Читать книгу Sophienlust - Die nächste Generation 3 – Familienroman - Ursula Hellwig - Страница 3
ОглавлениеDer See am Fuß des Hügels, auf dem der prachtvolle Bau des Internats stand, schimmerte in der Abendsonne in allen nur erdenklichen Farben. Zahlreiche Schüler, die ausnahmslos aus gut betuchten Familien stammten, hatten es sich auf der großzügigen Terrasse bequem gemacht. Es wurden Gespräche geführt, einige Kinder beschäftigten sich mit ihren Smartphones und wieder andere hatten ihre Nasen in interessante Bücher gesteckt.
Die frühen Abendstunden gehörten für alle Schüler zu ihren Freizeiten, in denen sie keine Verpflichtungen hatten. Tagsüber gab es zahlreiche Programme und Angebote, und jeder Schüler war gehalten, sich daran zu beteiligen. Es gab die nahezu freie Wahl zwischen Reitunterricht, Tennis, Leichtathletik, Wassersport aller Art, der Teilnahme am Schulorchester, in einer Theatergruppe oder die Mitarbeit in einer Gruppe für künstlerisches Gestalten. Die Internatsleitung achtete streng darauf, dass jeder Schüler sich in irgendeiner Weise in die Gemeinschaft einbrachte. Aber persönliche Freizeit gehörte natürlich auch zum täglichen Dasein.
Fabian Schöller, der etwas schmächtige, dreizehn Jahre alte Junge, hatte sich nicht auf der Terrasse eingefunden. Das tat er ohnehin recht selten. Zwar hatte er nichts gegen seine Mitschüler, aber es war ihm in den beinahe zwei Jahren, die er nun schon in diesem Internat weilte, nicht gelungen, eine gute Verbindung zu ihnen zu bekommen. Viele zeigten sich doch ein wenig überheblich, und mit dieser Charaktereigenschaft fand Fabian sich nicht zurecht.
Da war ihm die kleine Ella Mareno schon lieber. Das zehn Jahre alte Mädchen stammte aus einem kleinen Ort am Bodensee.
Dort hatten Ellas Eltern einen namhaften Bootsbaubetrieb besessen. Vor etwa einem Jahr waren sie nach Australien gereist, um dort an einer Regatta teilzunehmen. Obwohl es sich bei den beiden um erfahrene Segler gehandelt hatte, waren sie in einem Sturm, der während der Regatta aufgezogen war, gekentert und ums Leben gekommen. Ella, die über keine weiteren Verwandten verfügte, hatte einen Vormund bekommen, und der war der Ansicht gewesen, dass die Unterbringung in einem Nobelinternat in der Schweiz für das Mädchen von Vorteil sein könnte.
Genauso wie Fabian hatte auch Ella zu den Mitschülern keine wirklich freundschaftlichen Kontakte knüpfen können. Das etwas schüchterne Mädchen fühlte sich in dem Internat einfach nicht wohl. Nur zu Fabian hatte Ella volles Vertrauen und hielt sich möglichst oft in der Nähe des Jungen auf. Fabian sah seinerseits in Ella so etwas wie eine kleine Schwester, für die er sich verantwortlich fühlte.
Während der vergangenen Tage hatten sich viele Dinge ereignet, die sowohl Ellas als auch Fabians Leben grundlegend verändern würden. Aus diesem Grund steckten die beiden Kinder die Köpfe derzeit noch enger zusammen. Auch an diesem Abend hielten sie sich zusammen an ihrem Lieblingsplatz unter einer großen Trauerweide auf. Zwar befand sich hier keine Bank und auch keine andere Sitzmöglichkeit, aber Ella und Fabian reichte der weiche Grasboden aus, um sich dort hinzusetzen.
»Du hast mir eine Menge von Sophienlust erzählt«, begann Ella. »Es muss dort wunderschön sein, viel schöner als hier, weil die Kinder da netter und überhaupt nicht eingebildet sind. Jetzt wirst du bald wieder nach Sophienlust ziehen. Dein Vormund hat sich doch gestern mit unserem Direktor unterhalten und ihm gesagt, dass du in Sophienlust wahrscheinlich besser aufgehoben bist als hier.«
»Stimmt«, bestätigte Fabian. »Und ich freue mich sehr, wenn ich wieder nach Sophienlust ziehen darf. Meine Großtante hat damals unbedingt gewollt, dass ich in diesem Internat leben soll. Das fand sie standesgemäß. Ich habe sie nie verstanden, und ich war auch nie gerne hier. Aber nun ist meine Großtante ganz plötzlich gestorben. Du darfst nicht denken, dass ich ihr den Tod gewünscht habe. Es ist eben einfach so passiert. Aber nun habe ich diesen Vormund, der für mich mehr Verständnis hat und nicht darauf besteht, dass ich länger in diesem Internat bleiben muss. Ich hätte nie zu träumen gewagt, dass ich jemals wieder in Sophienlust leben würde, bei meinen Freunden und meiner Dogge Anglos. Ich kann es noch gar nicht fassen, und ich hoffe, dass mein Vormund es sich nicht doch noch anders überlegt.«
Ella schüttelte den Kopf. »Das wird er bestimmt nicht tun. Du darfst zurück, und das gönne ich dir. Am liebsten würde ich mit dir kommen. Aber das geht ja nicht. Das wird mein Vormund nicht erlauben. Wenn du weg bist, ist es hier überhaupt nicht mehr schön. Dann habe ich niemanden mehr, dich nicht und Gero auch nicht.«
Fabian seufzte hörbar auf. Ella tat ihm in der Seele leid. Ohne ihn würde sie sich mit Sicherheit sehr verlassen vorkommen, und dann musste sie auch noch auf Gero verzichten.
Bei Gero handelte es sich um einen kleinen braunen Hund von vielleicht drei Jahren. Vor wenigen Tagen hatte Ella ihn in einem Leinensack auf einer Müllkippe gefunden. Herzlose Menschen hatten sich des Hundes auf diese tierquälerische Weise entledigt. Nachdem Ella dem Hund den Namen Gero gegeben und ihn versorgt hatte, war aus dem struppigen Etwas ein durchaus ansehnlicher Hund mit seidigem Fell geworden. Nur zu gerne hätte Ella sich weiterhin um Gero gekümmert und ihn als ihr Haustier behalten. Aber Tierhaltung war im Internat leider nicht erlaubt, und es sollte auch keine Ausnahme gemacht werden, damit am Ende nicht andere Kinder ebenfalls auf einer Ausnahmegenehmigung bestehen würden. So war Gero einfach in ein Tierheim gegeben worden und sollte nun vermittelt werden. Solange sich noch kein Interessent gefunden hatte, konnte Ella ihren vierbeinigen Freund regelmäßig besuchen. Aber irgendwann in absehbarer Zeit würde Gero ein neues Zuhause gefunden haben und für Ella nicht mehr erreichbar sein. Darunter litt das Mädchen mehr, als es zugeben wollte.
»Ich finde es schlimm, dass du Gero nicht behalten darfst«, bemerkte Fabian. »Schließlich hast du ihn gerettet, dich um ihn gekümmert und bist jetzt auch für ihn verantwortlich. Das sieht hier leider niemand ein. In Sophienlust gäbe es das nicht. Dort dürftest du Gero behalten.«
»Ja, in Sophienlust. Da ist alles ganz anders und viel besser als hier. Aber da komme ich leider nie hin und Gero auch nicht. Mensch, Fabian, du hast es gut. Du darfst zurück nach Sophienlust. Weißt du eigentlich, was für ein Glück du hast?«
»Ja, das weiß ich genau«, antwortete der Junge ernsthaft. »Und ich kann dir gar nicht sagen, wie dankbar ich für dieses Glück bin. Aber warte mal. Wieso solltest du nicht einfach zusammen mit mir nach Sophienlust kommen? Gero könnte natürlich auch mitkommen. Das wäre doch für alle das Beste.«
»Und wie soll das funktionieren?« Ella zog hilflos die Schultern hoch. »Mein Vormund hat mich in dieses Internat gesteckt, weil er glaubt, dass das gut für mich ist. Jetzt wird er wohl kaum einsehen, dass Sophienlust für mich die noch bessere Lösung sein könnte. Selbst wenn ich ihm sage, dass ich gern nach Sophienlust umziehen möchte, wird das nicht helfen. Wer hört schon auf ein Kind?«
»Wahrscheinlich keiner«, gestand Fabian offen. »Aber es ist vielleicht auch gar nicht nötig, dass du mit deinem Vormund redest. Ich erzähle Nick und Tante Isi, wie gerne du mit mir nach Sophienlust kommen würdest. Die beiden werden auch sehr gut verstehen, dass du dich um Gero kümmern und ohne mich nicht hier im Internat bleiben willst. Dann können sie mit deinem Vormund reden und ihm alles erklären.«
»Meinst du wirklich, dass das helfen könnte?« Ella schien recht wenig zuversichtlich zu sein. Trotzdem leuchtete so etwas wie eine zaghafte Hoffnung in ihren Augen auf.
»Ich weiß es nicht genau, aber es könnte durchaus sein. Nick und Tante Isi haben schon so vielen Kindern geholfen, die sich in einer ähnlich blöden Situation befunden haben wie du. Weißt du was? Morgen telefoniere ich sowieso mit Nick. Dann frage ich ihn, ob er mit deinem Vormund reden mag. Ella, ich habe heute gehört, wie der Direktor zu meinem Vormund gesagt hat, dass ich wahrscheinlich schon in der nächsten Woche nach Sophienlust umziehen kann. Mit ein bisschen Glück sind wir beide zusammen mit Gero schon in einer Woche in Sophienlust!«
»Sophienlust!« Ella seufzte verträumt. »Ich war ja noch nie dort. Aber du hast mir so tolle Sachen darüber erzählt. Deshalb weiß ich, dass Sophienlust ein Paradies sein muss.«
»Es ist ein Paradies«, verkündete Fabian im Brustton der Überzeugung. »Einen noch schöneren Ort gibt es auf dieser Welt nicht, und das wirst du selbst sehen. Wir beide werden ganz bestimmt schon bald zusammen dort sein. Wenn Nick und Tante Isi deinen Vormund bearbeiten, kann er gar nicht anders entscheiden. Dann lässt er dich nach Sophienlust umziehen.«
Ella hoffte, dass Fabian sich nicht täuschte und dass seine Zuversicht berechtigt war. Sie selbst war nicht ganz so sicher. Aber im Augenblick wollte sie nicht daran glauben, dass Fabians Plan nicht funktionieren könnte. Nein, sie wollte ganz fest darauf hoffen, dass ihre Tage im Internat gezählt waren und dass sie mit Fabian und Gero bereits in wenigen Tagen in diesem paradiesischen Kinderheim sein würde.
*
Schon seit mehreren Tagen herrschte in Sophienlust fröhliche Aufregung. Fabians Vormund hatte Nick von Wellentin-Schoenecker darüber informiert, dass der Junge vermutlich schon sehr bald in das Kinderheim zurückkehren würde, falls dort noch ein Platz für ihn frei sei.
Alle Kinder waren sich einig gewesen: Selbst wenn Sophienlust bis unter das Dach belegt gewesen wäre, hätten sie keine Sekunde gezögert und wären sofort zusammengerückt, damit Fabian zu ihnen kommen konnte. Alle freuten sich auf den Jungen, der auch heute noch einer von ihnen war, obwohl er schon lange in diesem Schweizer Internat lebte.
»In wessen Zimmer soll Fabian denn wohnen, wenn er wieder bei uns ist?«, wollte Vicky wissen. »Ein Einzelzimmer wird er nicht haben wollen. Das hat er in der Schweiz lange genug gehabt, und wenn er in den Ferien bei uns war, hat er uns immer wieder erzählt, dass er Einzelzimmer nicht mag.«
»Fabian ist doch nur knapp drei Monate älter als ich«, murmelte Martin nachdenklich. »Er ist ein großer Tierfreund und hat seine Dogge hier in Sophienlust. Ich liebe Tiere ebenfalls und will später unbedingt einmal Tierarzt werden. Fabian und ich passen also ziemlich gut zusammen. Ich würde gerne mit ihm in einem Zimmer wohnen. Streit wird es zwischen uns ganz bestimmt nicht geben.«
Pünktchen schüttelte lachend den Kopf. »Streit mit Fabian? Das ist absolut unmöglich. Er ist der freundlichste Junge, den es jemals in Sophienlust gegeben hat. Außerdem bist du auch überhaupt nicht streitsüchtig. Deine Idee ist wirklich gut, Martin, und ihr beide werdet mit Sicherheit die besten Freunde sein.«
Pünktchen hatte gerade ausgesprochen, als sich die Tür zum Aufenthaltsraum öffnete und Nick, gefolgt von seiner Mutter, hereinkam.
»Wir haben gerade beschlossen, dass Fabian mit mir zusammen in einem Zimmer wohnen wird«, berichtete Martin sofort. »Das ist doch in Ordnung, oder?«
»Ja, die Idee ist gut«, bestätigte Nick. »Aber was ist mit Ella? Für die brauchen wir auch einen passenden Platz. Fabian hat mich angerufen und mir von Ella berichtet. Meine Mutter hat sich dann mit dem Vormund des Mädchens in Verbindung gesetzt, und im Augenblick sieht es so aus, als käme Ella zusammen mit Fabian nach Sophienlust. Ach ja, und Gero kommt bei dieser Gelegenheit auch gleich mit.«
Die Kinder wechselten fragende Blicke. »Ella? Gero?«, fragte Pünktchen. »Abgesehen von Fabian kommen offensichtlich noch zwei andere Kinder? Dann wird es ein bisschen eng bei uns, aber das schaffen wir schon. Fabian scheint ja das halbe Internat mit nach Sophienlust zu bringen.«
»Bei Ella handelt es tatsächlich um eine von Fabians Mitschülerinnen«, erklärte Nick. »Gero hingegen ist ein Hund, ein niedlicher kleiner Hund, den Ella auf einer Müllkippe gefunden und gerettet hat. Gero befindet sich im Augenblick in einem Tierheim, weil Hundehaltung im Internat nicht erlaubt ist.«
»Pfui, wie gemein!«, ereiferte Martin sich. »Das Internat sollte froh sein, dass Ella sich um diesen Hund kümmern möchte. Das beweist doch, dass sie wirklich nett ist und nicht nur an sich selbst denkt. Aber ein Hund scheint den Leuten dort im Internat nicht wichtig genug zu sein. Zum Glück ist das hier in Sophienlust ganz anders. Deshalb fände ich es gut, wenn Ella mit Gero zu uns käme. Hoffentlich klappt das.«
Nick und Denise waren zufrieden. Dass die Kinder sich über die endgültige Rückkehr von Fabian freuten, wunderte die beiden nicht. Aber keines der Kinder kannte Ella oder Gero. Trotzdem waren alle bereit, das kleine Mädchen und dessen Hund herzlich in ihrer Mitte aufzunehmen. So waren sie nun einmal, die Schützlinge von Sophienlust, und genauso sollten sie auch sein.
»Wie alt ist Ella denn?«, wollte Heidi in der Hoffnung wissen, dass nun vielleicht ein Mädchen Einzug halten würde, das noch ein bisschen jünger war als sie. Manchmal fand Heidi es nämlich nicht besonders schön, mit ihren sieben Jahren das zweitjüngste Kind in diesem Haus zu sein.
»Ella ist gerade erst zehn Jahre alt geworden«, gab Nick Auskunft. »Früher lebte sie mit ihren Eltern in einem kleinen Ort am Bodensee. Dort hatten ihre Eltern einen Bootsbaubetrieb. Im letzten Jahr sind sie nach Australien geflogen. Dort wollten sie an einer Regatta teilnehmen. Es gab einen fürchterlichen Sturm. Das Segelboot von Ellas Eltern kenterte, und sie haben das Unglück nicht überlebt. Kurze Zeit später hat Ella einen Vormund bekommen, und der hat sie in die Schweiz in das Internat geschickt. Da findet Ella es allerdings überhaupt nicht schön.«
Während Heidi ein wenig enttäuscht darüber war, dass es sich bei Ella doch schon um ein schon ziemlich großes Mädchen handelte, machte Martin sich ganz andere Gedanken.
»In einem Internat, in dem man mir einfach meinen Hund wegnimmt, würde ich es ganz bestimmt auch nicht schön finden. Da würde ich jede Gelegenheit wahrnehmen, um an einen anderen Ort ziehen zu können. Ella macht das ganz richtig, und sie wird sehr schnell merken, dass sie hier bei uns viel besser aufgehoben ist als in diesem komischen Internat in der Schweiz.«
»Feiern wir ein Fest, wenn Fabian und Ella zu uns kommen?«, wollte Heidi wissen. »Ein Fest wäre schön. Schließlich ist es ein ganz besonderer Tag.«
»Natürlich werden wir feiern«, versprach Nick. »Überall im Haus hängen wir Girlanden auf, und Magda wird besonders gute Kuchen backen. Fabian weiß es sowieso schon, aber Ella soll von Anfang an spüren, dass sie bei uns herzlich willkommen ist. Nun ja, und für Gero findet sich bestimmt irgendwo in der Speisekammer eine leckere Fleischwurst, die er als Willkommensgeschenk bekommen kann. Magda wird sich nicht lumpen lassen. Da bin ich absolut sicher. Ihr wisst ja selbst, wie sehr sie Tiere liebt.«
Ja, das war allen Kindern bestens bekannt, und wegen ihrer freundlichen Art, mit der sie allen Kindern und Tieren begegnete, wurde Magda von allen geliebt. Kein Mensch hätte es wagen sollen, Schlechtes über Magda zu sagen. Er hätte es augenblicklich mit dem Zorn der Kinder zu tun bekommen. Im Allgemeinen galten die Kinder von Sophienlust als ausgeglichen und verständnisvoll. Aber sie hatten auch ihre Grundsätze, und dazu gehörte es, jeden zu schützen, den sie liebten. Dazu gehörte selbstverständlich auch Magda. Fabian, der in Kürze wieder in Sophienlust Einzug halten sollte, war ebenfalls einer der Menschen, der sich auf den besonderen Schutz seiner Freunde verlassen konnte. Auch wenn er lange Zeit in einem Schweizer Internat verbracht hatte, galt er nach wie vor als Familienmitglied.
Über Ella wussten die Kinder bisher noch so gut wie gar nichts. Trotzdem waren sich schon jetzt alle darüber einig, dass auch sie unmittelbar nach ihrer Ankunft in Sophienlust ein vollwertiges Mitglied der großen Familie sein würde.
*
Vor ein paar Tagen hatten Andrea und Hans-Joachim von Lehn einen Anruf erhalten, der eine Begegnung im letzten Herbst wieder in Erinnerung brachte: Damals waren sie beide auf eine kleine Anzeige in einer Zeitschrift für Touristik gestoßen. Ein gediegenes kleines Hotel in der spanischen Region Galicien bot Zimmer an. Dabei spielte es keine Rolle, ob es sich bei den Gästen um Pilger handelte, die ihren Weg nach Santiago de Compostela fortsetzen wollten, oder ob es einfach Touristen waren, die ganz oben im Nordwesten Spaniens einen erholsamen Urlaub verbringen wollten. Hans-Joachim und Andrea hatten sich entschlossen, eine Woche in der ursprünglichen Landschaft Galiciens zu verbringen. Ihr kleiner Sohn Peter hätte von diesem Urlaub noch nicht viel gehabt und war deshalb in Sophienlust geblieben.
Das relativ kleine Hotel mit gerade einmal fünfzehn Zimmern hatte Andrea und Hans-Joachim ausnehmend gut gefallen. Noch mehr gefielen ihnen allerdings die Besitzer, Liana und Manolo da Silva. Die beiden jungen Leute bemühten sich ständig, den Aufenthalt ihrer Gäste so optimal wie möglich zu gestalten. Auch Manolos Eltern, sein spanischer Vater und seine deutsche Mutter, umsorgten die Gäste liebevoll, obwohl sie nebenher noch einen landwirtschaftlichen Betrieb führten.
Liana da Silva, eine gebürtige Deutsche, hatte Andrea und Hans-Joachim berichtet, dass sie ihren Vater schon als kleines Mädchen verloren hatte. Ihre Mutter starb kurz nach Lianas Volljährigkeit. Zu dieser Zeit hatte Liana gerade ihre Ausbildung als Hotelfachfrau beendet. Für eine Weile wollte sie nach Spanien gehen, die Sprache lernen und dort in einem Hotel arbeiten. So landete sie mehr oder weniger zufällig in Galicien in Manolos Hotel. Es dauerte gar nicht lange, bis die beiden jungen Leute sich ineinander verliebt und geheiratet hatten. Liana da Silva dachte nun gar nicht mehr daran, jemals wieder nach Deutschland zurückzukehren. Galicien war zu ihrer zweiten Heimat geworden, die sie liebte. Mit ihrem Mann war sie glücklich, und auch ihre Schwiegereltern mochte sie sehr. Im Leben des jungen Paares gab es eigentlich nur einen wunden Punkt: Sie hatten sich von Anfang an Kinder gewünscht, nach ihren Idealvorstellungen einen Sohn und eine Tochter. Aber Liana war nie schwanger geworden. Schließlich waren entsprechende Mediziner zu Rate gezogen worden, die die Ursache herausfanden und Liana und Manolo keine großen Hoffnungen machen konnten. Doch nach einer künstlichen Befruchtung war Liana schließlich doch schwanger geworden. Andrea erinnerte sich noch genau an das glückliche Gesicht der jungen Frau, als diese ihr während der Ferien mitteilte, dass sie jetzt in der elften Woche schwanger sei. Ob es sich um ein Mädchen oder einen Jungen handelte, wussten Liana und Manolo noch nicht, und das wollten sie auch nicht wissen. Sie träumten von einem gesunden Kind, das in einigen Monaten zur Welt kommen sollte. Mehr wünschten sie sich nicht.
Nun hatten Liana und Manolo ihren Besuch angekündigt. Aus welchem Grund die beiden sich entschlossen hatten, nach Deutschland zu kommen, wussten Andrea und Hans-Joachim nicht genau. Liana hatte ihnen lediglich mitgeteilt, dass es um eine Großtante aus Frankfurt ging.
Da Liana in Deutschland geboren und aufgewachsen war, war es nicht verwunderlich, dass hier noch Verwandte von ihr lebten, und warum sollte sie diese Verwandten nicht einfach einmal besuchen?
»Ob Liana und Manolo ihren Nachwuchs wohl mitbringen?«, fragte Andrea nachdenklich und schaute ihren Mann an. »Das Baby müsste inzwischen doch längst auf der Welt sein.«
Hans-Joachim dachte kurz nach. »Stimmt, wenn ich mich richtig erinnere, müsste das Kind inzwischen etwa zwei Monate alt sein. Es ist zwar beschwerlich, mit einem so kleinen Baby weite Reisen zu unternehmen, aber viele Leute sehen das sehr gelassen.«
»Stimmt«, bestätigte Andrea. »Ich freue mich schon darauf, das Baby zu sehen, und bin gespannt, ob es ein Junge oder ein Mädchen geworden ist. Übermorgen werden wir mehr wissen. Liana und Manolo haben uns mitgeteilt, dass sie um die Mittagszeit bei uns eintreffen werden. Ich werde eine spanische Tortilla für die beiden zubereiten. Hoffentlich gelingt sie mir. Ich möchte mich nicht blamieren.«
»Mit deinen Kochkünsten kannst du dich überhaupt nicht blamieren«, versicherte Hans-Joachim liebevoll und nahm seine Frau in die Arme. »Was immer du auch zubereitest, bis jetzt hat immer alles ausgezeichnet geschmeckt.«
»Ja, bis jetzt«, bestätigte Andrea und zwinkerte ihrem Mann schalkhaft zu. »Aber das kann übermorgen schon ganz anders aussehen. Du weißt selbst, dass manche Dinge sich ganz überraschend ändern.«
»Das mag sein. Aber deine Fähigkeiten verschlechtern sich nicht. Liana und Manolo werden von deiner Tortilla begeistert sein. Schließlich hast du das Rezept von ihnen persönlich bekommen, als wir bei ihnen in Galicien waren. Ihnen wird es schmecken, und ich freue mich auch schon jetzt auf diese leckere spanische Mahlzeit.«
*
Fabian und Ella waren ganz offiziell in das Büro des Direktors gerufen worden. Beide wussten, dass er mit ihnen über die Übersiedlung nach Deutschland sprechen wollte. Dass jetzt im letzten Augenblick vielleicht noch alles vereitelt werden könnte, befürchteten die beiden Kinder nicht. Trotzdem fühlten sie sich nicht ganz wohl, als sie das ehrwürdige, stilvoll eingerichtete Büro betraten. Ein bisschen schüchtern nahmen sie Platz, nachdem sie dazu aufgefordert worden waren.
»Ihr wisst sicher schon, worüber ich mit euch sprechen möchte«, begann der Direkter. »Fabian, nach dem Tod deiner Großtante, der mich übrigens auch jetzt noch betroffen macht, hat dein Vormund bestimmt, dass du in das Kinderheim zurückkehren sollst, in dem du früher gelebt hast. Ich persönlich habe über Sophienlust nur Gutes gehört und deshalb nichts dagegen, dass du wieder dort leben wirst. Wenn du es allerdings vorziehen solltest, hier bei uns zu bleiben, könnte ich mich bei deinem Vormund dafür einsetzen.«
Fabian wollte nicht offen zugeben, dass er nichts auf der Welt lieber tun würde, als wieder in Sophienlust zu leben. Er musste sich zusammenreißen, um nicht von seinem Stuhl aufzuspringen und Freudensprünge zu unternehmen.
»Ich bin sehr damit einverstanden, wieder nach Sophienlust zu gehen«, bemerkte er vorsichtig. »Es ist nicht so, dass dieses Internat hier schlecht wäre. Das ist es wirklich nicht, und ich will auch nicht undankbar für alles sein, was hier für mich getan worden ist. Aber ich habe lange Zeit in Sophienlust gewohnt und fühle mich dort zu Hause. Dort habe ich meine Freunde, und dort lebt auch meine Dogge Anglos. Deshalb fühle ich mich da wohl.«
»Ich würde gerne mit Fabian nach Sophienlust gehen«, ließ Ella sich vernehmen. »Er ist mein bester Freund. Das heißt, eigentlich ist er mein einziger Freund. Außer Fabian habe ich hier niemanden. Ich glaube, mich mag niemand so richtig. In Sophienlust wäre das bestimmt anders. Fabian hat mir erzählt, dass die Kinder, die dort wohnen, ganz anders sind als die in diesem Internat. Aber da gibt es noch ein Problem. Ich möchte Gero nicht im Stich lassen. Er ist jetzt im Tierheim, und da soll er nicht bleiben. Kinder, die in Sophienlust wohnen, dürfen ihre Tiere mitbringen. Gero ist doch mein Hund. Ich habe ihn gefunden und muss deshalb für ihn sorgen. Er soll mit mir nach Sophienlust gehen.«
»Seht ihr, genau darüber wollte ich mich mit euch beiden unterhalten«, erklärte der Direktor. »In den letzten Tagen habe ich nicht nur mit euren Vormunden gesprochen, sondern auch mehrere Telefonate mit Sophienlust geführt. Ich wollte ganz sicher sein, dass ihr in Zukunft optimal untergebracht seid und den Entschluss, das Internat zu verlassen, nicht irgendwann bereuen werdet. Dass du, liebe Ella, an dem kleinen Hund hängst, den du gerettet hast, ist mir klar. Es ist auch nicht meine Absicht gewesen, dich zu ärgern, als ich dir verbieten musste, den Hund mit in unser Haus zu bringen. Tierhaltung ist bei uns eben einfach nicht gestattet. Ganz persönlich freue ich mich darüber, dass das in Sophienlust anders ist. In drei Tagen werdet ihr beide nach dorthin übersiedeln. Ihr werdet zum Bahnhof begleitet. Am Zielort holen euch ein paar Mitarbeiter von Sophienlust ab.«
Ella wollte etwas sagen, aber der Direktor machte sofort eine beschwichtigende Geste. Verständnisvoll lächelte er dem Mädchen zu.
»Ich weiß schon was du sagen willst. Du denkst an Gero. Keine Sorge, der Hund wird euch beide begleiten. Unmittelbar bevor wir zum Bahnhof fahren, holen wir Gero im Tierheim ab. Das ist alles bereits geregelt. Ich hoffe, dass ihr beide zufrieden seid und unser Internat in guter Erinnerung behalten werdet.«
»Ja, das werden wir«, versprach Ella, obwohl sie sich längst entschlossen hatte, in Zukunft gar nicht mehr an das Internat zu denken. Ihre Zukunft lag in Sophienlust, jenem Kinderheim, in dem paradiesische Zustände herrschen mussten, wenn man Fabian glauben konnte.
Als die Kinder das Büro verlassen hatten und sich draußen auf dem Gang befanden, fiel Ella Fabian spontan um den Hals.
»Nur noch drei Tage, dann sind wir auf dem Weg nach Sophienlust! Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr ich mich freue. Ach, das Leben wird jetzt wunderschön, und das nicht nur für uns, sondern auch für Gero. Hoffentlich verträgt er sich gut mit deiner Dogge.«
»Die beiden werden vom ersten Tag an gute Freunde sein«, versicherte Fabian. »Anglos ist der friedfertigste Hund der Welt, und auch der Bernhardiner Barri ist ein ganz lieber Kerl. Es wird keine Probleme geben. Das kann ich dir versprechen. Die Hunde werden glücklich miteinander sein, ich habe endlich meine Freunde wieder bei mir, und dir wird es in Sophienlust prima gefallen. Ich glaube, es hat bisher noch nie ein Kind gegeben, das nicht gerne in Sophienlust gewesen wäre.«
Ella war unglaublich neugierig auf das Kinderheim und konnte die kommenden drei Tage, bis es endlich auf die Reise ging, kaum noch abwarten.
*
Andrea hatte den Tisch im Esszimmer gerade festlich gedeckt, als sie hörte, wie ein Wagen vorfuhr. Bei einem Blick aus dem Fenster erkannte sie Manolo und Liana da Silva, die gerade aus dem Fahrzeug stiegen und sich interessiert umschauten. Es dauerte nur Sekunden, bis Andrea das Haus verlassen hatte und bei ihren Gästen war. Auch Hans-Joachim, der gerade seinen letzten Patienten verabschiedet hatte, kam hinzu und begrüßte seine Gäste.
»Wir freuen uns sehr, dass wir euch sehen«, bekundete er. »Andrea hat zur Feier des Tages eine spanische Tortilla zubereitet, damit ihr euch vom ersten Augenblick an heimisch fühlt.«
»Das ist wirklich sehr nett.« Liana strahlte Andrea an. »Aber es wäre nicht nötig gewesen. Du sollst dir unseretwegen keine Umstände machen. Wir hätten euch beide auch in ein Restaurant einladen können.«
»Bei uns ist es viel gemütlicher als in einem Restaurant«, stellte Andrea fest. »Kommt mit, ich habe den Tisch schon gedeckt. Seid ihr eigentlich allein gekommen? Ich meine, euer Baby müsste inzwischen doch schon auf der Welt sein. Oder habt ihr euren Nachwuchs in der Obhut der Großeltern gelassen? Was ist es denn geworden, ein Junge oder ein Mädchen?«
Manolo und Liana wechselten Blicke. Dann atmete Liana seufzend aus. »Es war ein kleines Mädchen. Vier Wochen nachdem ihr damals abgereist seid, habe ich das Baby verloren. Die Ärzte haben getan, was in ihren Kräften stand, aber alle Bemühungen waren umsonst. Wie unendlich hatten wir uns gefreut. Doch dann sind wieder alle Hoffnungen zerstört worden, und diesmal sogar endgültig. Ich werde niemals wieder schwanger werden und schon gar kein Kind austragen können. Das Schicksal hat sich gegen uns verschworen.«
»Das tut mir sehr leid«, bekundete Andrea aufrichtig und nahm Liana spontan in ihre Arme. »Wir hatten uns so mit euch beiden gefreut und gehofft, dass aus euch bald eine glückliche kleine Familie wird.«
»Das haben wir auch gehofft.« Auch Manolo seufzte auf. »Aber das Leben ist eben manchmal unfair. Wir werden nicht nach unseren Wünschen gefragt. Das Schicksal entscheidet nach eigenen Plänen, die wir oft nicht verstehen können.«
Um das traurige Thema zu wechseln, bat Andrea betont heiter zu Tisch, und schon bald saßen alle beisammen und ließen sich die Tortilla schmecken. Auch der Salat, den Andrea angerichtet hatte, erfreute sich großer Beliebtheit. Nur Peterle interessierte sich relativ wenig für den Salat. Sein Augenmerk war auf das Dessert gerichtet: Pudding mit Karamellsauce.
Manolo nahm den kleinen Jungen auf seinen Schoß und fütterte ihn mit der Süßspeise. Mit seinen drei Jahren war Peter durchaus in der Lage, allein mit dem Löffel zu essen und dabei sogar erstaunlich wenig zu kleckern. Aber er hatte bemerkt, dass Manolo sein eigenes Dessert für ihn opferte, und das wollte sich der schlaue Junge natürlich nicht entgehen lassen. Zuerst durfte er die Nachspeise des netten Mannes verzehren, der zu Besuch gekommen war, und anschließend auch noch seine eigene. Da konnte man sich ruhig füttern lassen, auch wenn er sich dafür eigentlich schon viel zu groß fühlte.
»Ich habe das Gästezimmer für euch herrichten lassen und hoffe, dass ihr lange bei uns bleibt«, bemerkte Andrea. »Nette Gäste haben wir gern im Haus.«
»Wir werden mehrere Wochen bleiben«, erklärte Liana. »Aber eure Gastfreundschaft nehmen wir trotzdem nicht so lange Zeit in Anspruch. Wir freuen uns, wenn wir jeweils an den Wochenenden hier bei euch sein dürfen. Während der Woche werden wir häufig in Frankfurt sein. Ihr wisst doch, dass ich als junges Mädchen eine Ausbildung zur Hotelfachfrau absolviert habe. Das war in Frankfurt in einem der beiden Hotels meiner Tante.«
»Und jetzt wollt ihr deine Tante besuchen«, mutmaßte Andrea. »Das ist eine hübsche Idee. Dann könnt ihr auch von eurem Hotel in Galicien berichten und von all den Erfahrungen, die du dort gemacht hast.«
Liana da Silva schüttelte den Kopf. »Nein, drüber werde ich mit meiner Tante leider nicht mehr sprechen können. Sie ist vor einigen Wochen an einem Krebsleiden gestorben. Ich habe nie gewusst, dass sie krank war. Wenn wir miteinander telefoniert haben, hat sie kein Wort davon erwähnt. Auch, dass sie ein Testament zu meinen Gunsten verfasst hat, wusste ich nicht. Tante Leonie hat mir beide Hotels vererbt. Es handelt sich um große und luxuriöse Häuser mit jeweils gut sechzig Zimmern in bester Lage der Stadt. Aber es sind nicht nur die Hotels. Tante Leonie hat mir auch die Villa vermacht, die sie vor zehn Jahren hat erbauen lassen. Ich habe diese Villa noch nicht persönlich gesehen, aber der Notar hat uns Fotos und Grundrisse geschickt. Es ist ein wunderschönes Anwesen auf einem riesigen Grundstück. Es gibt vier Gästezimmer und eine Einliegerwohnung für die Haushälterin.«
»Dann seid ihr beide jetzt richtig reiche Leute«, stellte Hans-Joachim ohne jeden Neid fest. »Es wird eine ganze Weile dauern, bis ihr alles geregelt habt, bis ihr wisst, wie es mit der Leitung der Hotels weitergeht, Mieter für die Villa gefunden habt und wieder nach Galicien zurückkehren könnt.«
»Wir werden nicht mehr nach Galicien zurückkehren«, erklärte Manolo nun. »Jedenfalls nicht für immer. Selbstverständlich bleibt Galicien meine Heimat, und wir werden unsere Urlaube dort verbringen. Aber wir möchten die Hotels in Frankfurt gerne persönlich führen. Das wäre bestimmt auch im Sinne von Lianas Tante gewesen. Unser kleines Hotel in Galicien wird trotzdem nicht verfallen. Meine Eltern haben all ihr Herzblut in dieses Hotel fließen lassen und sind glücklich darüber, dass sie es weiterhin erhalten können. Mit den Nobelhotels in Frankfurt ist unser relativ kleines Haus in Galicien natürlich nicht vergleichbar. Aber Hotel bleibt Hotel. Wenn man gelernt hat, damit umzugehen, und Freude an der Arbeit hat, dürfte es nicht allzu schwer sein, auch große Häuser zu führen, so wie die beiden in Frankfurt. Wir sind beide sehr zuversichtlich, dass wir das gut bewältigen werden.«
»Daran habe ich nicht den geringsten Zweifel«, ließ Andrea sich vernehmen. »Wir können euch zu dieser Erbschaft nur gratulieren, auch wenn es natürlich immer traurig ist, wenn ein Mensch gestorben ist. Wie alt ist deine Tante Leonie denn geworden?«
»Eigentlich war sie nicht meine Tante«, gab Liana Auskunft. »Sie war die Schwester meiner Großmutter, also meine Großtante, und sie ist fünfundachtzig Jahre alt geworden. Der Tod kommt zwar immer zu früh, aber wenn jemand fünfundachtzig glückliche Jahre ohne Sorgen oder finanzielle Nöte gelebt hat und sich jeden Wunsch erfüllen konnte, dann kann man den Tod ein bisschen leichter verkraften.«
Hans-Joachim und Andrea teilten diese Ansicht, und sie hofften, dass Liana und Manolo in der Führung der Hotels ihre Erfüllung finden würden. Wenn ihnen schon der Herzenswunsch nach Kindern versagt blieb, war ihnen wenigstens beruflich ganz viel Glück zu gönnen.
*
Bis zur letzten Minute hatte Ella befürchtet, dass doch noch etwas passieren würde, was ihre Abreise verhinderte. So jung sie auch noch war, hatte sie bereits gelernt, dass man besonders dann sehr oft enttäuscht wurde, wenn man sich ganz besonders auf etwas freute. Aber dann saß sie doch endlich neben Fabian in einem Zugabteil. Gero hatte es sich zu den Füßen der beiden bequem gemacht.
Der Direktor des Internats hatte den Hund persönlich kurz vor der Abfahrt aus dem Tierheim geholt, ihm Halsband und Leine angelegt und Ella das Ende der Leine in die Hand gegeben. Das Mädchen hatte ihm versprechen müssen, immer gut für Gero zu sorgen. Schwer war Ella dieses Versprechen nicht gefallen. Sie fühlte sich für den kleinen Hund verantwortlich, und um nichts in der Welt hätte sie ihn jemals im Stich gelassen. Eine Weile lang betrachtete Ella nachdenklich die Landschaft, die draußen an den Fenstern vorbeizog. Plötzlich kam Leben in sie, und sie stieß Fabian an.
»Wir sind unterwegs, Fabian! Ich kann es noch gar nicht so richtig glauben. Wir sind auf dem Weg nach Sophienlust. Nie wieder müssen wir zurück ins Internat! Wir dürfen für immer dort bleiben, wo es nur nette Menschen gibt, wo keiner eingebildet ist und wo es einfach nur schön ist. Du hast mir schon eine Menge über Sophienlust erzählt, aber kannst du mir nicht noch ein bisschen mehr über dieses Kinderheim sagen? Welche Hobbys haben die Kinder, die dort wohnen?«
»Hobbys? Da muss ich erst einmal nachdenken. Also, Pünktchen, deren Eltern schon vor vielen Jahren bei einem Zirkusbrand umgekommen sind, liest sehr gerne. Außerdem liebt sie Pferde und ist eine gute Reiterin. Angelika und Vicky Langenbach, die ihre Eltern bei einem Lawinenunglück verloren haben, basteln und zeichnen sehr gern. Martin Felder ist der Tierexperte in Sophienlust. Er will später Tierarzt werden und informiert sich schon heute über alles, was mit Tieren zu tun hat. Heidi, die erst sieben Jahre alt ist, malt für ihr Leben gern, und ihre Bilder sind gar nicht mal schlecht. Kim ist gerade sechs Jahre alt geworden. Er stammt aus Vietnam. Seine Eltern leben nicht mehr. Ein richtiges Hobby hat Kim eigentlich nicht. Er ist ein lieber kleiner Kerl und an allem interessiert. Manchmal verdreht er noch die Sätze und verwechselt auch hin und wieder die Wörter. Aber man kann ihn gut verstehen, und er selbst versteht auch alles. Ach ja, da gibt es noch Irmela. Die ist mit ihren siebzehn Jahren schon fast erwachsen und recht musikalisch. Sie spielt ganz gut Klavier.«
»Da fehlt aber noch ein Kind« stellte Ella fest. »Es gab da doch noch einen Henrik. Irgendwann hast du diesen Namen genannt, als du von den Kindern gesprochen hast. Daran erinnere ich mich genau.«
»Stimmt«, bestätigte Fabian. »Aber Henrik ist eigentlich kein Kind von Sophienlust. Er ist ein Sohn von Tante Isi und Onkel Alexander und somit Nicks Halbbruder. Henrik wohnt mit seiner Familie auf Gut Schoeneich, ist aber fast jeden Tag in Sophienlust. Er ist wirklich in Ordnung und für jeden Spaß zu haben. Zugegeben, manchmal heckt er auch ein paar Streiche aus, die Tante Isi nicht so ganz gefallen. Aber wirklich böse ist sie ihm deswegen nicht.«
»Ich glaube, Tante Isi ist keinem Kind so richtig böse«, bemerkte Ella. »Sie muss unheimlich nett sein, und Nick, der jetzt die Leitung des Kinderheims übernommen hat, scheint auch ein sehr netter Mensch zu sein. Jedenfalls hast du immer richtig von ihm geschwärmt, wenn du von ihm gesprochen hast. Ich bin schon lange so neugierig auf all die Leute, die ich in Sophienlust treffen werde, und nun dauert es nur noch ein paar Stunden bis wir dort angekommen sind!«
Fabian warf einen verständnisvollen Blick auf Ella, der es vor lauter Aufregung kaum möglich war, ruhig auf ihrem Platz zu sitzen.
»Es wird dir gefallen. Mit dem Internat, in dem wir gewesen sind, kann man Sophienlust gar nicht vergleichen. Da gehören wir alle zu einer großen und glücklichen Familie. Weißt du, ich kann es selbst noch nicht so richtig glauben, dass ich wieder zu Sophienlust gehöre. Meine Ferien durfte ich immer dort verbringen, und das war schön. Aber wenn die Ferien zu Ende waren, musste ich abreisen und mich von all meinen Freunden und von Anglos trennen. Das war natürlich überhaupt nicht schön. Diesmal ist alles anders. Ich fahre nach Sophienlust und bin dort zu Hause. Nie wieder muss ich nach den Ferien Abschied nehmen und wieder in das Internat zurück, in dem ich nach dem Willen meiner Großtante leben musste.«
»Bist du eigentlich sauer auf deine Großtante?«, wollte Ella wissen. »Schließlich hat sie dafür gesorgt, dass du nicht in Sophienlust bleiben konntest.«
Fabian schaute aus dem Fenster und betrachtete die zahlreichen dunkelbraunen Kühe auf einer riesigen Weide, an der der Zug gerade vorbeifuhr.
»Nein, sauer bin ich nicht«, erklärte er. »Dass meine Großtante es sich in den Kopf gesetzt hat, mich unbedingt in einem Internat unterbringen zu müssen, ist schlimm für mich gewesen. Aber ich glaube, sie wusste gar nicht so recht, was sie tat. Sophienlust erschien ihr nicht gut genug für mich. Sie wollte mir etwas Besseres bieten, und da erschien ihr ein teures Internat passend. Meine Großtante hat es gut gemeint. Dass sie mir eigentlich nur geschadet hat, ist ihr nie aufgefallen. Deshalb bin ich ihr nicht böse. Jetzt lebt sie ohnehin nicht mehr, und wenn jemand tot ist, sollte man ihn nicht verachten oder schlecht über ihn reden.«