toilette. Als er sich eingesperrt hatte, wollte ihr unverhoffter Gastgeber von Benjamin wissen: „Und wohin gehen Sie, wenn Sie mal…äh?“
„Balkon“, erwiderte Benjamin.
Der Mann hielt sie nun endgültig für Barbaren.
„Haben Sie keinen?“, fragte Benjamin.
Doch der Mann war schon wortlos in die Küche geflohen. Gerade als Benjamin in die Toilette huschen wollte, ging eine Tür auf und ein kleines Mädchen blickte ihn mit schwarzen Kulleraugen an. Er fand einen zermatschten Marsriegel in der Hosentasche und reichte ihn dem Kind. Dann ließ er sich von Martin aufmachen.
Sein Freund hatte bereits das Toilettenfenster aus den Angeln gehoben und den Werkzeugkasten nach draußen gestellt. Jetzt machte er sich dran, seinen Bauch durch das nicht gerade große Fenster zu zwängen. Dieses führte tatsächlich geradewegs hinaus auf das geteerte und mit Kieseln belegte Dach. Gerade als Martin seine Bauchmuskeln erfolgreich bemüht hatte und nach draußen verschwunden war, hörte Benjamin ein heftiges Klopfen und ein ärgerliches Rufen aus dem Wohnungsflur. Auch eine Frauenstimme war zu vernehmen. Er machte einen Satz durch die Luke. Er hatte es geschafft. Das war der Beweis: Er war weniger fett als sein Freund!
Martin erwartete seinen Mitstreiter im Mondschein. Hier oben ging ein unangenehmer Wind. Doch das war ihm egal. Alles fand sich vor wie vermutet. Man musste nur einen halben Meter Spalt und noch einmal etwa so viel Höhenunterschied zwischen den Häusern überspringen, und man war auf dem Dach des Arbeitsamts. Hier befand sich auch ein Aufbau mit einer Tür. Gleich würden sie im Inneren der heiligen Hallen verschwinden.
Es konnte nicht mehr lange dauern, und der hysterische Heimwerker würde die Toilettentüre aufgebrochen haben. Sie mussten also schnell vorgehen. Benjamin öffnete den Werkzeugkasten und nahm sämtliche großen Geräte heraus. Damit bearbeiteten sie die grüne Metalltüre. Oben, unten, links, rechts. Gleichzeitig. Allein. Doch nichts zu machen.
„Wir hätten ein Stemmeisen mitnehmen sollen“, meinte Benjamin entgeistert.
Martin atmete schnell. „Scheiß drauf“, sagte er und deutete auf ein vergittertes Fenster.
Das Gitter ließ sich ohne Probleme entfernen. Das Glas in den Fensterrahmen ebenfalls. Schließlich brachen sie auch den Fensterrahmen heraus. Kurz danach hörten sie die Toilettentüre des Nachbarn bersten. Sie gelangten schneller durch das Fenster als eine Maus in ihr Mauseloch. Drinnen stellten sie sich einmal mehr tot. Nach einer kurzen Verschnaufpause tasteten sie sich langsam im Dunkeln vorwärts.
„Oh, Mann. Wir hätten eine Taschenlampe mitnehmen sollen“, sagte Benjamin. Es klang wie ein Vorwurf. Der ihn selbst ausnahm.
„Du hättest deine Augen mitnehmen sollen“, sagte Martin mit einem Siegerlächeln und schaltete das Licht an. Sie befanden sich in einem Treppenhaus. Ihre Haare waren wieder so durcheinander wie immer. Benjamins Sweatshirt hatte unschöne Staubschlieren.
Aber wie sie aussahen, war für sie jetzt ohne Bedeutung. Denn gerade wurden ihre kühnsten Träume übertroffen: Tatsächlich war keine der Türen verschlossen. Man konnte sich mühelos im gesamten Gebäude bewegen. Martin hatte Recht behalten: Es gab keine Alarmanlage. Grinsend, sich immer wieder ungläubig anschauend, durchstreiften sie die Flure dieses ehrwürdigen Ortes, in dem die Knappen des Nichtstuns zu Rittern der Arbeit geschlagen wurden. Wären sie in die Krypta des Petersdoms eingebrochen, es hätte nicht feierlicher sein können. Genau ein einziges Mal waren sie zuvor hier gewesen. Unter allerdings vollkommen anderen Vorzeichen.
Es roch penetrant nach Putzmittel. Das oberste Stockwerk bestand nur aus Büroräumen und einem Wartesaal. Keine Server, keine Aktenregale, keine Karteikästen. Ein paar Rechner, Schreibtische, Drehstühle, das war alles. Nichts vom dem, wonach sie gesucht hatten. Auch nicht das, wonach Benjamin wohl parallel Ausschau gehalten hatte, denn er offenbarte sich jetzt seinem Freund: „Ich muss pissen.“
„Dann geh halt auf die Toilette“, meinte Martin belustigt und ließ leise ein Konfirmandenblase folgen.
„Hier ist keine“, bemerkte Benjamin mit zunehmender Ungeduld.
„Dann halt ein Stockwerk drunter.“
Doch auch dort fanden sie keine Örtlichkeiten.
„Sorry, Matti“, sagte Benjamin und riss sich den Hosenschlitz auf, sobald sie wieder ihm Treppenhaus waren.
„Oh, Mann“, stöhnte sein Begleiter und schlug die Hände vor die Augen. Dann hörte er ein Plätschern.
Sekunden später stand er neben dem Größeren, der sein Glied abschüttelte.
„Das Bier“, meinte Benjamin entschuldigend.
„Hmm“, grummelte Martin unangenehm berührt und missbrauchte ebenfalls die Stufen.
Als sie sich erleichtert hatten, schlug Benjamin vor, gleich im Keller nach dem Archiv zu suchen, doch Martin beharrte darauf, systematisch vorzugehen. Benjamin spürte noch Reue und kam auf die Aktion von gerade eben zurück. Er meinte, das wäre nicht so schlimm wie den Akt der Zerstörung, den Martin gestern vorgeschlagen hätte. „Is gut“, erwiderte dieser.
Noch bevor sie die Türe zum nächsten Stockwerk aufstießen, warf Martin eine weitaus wichtigere Frage auf: „Wie kommen wir hier eigentlich wieder raus?“
Benjamin blieb stehen: „Das fragst du mich? Das hier war doch deine Idee.“
„Unsere“, bestand Martin.
„Meinetwegen unsere. Trotzdem waren wir zu blöd, uns Gedanken darüber zu machen. Das sollten wir vielleicht jetzt tun.“
„Warum jetzt?“
„Weil wir vielleicht gleich schnell hier raus müssen.“
„Wieso?“ Martin setzte sich auf eine Treppenstufe.
„Weil die Server wahrscheinlich mit einer Alarmanlage verbunden sind. Auf jeden Fall merkt es jemand irgendwo, wenn sie ausgehen.“
Martin stuzte. „Meinst du?“
„Manchmal frag ich mich, ob du überhaupt studiert hast.“
„Danke, Benni. Das tue ich bei dir auch manchmal.“
„Ja?“
„Ja, Herr Historiker. Du bist häufig ganz schön schwer von Begriff. Und viel weißt du inzwischen auch nicht mehr. Außer den Kadern von sämtlichen europäischen Erstligisten.“
„Ja, Herr Philosoph.“ Benjamin hob seine vorspringende Nase. „Es kann halt nicht jeder so belesen sein wie du. Obwohl, du vergisst auch gerne mal was. Zum Beispiel Abspülen und Einkaufen. Was?“
„Oh, ja. Lass uns weiter streiten. Wir haben bis morgen um fünf Zeit. Dann kommt der Hausmeister.“ Martin schnellte in den Stand.
Benjamin klopfte sich die Hose ab; überall Staub und Dreck. Auch er war bereit, seinen Hitzkopf zu kühlen. „Wir finden schon einen Weg. Notfalls wieder über die Dächer.“
„Hehe.“ Martin amüsierte der Gedanke. „Assassin’s Creed für Übergewichtige.“ Er legte seinen Arm auf Benjamins Schulter.
Für einen Moment blickten die blauen Augen des Norwegers gütig auf den gelockten Gefährten hinunter. Es roch nach Urin.
„Okay. Weiter geht’s“, verkündete Benjamin und stieß die Tür auf.
Was sie hier vorfanden, verschlug ihnen die Sprache. Denn auf diesem Stockwerk befanden sich keine Büros, sondern nur leere Hallen. Weiter hinten gelangten sie in einen Raum, der mit nichts als Postkarten gefüllt war; Motive aus aller Welt. Dann fanden sie den Aktenraum. Es waren Akten über Personen; Menschen, die sich arbeitslos gemeldet hatten. Von Servern war immer noch keine Spur.
Das nächste Stockwerk war mit dem vorherigen identisch.
Als sie in ein Stockwerk ohne Fenster gelangt waren, wusste sie, dass sie sich im Keller befanden. Dieser war ebenfalls vollgestopft mit Akten. Sie suchten nach ihren Namen, fanden diese aber nicht. In Papierform waren sie also nicht erfasst worden. „Wie ich gesagt habe“, sah sich Martin bestätigt.
Zu ihrer Überraschung gab es noch ein weiteres Kellergeschoss, erst weiter unten schloss die Treppe engültig ab. Eine gelbgestrichene Tür versprach weitere Räumlichkeiten. Hinter ihr mussten die Server untergebracht sein. Als sie die schwer gehende Türe aufmachten, kam ihnen kein Putzmittelgeruch, sondern der Gestank von Motoröl und versengtem Gummi entgegen. „Mit was betreiben die denn ihre Computer?“, frage Benjamin.
Doch sobald das Neonlicht aufgeflackert war und sich stabilisiert hatte, mussten sie feststellen, dass auch hier keine Computer untergebracht waren. Dieser erste Raum, vielleicht 100 Quadratmeter groß, enthielt nur Stromkabel, Generatoren und mehrere Schaltpulte. Die beiden Freunde sahen sich ratlos an.
Im anschließenden Saal wurde dieser Anblick dann noch getoppt. Dort stand etwas sehr Seltsames: Ein riesiges, rundes metallenes Gerät, das von überall her von dicken Stromkabeln gespeist wurde. Hier war die Luft dicht und warm. Die beiden Freunde sahen sich noch ratloser an.
„Ich kann nicht glauben, dass wir das hier gerade machen“, meinte Benjamin.
„Wir haben schon lange nichts Geiles mehr zusammen gemacht“, bemerkte Martin aufgeregt.
„Ja“, sagte Benjamin wie verzaubert. „Dachte schon, wir bringen’s nicht mehr.“
„Wir sind noch voll im Saft!“, verkündete Martin voller Euphorie.
In der Tat waren die Zeiten, in denen in ihrem Leben etwas passiert war, schon lange vergangen. Der neuen Arbeitslosenpolitik verdankten sie, dass wieder etwas Schwung in ihren angerosteten Alltag kam. Gleichzeitig war ihnen dabei etwas mulmig zumute, denn obwohl keiner von ihnen es wahrnahm, zitterten sie trotz der Wärme. Der Nervenkitzel hatte jetzt erst so richtig begonnen.
„Das ist also der Zentralrechner“, stellte Benjamin etwas skeptisch fest.
„Das ist er“, sagte Martin und machte ein paar Schritte auf das Gerät zu. Er streckte die Hand nach hinten. „Gib mal den Werkzeugkasten her.“
Benjamin, der das kompakte Plastikköfferchen seit ihrem Einstieg getragen hatte, stellte sich neben seinen Freund und schlug es auf.
Martin beachtete es nicht. Noch immer betrachtete fasziniert er das Monstrum von Rechner. „Das ist sie also. Die Akasha-Chronik.“
Der Große sah ihn fragend von der Seite an. „Die was?“
„The All-Seeing-Eye. Die Ideenwelt.“
„Ach!“ Benjamin machte eine wegwerfende Handbewegung. „Philosophen-Geschwätz! Sag, Matti. Was machen wir jetzt?“
„Die Elektronik muss drinnen sein“, beachtete ihn Martin immer noch nicht.
„Matti!“
„Wie?“ Martin drehte sich herum. „Ach so, ja. Wir müssen die erste Schraube finden.“
„Dann los“, drängte Benjamin.
„Nur wie?“
„Warum?“
„Siehst du eine? Ich seh nur Nieten, Schweißnähte.“
Benjamin trat noch näher an die Gerätschaft heran, wagte aber nicht, die matt glänzende Hülle anzufassen. „Du hast Recht.“
Beide gingen sie um das Gehäuse herum. Es hatte einen Umfang von sicher zehn bis fünfzehn Metern, war über zwei Meter hoch. Gerade so passte es in den Kellerraum. Es war aus silbernem Blech gefertigt, hatte ein abgeflachtes Dach und die fast unsichtbaren Nieten verliehen ihm von weitem den Anschein, als wäre es aus einem Guss gefertigt. Es saß unmittelbar auf dem Kellerboden auf. Auch die Stromkabel gingen an den Schnittstellen ansatzlos in das Metall über.
Nachdem ihre Augen das Computergehäuse nach einer Schraube abgesucht hatten, gingen die beiden Freunde daran, es mit Hämmern abzutasten.
Sie waren schon etwa zehn Minuten am Werk, da meinte Martin, eine Veränderung des Geräusches wahrgenommen zu haben. Er demonstrierte es Benjamin, der angestrengt lauschte. „Ja, klar“, stieß dieser aus und deutete auf eine unvernietete Fuge, die rechteckiges Muster darstellte. „Das ist eine Tür.“
„Mensch, Benni“, sagte Martin fasziniert. „Du hast Recht!“ Er klopte nun stärker gegen das Blech.
„Ein Computer mit Eingang“, raunte Benjamin.
Bald schlugen sie wie wild auf die Stelle, die sie als Tür identifiziert hatten. Doch es passierte nichts. Erschöpft und außer Atem, gaben sie schließlich auf.
Sie setzten sich auf den warmen Steinboden und lehten sich an die Kellerwand. Jeder grübelte darüber nach, wie sie die verdammte Tür aufbringen könnten.
„Wie viel Uhr ist es eigentlich?“, fragte sich Benjamin, nur um sich darauf sofort selbst eine Antwort zu geben: Er nahm sein Handy heraus, das er schon zuhause ausgeschaltet hatte. Er gab den PIN ein und sah auf die Uhr. Es war schon nach eins.
„Dann haben wir ja noch ein paar Stunden“, sagte Martin sarkastisch.
„Hej, Matti“, bemerkte Benjamin überrascht. „Ich hab hier unten Empfang!“
In dem Moment hörte man das Geräusch. Er empfing eine SMS.
„Wer ist es?“, wollte Martin wissen und beugte sich über das Display.
Benjamin drückte auf öffnen.
Beide hörten sie ein lautes Klappgeräusch.
Sie hoben die Augen. Die Tür des Mega-Servers war aufgesprungen.
„Das glaub ich jetzt nicht!“, stieß Benjamin aus.
„Was hast du gemacht?“ Martin war wie versteinert.
Benjamin sah verdutzt auf das Display. Dann wieder zur Metalltür des Riesenrechners.
Martin sprang auf und ging direkt auf die Öffnung zu. Gebannt schaute er hinein.
Benjamin konnte den Blick nicht vom Display lösen. „Ich hab… Ich hab die SMS geöffnet.“
„Mit deinem Uralt-Handy?“
„Ja.“
„Was hast du für ein OS drauf?“
„Keine Ahnung. Nick hat mir letztes Jahr mal eins draufgespielt. Damit ich die neuesten Apps verwenden kann.“
„Eine Raubkopie?“
„Vermutlich.“ Benjamin zuckte mit den Achseln. „Ja.“
Eilig stieg Martin ein. Von innen sah der Computer aus wie die Kapsel eines Raumschiffes. Durch einen kleinen Gang konnte man ins Innere gelangen. Im Kern gab es einen winzigen Raum, der Rest war wohl Elektronik. Hier fanden höchstens vier Leute Platz. Gerade genug, um Wartungsarbeiten durchzuführen.
Nach einigem Zögern folge ihm Benjamin. „Und? Kommen wir an die Elektronik ran?“, fragte er.
Martin sah sich um. „Sieht nicht so aus.“
„Hej, hier kann man sich ja hinsetzen“, stellte Benjamin fest. An der Wand gab es eine schmale Bank.
„Sieht aus wie eine Raumkapsel“, sagte Martin unschlüssig.
„Eine sehr unbequeme“, ergänzte Benjamin und ließ sich nieder.
„Oder eine Zeitmaschine“, witzelte sein Freund. „Als Historiker weißt du das doch sicher: Wann wurde die Zeitmaschine erfunden?“
Benjamin sah ihn unberührt an. „Sehr witzig.“
Jetzt saßen sie genauso tatenlos herum wie zuvor. Das einzige, was sie entdeckten, war eine Display-Leiste auf der gegenüberliegenden Seite, ungefähr auf Kopfhöhe. Sie war aus.
Die Metallbank schnitt in ihre Hintern.
Benjamin seufzte. „Wie gerne würde ich jetzt eine rauchen.“
„Oh, ja“, pflichtete ihm Martin bei.
„Wir hätten was mitnehmen sollen.“
„Wer hat eigentlich geschrieben?“, kam Martin auf die SMS zurück.
Benjamin sah nach. Es war eine Werbemail. Als er die SMS löschte, bemerkten beide ein Blinken in ihren Augenwinkeln.
Das schmale Display war angegangen. Es war eine Ziffernleiste. Grün leuchtete eine Acht neben der anderen. Etwa zwanzig Ziffern.
„Mach das nochmal!“, rief Martin fassungslos.
Benjamin tippte auf dem Display herum, aber nichts geschah. Auch als er das Handy ausschaltete, ging die Ziffernleiste nicht mehr aus.
„Probier weiter“, drängte Martin. Dummerweise hatte er sein Smartphone zuhause gelassen.
Benjamin schaltete das Ding wieder an, ging sämtliche Apps durch, löschte SMS, spielte herum. Nichts passierte.
Dann kam er auf die Idee, Nick anzurufen und ihn zu fragen, was für ein OS dieser ihm aufgespielt hatte. Die Nummer hatte er zwar nicht gespeichert, sie dafür aber im Kopf. Er tippte los.
Martin, der die Augen nicht von den Ziffern gelassen hatte, rüttelte plötzlich seinen Freund am Arm. „Jetzt, Benni! Es passiert was!“
Benjamin hob den Blick, ohne das Eintippen der Zahlen zu unterbrechen. Er war jetzt wie in Trance. Gleich würde die letzte Acht ihre Form gewechselt haben. Es erschienen exakt die Zahlen, die er in sein Handy eingegeben hatte.
Sobald die letzte Acht in eine 9 umgesprungen war, begann alles zu vibrieren. Am stärksten vibrierten die beiden Freunde selbst.
Sie konnten kein Wort mehr sagen, nur noch stöhnen und schreien. Nach zwanzig Sekunden erbrachen sie sich synchron.
Dann vibrierten sie so sehr, dass sie die Münder nicht mehr aufbrachten.
Dann vibrierten sie so sehr, dass sie ihre Körper nicht mehr spürten.
Dann vibrierten sie so sehr, dass sie nur noch ein helles Licht sahen.
Schließlich spürten sie einen riesigen Schmerz im halben Körper, aber kein Vibrieren mehr. Es war dunkel.
Es ist dunkel, weil wir tot sind, dachte Martin.
Es ist dunkel, weil der Strom ausgefallen ist, dachte Benjamin.
Es ist dunkel, weil wir die Augen geschlossen haben. Sie bemerkten es zur selben Zeit. Beide schlugen sie die Augen auf.
Martin schloss sie wieder. Schlug sie wieder auf.
Benjamin schloss sie wieder. Schlug sie wieder auf.
Die Raumkapsel vibriert so sehr, dass sie aussieht wie ein trockenes Feld im Sommer, dachte Benjamin.
Die Raumkapsel vibriert so sehr, dass sie aussieht wie ein blauer Himmel und eine Sonne, dachte Martin.
Alles nur Schwingungen, dachte Martin. Demokrit hatte Recht.
Ich hätte keine Drogen nehmen sollen, dachte Benjamin. Mütter haben Recht.
LSD ist nur der Anfang, dachte Martin. Nick hatte Recht.
Man kann die Vergangenheit verstehen, indem man die Zukunft betrachtet, dachte Benjamin. Historiker haben Recht.
Ich habe nur auf einer Körperseite Schmerzen, dachte Benjamin. Die Raumkapsel vibriert auf einer Seite zu langsam.
Ich habe nur auf einer Körperseite Schmerzen, dachte Martin. Ich bin horizontal verdreht drei Meter gegen die vibrierende Kapselwand gefallen.
Ich bin aus drei Metern auf den Bauch gefallen, fasste Benjamin beider Gedanken zusammen. Hier ist ein staubiger Acker und die Sonne scheint. Dies ist der vibrierende Traum einer Raumkapsel auf LSD, aber ich kann trotz meiner Schmerzen aufstehen und meinem Freund, der im selben Traum aus drei Metern auf dem Rücken gelandet ist, auf die Beine helfen.
Als Martin stand, in die Sonne blinzelte und sich die schmerzenden Glieder hielt, stöhnte er: „Danke.“
Benjamin sah in die Ferne. Der Schmerz ließ nach. Er blickte an sich hinab. Er sah aus wie ein Staubwedel nach ausführlichem Gebrauch.
Martin suchte ebenfalls den Horizont ab. „Okay“, sagte er. „Okay.“
„Mann!“, stieß Benjamin aus. „Unfassbar geil das.“
„Wenn mir nicht alles weh tu würde.“
„Wenn es nicht so verdammt heiß und scheiße hier wäre.“
„Okay. Okay“, sagte Martin und sah abwechselnd auf seine Schuhe und auf den unendlichen Acker vor sich.
„Alles klar?“, erkundigte sich Benjamin.
„Ja. Bis auf die Schmerzen“, erwiderte Martin lakonisch.
„Ich muss“, jammerte Benjamin in einem Anflug plötzlicher Verzweiflung. „Das alles noch mal überdenken.“
„Alles?“ Martin hustete. „Dein ganzes Leben?“
„Nur, ob ich mit dir in die Arbeitsagentur eindringen will.“
„Wie meinst du das?“
„Jetzt, wo ich die Zukunft betrachte, würde ich lieber gerne wieder die Vergangenheit verstehen gehen.“
„Du sprichst wirres Zeug. Wir sind immer noch in der Kapsel, nur das sich die Vibration geändert hat. Historiker haben die berühmte Maschine von Demokrit nachgebaut.“
„Historiker“, sagte Benjamin, indem er all seine Gedankenkraft aufbrachte. „Haben Recht. Leider.“
Martin schüttelte Staub aus seinen Locken. „Nein. Demokrit hatte Recht. Historiker haben bei Atlantis und Thule versagt.“
„Scheiß drauf“, meinte Benjamin und wischte sich Staub von den Lippen. „Ich hab Durst. Wir müssen was zu Trinken finden.“
„Oder wir warten, bis die Demokritisierung abgestellt wird.“
„Die Demokritisierung der staubigen Staaten ist unaufhaltbar. Das hat schon Herodot gesagt.“
„Du bist verwirrt. Hast zu lange nichts geraucht. Lass uns gehen.“
„Ich bin ganz klar.“ Mit dem Handrücken wischte sich Benjamin Schweiß von der Stirn. „Warte auf mich!“
Sie banden sich die Pullis um die Hüfte und marschierten los. Die Sonne brannte auf ihre bleichen Gesichter und Nacken. Sie hatten Kopfschmerzen: Benjamin an der Stirn, Martin am Hinterkopf.
Mit einigem Grauen musste Benjamin feststellen, dass er sein Handy nicht mehr bei sich hatte. Es musste ihm aus den zitternden Händen gefallen sein.
„Okay“, begann Martin. „Wo sind wir gelandet? Spanien? Marokko? Indien?“
Benjamin war jetzt schon zu müde und erschöpft, um noch zu laufen. Er blieb stehen und ruhte sich aus. Martin nutzte die Gelegenheit, um mit seinem Urin ein dunkles Muster in den Staub zu malen.
„Ist mir scheißegal“, brummte Benjamin mit zwei Minuten Verzögerung. Ich will was trinken und dann ins Bett.“
„Oh, ja“, flötete Martin ironisch. „Wie konnte ich nur das Bett vergessen?“
Benjamin sah ihn mit schräg gelegtem Kopf an. „Bist du nicht müde?“
Martins Gesicht nahm einen Unmutsausdruck an. „Doch! Bin ich! Aber wenn wir uns jetzt hinlegen, sind wir in ein paar Stunden tot.“
„Ich dachte, dann stellen sie die Maschine ab und wir plumpsen wieder in die Raumkapsel.“
Martin guckte bedenklich. „Da bin ich mir nicht mehr so sicher.“
Als hätte er eine hitzige Diskussion gewonnen, nickte Benjamin mit dem Kopf. Mehr matt als stolz.
Wortlos schleppten sie sich durch die Ödnis. Benjamin wünschte sich, er wäre mit dem Flugzeug nach Nicaragua geflogen worden, um dort als hungerentlohnter Gepäckträger zu arbeiten. Martin wünschte sich, er wäre mit dem Schiff nach Argentinien verbracht worden, um dort ein Dasein als Silberschürfer zu fristen. Er meinte plötzlich, Aguero innigst zu lieben.
Nach etwa einer Stunde Wanderung, die beide so beanspruchte, dass sie immer wieder in die Knie gingen, trafen sie auf so etwas wie einen Weg, der sich durch die Felder wand. Diesem folgten sie. Wo ein Weg war, war auch ein Wille. Will heißen: Wo ein Weg war, war auch ein Willenswesen. Wenn man Menschen so bezeichnen konnte.
Von sich selbst erschrocken, stellte Martin fest, dass er keinen Bock mehr auf Benjamin hatte. Auch Benjamin musste sich zu seiner Schande eingestehen, dass ihm Martin auf den Zeiger ging. Nur mussten sie beide auch einsehen, dass dies der ungünstigste Zeitpunkt war, diesen Befindlichkeiten durch Taten ein Ende zu bereiten. Sobald sie aber auf Hilfe getroffen waren, konnten sie sich trennen, ein Konsulat aufsuchen, nach Deutschland zurückfahren und mit der Auflösung der WG beginnen, bevor man sie, mit Flugzeug, Auto, Bus, Bahn, Schiff oder Raumkapsel irgendwo hin zum Arbeiten schickte.
Nach einer Stunde, oder einer halben Stunde, oder auch einer Viertelstunde, setzten sie sich an den Wegrand. Die Kopfschmerzen ließen nach.
„Oh. Jetzt eine Zigarette“, flehte Benjamin.
Martin nickte müde. „Oder ein Nikotinpflaster.“
„Sag mal, das mit Demokrit war doch nicht dein Ernst.“
„Mein voller Ernst.“
„Wenn ich mich recht erinnere, meinte der nur, dass alles aus Atomen besteht…“
„…die je nach Zustand ihre Erscheinung verändern.“
„Aber durch Schwingung?“
„Das hat er nicht gesagt. Aber die moderne Wissenschaft hat ja bekanntermaßen bewiesen, dass Atome Schwingung sind.“
„Und seine Maschine?“
„Hab ich erfunden.“
„Also doch!“
„Ich war wohl vom Sturz noch etwas… na, ja.“
Benjamin wurde ernst, seine Augen verdüsterten sich. „Aber wo sind wir dann hier, Matti?“
„Keine Ahnung. Ich weiß nur eins: Wir müssen hier weg. Wir müssen so schnell wie möglich nach Hause finden. Es gibt keine Garantie, dass das hier plötzlich aufhört.“
„Das ist ein verdammtes Holo-Deck…“
„…ohne Aussicht auf Rückkehr.“
„Mann!“ Benjamin richtete sich ruckartig auf.
„Was ist?“
„Mein Handy. Es ist noch dort. Ist mir aus der Hand gefallen.“
„Setz dich hin.“ Martin klopfe neben sich Staub auf. „Das ist jetzt das kleinste Problem. Sie wissen, wer wir sind. Na und? Wenn sie uns zurückholen, mit was sollen sie uns noch bestrafen? Was gibt es Schlimmeres als das hier?“
„Hmm. Vielleicht hast du Recht.“
„Ich befürchte eher, sie machen gar nichts.“
„Warum?“
„Warum ist diese Holo-Deck-Maschine dort? Hast du dich das schon gefragt?“
„Nein. Aber warum ich den krassesten Trip meines Lebens habe.“
„Sie ist dort sicher aus einem bestimmten Grund. Dass wir hier gelandet sind, war kein Unfall.“
„Nein?“
„Sicher nicht.“
Benjamin setzte sich und fragte nach einer Weile: „Weißt du, was ich mich immer noch frage?“
Martin schenkte ihm keinen Blick. Er spielte mit zwei Steinen in seiner Hand. „Was?“
„Wo die verdammten Server mit den Daten sind.“
„Hmm.“ Martin überlegte. „Vielleicht brauchen sie die gar nicht.“
„Wie meinst du das?“
„Könnte was mit der Maschine zu tun haben.“
Plötzlich hörte Martin Benjamin schluchzen und blickte ihn an. Dieser war tatsächlich kurz davor, in Tränen auszubrechen.
Er legte die Hand auf die Schulter seines Freundes. „Was ist?“
„Das ist wie ein Alptraum“, jammerte Benjamin. „Ich hätte deinem Vorschlag nie zustimmen dürfen.“
„Wie, bitte?“, reagierte Martin entrüstet. „Du warst genauso Feuer und Flamme wie ich. Das, was dann passiert ist, konnten wir beide nicht ahnen.“
„Stimmt“, sagte Benjamin leise. „Ich bin nur so hundemüde.“
„Was“, ließ Martin seinen Freund aufhorchen. „Ist eigentlich noch in deinen Hosentaschen?“ Er begann, in der eigenen Hose herum zu kramen.
„Keine Ahnung.“ Lustlos steckte Benjamin die Hände in die Taschen. Er fand ein Päckchen Taschentücher, den Hausschlüssel, einen Fünf-Euro Schein.
Martin hatte ebenfalls seinen Schlüssel und ein Knoppers zum Vorschein gebracht. „Das können wir uns teilen“, sagte er.
„Mist“, schimpfte Benjamin.
„Was ist?“
„Ich hatte noch ein Mars.“
„Ist dir das auch aus der Hand gefallen?“
Er schüttelte mit dem Kopf. „Das Mädchen hat es.“
„Welches Mädchen?“
„Die Tocher vom Klomann.“