Читать книгу Sophienlust - Die nächste Generation 4 – Familienroman - Ursula Hellwig - Страница 3
ОглавлениеMit einem frischen Blumenstrauß in den Händen, den sie gerade draußen im Garten geschnitten hatte, betrat Carola Rennert ihre Wohnung, die im Seitentrakt des wunderschönen alten Herrenhauses lag, das an ein kleines Schloss erinnerte. Während sie wenig später die bunten Sommerblumen in eine große Glasvase stellte, fiel ihr Blick aus dem Fenster in den weitläufigen Park, der das Herrenhaus umgab. Dabei entdeckte Carola ihre drei Jahre alten Zwillinge, die mit einigen anderen Kindern auf der Wiese spielten. Die junge Frau wusste, dass sie sich um ihre noch recht kleinen Kinder keine Sorgen machen musste. Die Kinder dort draußen waren alle schon etwas älter und passten gut auf die Zwillinge Andreas und Alexandra auf. Außerdem war Schwester Regine immer in der Nähe, und den wachsamen Augen der erfahrenen Kinderschwester entging nichts.
Einen Augenblick lang geriet Carola ins Träumen, und ihre Gedanken wanderten weit in die Vergangenheit. Bei dem alten Herrenhaus, in dem sie mit ihrem Mann und den beiden Kindern wohnte, handelte es sich um das Kinderheim Sophienlust. Sie selbst war seinerzeit in diesem privaten Kinderheim aufgewachsen. Sophie von Wellentin hatte das prächtige Anwesen einst ihrem Urenkel Dominik von Wellentin-Schoenecker vermacht und verfügt, dass künftig in Not geratene Kinder hier ein Zuhause finden sollten. Damals war Dominik, der von allen nur Nick genannt wurde, noch sehr klein gewesen. Seine Mutter, Denise von Wellentin, erfüllte aber gern den letzten Wunsch der alten Dame und verwaltete das Erbe für ihren Sohn. Daran änderte sich auch nichts, als Denise später den Gutsbesitzer Alexander von Schoenecker heiratete, der zwei Kinder mit in die Ehe brachte und Nick adoptierte. Nachdem dann auch noch der gemeinsame Sohn Henrik auf die Welt gekommen war, war das Familienglück komplett gewesen. Aber Denise hatte sich nie damit begnügt, ihr privates Glück zu genießen. Zwar lebte sie mit ihrer Familie auf dem ganz in der Nähe gelegenen Gut Schoeneich, aber meistens war sie in Sophienlust anzutreffen und jederzeit bereit, einem Kind zu helfen, das sich in einer Notsituation befand. So war es vor langer Zeit auch bei Carola gewesen. Nach Zeiten tiefer Verzweiflung hatte sie in Sophienlust endlich eine glückliche Kindheit genießen dürfen.
Als sie ihre Liebe zur Malerei entdeckte, hatte Denise sie unterstützt und ihr ermöglicht, ihr Talent weiter auszubauen und diese Kunst perfekt zu erlernen. Damals war Carola eigentlich fast schon erwachsen gewesen und hatte sich nicht nur in die Malerei, sondern auch noch in Wolfgang, den Sohn der Heimleiterin Else Rennert, verliebt. Er, der Musiklehrer, und sie, die Malerin, hatten schließlich geheiratet und waren schon bald Eltern von Zwillingen geworden. Carola war Denise von Schoenecker noch heute dankbar für ihre Unterstützung.
Inzwischen war Nick nun achtzehn Jahre alt und damit mündig geworden. Jetzt war er selbst für das Kinderheim verantwortlich, das er als kleiner Junge geerbt hatte.
Aber obwohl er alle Entscheidungen jetzt selbständig fällen durfte, bezog er stets seine Mutter mit ein, die ihn beraten konnte und natürlich über sehr viel Erfahrung verfügte. Demnächst wollte Nick ein Fernstudium beginnen und überlegte derzeit, ob Kinderpsychologie für ihn der richtige Studiengang sein könnte.
Als das Telefon läutete, wandte Carola sich vom Fenster ab und nahm den Anruf entgegen. Sie staunte nicht schlecht, als sich Ina Buchmacher meldete, eine Galeristin aus Frankfurt, die vor mehreren Jahren einige von Carolas Bildern ausgestellt hatte, die nachher einen Interessenten gefunden hatten, der die Gemälde für einen hohen Preis gekauft hatte. Seinerzeit war zwischen Carola und Ina Buchmacher eine sehr nette Bekanntschaft entstanden. Durch die große Entfernung waren die Kontakte dann leider allmählich weniger geworden und am Ende ganz eingeschlafen.
»Ina, das ist aber eine Freude, wieder einmal etwas von dir zu hören. Wie lange ist es her, seitdem wir zuletzt miteinander gesprochen haben? Es muss vor etwa drei Jahren gewesen sein. Damals waren unsere Zwillinge gerade auf die Welt gekommen.«
»Ja, das stimmt«, bestätigte Ina. »Ich erinnere mich daran, dass du mir ganz begeistert erzählt hast, dass die beiden gerade die erste Nacht durchgeschlafen hätten und ihr beide damit auch endlich einmal eine ganze Nacht lang ungestört schlafen konntet. Wie geht es den Kindern denn heute, und wie geht es deinem Mann und dir?«
»Sehr gut. Andreas und Alexandra spielen gerade mit einigen Kindern draußen im Park, und Wolfgang übt mit einem Jungen ein Klavierstück ein, das der Kleine unbedingt lernen wollte. Na ja, und mir geht es auch bestens. Ich male noch immer fleißig, und meine Bilder verkaufen sich auch recht gut. Wie ist es denn bei euch? Aus Paulina muss inzwischen ja fast eine junge Dame geworden sein.«
»Junge Dame? Das ist wohl noch ein bisschen übertrieben«, erwiderte Ina lachend. »Paulina ist jetzt elf Jahre alt. Aber in den vergangenen drei Jahren ist sie natürlich gewaltig gewachsen. Carsten geht noch immer ganz in seinem Beruf als Restaurator auf. Im Augenblick arbeitet er für ein Schweizer Museum. Ein wertvolles Gemälde war bei einem Wasserrohrbruch beschädigt worden. Von diesem Schaden sieht man jetzt dank seiner Arbeit nichts mehr. Ich habe noch immer meine Galerie in Frankfurt und bin damit recht erfolgreich. Ach ja, Zuwachs haben wir vor gut zwei Jahren auch noch bekommen.«
»Tatsächlich?«, fragte Carola erfreut. »Das ist eine schöne Nachricht. Was habt ihr denn bekommen: Einen kleinen Sohn oder eine Tochter?«
Ina lachte herzhaft auf. »Nichts davon. Wir haben uns einen Hund angeschafft, einen schwarzen Labrador. Er heißt Rembrandt. Carsten hatte natürlich die Idee, den Hund nach dem berühmten Maler zu nennen. Rembrandt ist wirklich ein kluges Kerlchen. Paulina hat ihm eine Menge Tricks beigebracht und liebt ihn sehr. Das heißt, wir alle lieben unseren Rembrandt. Du lernst ihn demnächst bestimmt auch persönlich kennen. Wir haben nämlich vor, nach Wildmoos zu kommen und dich und deine Familie zu besuchen. Natürlich freuen wir uns auch auf Sophienlust, all die netten Kinder und Frau von Schoenecker. Unser letzter Besuch im Kinderheim liegt zwar schon lange zurück, ist mir aber noch sehr gut in Erinnerung geblieben. Ich hoffe, alle werden damit einverstanden sein, dass wir dich heimsuchen.«
»Du liebe Zeit, von einer Heimsuchung kann doch überhaupt keine Rede sein«, bemerkte Carola heiter. »Alle werden sich über euren Besuch freuen, am allermeisten natürlich ich und Wolfgang. Es ist schön, dass ihr kommt, und ich hoffe, dass ihr eine ganze Weile bleiben werdet.«
»Wir hatten an zehn bis zwölf Tage gedacht. Weißt du, in der Nähe von Maibach gibt es einen Kunstsammler, der mehrere alte Meister in seinem Besitz hat. Anfangs ist er sehr unerfahren gewesen, wie er uns gegenüber zugab, und hat die Werke nicht optimal behandelt. Dadurch sind Schäden entstanden. Es sind nur Kleinigkeiten, davon allerdings eine ganze Menge. Dieser Sammler möchte, dass Carsten die Bilder vor Ort restauriert. Er will seine Schätze nicht aus dem Haus geben. Da das Ganze in eurer Nähe ist, wollen wir euch natürlich unbedingt besuchen.«
Carola war begeistert. »Das ist schön. Noch schöner wäre es, wenn ihr euch entschließen könntet, in einem der Gästezimmer von Sophienlust zu wohnen. Dagegen wird hier sicher jemand einen Einwand haben, und nach Maibach ist es nicht weit. Ich nehme übrigens an, dass es sich bei dem Kunstsammler um Baron Wieland von Magenius handelt. Ich kenne ihn zwar nicht sehr gut, aber ich habe mir vor zwei Jahren einmal seine Sammlung ansehen dürfen, nachdem wir rein zufällig zusammengetroffen waren. Es sind wirklich wertvolle und kostbare Bilder dabei. Wann werdet ihr denn hier eintreffen? Das hast du mir bisher noch gar nicht gesagt.«
»Stimmt, das habe ich glatt vergessen. Wir würden gerne übermorgen kommen. Ist dir das recht?«
Carola bestätigte, dass ihr das sogar sehr recht war. Nachdem sie wenig später aufgelegt hatte, freute sie sich wie ein kleines Mädchen auf Ina Buchmachers Besuch und hoffte, dass diese mit ihrer Familie und dem Hund Rembrandt nicht in ein Maibacher Hotel oder den Gasthof in Wildmoos ziehen, sondern in Sophienlust bleiben und dort übernachten würden. Auf diese Weise blieb ganz bestimmt viel mehr Zeit, die sie zusammen verbringen konnten.
Für die elf Jahre alte Paulina würde es auch besser und interessanter sein, die Zeit in Sophienlust gemeinsam mit den hier wohnenden Kindern zu verbringen. In einem Hotel oder Gasthof würde sich ein Mädchen in ihrem Alter ganz bestimmt einsam fühlen und langweilen.
Carola fragte sich, ob Paulina wohl noch Erinnerungen an einige Kinder aus Sophienlust hatte. Vielleicht war ihr noch Pünktchen ein Begriff? Pünktchen, die heute fünfzehn Jahre alte Angelina Dommin, die wegen ihrer zahlreichen Sommersprossen Pünktchen genannt wurde, hatte Paulina erzählt, dass ihre Eltern bei einem Zirkusbrand ums Leben gekommen waren und Nick sie praktisch von der Straße aufgelesen und nach Sophienlust gebracht hatte. Paulina hatte damals dieser berührenden Lebensgeschichte gebannt gelauscht, daran erinnerte sich Carola deutlich.
Auch an die nun zwölf und vierzehn Jahre alten Geschwister Vicky und Angelika Langenbach, die ihre Eltern durch ein Lawinenunglück verloren hatten, würde Paulina sich möglicherweise erinnern können. Sie hatte nämlich selbst im letzten Winterurlaub eine Lawine aus der Ferne beobachten können, bei der zum Glück niemand zu Schaden gekommen war. Aber der Anblick war für das Mädchen ein beeindruckendes Erlebnis gewesen.
Nun, ob sich Paulina erinnerte oder nicht, fest stand, dass sie in Sophienlust mit Sicherheit ihren Spaß haben würde.
*
Als die Kinder von dem zu erwartenden Besuch erfuhren, freuten sie sich darauf. Martin Felder, ein zwölf Jahre alter Junge, der Tiere über alles liebte, sein Wissen darüber ständig erweiterte und später unbedingt Tierarzt werden wollte, freute sich besonders auf den Labrador Rembrandt, der angeblich eine Menge Tricks beherrschen sollte.
»Fast alle Labradors sind von Natur aus sehr lernfreudig und verstehen ungewöhnlich schnell, was von ihnen erwartet wird. Aber es gibt auch ganz besonders kluge Exemplare. Ich bin gespannt, ob Rembrandt eine von diesen Ausnahmen ist.«
»Ich mehr gespannt, ob Rembrandt sich vertragen mit Anglos und Barri«, ließ sich der sechsjährige vietnamesische Waisenjunge Kim vernehmen, der immer noch ein paar kleine, aber unbedeutende Sprachprobleme hatte. »Wenn wir haben Pech, Rembrandt nicht mögen Barri und Anglos und will beißen sie.«
»Da brauchst du dir keine Sorgen zu machen«, meinte Martin beruhigend. »Labradors sind ausgesprochen friedfertig. Außerdem wird Rembrandt nicht so dumm sein, sich mit einem starken Bernhardiner wie Barri oder einer riesigen Dogge wie Anglos anzulegen, denen hier dieses Revier gehört. Du wirst schon sehen, dass die drei Hunde friedlich miteinander umgehen und wahrscheinlich sogar fröhlich miteinander spielen werden.«
Kim schaute Martin vertrauensvoll an und nickte zufrieden. Er wusste genau, wie gut der Zwölfjährige sich mit Tieren auskannte, und vertraute seinem Urteil. Bis jetzt hatte Martin sich noch nie getäuscht, wenn es um Tiere gegangen war.
Carola hatte sich im Biedermeierzimmer eingefunden, in dem Nick gerade ein Gespräch mit seiner Mutter führte. Es ging dabei um das Studium, das er demnächst beginnen wollte. Natürlich hätte er in eine Universitätsstadt übersiedeln können, aber das wollte er nicht. Da er nun volljährig war, fühlte er sich für Sophienlust verantwortlich und wollte hier so viel Zeit verbringen wie nur möglich. Deshalb war Nick entschlossen, ein Fernstudium zu beginnen, wobei ihm das Studienfach Kinderpsychologie am meisten interessierte. Wie schon so oft in den letzten Wochen sprach er mit seiner Mutter über dieses Thema und freute sich, dass diese ihn in seinem Vorhaben unterstützte.
»Darf ich einen Moment stören?«, erkundigte Carola sich, als sie den Raum betrat. Nach einer einladenden Geste von Nick und Denise nahm sie Platz und berichtete von dem bevorstehenden Besuch.
»Ich habe Ina spontan angeboten, dass sie mit ihrer Familie und ihrem Hund in Sophienlust übernachten kann. Das ist vielleicht ein bisschen voreilig gewesen, weil ich darüber ja gar nicht entscheiden darf.« Carola schaute Denise fragend an. Dann besann sie sich, und ihr Blick richtete sich mit einem etwas verlegenen Lächeln auf Nick:
»Es tut mir leid, Nick. Ich muss mich erst daran gewöhnen, dass du es bist, der jetzt die Zügel in Sophienlust in der Hand hält. Deshalb muss ich dich natürlich fragen. Hast du etwas dagegen, dass Ina Buchmacher mit ihrer Familie und ihrem Hund hier in Sophienlust in einem Gästezimmer übernachtet? Sie möchte ungefähr zehn Tage bleiben.«
»Ja, dagegen habe ich tatsächlich etwas«, erwiderte Nick und grinste dabei. »Ein Gästezimmer wird für drei Leute und einen Hund nicht ausreichen. Der Besuch wird beide Gästezimmer benötigen, wenn es nicht zu eng werden soll. Selbstverständlich stehen die Gästezimmer zur Verfügung. Carola, deine Freunde sind auch unsere Freunde und in Sophienlust jederzeit willkommen.«
Denise von Schoenecker bedachte ihren Sohn mit einem wohlwollenden und zufriedenen Blick. Sie sah sich in ihrer Erziehung bestätigt. Nick hatte sich genauso entwickelt, wie sie es sich gewünscht hatte. Ja, er war jetzt volljährig und hätte rechtlich auch gegen ihren Willen und ihren Rat Entscheidungen treffen können. Zahlreiche junge Leute in Nicks Alter hätten diese Situation ausgenutzt und wären vielleicht auch ein bisschen selbstherrlich geworden. Aber Nick war aus anderem Holz geschnitzt. Er kannte seine Rechte und die Macht, die ihm durch seine Volljährigkeit verliehen worden war. Sein Verantwortungsbewusstsein war dadurch spürbar gestärkt worden. Dennoch wusste er genau, dass er noch relativ unerfahren war und oft den guten Rat seiner Mutter benötigen würde. Außerdem wollte er Sophienlust genau so weiterführen, wie seine Mutter es immer getan hatte: freundlich, offenherzig und ohne den geringsten Hauch von Überheblichkeit. Eigentlich sollte sich nichts ändern, abgesehen davon, dass er nun ganz offiziell sein Erbe angetreten hatte.
Zufrieden verließ Carola das Haus und strebte ihrer Wohnung zu, die in einem Anbau lag.
Dabei überlegte sie, wie sie Ina, Carsten und Paulina eine Freude machen konnte, und entschloss sich, einen Apfelkuchen zu backen. Der gelang ihr immer besonders gut und erfreute sich überall allgemeiner Beliebtheit. Ina und ihrer Familie würde er ganz sicher auch schmecken.
*
Paulina freute sich darauf, mit ihren Eltern nach Sophienlust zu fahren. Die großen Ferien waren noch nicht zu Ende. Deshalb konnten sie diese Reise problemlos unternehmen. Zwar hatte die Elfjährige mit ihren Eltern schon zwei Wochen Urlaub im Süden von Spanien bei Malaga verbracht, aber auf Sophienlust freute sie sich sehr. Paulina konnte sich noch recht gut an den letzten Besuch vor etwa drei Jahren erinnern.
Nick, der ja eigentlich Dominik von Wellentin-Schoenecker hieß und der Besitzer des Kinderheims war, hatte ihr alles gezeigt, was sehenswert war. Dazu gehörte auch der Wintergarten, in dem ein bunter Papagei wohnte, der auf den Namen Habakuk hörte. Der kluge Vogel war schon nach wenigen Minuten in der Lage gewesen, Paulinas Namen zu sprechen. An einige Kinder, die dauerhaft in Sophienlust wohnten, konnte sich das Mädchen ebenfalls erinnern und an die Pferde und Ponys, die zum Haus gehörten und von den Kindern geritten werden durften. Richtig schön war es in Sophienlust gewesen, und ein Kind, das keine Eltern mehr hatte, konnte sich glücklich schätzen, dort leben zu dürfen.
»Du kommst natürlich mit uns nach Sophienlust«, erklärte Paulina ihrem Hund Rembrandt. »Dir gefällt es dort ganz bestimmt, und du kannst den Kindern zeigen, welche Tricks ich dir beigebracht habe. Ich hoffe, du wirst mich nicht blamieren und gerade einmal keine Lust haben, die Tricks vorzuführen. Das wäre nicht schön.«
Rembrandt zuckte mit den Ohren und lauschte Paulinas Worten, ohne den Sinn genau zu verstehen. Er hielt den Kopf schief und blickte sie so treuherzig an, dass sie schmunzeln musste.
»Ich glaube, du wirst mich nicht blamieren«, bemerkte Paulina und hielt Rembrandt eine Handfläche entgegen. »Gibst du mir dein Wort darauf, dass du mich nicht im Stich lassen wirst?«
Der große schwarze Labrador reagierte sofort. Er setzte sich hin und legte eine seiner Vorderpfoten auf Paulinas Handfläche. Das sah tatsächlich so aus, als wolle der Hund ein Versprechen abgeben und dieses per Handschlag, oder besser gesagt per Pfotenschlag, besiegeln. Diese Geste hatte Paulina dem Hund beigebracht, und sie gehörte zu einer Vielzahl von Fähigkeiten, über die Rembrandt verfügte. Bei ihm handelte es sich in der Tat um einen besonders gelehrigen Hund, der alles sehr schnell begriff.
Ina Buchmacher hatte noch einmal mit Carola telefoniert und von ihr erfahren, dass sie mit ihrer Familie herzlich willkommen war und die Gästezimmer zur Verfügung stünden.
Als Paulina erfuhr, dass sie alle zusammen in dem Kinderheim wohnen würden, war sie begeistert. Auf diese Weise musste sie nicht jeden Abend schon früh von den Kindern wieder Abschied nehmen, um mit ihren Eltern in ein langweiliges Hotel zu fahren. Sie konnte vor Ort bleiben und jeden Tag bis zur letzten Minute mit ihren Freunden ausnutzen. Das würde dann so sein, als ob sie selbst eines der Kinder von Sophienlust wäre.
Für eine Weile würde das ganz sicher großen Spaß machen. Wie schön! Natürlich war Paulina froh, dass sie Vater und Mutter besaß und nicht elternlos war. Aber für ein paar Tage würde sie ihrer Phantasie freien Lauf lassen und zumindest zeitweise in eine andere Welt eintauchen können. Auf diese Erfahrung freute Paulina sich.
Mit ihren Eltern sprach das Mädchen allerdings nicht über diese Gedanken. Sie sollten nicht gekränkt werden und womöglich den Eindruck haben, dass sie lieber ein Dauerkind von Sophienlust als ihre Tochter wäre. Das war schließlich nicht der Fall. Paulina liebte ihre Eltern und hätte sich überhaupt nicht vorstellen können, irgendwo anders leben zu sollen als bei ihnen. Sie waren alle zusammen schließlich eine glückliche Familie, und seit Rembrandt zu ihnen gekommen war sogar noch eine Spur glücklicher als zuvor. Spontan musste Paulina an ihre Klassenkameradin und Freundin Rebecca denken, deren Eltern seit über zwei Jahren geschieden waren. Nun lebte Rebecca bei ihrer Mutter, verbrachte aber die Wochenenden oft bei ihrem Vater, der nun im Nachbarort wohnte. Rebecca liebte sowohl ihre Mutter als auch ihren Vater und litt darunter, dass die Familie nun gewissermaßen zerrissen war und dass es keine gemeinsamen Unternehmungen mehr gab. Nein, so hätte Paulina nicht leben wollen. Sie war froh darüber, dass sich ihre Eltern gut verstanden und gar nicht daran dachten, sich möglicherweise irgendwann einmal scheiden zu lassen.
*
Bereits seit einer Stunde hatte Carola Rennert immer wieder nach ihren Besuchern Ausschau gehalten. Als sie dann den Wagen sah, den Ina ihr beschrieben hatte und der jetzt die Auffahrt entlangrollte, verließ sie sofort die Wohnung und eilte nach draußen. Ihr Mann Wolfgang folgte ihr, und auch die Zwillinge Andreas und Alexandra kamen neugierig mit. Vor der Freitreppe hatten sich schon zahlreiche Kinder versammelt, die die Besucher ebenfalls begrüßen wollten. So blieb es nicht aus, dass Ina, Carsten und Paulina viele Hände schütteln mussten. Durch den überaus freundlichen Empfang kamen sie sich vor wie Familienmitglieder, die nach einer langen Weltreise nach Hause zurückgekehrt waren.
»Ich bin jetzt ein bisschen verunsichert«, gestand Carsten Buchmacher und schaute Carola und Wolfgang verlegen an. »Haben wir damals eigentlich Du oder Sie zueinander gesagt? Ich erinnere mich nicht mehr so genau.«
»Aber ich«, erwiderte Wolfgang. »Wir haben uns geduzt. Wenn es nicht so gewesen wäre, hätte ich es euch spätestens jetzt angeboten. Aber nun kommt erst einmal herein. Carola hat mehrere Apfelkuchen gebacken. Einer ist für uns, die anderen hat sie für die Kinder reserviert. Magda, die Köchin, deckt gerade den Tisch für die Rasselbande.
Während ihre Eltern mit Carola, Wolfgang und den Zwillingen im Anbau verschwanden, zog Paulina es vor, mit den Kindern in den großen Speiseraum zu gehen, in dem es bereits köstlich nach Apfelkuchen duftete.
»Darf Rembrandt eigentlich mit in den Speiseraum?«, erkundigte Paulina sich. Es gibt viele Restaurants, in denen Hunde keinen Zutritt haben. Vielleicht ist das hier in eurem Speiseraum auch so.«
»Nein, Rembrandt kann dich ruhig begleiten«, erwiderte Nick. »Unsere Hunde bleiben normalerweise immer draußen. Aber das tun sie, weil sie es selbst so wollen. Wir sehen das hier nicht so eng, und es hat auch noch nie Probleme gegeben.«
»Das stimmt«, bestätigte die sieben Jahre alte Heidi. »Aber einmal hat ein Kind einen Hund angesteckt. Kurz nach Ostern hatte Pünktchen einen Schnupfen. Zuerst hat sie das gar nicht so richtig gemerkt und draußen mit Anglos gespielt. Einen Tag später lag Pünktchen mit Schnupfen und Fieber im Bett, und am nächsten Tag hat Anglos dann auch angefangen zu niesen. Er konnte gar nicht mehr richtig riechen, und es hat ein paar Tage gedauert, bis er wieder gesund war. Pünktchen hatte ihn angesteckt. Aber das hat sie nicht mit Absicht gemacht. Es ist einfach so passiert.«
Paulina schüttelte den Kopf. »Natürlich ist das keine Absicht gewesen. Niemand will einen Hund mit Schnupfen anstecken. Aber manchmal kann es ganz lustig sein, wenn ein Hund niest.«
»Ehrlich gesagt fanden wir den niesenden Anglos gar nicht komisch«, ließ Martin sich vernehmen. Er tat uns einfach nur sehr leid. Ich verstehe dich nicht. Du bist doch ein nettes und tierliebes Mädchen. Wieso findest du es lustig, wenn ein Hund niesen muss?«
»Natürlich finde ich es nicht schön, wenn ein Hund krank ist«, erklärte Paulina. »Aber wenn er niest, kann es trotzdem ulkig sein. Passt mal auf.« Das Mädchen wandte sich zu Rembrandt um, schaute ihn aufmerksam an und streckte beide Zeigefinger in seine Richtung. »Rembrandt, hatschi«, sagte sie, und sofort begann der Labrador mehrfach kräftig zu niesen. Dabei wedelte er vergnügt mit dem Schwanz, was der beste Beweis dafür war, dass er sich keinen quälenden Schnupfen zugezogen hatte.
Die Kinder beobachteten die Szene erst ungläubig, dann lachten sie, während Paulina ihren Hund lobte und ihm einen kleinen Leckerbissen als Belohnung zusteckte.
»Du hast recht«, bestätigte Martin. »So macht ein niesender Hund wirklich Spaß. Hast du deinem Rembrandt diesen Trick selbst beigebracht?«
»Natürlich, aber das ist nicht der einzige Trick. Rembrandt lernt sehr schnell und kennt noch eine ganze Menge anderer Tricks. Die kann er euch in den nächsten Tagen alle zeigen. Wir sind ja noch eine ganze Weile hier.«
Wenig später hatten sich die Kinder um den Tisch versammelt und ließen sich den Apfelkuchen schmecken. Denise und Tante Ma, wie Else Rennert genannt wurde, hatten sich ebenso zu ihnen gesellt wie Schwester Regine.
Es war eine fröhliche Runde, die da saß, und Paulina fühlte sich in keiner Weise fremd. Die Kinder gaben ihr das Gefühl, von der ersten Minute an zu ihnen zu gehören. Auch Rembrandt schien mit der für ihn ungewohnten Umgebung keine Probleme zu haben. Zufrieden hatte er sich auf einem hochflorigen kleinen Teppich an einem der Fenster zusammengerollt und döste vor sich hin.
*
Mit großem Interesse hatte Ina sich die Bilder angeschaut, die Carola in den letzten Monaten erstellt hatte und die jetzt in ihrem Atelier standen.
»Dieser Sonnenaufgang über der alten Mühle gefällt mir ganz besonders«, stellte Ina fest. »Die Farben wirken so bizarr und trotzdem natürlich. Würdest du mir dieses Gemälde für meine Galerie überlassen? Ich möchte es gerne ausstellen, und es wird sich mit Sicherheit schon bald einen Liebhaber finden.«
Carola war damit einverstanden, dass Ina dieses Bild mit nach Frankfurt nahm. Natürlich hätte sie es auch selbst verkaufen können, aber durch die Ausstellung in einer Galerie würde es mit Sicherheit einen höheren Preis erzielen.
Während die beiden Frauen mit den Bildern beschäftigt waren, unterhielten sich Wolfgang und Carsten über ihre Arbeit. So erfuhr Wolfgang, dass es sich bei Carsten nicht um irgendeinen Restaurator handelte. Er war ein international gefragter Fachmann, den man zu Rate zog, wenn es Probleme mit beschädigten Bildern gab. Selbst Museen aus Italien, Spanien und Frankreich hatten ihn schon um Hilfe gebeten, und Carsten hatte bis jetzt immer eine Lösung gefunden, um die Gemälde optisch wieder in ihren Urzustand zu versetzen. Wolfgang bewunderte diese Fähigkeit.
»Mir fehlt dazu leider jegliches Talent«, gab er zu. »Ich würde wahrscheinlich auch sehr schnell die Geduld verlieren, wenn nicht alles auf Anhieb so funktioniert, wie ich es mir vorgestellt habe.«
Carsten zog erstaunt die Augenbrauen hoch. »Das kann ich mir nicht vorstellen. Du bist doch Musiklehrer und gibst außerdem noch Zeichenunterricht. Ich habe dich vor drei Jahren beobachten können, wie du mit den Kindern arbeitest. Dabei ist mir aufgefallen, dass du eine Engelsgeduld aufbringst.«
»Ja, aber dabei handelt es sich um Kinder und nicht um Gegenstände, die ich in Ordnung bringen muss. Mit Kindern Geduld zu haben, ist leicht. Man bemerkt jeden kleinen Fortschritt, den sie durch den Unterricht machen, und freut sich mit ihnen zusammen darüber. Da lohnt es sich, Geduld aufzubringen. Aber hast du jemals erlebt, dass sich ein restauriertes Gemälde mit dir gemeinsam darüber gefreut hätte, dass es jetzt wieder gut aussieht?«
»Nun, auch ein Gemälde kann durchaus wieder strahlen, vor allem wenn Verschmutzungen oder Beschädigungen entfernt wurden«, antwortete Carsten lachend. »Und auch die strahlenden Augen der Eigentümer, wenn sie ihre Kunstschätze wieder in den Händen halten, ist für mich immer eine große Freude und Motivation für meine Arbeit.«
Die beiden Männer unterhielten sich noch eine ganze Weile über ihre Arbeit und verstanden sich prächtig. Als Carola und Ina sich später zu ihnen gesellten, wurde es ein gemütlicher Abend. Carola hatte die Zwillinge zu Bett gebracht, und Paulina beschäftigte sich mit den Kindern von Sophienlust. So waren alle Sprösslinge gut versorgt, und niemand musste sich Sorgen um sie machen.
Es war schon spät, als Paulina in ihrem Bett lag und den Mond betrachtete, der durch das Fenster hereinschaute. Während ihre Eltern gleich nebenan wohnten, hatte sie das ein wenig kleinere Gästezimmer mit Rembrandt bezogen. Paulina freute sich schon auf den nächsten Tag, den sie in Sophienlust verbringen würde. Die Ferien in Malaga waren aufregend und schön gewesen. Sie hatte das Meer und die Landschaft sehr genossen. Aber in Sophienlust gefiel es ihr so richtig gut. Hier gab es zahlreiche fröhliche Kinder, mit denen man den ganzen Tag lang eine Menge Spaß haben konnte.
*
Martins Prognose, dass Rembrandt sich gut mit Barri und Anglos verstehen würde, erwies sich als richtig. Die drei Hunde hatten sich auf Anhieb miteinander angefreundet, spielten ausgelassen im Park und hatten ihren Spaß. Paulina hatte den Kindern inzwischen noch einige Tricks gezeigt, die Rembrandt beherrschte, und alle waren begeistert gewesen.
»Barri und Anglos haben so etwas nie gelernt«, bemerkte Angelika Langenbach. »Zugegeben, wir haben auch nie versucht, ihnen solche Kunststücke beizubringen. Aber ich glaube, sie hätten es auch nicht gelernt. Sitz und Platz können sie und auch die Pfote geben. Das ist aber auch schon alles. Wir mögen Barri und Anglos sehr. Sie sind ganz liebe Hunde. Aber so klug wie Rembrandt sind sie nicht.«
»Das müssen sie auch nicht sein«, gab Paulina großzügig zurück. »Aber vielleicht unterschätzt ihr die beiden Hunde auch einfach nur. Vielleicht sind sie viel klüger, als ihr denkt, und ihr habt das bisher einfach nur nicht bemerkt. Als wir Rembrandt bekommen haben, hatte ich auch keine Ahnung, dass er ganz schnell so viele Dinge lernen kann. Wir waren froh, dass er bei uns bleiben durfte und nicht sterben musste und haben ihn aufgepäppelt. Erst viel später ist uns aufgefallen, dass er alle Tricks ganz schnell und leicht lernt. Ihr solltet einfach ausprobieren, was man Barri und Anglos so alles beibringen kann.«
»Moment mal«, warf Martin ein. »Was meinst du denn damit, dass ihr froh gewesen seid, dass Rembrandt nicht sterben musste? Er ist doch ein reinrassiger Labrador, den ihr bestimmt bei einem Züchter gekauft habt. Hundezüchter verkaufen ihre Welpen, aber sie töten sie nicht. Das wäre auch Unsinn. Dann würden sie ja nichts an den Welpen verdienen.«
Paulina nickte. »Ja, meine Eltern sind zu einem Züchter gegangen. Der hatte eine Hobbyzucht mit nur zwei Hündinnen. Eine davon hatte gerade sechs Welpen bekommen. Fünf davon waren gesund, nur ein kleiner Rüde nicht. Er war richtig abgemagert, konnte nicht richtig schlucken und hat ständig gehustet. Der Tierarzt des Züchters hat festgestellt, dass mit der Speiseröhre etwas nicht stimmte. Da war ein Knick drin. So ganz genau habe ich das nicht verstanden. Ich weiß nur, dass der Züchter uns erzählt hat, dass man diesen kleinen Hund wahrscheinlich nur einschläfern kann. Zuerst hatte der Tierarzt gehofft, dass sich der Fehler bei dem jungen Hund von allein noch auswachsen würde. Aber das ist nicht passiert. Nun sollte der Welpe am nächsten Tag eingeschläfert werden, und wir sollten uns einen anderen aussuchen. Drei Welpen waren noch nicht verkauft. Meine Eltern wollten aber keinen anderen Welpen. Sie haben gehofft, dem kranken kleinen Hund helfen zu können, und wollten ihn unbedingt haben. Richtig angebettelt haben sie den Züchter, und der war schließlich einverstanden. Wir haben Rembrandt zum halben Preis bekommen, aber darum ging es eigentlich gar nicht. Meine Eltern sind dann sofort mit dem Welpen in eine Tierklinik gefahren. Da hat man ihnen gesagt, dass man die Speiseröhre operieren kann. Das wäre zwar teuer, würde aber helfen. Rembrandt wäre danach völlig gesund. So war es dann auch. Er hustete nicht mehr, spuckte sein Futter nicht mehr ständig aus und nahm ganz normal zu. Schon sechs Wochen später konnte man Rembrandt nicht mehr ansehen, dass er einmal sehr krank gewesen war.«
»Ich finde es toll, dass deine Eltern dem Welpen eine Chance gegeben und sich so viel Mühe gemacht haben«, bemerkte Martin anerkennend. »Das hätten nicht viele Leute getan. Die wollen fast immer einen niedlichen Welpen, der kerngesund ist und mit dem man keine Probleme hat.«
»Ja, ich auch gut finde, dass du hast liebe Eltern, die mögen Tiere auch, wenn sie krank sind«, ließ Kim sich vernehmen. »Aber nicht nur bei Tieren ist das gut. Ich auch bin gewesen furchtbar krank, als gefallen aus Boot bei Flucht. War viel Wasser in mir. Bald ich wäre gestorben. Aber da war netter Arzt, der mich gefunden am Strand und mir hat geholfen. Er war bei mir viele Tage und viele Nächte, bis ich war gesund. Ohne netten Arzt ich wäre tot jetzt, genau wie Rembrandt, wenn nicht wären gewesen deine Eltern und du.«
Bis jetzt hatte Paulina Kims Schicksal nicht gekannt. Aber jetzt konnte sie es sich einigermaßen zusammenreimen und war gleichermaßen erschüttert wie beeindruckt. Bei dem Gedanken, dass dieser nette kleine Junge beinahe ertrunken wäre, spürte sie einen Kloß im Hals und wollte gar nicht weiter darüber nachdenken, wie schrecklich für Kim alles hätte enden können.
»Soll Rembrandt euch noch einen kleinen Trick zeigen?«, fragte Paulina nach einer Weile des Schweigens und wartete eine Antwort gar nicht erst ab. Sie pfiff nach dem Hund, der sich augenblicklich von Barri und Anglos trennte, zu ihr kam und unmittelbar vor ihren Füßen mit aufmerksam hochgestellten Ohren Platz nahm.
»Müder Hund. Ganz müder Hund«, sagte Paulina gedehnt und hielt sich mit ihren Händen kurz ihre Augen zu. Rembrandt schaute sie einen Moment lang prüfend an. Dann warf er sich flach auf die Seite, bewegte sich nicht mehr und begann, schnarchende Töne von sich zu geben. Alle Kinder zeigten sich beeindruckt und bewunderten den intelligenten Hund.
Aber wie bekommst du ihn jetzt wieder wach?«, wollte Pünktchen wissen. »Woher soll Rembrandt wissen, wie lange er dort liegen soll?«
»Das ist ganz einfach«, erwiderte Paulina und schnalzte mit den Fingern. »Rembrandt! Aufwachen!«, rief sie dem Hund zu, der augenblicklich aufsprang und sich bei Paulina den kleinen Leckerbissen abholte, den er prinzipiell für jeden gelungenen Trick erhielt.
Heidi versuchte nun auch ihr Glück. Sie baute sich vor Barri auf, hielt sich mit den Händen die Augen zu und erklärte dem Hund, dass er müde, sehr müde sei. Barri wedelte daraufhin freundlich, betrachtete das kleine Mädchen eine Weile mit schief gelegtem Kopf und wurde auffallend unsicher. Was Heidi von ihm erwartete, konnte Barri sich nicht erklären, und so löste er das Problem auf seine liebevolle Weise: Mit einer nassen Schnauze stieß er Heidi vorsichtig an und leckte ihr einmal herzhaft über den blonden Haarschopf. Ein bisschen angewidert über den feuchten Zuneigungsbeweis schob Heidi den Bernhardiner zur Seite.
»Pfui, Barri, das ist eklig. Du sollst mich doch nicht abschlecken, sondern dich auf die Seite legen und schnarchen. Hast du denn nicht gesehen, wie Rembrandt das eben gemacht hat? So schwer ist das doch gar nicht. Ich glaube, du bist eben doch nicht so schlau wie Rembrandt. Aber lieb habe ich dich trotzdem.«
Alle Kinder schlossen sich Heidis Meinung an. Sie alle liebten die beiden Hunde und hatten nie danach gefragt, ob es sich nun um besonders kluge oder vielleicht etwas dumme Hunde handelte. Barri und Anglos waren einfach ihre Freunde. Dass sie Tricks nicht so leicht begreifen konnten, wie Heidi es eben erwartet hatte, war den größeren Kindern völlig klar. Das hatte nichts mit Dummheit zu tun. Aber vielleicht würden Bari und Anglos tatsächlich ein paar einfache Kunststücke erlernen können. Die Kinder nahmen sich vor, in der nächsten Zeit ein bisschen mit den Hunden zu üben. Paulina würde ihnen möglicherweise dabei helfen und ihnen einige Ratschläge geben können.
*
Carola und Ina waren nach Maibach gefahren, um in einem Geschäft für Künstlerbedarf einige Utensilien zu erstehen, die Carola für ihre Malerei benötigte. Carsten, der in seinem Urlaub mal nichts mit Malerei zu tun haben wollte, zog es vor, mit Paulina und Rembrandt einen Spaziergang zum Waldsee zu unternehmen. Wir fast alle Labradors liebte Rembrandt Wasser über alles und ging für sein Leben gerne schwimmen. Einige Kinder schlossen sich Carsten und Paulina an.
Unterwegs ließ Carsten den Hund immer wieder Stöckchen holen, die er weggeworfen hatte. Rembrandt brachte sie brav zurück und legte sie vor Carstens Füße, damit dieser das Spiel fortführen konnte. Während er sich mit dem Hund beschäftigte, musste Carsten mehrfach niesen.
»Hoffentlich haben Sie sich keine Erkältung eingehandelt«, bemerkte Pünktchen und warf einen besorgten Blick auf den Mann, der aber kopfschüttelnd lächelte.
»Nein, das ist keine Erkältung. Bei diesem schönen warmen Wetter erkältet man sich nicht so leicht. Mein Niesen muss einen anderen Grund haben. Vielleicht bin ich gegen irgendeine Pflanze allergisch, die hier in der Nähe wächst. Das könnte sein.«
Auch als sie den Waldsee erreicht hatten und Rembrandt sich begeistert ins Wasser stürzte, musste Carsten noch mehrmals niesen. Paulina reichte ihrem Vater ein Päckchen Papiertaschentücher, das sie in ihrer Tasche hatte, machte sich aber keine Sorgen um ihn. Da er fröhlich und heiter wirkte, konnte er nicht ernsthaft krank sein.
Wieder in Sophienlust angekommen, bat Denise Carsten um einen kleinen Gefallen: Er sollte sich mehrere Gemälde ansehen, die im Biedermeierzimmer und in der Halle über dem Kamin hingen. Die Bilder stammten noch von Sophie von Wellentin, Nicks Urgroßmutter, deren Besitz Sophienlust vor vielen Jahren gewesen war. Der Zahn der Zeit hatte sowohl an den Gemälden als auch an den vergoldeten Rahmen genagt. Denise hatte sich in den letzten Tagen mit Nick darüber unterhalten, und beide waren der Meinung gewesen, dass dieses Problem durch einen Fachmann behoben werden sollte. Wer wäre da besser geeignet gewesen als Carsten? Ihm konnten Denise und Nick voll vertrauen.
Carola und Ina waren inzwischen aus Maibach zurückgekehrt. Sie saßen in Carolas Wohnung, sichteten die Einkäufe und unterhielten sich dabei.
Paulina war daran gewöhnt, dass ihre Mutter ihr fast immer etwas mitbrachte, wenn sie von ihren Einkäufen zurückkehrte. Sie erwartete keine großen Geschenke, nur ein paar nette Kleinigkeiten, die immer wieder eine hübsche Überraschung darstellten. Deshalb lief Paulina zu Carolas Wohnung hinüber, um ihre Mutter zu fragen, was sie ihr heute mitgebracht hätte.
Sie ging dabei durch den Garten und wählte die Hintertür, die nie verschlossen war und direkt in die Diele führte. Die Wohnzimmertür war nur angelehnt. Paulina wollte gerade den Raum betreten, in dem sich ihre Mutter und Carola befanden, als sie instinktiv stehen blieb.
»Wer kann denn mit so einer Katastrophe rechnen?«, hörte sie ihre Mutter sagen. Schlagartig wurde sie neugierig. Ihre Mutter hatte noch nie etwas von einer Katastrophe erzählt, sprach aber offensichtlich mit Carola Rennert gerade darüber. Paulina wusste, dass es sich nicht gehörte, die Gespräche anderer Menschen zu belauschen, entschied sich aber, genau das jetzt zu tun. Ganz still stand sie auf dem Flur und wagte kaum zu atmen.
»Die Kleine hat doch überhaupt keine Ahnung, dass sie adoptiert worden ist«, erklärte ihre Mutter nun. »Dabei sind seit der Adoption schon fast zehn Jahre vergangen.«
»Das ist eine lange Zeit«, bemerkte Carola. »Ich möchte nicht den Stab über andere Menschen brechen und selbst alles besser wissen. Aber ich bin der Ansicht, dass das Mädchen ein Recht darauf gehabt hätte, von Anfang an die Wahrheit zu erfahren. Mit der Zeit wird es für ein Kind immer schwerer, sich damit abzufinden, dass es ein Adoptivkind ist. Oft fühlen sich diese Kinder von ihren Adoptiveltern verraten und belogen. Dann kommt es zu ernsthaften Komplikationen, die nicht so leicht aus der Welt zu schaffen sind. Vielleicht sollte man jetzt auch noch ein paar Jahre warten, bis die Kleine erwachsener und reifer geworden ist. Mit achtzehn Jahren hat sie wahrscheinlich viel mehr Verständnis für die Gründe einer Adoption denn als Elfjährige und nimmt die Situation nicht mehr so übel.«
»Ja, darüber habe ich auch nachgedacht, mir aber gesagt, dass dieses Schweigen von Jahr zu Jahr schwieriger und belastender wird. Es wäre besser, jetzt endlich reinen Tisch zu machen. Aber nun ist eben diese Katastrophe eingetreten, die Allergie gegen den geliebten Familienhund. Er muss fort und kann nicht bleiben. Niemand kann dem Vater, oder besser gesagt dem Adoptivvater, zumuten, die kürzlich aufgetretene Allergie auszuhalten. Eine Lösung muss schnell gefunden werden, aber ein so großer Hund ist ja nicht leicht zu vermitteln. Am Ende wird nur noch das städtische Tierheim übrig bleiben. Das ist hart, aber vermutlich nicht zu ändern. Wenn das arme Mädchen nun aber erfährt, dass seine Eltern gar nicht seine leiblichen Eltern sind und dass es sich jetzt auch noch von dem geliebten Hund trennen muss, ist die Katastrophe perfekt. Was soll das arme Kind dann denken und fühlen?«