Читать книгу Gornerschlucht - Urs W. Käser - Страница 9
ОглавлениеFreitag, 17. Juli 2015
Barbara Fuchs öffnete die Balkontüre und trat hinaus. »Oh je, ist das grau heute!«
Eine düstere Wolkendecke lag über dem Tal, vom Matterhorn war nichts zu sehen, ein feiner Sprühregen liess Barbara frösteln. Schnell trat sie zurück ins Hotelzimmer und schlüpfte wieder ins Bett. Barbaras Mann Bruno drehte sich um und murmelte irgendetwas Unverständliches im Schlaf. Barbara strich ihm zärtlich über die grauen Haare, legte ihren Kopf auf ihr Kissen und döste noch eine Weile vor sich hin. Plötzlich schreckte sie hoch, weil sie etwas Feuchtkaltes an ihrer Wange spürte.
»Ach so, du bist es, Blacky! Ja, ich weiss, es ist Zeit für den ersten Spaziergang.«
Der schwarze Labrador hatte verstanden und trottete, heftig wedelnd, in Richtung Türe. Barbara stand auf, schlüpfte rasch in die Kleider vom Vortag und ging mit Blacky zu einer ersten kleinen Runde ums Hotel.
Als sie zurückkamen, stand Bruno auf dem Balkon und machte seine allmorgendlichen Freiübungen. Blacky lief sofort zu ihm und schnupperte eifrig an seinen nackten Füssen herum.
»Ja, ja, ist schon gut, braver Hund«, beschwichtigte Bruno ihn, »ich bin ja gleich fertig.«
Kaum jemand hätte Bruno Fuchs seine siebzig Jahre gegeben, er war schlank und drahtig wie eh und je geblieben. Als pensionierter Hausarzt wusste er, wie wichtig die regelmässige körperliche Aktivität für die Gesundheit war. Und in Barbara, der Apothekerin, hatte er eine treue Befürworterin einer gesunden Ernährung und Lebensweise.
»Was könnten wir denn heute unternehmen, bei diesem grauen Wetter?«, fragte Barbara, als sie die Treppe hinunter in Richtung Frühstückssaal gingen.
»Wie wär‘s mit der Gornerschlucht?«, antwortete Bruno. »Das sollte gut zu machen sein. Der Wetterbericht meldet keine nennenswerten Niederschläge, höchstens ein wenig Nieselregen.«
»Gute Idee«, meinte Barbara, »dort waren wir bestimmt seit fünf Jahren nicht mehr. Und, weisst du was, Bruno? Ich bin total hungrig, heute schlage ich am Frühstücksbuffet richtig zu!«
Bruno stupste seine Frau lachend in die Seite, und sie betraten den Saal Hand in Hand wie ein frisch verliebtes Paar.
»Schau mal, Barbara, das Wetter bessert sich rapide. Die Sonne drückt kräftig durch die Wolkendecke, und schon sind einige blaue Flecke am Himmel zu sehen!«
»Ja, eine richtig schöne Stimmung!«, pflichtete Barbara bei.
Nach einer halben Stunde Weg durch die feuchtkühle Schlucht, unter sich den tosenden Gletscherfluss, links und rechts fast senkrechte Felswände, waren sie am oberen Ende der Gornerschlucht angekommen. Der Blick weitete sich, die Wände gingen in vom Gletscher rundgeschliffene Felsbuckel über, das Flussbett wurde breiter, die Strömung langsamer.
Bruno streckte seinen Arm in die Höhe. »Was meinst du, sollen wir noch ein Stück weiter den Hang hinauf wandern? Der Blick auf den Gornergletscher wäre sicher spektakulär von dort oben.«
»Einverstanden«, sagte Barbara, »komm, Blacky!«
Aber Blacky weigerte sich schon nach wenigen Metern, weiterzugehen! Er fing an, zu winseln, lief mehrmals vor und zurück, streckte seine Schnauze talabwärts, und schliesslich ging das Winseln in ein langgezogenes Jaulen über.
»Blacky, was hast du denn?«, fragte Barbara. »So extrem führt er sich sonst nie auf, da stimmt doch etwas nicht!«
Bruno schaute sich um. »Du hast recht, Barbara, irgendetwas ist hier faul.« Blacky neben sich, stieg er vorsichtig einige Schritte den steilen, steinigen Hang hinunter.
»Pass bloss gut auf«, rief ihm Barbara ängstlich hinterher, »dort unten geht es senkrecht in die Tiefe!«
Bruno hatte jetzt einen Absatz mit einer Ansammlung von grösseren Felsblöcken erreicht, und Blacky schnupperte aufgeregt überall herum. Zwischen den Felsblöcken taten sich mehrere tiefe, wohl durch die Wirkung des Gletschers entstandene Löcher im steinigen Boden auf. Blacky blieb stehen und winselte in eines dieser Löcher hinein. Bruno schaute hinunter und stiess sogleich einen spitzen Schrei aus. Etwa drei Meter in der Tiefe lag ein zusammengekrümmter Mann. Der Kopf, das Hemd und die nackten Arme waren blutverkrustet. Neben seinen Füssen lag ein Wanderrucksack.
»Ein Toter, hier im Loch«, rief Bruno mit zittriger Stimme nach oben.
»Oh, wie schrecklich«, murmelte Barbara und hielt sich eine Hand vor den Mund.
Bruno kraxelte, fast auf allen Vieren, wieder zu Barbara hinauf, machte eine stumme, vage Geste zu ihr, zog sein Handy hervor und stellte die Notrufnummer ein.
»Hier Bruno Fuchs. Hören Sie, am oberen Ausgang der Gornerschlucht liegt ein Toter, in einem etwa drei Meter tiefen, senkrechten Loch. Wird nicht einfach zu bergen sein … Ja, etwa dreissig Meter unterhalb des Wanderweges … Oh, das habe ich nicht gewusst … Ja, wir warten hier solange.«
Barbara sah ihn fragend an. »Was hast du nicht gewusst?«
»Stell dir vor, dieser Mann – sofern er es denn ist – wird seit vorgestern vermisst, und heute Morgen sind mehrere Suchtrupps mit Hunden auf den Wanderwegen unterwegs. Und was passiert? Unser braver, alter Blacky schlägt die Profi-Spürhunde und findet zielsicher den Vermissten!«
»Ja, wirklich erstaunlich«, bestätigte Barbara und tätschelte Blacky anerkennend den Hals.
»Übrigens«, ergänzte Bruno, »schicken sie gleich die Rettungsflugwacht. Das Wetter hat soweit aufgeklart, dass man gut fliegen kann. Es dürfte nicht allzu lange dauern, bis die hier sind. Komm, wir setzen uns zum Warten auf diesen grossen, flachen Stein.«
Sie setzten sich auf ihre Windjacken, stützten die Arme auf die Hände, blickten schweigend in die Ferne und hingen ihren Gedanken nach.
Kaum eine halbe Stunde später kam mit ohrenbetäubendem Knattern ein Helikopter der Rettungsflugwacht angeflogen und landete, etwa zweihundert Meter weiter oben, auf einem kleinen, fast ebenen Wiesenstück. Vier Männer in knallorangen Overalls, jeder mit Rucksack, stiegen aus und kamen quer durch den steilen Hang zu Bruno und Barbara hinunter.
Bruno zeigte mit seinem rechten Arm zu den Felsblöcken. »Dort unten, neben dem zweitgrössten Block, liegt er, etwa drei Meter tief in einem Loch, offensichtlich tot.«
»Den bergen wir am besten direkt am Seil«, erwiderte einer der Männer und machte sich, gefolgt von einem seiner Kollegen, an den Abstieg, während die beiden anderen zum Helikopter zurückgingen. Der Helikopter startete und positionierte sich, in der Luft stehen bleibend, genau über den Felsblöcken. Die beiden zurückgebliebenen Männer waren unterdessen in das Loch hinabgeklettert und hatten den Toten in ein Netz, ähnlich einer Hängematte, eingebunden. Vom Helikopter senkte sich jetzt, langsam und schwankend, ein Drahtseil zu den Männern hinunter. Die Hängematte wurde mit einem Haken am Drahtseil befestigt und mit der Seilwinde hochgezogen. Der Helikopter flog auf und landete nochmals auf der Wiese, nachdem er das Netz mit dem Toten vorsichtig auf dem Boden deponiert hatte. Drei der Männer luden die Leiche gemeinsam in den Helikopter, stiegen ein, und schon flog dieser wieder senkrecht hoch und verschwand knatternd hinter dem nächsten Felsvorsprung. Die ganze Aktion hatte keine zehn Minuten gedauert.
»Alle Achtung«, meinte Bruno Fuchs zu seiner Frau, »die machen das wahrlich nicht zum ersten Mal. Was meinst du, gehen wir auf schnellstem Weg nach Zermatt zurück?«
Barbara lächelte erleichtert. »Oh ja, mir reicht es wahrlich für heute…«
»Aber ich möchte den Fund doch noch ordnungsgemäss auf dem Polizeiposten melden«, ergänzte Bruno, »ich weiss nicht, ob und wann die Rettungsleute dazu kommen werden.«
Eine Stunde später sassen sie einem staunenden Polizisten Pfammatter gegenüber. »Oh, Sie haben den vermissten Mann gefunden, schneller als unsere Suchtrupps! Falls er es ist, heisst das, aber ich vermute es stark. Alle Achtung!«
»Mich müssen Sie nicht loben, mein Hund hat ihn gerochen«, erwiderte Bruno lachend, »ohne unsere braven Vierbeiner würde der noch ewig in diesem Loch liegen.«
»Ja, da haben Sie recht. Übrigens, hier habe ich ein Foto des Vermissten.«
Bruno nickte langsam. »Sein Kopf sah ziemlich schlimm aus, aber ich bin fast sicher, dass er es ist. Eine Frage noch: Wohin wurde der Tote gebracht?«
»Ich nehme an, wie üblich ins Spital nach Brig. Ich möchte mir jetzt noch Ihre Personalien notieren, für den Fall, dass noch Rückfragen nötig wären.«
»Sicher, gerne, hier ist mein Ausweis«, erwiderte Bruno rasch.
»Du willst doch nicht etwa den Toten im Spital Brig aufsuchen?«, fragte Barbara, als sie wieder draussen waren.
»Doch, genau das habe ich vor, meine Liebe. Ich weiss nicht genau warum, aber mein Bauchgefühl drängt mich dazu. Es sagt mir, irgendetwas sei faul an der Geschichte. Ich nehme jedenfalls den nächsten Zug nach Brig.«
Barbara schüttelte ihren Kopf. »Na gut, dann tu, was du nicht lassen kannst. Aber ich gehe jetzt ins Hotel und versuche, mich von dem ganzen Schrecken zu erholen.«
»Bruno Fuchs, Hausarzt in Pension«, sagte er und schüttelte der jüngeren Frau im weissen Arztkittel die Hand.
»Doktor Annette Meyer, freut mich, Herr Kollege. Kommen Sie, schauen wir uns die Bescherung an.«
Sie ging voran in einen kleinen Nebenraum, wo der Tote auf einem Schragen lag, und nahm einen Zettel zur Hand.
»Laut Personalausweis, den wir beim Verstorbenen gefunden haben, handelt es sich tatsächlich um diesen, ehm, Daniel Vontobel, den seine Frau gestern Morgen als vermisst gemeldet hat. Wissen Sie, Polizist Pfammatter hat mich vor einer halben Stunde telefonisch orientiert. Der Mann sei allein vom Gornergrat abgestiegen, das würde zum Fundort passen. Offenbar ist er vom Weg abgekommen und abgestürzt. Seine Frau wird ihn natürlich noch identifizieren müssen.«
Bruno Fuchs sah nachdenklich auf die Leiche hinunter. »Darf ich ihn kurz untersuchen?«
»Bitte sehr, machen Sie nur. Soweit ich gesehen habe, hat er sich beim Sturz das Genick gebrochen und war sofort tot. Ich schätze, das war vor zwei oder drei Tagen.«
Bruno Fuchs ging langsam um den Toten herum und tastete ihn an mehreren Stellen ab. »Merkwürdig, sehr merkwürdig…«, murmelte er.
»Stimmt denn etwas nicht?«, fragte Annette Meyer neugierig.
Der pensionierte Hausarzt schüttelte langsam den Kopf. »Den Bruch des Halses und den Todeszeitpunkt, das beurteile ich gleich wie Sie. Aber hier, sehen Sie, diese Wunde am Hinterkopf, die gefällt mir nicht. Das sieht für mich gar nicht wie eine Sturzwunde aus, eher so, als sei da mit einem harten Gegenstand draufgeschlagen worden, oder als sei ein Stein mit grosser Wucht darauf gefallen.«
Die Ärztin sah sich die Wunde sorgfältig an. »Ja, Sie könnten durchaus recht haben. Ich sollte wohl doch besser eine Autopsie beantragen.«
Bruno Fuchs nickte zustimmend und verabschiedete sich. Annette Meyer rief den Rechtsmediziner Tobias Imesch in Sitten an, und dieser sicherte ihr zu, die Obduktion noch am selben Tag vorzunehmen.
Eine Stunde später traf Claudia Vontobel im Spital Brig ein. Polizist Pfammatter war zu ihr ins Hotel gekommen, hatte ihr die traurige Nachricht von der Bergung ihres Mannes überbracht und sie gebeten, zur Identifikation so schnell wie möglich nach Brig zu fahren. Auch hatte er sie ersucht, bis auf weiteres in Zermatt erreichbar zu bleiben. Im Spital wurde Claudia Vontobel von Annette Meyer mit einem warmen Händedruck empfangen. Nach einem kurzen Gespräch führte die Ärztin sie zum leblosen Körper. Claudia Vontobel warf nur einen kurzen, traurigen Blick auf ihn, nickte und wendete sich wieder ab. Ohne zu zögern unterschrieb sie dann das Identifizierungs-Formular. Als die Ärztin sie, ohne irgendwelche Gründe dafür zu nennen, über die bevorstehende Obduktion informierte, zuckte Claudia Vontobel nur stumm mit den Achseln und verabschiedete sich dann rasch. Zehn Minuten später befand sich der Tote schon auf dem Weg ins Spital Sitten.
Konzentriert blickte Lena Pieren auf ihren Bildschirm. Sie war noch nicht ganz zufrieden mit ihrem Entwurf des Fragebogens, mit dem die grosse Umfrage unter den Feriengästen von Zermatt gemacht werden sollte. Lena wusste, dass die Ergebnisse einer Umfrage niemals präziser sein konnten, als es die den Leuten gestellten Fragen waren. Die Qualität des ganzen Projektes basierte also entscheidend auf der Qualität des Fragebogens. Deshalb verwendete sie sehr viel Zeit darauf, die Art der Fragen immer wieder zu überdenken und zu optimieren. Was die ganze Sache erschwerte, waren die Übersetzungen in andere Sprachen. Diese mussten einerseits präzise sein, andererseits der Mentalität der fremden Sprache angemessen. Besonders wichtig war dies bei den asiatischen Sprachen. Andernfalls könnten die Gäste aus Asien die Fragen anders auffassen, als sie gemeint waren, und die Ergebnisse würden verfälscht oder im schlimmsten Fall sogar unbrauchbar. Deshalb hatte Lena für alle Übersetzungen auf Fachpersonen der jeweiligen Muttersprache zurückgegriffen.
»Sehr fleissig, Lena!« Klara Kalbermatten, die Chefin von Zermatt Tourismus, war unvermittelt ins Büro getreten. »Wie geht es mit dem Fragebogen?«
»Doch, er ist auf gutem Weg. Lies ihn doch bitte mal durch. Hier, siehst du, vier Seiten mit insgesamt dreissig Fragen, schön gruppiert in sechs Themenbereiche. Ich denke, es braucht noch etwas Feinarbeit zur Optimierung der Fragestellungen. Aber bis Ende Monat sollte ich es schaffen.«
Klara überflog die bedruckten Blätter. »Macht mir einen guten Eindruck. Präzise und verständlich. Beinahe perfekt, würde ich meinen. Wie steht es mit den Übersetzungen?«
«Ehm, ja, das ist teilweise mühsam. Englisch, Italienisch, Französisch und Spanisch sind bis Ende Juli zugesichert, aber von den Übersetzern in Portugiesisch, Russisch, Hindi, Japanisch, Chinesisch, Koreanisch und Arabisch habe ich noch keine definitiven Termine erhalten.«
Klara zog die Stirn in Falten. »Das gefällt mir weniger. Ursprünglich wollten wir ja Mitte Juli mit allem bereit sein. Jetzt scheint sogar der erste August als Starttermin gefährdet. Du musst lernen, unseren Partnern mehr Druck aufzusetzen, Lena. Sonst denken die schnell, ach, es eilt ja nicht besonders, die können ruhig warten. Lena, ich erwarte von dir, dass du bis morgen Abend alle Säumigen gemahnt hast. Ende Juli ist und bleibt definitiver Abgabetermin.«
»Ja, ich mache es.« Lenas Stimme war ganz leise und ihre Augen schimmerten feucht.
Ohne darauf einzugehen, verliess Klara das Büro. Lena seufzte auf, bedeckte ihr Gesicht mit den Händen und liess ihren Tränen freien Lauf.