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Kapitel 1 Frühweises Kind

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Im Jahr 1936 wurde Stefano Gallo im tiefen Süden Kalabriens in einem unwichtigen Landstädtchen in den Aspromonter Bergen, wo sich jeder kennt, geboren.

Der Ort liegt auf 715 Meter über Meer und zählte damals etwa 1250 Einwohner. Die meisten Leute leben von der Landwirtschaft und produzieren vor allem Honig, Käse, Olivenöl und Pilze. Touristisch gibt das Städtchen nicht viel her, im Sommer ist es vor allem Ausgangspunkt für Wanderungen im Parco Nazionale dell’Aspromonte, im Winter daselbst für Wintersport in sehr bescheidenem Rahmen.

Auf seinem Taufschein steht ein zweiter Vorname: Silvio. Traditionellerweise geben die kalabrischen Eltern ihren Kindern zwei oder drei Vornamen von Verwandten und manchmal von Heiligen. Der Name Stefano ist derselbe des Vaters, der Stefano Paolo Gallo hiess, und Silvio wurde von der Mutter, der Stella Maria Gallo, geborene Simeone, aus Dankbarkeit an ihren Vater, den längst verstorbenen Silvio Simeone, gewählt.

Stefano junior war der Erstgeborene der jungen Familie. Später folgten seine Schwester Maria Alessia und sein Bruder Andrea Paolo. Den Eltern war gleich bei der Geburt aufgefallen, dass der Drittgeborene von dunklerer Hautfarbe, grösser und schwerer war als sein Bruder und seine Schwester. Müsste wegen der Gene vonseiten meines Nonnos sein, meinte der stolze Vater Stefano Paolo Gallo, und Mutter Stella Maria lächelte dazu bestätigend.

Sein Vater war gelernter Automechaniker und der Fahrer und Besitzer des regionalen Linienbusses. Das kam so: Da er bereits eine kleine Garage und eine Tankstelle besass, wurde er nach mehrfachen Besprechungen und Evaluationen der dortigen Bürgermeister mit der für die Bergregion neuartigen Dienstleistung eines Busbetriebs betraut. Der offizielle Auftrag der regionalen Behörden bestand in einer Art von Sammeldienst für die in den abgelegenen Bergdörfern lebenden Menschen bis hinunter ans Meer ins rund 35 Kilometer entfernte Wirtschaftszentrum Réggio. Denn die Abwanderung der jungen Bevölkerung mangels geeigneter Berufsaussichten war beträchtlich, sodass es nur noch vereinzelt Lebensmittelläden und Händler gab, was wiederum hiess, dass sich die wenigen noch dort oben lebenden Leute in Réggio mit den im Städtchen nicht angebotenen Waren versorgen mussten. Und weil es sich für die Hauptpoststelle wegen der wenigen Briefe nicht lohnte, jeden Tag einen Postbeamten in die fernen Täler zu schicken, brachte Vater Stefano Paolo Gallo die abgehende Post nach Réggio und die ankommende zurück in die Berge. Während seiner Dienstzeit trug er als eine Art Uniform stets einen konventionellen, dunkelblauen Arbeitskittel.

Nebenbei amtete er auch als ehrenamtlicher Giudice di Pace seiner Gemeinde. Dieses Amt als Friedensrichter verschaffte ihm ein wenig Ansehen, aber auch vereinzelt Verachtung, vor allem dann, wenn er gegen eine ihm bekannte Person Stellung beziehen und urteilen musste. Manchmal ging es um Jäger, die ausserhalb der offiziellen Jagdsaison ein Wild erlegten. Wenn es sich dann um einen armen Bauern handelte, liess er schon mal Gnade vor Recht ergehen. Ein andermal musste er bei Familienstreitigkeiten einschreiten. Dank seines Berufs als Busfahrer besass er gute Menschenkenntnisse, was ihm in den meisten Fällen half, gerecht und ausgewogen zu urteilen.

Als Stefano junior in die Schule kam, durfte er ab und zu seinen Vater im Bus nach Réggio begleiten. Stefano junior war ein äusserst aufgewecktes Kind und bereitete seinen Eltern schon mal Sorgen, weil sie mit ihm nicht klar kamen. Auf einer der Fahrten über die kurvenreiche Strasse ans Meer hinunter, als keine Passagiere zugestiegen waren, bat er seinen Vater während der fast einstündigen Fahrt, einmal am Steuer drehen zu dürfen. Niemals, war die unumstössliche Antwort. Der Kleine blieb zuerst ruhig auf dem Sitz neben seinem Vater, was diesen irritierte, doch dann begann er doch noch zu zwängeln, wie schon so oft, wenn er nicht tun durfte, was er wollte. Sein Gesicht war röter als rot angelaufen. «Also gut, hör schon auf zu greinen, stell dich neben mich, um Gottes Willen.» Und so hatte der kleine Stefano wieder einmal gewonnen. Mit grosser Genugtuung spürte und beobachtete er, wie sich das aus seiner Kindessicht gigantische Fahrzeug nach links oder rechts bewegte, sobald er am Steuerrad drehte. Natürlich passierte nichts, denn der Vater bremste mit dem Fuss auf dem Bremspedal ab und hielt sicherheitshalber das Steuer mit einer Hand unter Kontrolle. Stefano junior fühlte sich grossartig und in seinem Übermut nannte er sich einen Helden, denn wer von seinen Schulkameraden hatte schon mal so ein Ungetüm von Bus eigenhändig gelenkt. Was er ihnen dann auch anderntags unter die Nase rieb.

Seine Mutter, Donna Stella wurde sie allenthalben respektvoll genannt, war Hausfrau, wie es sich in katholischen Familien auf dem Land gehörte. Seit dem Tod ihrer Mutter kleidete sie sich traditionell in Schwarz. Die Möglichkeit, einen Beruf zu erlernen oder ein Studium zu absolvieren, waren ihr nicht vergönnt. Neben dem Haushalt und der Erziehung ihrer drei Kinder bediente sie bei Abwesenheit ihres Mannes die Tankstelle vor ihrem Haus, die einzige weit und breit. Wenn Not am Mann war, half sie auch mal dem Pfarrer in der Kirche bei der Reinigung oder dem Umstellen der Stühle und dem Aufstellen von Ständen, wenn es sich um einen der häufigen, kirchlichen Festanlässe handelte.

Das Leben dort oben war geradezu perfekt. Die Ortsstrassen wurden regelmässig gereinigt, die Abfuhr des Kehrichts funktionierte, anders als im entfernten Neapel, die verbliebenen Einwohner verdienten gut genug, um sich ein zwar bescheidenes, dafür ein eigenes Häuschen leisten zu können, in den Gärten blühten Blumen und das Gemüse wuchs unbändig in die Höhe, die Alten und Dürftigen wurden finanziell mit einer anständigen Rente von der Gemeinde unterstützt, wer kein eigenes Haus mehr hatte, konnte ins gemeindeeigene Altersheim ziehen, jeder arbeitsfähige Einwohner ging einer Arbeit nach, es gab keine Arbeitslosen.

Stefano Gallo senior fragte sich manchmal, wie dies alles finanzierbar ist. Mit den Gemeindesteuern allein war dieses heile Leben hier in dieser Abgeschiedenheit sicher nicht möglich. Es musste das Verdienst des beliebten Sindaco sein. Der Bürgermeister war reich, wohnte in einer hoch über dem Städchen thronenden Villa und fuhr als einziger Hiesiger einen Ferrari. Woher er derart viel Geld hatte, wusste niemand. Aber am besten fragte man sich solche Sachen erst gar nicht, solange für alle so fürstlich gesorgt wurde.

In diesem Städtchen befanden sich nur zwei nennenswerte Läden, dafür zwei ganz besondere. Zum einen ein Eisenwarengeschäft, wo man alles kriegen konnte. Die Auswahl war grösser als in jedem andern Ort, sogar umfassender als in Réggio, immerhin die Haupstadt der Region Kalabrien. Wieso das so war, wusste niemand genau. Man fragte auch nicht nach den Gründen. Die Käufer stammten nicht nur von hier sondern von weit herum, sogar von den Küstenorten. Man fand hier halt einfach alles, von einer einzelnen Schraube bis zu Mähdreschern. Der Laden lief hervorragend. Der Besitzer musste inzwischen Millionär geworden sein, sagte sich Stefano senior, der sich auch hier eindeckte, wenn ums Haus herum etwas geflickt werden musste.

Ein anderer erstaunlicher Laden, eine Bäckerei, lief ebenfalls ausgezeichnet. Das Brot und die Panini immer knusprig, die Torten immer wohlschmeckend und frisch. Die Backstubeneinrichtung und der Verkaufsladen wurden erst vor einem Jahr gänzlich erneuert. In einer Ecke befanden sich Stehtische, an denen man einen herrlich duftenden Espresso schlürfen konnte, musste man mal warten, bis man an der Reihe war. Denn auch hier stammten viele Kunden von weit herum. Stefano senior hatte schon mehrmals einen Lieferwagen eines bekannten Strandhotels unten am Meer vor dem Laden stehen gesehen. Wieso diese Bäckerei so erfolgreich war und sich gerade hier in diesem verwunschenen Städtchen befand, wusste niemand. Man fragte auch besser nicht danach. Es ging einem ja äusserst gut.

Das gesellschaftliche Leben beschränkte sich auf das einzige Lokal am Ort, dem Caffè dello Sport, den sonntäglichen Besuch der Kirche, die Festlichkeiten an den zahlreichen katholischen Feiertagen, die raren Besuche der jungen Abgewanderten, die gelegentliche gemeinsame Einkaufs-Busfahrt nach Réggio, den gemütlichen Schwatz über den Gartenzaun hinweg und natürlich aufs Zuhause in der guten Stube vor dem Fernseher. In jedem Haus lief er ununterbrochen von frühmorgens nach dem Aufstehen bis spätabends vor dem Zubettgehen. Auch wenn sich niemand im Zimmer aufhielt, er lief. Das gehörte sich so und basta.

Im Caffè dello Sport verkehrten nur Männer. Auf der ersten Etage befand sich ein kleiner Saal, der manchmal für Hochzeiten oder Vereinsanlässe gemietet wurde. Im zweiten Stock lagen vier sehr einfach eingerichtete Zimmer mit Lavabo für die wenigen Touristen, die es ab und zu hierhin verschlug. Das gemeinsam genutzte Badezimmer mit WC befand sich auf dem Flur. Die einzige Frau im Haus war die blonde Serviertochter Giulia. Obschon sie ihre Reize sehr offenherzig zeigte, liess sie sich nie von einem Mann betatschen. Tat dies einer trotzdem, wusste am nächsten Tag die ganze Gemeinde Bescheid. Dies verhiess für den Flegel selbstverständlich Schmach. Immer lief eine Partita di calcio oder eine Telenovela auf dem grossflächigen TV-Gerät über der Bar. Auch wenn niemand zuhörte.

Wie bereits erwähnt, war Stefano junior ein äusserst aufgeweckter Junge. Er gab nie Ruhe. Er schien nie müde zu sein. In der Schule zeigte sich schnell, dass er lernfreudig war und über eine schnelle Auffassungsgabe verfügte. Sein IQ wurde zwar nie offiziell gemessen, doch seine Primarlehrerin beurteilte seine Intelligenz um einiges über dem Durchschnitt seiner Klasse. Heutige fortschrittliche Eltern aus Ländern des Westens wie den USA, Deutschland, der Schweiz oder Frankreich würden einen Sohn vom Kaliber eines Stefano wohl ziemlich schnell zu einem Psychiater schicken und ihn auf ADHS überprüfen lassen. Stefano wäre auf alle Fälle ein solcher Fall gewesen. Hätte man ihm Ritalin oder ein ähnliches Medikament zur Reduzierung seiner Hyperaktivität verabreicht, wäre er wohl nie das geworden, was er schlussendlich in seinem Leben erreicht hat. Ob eine solche Behandlung zu jener Zeit für die Allgemeinheit beziehungsweise für Italien in der Zukunft positiv oder negativ ausgefallen wäre, liess bis heute keine übereinstimmende Meinung unter Journalisten wie unter Politikern erkennen.

Seinem unermüdlichen Drang nach Aktivität entsprangen auch etliche lustige und blöde Streiche, die er meist zusammen mit Schulkameraden ausheckte. So jener mit dem Portemonnaie, der weltweit wohl am meisten vorkommt. Wenn die Buben hinter einer Hecke kauerten, die Schnur, die am Geldbeutel draussen auf dem Trottoir befestigt war, mit beiden Händen festhielten und darauf warteten, dass ein Passant ihn entdecken und sich danach bücken würde, kicherten sie vor sich hin. Bückte sich dann einer, zogen sie schnell an der Schnur und der Passant griff ins Leere und staunte. Die Buben rannten dann lachend davon, bevor sie sich trauten, dasselbe Spielchen ein weiteres Mal zu spielen. Und wenn man übertreibt, dann folgt meistens die Strafe. Einer der Passanten, der sich nach dem Portemonnaie gebückt hatte, war niemand anders als der dortige Carabiniere. Es kam so. Von weitem beobachtete er, wie eine Kinderhand ein Portemonnaie auf das Trottoir legte. Er wollte zwar einen andern Weg einschlagen, änderte jedoch seine Meinung und näherte sich dem Geldbeutel, bückte sich allerdings nicht, sondern griff hurtig hinter das Gebüsch und packte Stefano am Schopf. Stefano schrie vor Schmerz. Der Polizist liess ihn los und verabreichte ihm gleich noch eine saftige Ohrfeige, begleitet von belehrenden Worten. Stefano weinte nicht lange, die Blamage war schnell überwunden. Allerdings hoffte er in so einem Fall inniglich, dass der Carabiniere seinen Eltern nichts davon erzählen würde.

Er war fast immer der Anführer. Bei der Ausübung solcher Streiche kam es auch vor, dass alle Buben erwischt und die Eltern informiert wurden, was zu barschen Zurechtweisungen und unangenehmen Strafen wie Zimmerarrest führen konnte. Wenn sich die Kameraden dann am nächsten Tag in der Schule wieder trafen, gabs für Stefano, den Anführer, zur Strafe, dass sie wegen ihm verpfiffen worden waren, auch mal Haue. Dagegen konnte er sich schwerlich wehren, war er doch der Kleinste und Schwächste unter ihnen. Er ertrug es jedes Mal mit Fassung. Seine Mutter fragte ihn in solchen Fällen bei seiner Heimkehr allerdings, wieso er eine blutunterlaufene Strieme auf dem Arm oder ein andermal eine blutverkrustete Schramme auf seiner Wange hatte. Um passende Ausreden war Stefano nie verlegen. Dass er zusammengeschlagen worden war, hätte er auf alle Fälle nie und nimmer zugegeben. Also tischte er Lehrern und Eltern, je nach Situation, Lügen auf. Auch im Verdrehen von Tatsachen war er grossartig.

Selbst wenn er hochintelligent war, und dessen war er sich selber schon in seinem noch jungen Alter sicher, litt er unter seiner relativen Kleinwüchsigkeit. Alle gleichaltrigen Kameraden waren grösser als er. Selbst im Vergleich zu den Mädchen schnitt er in Bezug auf die Körpergrösse schlecht ab. Die einzige Schulfreundin, die er in der Primarschule hatte, war die kleine, mollige Camilla, Tochter eines Bauern unten im schattigen Tal. Alle andern Mädchen, alle attraktiver und grösser als Camilla, suchten sich die gross gewachsenen Knaben aus. Das nagte zwar zeitweise an seinem Selbstwertgefühl, doch er kompensierte diese peinlichen Seelenprobleme, deren er sich selber vage bewusst war, mit seiner geistigen Überlegenheit und seinen geistreichen Anschauungen. Tauchten in der Schule Probleme zwischen rivalisierenden Banden oder zwischen Lehrer- und Schülerschaft auf, war er schnell zur Stelle und schlichtete den Streit. Wieso er dies so einfach schaffte, ist schwer zu sagen. Auf alle Fälle besass er eine überhöhte Fähigkeit zu kommunizieren. Er fand immer die richtigen Worte, um alle von seinen Argumenten zu überzeugen, und war deshalb auch fast überall beliebt. Selbst der Schulleiter wunderte sich und wäre froh gewesen, hätte er ähnliche Fähigkeiten gehabt, um die immer wieder auftretenden Randale beilegen zu können.

Stefano lebte aber nicht so in den Tag hinein, wie das die meisten andern Kinder in diesem Alter tun. Er stellte immer wieder Fragen. Wieso ist das so? Warum hat man nichts unternommen? Woran lag es, dass es schief ging? Wäre es nicht möglich gewesen zu helfen, hätte man sich so oder so verhalten. Je älter er wurde, desto intensiver beschäftigte er sich mit unklaren Dingen und Vorkommnissen, die er in seinem Kindesalter noch nicht verstehen konnte.

Eigentlich sah er in jedem Erwachsenen eine Respektsperson. Er wurde dazu erzogen, Erwachsene zu achten. Wäre das so einfach gewesen, er wäre dabei geblieben. Weil er jedoch dauernd alles um sich herum beobachtete und zu beurteilen versuchte, begann er langsam aber sicher zu bezweifeln, dass Erwachsene alles richtig machten.

So sah er eines Tages, als er gerade von der Schule kam, den Pfarrer leicht torkelnd aus dem Caffè dello Sport treten. Er konnte kaum aufrecht gehen. Ein anderer Mann folgte ihm und stützte ihn, um so zurück zur Kirche zu gehen. Was sollte Stefano davon halten? Ein Pfarrer, der am Sonntag das Heil versprach, betrank sich wie ein armseliger Lavoratore. Stefano war sich wegen solchen und ähnlichen Beobachtungen plötzlich nicht mehr sicher, ob die Erwachsenen tatsächlich alles richtig machen würden.

Eine andere Begebenheit betraf den hoch geschätzten Sindaco, den Bürgermeister. Stefano sass eines Nachmittags allein draussen auf dem Pausenplatz auf dem äussersten Mauerabschnitt zur Strasse hin. Die andern Kinder waren bereits auf dem Nachhauseweg. Was ihm sofort auffiel, war der rote Ferrari. Dass der Sindaco einen Ferrari fuhr, wusste er von seinem Vater. Der Wagen schien zu schwanken. Im Innern des Traumautos bemerkte der kleine Stefano, dass sich etwas bewegte. Er schaute genauer hin, hob die Hand vor die Augen, um trotz tief stehender Sonne besser zu sehen, und entdeckte eine blonde Frauenmähne am untern Rand des Fahrerfensters. Erst wollte er hinrennen und die Frau retten, denn er dachte, sie hätte Probleme wegen dieser etwas ungewöhnlichen Position. Zum Glück hielt er sich gerade lang genug zurück, denn auf der andern Seite öffnete sich die Tür und der Bürgermeister stieg aus, stopfte sein Hemd in die Hose, zog die Hose hoch und richtete sich die Krawatte. In der Zwischenzeit verschwand der Blondschopf vom ihm zugewandten Fenster, erschien dann allerdings hinter der Frontscheibe, und wie, nein, das konnte doch nicht sein, er sah ihre Brüste, ja, es waren ihre Brüste, noch fülliger als die seiner Mutter. Was hatte das zu bedeuten? Dumm war er ja nicht, schliesslich las er jeden Tag die Titel des Corriere auf dem Stubentisch. Da stand auch schon mal etwas wie ‹Frau von Arzt vergewaltigt›. Jetzt war er sich sicher, dass der ehrenwerte Sindaco eine Frau vergewaltigt hatte. Dass er das nicht durfte, war ihm klar. Wenn er sich recht erinnerte, hätte er ihn bei der Polizei anzeigen müssen. Seine Eltern hatten ihm beigebracht, dass er verbotene Dinge, die er beobachtete, melden müsse. Aber den Sindaco anzeigen? Niemals! Noch tanzten die Gedanken wirr in seinem Kopf herum, als sich auch die linke Autotür öffnete und sich die Blondine aus dem Sportwagen herauszwängte, auf ihren Aggressor zuging und ihm keine Ohrfeige verpasste, wie er das spontan vermutet hatte, sondern ihn umarmte und küsste. Was sollte Stefano von so einer Beobachtung halten. Er kannte die blonde Frau, es war die Serviertochter des Caffè dello Sport. Was Stefano nicht verstand, war, dass der Sindaco doch verheiratet war und sechs Kinder hatte. Wie war das zu vereinbaren? Aber Stefano erinnerte sich sofort wieder an den Zeitungsartikel und wusste nun genau, dass dies keine Vergewaltigung war, weil sich die Frau nicht gewehrt hatte. Er vermutete, dass die beiden etwas Unrechtes getan hatten. Plötzlich schielte der Sindaco nach ihm. Er wollte wegrennen, doch seine Beine versagten, er blieb einfach sitzen und bekam Angst, denn inzwischen bewegte sich der Bürgermeister auf ihn zu. «Du bist doch der Älteste der Gallos, nicht wahr?»

Stefano nickte.

«Wieso hast du uns die ganze Zeit angegafft?»

Stefano hob und senkte seine Achseln.

«Hast du vielleicht irgendetwas Besonderes beobachtet?»

Stefano schüttelte den Kopf.

«Kannst du nicht sprechen? Bist du taubstumm? Haben dich deine Eltern nicht dazu erzogen, Erwachsene zu respektieren und ihnen zu antworten, wenn sie eine Frage stellen?»

Mit Verzögerung rutschte ihm ein zaghaftes «Ja, doch» heraus.

«Und wie lautet deine Antwort auf meine Frage, die ich dir vorhin gestellt habe?»

«Ich habe den Himmel und die Vögel beobachtet.»

«Das will ich doch hoffen. Hier, nimm, kannst dir beim Bäcker eine Süssigkeit kaufen. Brauchst deinen Eltern ja nichts davon zu sagen. Gell?»

Stefano nickte und der Sindaco zeigte ihm einen warnenden Zeigefinger und kehrte zu der Frau zurück, gab ihr einen leichten Klaps auf den Hintern, stieg in seinen Boliden und fuhr davon. Die Frau ging beschwingten Schrittes die nächste Gasse hinunter in Richtung Caffè dello Sport. Stefano blieb verblüfft zurück. Er verzichtete auf eine Süssigkeit aus der Bäckerei, denn die paar Lire, die ihm in die Hand gedrückt worden waren, wollte er sparen.

Zuhause würde er diese Beobachtung seiner Mutter mitteilen. Doch die Mutter war ausnahmsweise nicht zuhause und so verschob er, was er vorgehabt hatte. Stattdessen drängte ihn eine andere Frage, die er schon längere Zeit mit sich herumtrug. Als seine Mutter zum Nachtessen zurück kam, die Mahlzeit hatte sie im Voraus zubereitet, stellte er ihr schliesslich überraschend folgende Frage: «Mamma, wer ist der grosse, dunkelhäutige Mann, der jeden Dienstag zu Besuch kommt? Ist es ein Onkel?»

«Caro Stefano, nein, kein Onkel, es ist ein Freund deines Vaters aus Réggio.»

«Was macht er hier bei uns?»

«Er ist nicht nur ein Freund deines Vaters, er hat viele Freunde in der Stadt.»

«D’accordo, aber was macht er bei uns?»

«Das kann ich dir leider nicht sagen, das würdest du noch nicht verstehen. Wenn du grösser bist, wirst du alles erfahren. Finito jetzt mit der Fragerei, wir werden gleich essen, geh und wasch deine Hände.»

Diese unbeantworteten Fragen stachelten ihn zusätzlich an, noch mehr über die Erwachsenen zu erfahren. Lange brauchte er darauf nicht zu warten. Eine Woche später ereignete sich eine Katastrophe. Es war kurz vor dem Abendessen.

*

«Mamma, wo ist Papà?»

«Mein Sohn, liebe Maria, geliebter Andrea, setzt euch bitte auf das Sofa, ich habe euch etwas Schreckliches mitzuteilen. Entschuldigt meine Tränen, ich kann kaum sprechen. Euer lieber Papà ist verunfallt. Er kommt nicht mehr zurück.»

Bedrückende Stille.

«Mit dem Bus?», versuchte Stefano schüchtern und schockiert zugleich herauszufinden.

«Nein, der Bus steht in der Garage. Nein, es war ein Unfall. Im Wald.»

«Im Wald? Papà im Wald? Der war doch noch nie dort.» Schluchzend versteckte Maria ihr Gesicht hinter ihren Händen.

«Der Carabiniere hat es aber so gesagt. Er sagte, es sei ein Jagdunfall gewesen.»

«Ich glaube das nicht! Papà und Jagen, gehts noch?», kam die kurze und klare Erwiderung des Ältesten.

Andrea kehrte verbittert in sein Zimmer zurück. Mamma und Maria lagen sich schluchzend in den Armen. Stefano jedoch blieb einigermassen cool, traurig zwar, denn er hatte seinen Vater geliebt und verehrt. Sein kindliches Gemüt sah in ihm einen Helden, denn wer einen riesigen Bus durch all die Kurven hinunter ans Meer fahren konnte, musste eine ganz besondere Person sein. Und wenn er mit seinem Vater im Städtchen unterwegs war, staunte er immer wieder, wie respektvoll ihn die Passanten begrüssten.

Jetzt erinnerte er sich an die verschiedenen Zeitungsberichte über Jagdunfälle. Jüngst las er in einem Artikel, dass derartige Fälle zugenommen hätten. Und dies immer in den Wäldern der Aspromonter Berge. Zudem hatte er mitbekommen, dass der Barbiere von der Via Alta letzte Woche unter noch ungeklärten Umständen im Wald ums Leben gekommen sei. Auch der Barbiere konnte kein Jäger gewesen sein wegen seines steifen linken Beins. Und jetzt sein Vater. Da stimmte etwas nicht. Für Stefano spielte die Welt verrückt. Er war untröstlich. Er war wütend. Sein Geist erwachte und er begann zu verstehen, dass hinter dem Vorhang von Religion und Rechtschaffenheit eine geheimnisvolle Kraft das Leben der Menschen lenkte. Er legte sich auf sein Bett, starrte an die Decke und überlegte hin und her, wie er das schon oft gemacht hatte, wenn er einem Problem auf die Spur kommen wollte. Aber an diesem Tag fand er keine plausible Erklärung, es sei denn, dachte er einen Moment lang, der liebe Gott hätte seinen Papà zu sich geholt. Das waren genau die Worte, die auch seine Mamma gebraucht hatte. Wenn, dann wieso? Stefano zweifelte an solch tröstenden Worten, die überhaupt keine richtige Erklärung brachten.

Tage später. «Mamma, ich habe gesehen, wie du vorhin zusammen mit dem Freund meines verstorbenen Vaters aus dem Schlafzimmer gekommen bist. Was soll das? Ist er einer wie der Sindaco?»

«Der Sindaco, wieso?»

«Nun ja, vor ein paar Wochen habe ich gesehen, wie er die Serviertochter des Caffè dello Sport in seinem Ferrari umarmt und geküsst hatte. Sag niemanden, dass ich es dir verraten habe, denn ich habe ihm versprochen, nichts auszuplaudern.»

Die Situation der Mutter war in diesem Moment äusserst peinlich. Sollte sie ihrem Ältesten, der die Primarschule bald verlassen würde, die ganze Situation erklären oder weiterhin Märchen statt die Wahrheit erzählen? Sie nahm einen Anlauf und sagte: «Caro mio, du kannst es vielleicht noch nicht verstehen, aber ich werde versuchen, es dir zu erklären. Erwachsene Menschen, und bald gehörst du auch zu ihnen, brauchen Liebe, körperliche Liebe, Umarmungen, Küsse und so. Ich habe auch dich gesehen, als du deiner Schulfreundin die Hand gedrückt hast. Hast du ihr im Versteckten nicht auch einmal ein Küsschen gegeben? Wie immer, ja, ich habe den Freund deines Vaters im Schlafzimmer umarmt, weil ich nicht wollte, dass uns jemand sieht. Da dein Vater nicht mehr hier ist und ich Lust auf die Berührung eines Mannes hatte, habe ich mich ihm hingegeben. Denke jetzt bitte nicht, dass ich eine Schlechte bin. Es ist einfach so. Versuch mich zu verstehen. Bitte!»

Und völlig unerwartet wollte er auch noch wissen, wieso sein kleiner Bruder Andrea eine dunklere Hautfarbe als er und seine Schwester Maria und pechschwarze Haare hatte.

Perplex ob dieser seltsamen und heiklen Frage ihres Ältesten, kam ihre Antwort nur zögernd: «Äh, weisst du, lieber Stefano, äh, das hat mit deinem Urgrossvater väterlicherseits zu tun. Er war von dunkler Hautfarbe und hatte ganz schwarze Haare. Man spricht dann von Genen, die sich, äh, manchmal erst nach Generationen auf spätere Kinder übertragen. Andrea hat diese Gene von seinem Urgrossvater in sich. Verstehst du?»

«Bene» war sein letztes Wort, bevor er sich in sein Zimmer zurückzog und ein weiteres Mal zu grübeln begann. Meine Mutter eine Schlechte? Nein, niemals, sie ist immer lieb zu allen. Der Mann ein Schlimmer? Kaum, er war schliesslich der Freund meines Vaters und grüsste mich immer liebevoll wie ein Onkel. War mein Vater ein Schlechter? Ich wüsste nicht weshalb. Aber man hat ihn erschossen, im Wald draussen. Hat er vielleicht doch etwas Ungutes getan? Lieber Gott, sag mir bitte, dass das nicht wahr ist, dass alles recht ist und behüte bitte meine Mutter.

*

Am nächsten Tag fand die Übergabe der Abschlusszeugnisse der Primarschule statt. Stefano Gallo nahm das Zeugnis aus den Händen des Schulrektors in Empfang, bedankte sich höflich und stellte sich zurück in die Reihe der Schulabgänger, die noch auf ihre Abschlusszeugnisse warteten. Nebst den Eltern war auch der Sindaco anwesend. Stefano wurde vom Rektor ganz speziell gelobt, weil er den höchsten Notendurchschnitt aller erreicht hatte. Als Belohnung erhielt er ein dickes, reich mit Porträts, Sportstätten und Wohnblocks bebildertes Buch über die Geschichte der Ehrenwerten Gesellschaft. So hiess der Titel des Buchs. Man könne nicht früh genug beginnen, sich in der Welt der Erwachsenen zurechtzufinden, meinte er als Kommentar bei der Übergabe.

Und der Sindaco zwinkerte ihm zu und ergänzte: «Du wirst Antworten finden über das Leben der Erwachsenen im Allgemeinen, wie sie denken und fühlen, oder über das Funktionieren einer Gemeinde wie der unseren und Italiens überhaupt, über das Gestern und das Heute, wie lebte man früher und was hat sich bis heute verändert, du wirst darin erfahren, was Ökonomie und Politik bedeuten, ob es für junge Menschen besser ist, einen handwerklichen Beruf zu wählen oder ein Studium zu beginnen, du wirst leichter verstehen, warum man manchmal keine Erklärung findet darüber, weshalb Leute bei Unfällen sterben, ohne dass die Ursache aufgeklärt werden kann. Es ist darin auch von der Liebe zwischen Mann und Frau die Rede. Es gibt allerdings ein paar schwierige Passagen, die du mehr als einmal lesen musst, bis du sie verstanden hast. Dieses Buch öffnet dir den Weg ins Erwachsensein. Ich wünsche dir viel Erfolg auf deinem weiteren Lebensweg.»

Stefano war dankbar, obwohl er noch nicht genau wusste, was es mit dieser sagenhaften Gesellschaft auf sich hatte. Dies hatte ihm weder der Rektor noch der Bürgermeister erklärt. Er würde das Buch so schnell wie möglich lesen. Das war schon mal klar, suchte er doch schon immer nach Antworten.

Damit neigte sich sein erster Lebensabschnitt im tiefsten Süden Kalabriens langsam dem Ende zu.

Ministerpräsident Stefano Gallo

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