Читать книгу Sophienlust - Die nächste Generation 7 – Familienroman - Ursula Hellwig - Страница 3

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Nachdenklich ließ Dominik von Wellentin-Schoenecker die Tageszeitung sinken, in der er gerade einen Artikel gelesen hatte, der ihn stark beeindruckte. Etwa dreißig Kilometer von der Kreisstadt Maibach entfernt war ein Kinderheim von einem Wasserrohrbruch heimgesucht worden, durch den zahlreiche Räume im Haus absolut unbewohnbar geworden waren. Nun suchte das Kinderheim Sankt Josef händeringend nach Pflegestellen, die einige Kinder aufnehmen konnten.

Mit der Zeitung in seiner Hand wanderte Nick durch das Haus und suchte nach seiner Mutter. Die fand er auch schon recht bald im Win­tergarten. Dort hielt Denise von Schoenecker ein Schwätzchen mit Schwester Regine, der Kinder- und Krankenschwester von Sophienlust. Als Nick den Wintergarten betrat, schaute Denise ihn lächelnd an.

»Guten Morgen, Nick. Ich habe mir schon gedacht, dass du zu mir kommen würdest, um mit mir zu sprechen«, bemerkte sie. »Wie viele Kinder möchtest du denn so schnell wie möglich hier bei uns aufnehmen?«

»Woher weißt du denn, was ich gerade geplant habe?«, fragte der Achtzehnjährige verdutzt. »Kannst du jetzt etwa schon Gedanken lesen?«

»Nein, das kann ich nicht“, lachte sie. »Aber ich kann Zeitung lesen. Das habe ich heute schon ganz früh getan, und da ich dich sehr gut kenne, wusste ich, dass dich der Artikel über das Kinderheim Sankt Josef nicht kalt lassen wird. Mir war sofort klar, dass du helfen möchtest. Wenn es nicht so wäre, hätte ich mich auch sehr gewundert. Also, wie ist das nun? Seit deiner Volljährigkeit bist du der Herr von Sophienlust. Was willst du tun, und wie vielen Kindern möchtest du hier ein trockenes und sicheres Zuhause schenken?«

»So ganz genau weiß ich das selbst noch nicht«, gestand Nick. »Deswegen will ich ja mit dir reden. Dass ich helfen werde, ist keine Frage. Aber du hast mehr Erfahrung als ich. Meinst du, ich kann einfach im Kinderheim Sankt Josef anrufen und unsere Hilfe anbieten?«

»Selbstverständlich kannst du das, und du solltest diesen Anruf auch nicht auf die lange Bank schieben. Die Kinder dort sind jetzt betroffen, brauchen unverzüglich Hilfe und nicht erst nächste Woche.«

»Gut, dann setze ich mich sofort mit diesem Kinderheim in Verbindung. Ich weiß nicht, für wie viele der Kinder ein Ausweichquartier gesucht wird. Alle können wir vermutlich nicht aufnehmen, aber es gibt ja noch andere Heime oder Pflegefamilien, die helfen können, und für zwei oder drei Kinder haben wir hier bei uns genug Platz. Wenn wir ein bisschen zusammenrücken, können wir für eine Übergangszeit auch noch ein oder zwei mehr aufnehmen. Oder meinst du, dass das zu viel wären?«

Denise schüttelte lächelnd den Kopf. »Nein, wir wären nicht überlastet. Dieses Kinderheim ist gegründet worden, damit jedem in Not geratenen Kind Zuflucht gewährt werden kann. Im Notfall muss Platz geschaffen werden, und jeder rückt ein bisschen näher an den anderen heran. Das ist bisher immer gelungen, und du wirst es bestimmt ebenfalls schaffen, stets eine gute Lösung zu finden. Daran habe ich überhaupt keinen Zweifel.«

Nick grinste seine Mutter etwas verlegen an. »Du scheinst von mir eine wirklich sehr gute Meinung zu haben und mir voll zu vertrauen. Bist du sicher, dass du nicht irgendwann doch einmal von mir enttäuscht sein wirst, weil ich nicht den optimalen Weg zur Lösung eines Problems gefunden habe?«

»Ich bin absolut sicher, dass ich niemals von dir enttäuscht sein werde«, erwiderte Denise. »Du bist mein Sohn, der von frühester Kindheit an mit Sophienlust vertraut ist. Du hast dich immer dafür interessiert, wie dieses Kinderheim geführt wird, und wolltest alles ganz genau wissen. Schon als kleiner Junge hast du dich mit verantwortlich für alles gefühlt, was sich hier in Sophienlust ereignete. Du hast eine Menge gelernt in all den Jahren. Jetzt ist die Zeit gekommen, da­ du alles Erlernte anwenden und die Verantwortung, die du schon immer tragen wolltest, übernehmen kannst. Sophienlust ist dein Leben. Das weiß ich genau. Wie könnte ich da auch nur ansatzweise befürchten, dass du­ mich irgendwann enttäuschen könntest?«

Gerne hätte Nick etwas erwidert, spürte aber einen seltsamen Kloß im Hals. »Ich gehe dann jetzt telefonieren«, sagte er mit etwas heiserer Stimme und verließ den Raum. Was seine Mutter da gerade über ihn gesagt hatte, hatte ihn stark beeindruckt. Natürlich war Nick klar, dass sie ihn liebte und ihn für einen klugen jungen Mann hielt. Schließlich war sie seine Mutter. Aber dass sie ein so absolut unerschütterliches Vertrauen zu ihm hatte, obwohl er bis jetzt über denkbar wenig berufliche Erfahrung verfügte, erfüllte ihn schon mit Stolz.

*

Ein der Dauerkinder von Sophienlust, die siebzehn Jahre alte Irmela Groote, hatte an diesem Tag auch schon einen Blick in die Tageszeitung geworfen und den Bericht über den Wasserrohrbruch im Kinderheim Sankt Josef gelesen. Nicht einmal eine halbe Stunde später wussten sämtliche Kinder, was sich in jenem Heim ereignet hatte. Irmela persönlich hatte dafür gesorgt, dass die Nachricht überall verbreitet wurde. Nun waren die Kinder auf der Suche nach Nick. Als der aus dem Raum kam, in dem er mit seiner Mutter gesprochen hatte, wurde er sofort umringt.

»Hast du schon gelesen, was im Kinderheim Sankt Josef passiert ist?«, wollte die fünfzehn Jahre alte Angelina wissen, die wegen ihrer zahlreichen Sommersprossen allerdings nur Pünktchen genannt wurde, und hielt Nick die Tageszeitung hin.

»Ja, ich habe die Nachricht auch gelesen«, erwiderte der Achtzehnjährige. »Mir ist auch klar, warum ihr mir jetzt davon erzählen wollt. Ihr möchtet wissen, ob wir dem Kinderheim helfen und ein oder mehrere Kinder bei uns aufnehmen wollen.«

»Ja, wir wollen wissen das«, bestätigte der sechs Jahre alte vietnamesische Waisenjunge Kim, der mit der deutschen Sprache noch leichte Schwierigkeiten hatte. »Sind arme Kinder, die werden ganz nass, wenn sie müssen schlafen in nasse Betten. In Sophienlust Betten sind trocken. Deshalb wir müssen helfen Kinder von Sankt Josef.«

»Ja, das müssen wir«, pflichtete Heidi, ein sieben Jahre altes Mädchen dem kleinen Jungen bei. »Bei uns ist doch genug Platz. Das müssen wir den Leuten vom Sankt Josef-Kinderheim sagen. Die wissen nämlich wahrscheinlich überhaupt nicht, dass wir helfen können.«

Nick machte eine beschwichtigende Handbewegung. »Ist ja schon gut. Ich weiß, wie wichtig es für euch ist, anderen Kindern zu helfen, die in eine schwierige Situation geraten sind. Weil mir das auch sehr wichtig ist, habe ich eben mit Tante Isi gesprochen. Wir sind uns darüber einig, dass ich gleich im Kinderheim Sankt Josef anrufe und unsere Hilfe anbiete. Alle Kinder können wir natürlich nicht aufnehmen, aber ein paar können zu uns kommen. Wenn noch mehr Leute helfen, kann bestimmt für alle Kinder gesorgt werden.«

»Wenn du telefoniert hast, sagst du uns dann, wie viele Kinder zu uns kommen werden?«, erkundigte sich Fabian, ein dreizehn Jahre alter, etwas schmächtiger Junge. »Wir sind nämlich alle recht neugierig. Es ist immer aufregend, wenn neue Kinder zu uns kommen.«

»Natürlich werdet ihr alle sofort informiert«, versprach Nick lächelnd. »Schließlich seid ihr am meisten davon betroffen, wenn wir neue Gäste bekommen.«

»Betroffen, das klingt so, als wäre es eine Qual für uns«, bemerkte Martin Felder, der nur einige Wochen älter war als Fabian. »Wir sind nicht betroffen. Wir freuen uns, wenn neue Kinder zu uns kommen, und wollen auch so schnell wie möglich wissen, wie viele es sein werden und wie alt sie sind. Es kann ja sein, dass mehrere Kinder eine Unterkunft suchen. In den meisten Heimen leben eine ganze Menge Kinder, und wenn es ein richtig großer Wasserrohrbruch gewesen ist, dann brauchen vielleicht zehn, zwanzig oder noch mehr Kinder einen Platz, an dem sie vorübergehend wohnen können. So viele können wir in Sophienlust natürlich nicht aufnehmen, aber für ein paar haben wir immer Platz. Ich bin wirklich darauf gespannt, wie die Sache laufen wird.«

»Das werden wir wahrscheinlich schon in weniger als einer halben Stunde ganz genau wissen«, entgegnete Nick und ging ins Büro, um unverzüglich mit dem Kinderheim Sankt Josef zu telefonieren.

*

Im Kinderheim Sankt Josef herrschte geschäftiges Treiben.

Zahlreiche Kinder waren zwar von Pflegefamilien und anderen Heimen aufgenommen worden, aber für die verbliebenen Schützlinge mussten in den wenigen trockenen und vom dem Wasserrohrbruch nicht beschädigten Räumen Schlafplätze eingerichtet werden. Es gab eine Menge zu tun, und als dann mitten in der Arbeit wieder einmal das Telefon läutete, verdrehte Schwester Ariane, die das Heim leitete, gequält die Augen. Natürlich hätte sie den Anruf einfach igno­rieren können, tat das aber dann doch nicht, sondern nahm das Gespräch an. Als Nick sich am anderen Ende der Leitung meldete, wusste Schwester Ariane sofort, mit wem sie es zu tun hatte.

»Ach, Herr von Schoenecker. Das ist schön, dass Sie anrufen. Vermutlich wollen Sie sich näher über den Stand der Dinge erkundigen. Sie wissen wahrscheinlich, von welcher Katastrophe wir heimgesucht worden sind, und können sich vorstellen, wie es jetzt bei uns zugeht. Es herrscht das absolute Chaos, obwohl wir die meisten Kinder, deren Räume betroffen sind, schon anderweitig unterbringen konnten. Unsere Schützlinge sind ein bisschen zusammengerückt, einige haben spontan Aufnahme in Pflegefamilien gefunden, aber es gibt trotzdem noch zahlreiche Probleme.«

»Genau bei diesen Problemen möchte Sophienlust gerne helfen«, erklärte Nick. »Sie wissen bestimmt, dass es sich nicht um eine sehr große Einrichtung handelt, aber ein paar Ihrer Schützlinge könnten wir trotzdem bei uns aufnehmen, auch für einen längeren Zeitraum. Bis so ein massiver Wasserschaden behoben ist und alle Räume renoviert sind, dauert es ganz sicher mehrere Monate. Wir helfen wirklich gern.«

»Das ist nett, und dafür bin ich Ihnen sehr dankbar. Es würde uns schon helfen, wenn Sie ein Kind in Sophienlust aufnehmen könnten. Allerdings handelt es sich dabei um ein ganz besonderes Kind. Es ist ein elf Jahre altes Mädchen namens Charlotte Biese, das von allen nur Charly genannt wird und für uns gewissermaßen ein Problemkind ist.«

»Wir haben in Sophienlust schon viele Problemkinder gehabt«, erwiderte Nick. »Bis jetzt konnten wir für all diese Kinder etwas tun und die Probleme, die es mit ihnen gab, lösen. Was für ein Problem hat Charly denn?«

»Das Problem heißt Alma«, erwiderte Schwester Ariane, und es war nicht zu überhören, dass sie dabei fast ein bisschen kicherte. »Alma ist eine drei Jahre alte Hündin, eine Mischung aus Neufundländer, Collie und was weiß ich noch für Rassen. Eigentlich handelt es sich um eine freundliche, wirklich liebenswerte und wohlerzogene Hündin, die Charlotte gehört. Aber in unserem Kinderheim dürfen keine Haustiere gehalten werden. Deshalb ist Alma derzeit bei einem Bauern untergebracht, der seinen Hof hier in der Nähe hat. Das gefällt Charly natürlich gar nicht. Sie ist sehr traurig darüber, dass sie sich von ihrer vierbeinigen Freundin trennen musste. Soweit ich weiß, ist es den Kindern in Sophienlust gestattet, ihre Tiere mitzubringen. Es wäre deshalb ein Segen, wenn Sie Charly und Alma aufnehmen würden. Das wäre für alle wirklich eine große Hilfe.«

»Selbstverständlich nehmen wir Charly und Alma auf«, entgegnete Nick. »Wir holen die beiden ab, wann immer Sie wollen. Wenn es Ihnen hilft, nehmen wir gerne noch ein weiteres Kind mit. Es ist genügend Platz in Sophienlust.«

»Danke, das ist ein sehr nettes Angebot. Aber Sie leisten schon mehr als genug Hilfe, wenn Charly und ihre Hündin bei Ihnen eine Zuflucht finden. Es wäre natürlich ideal, wenn die zwei schon heute nach Sophienlust übersiedeln könnten.«

Mit diesem Vorschlag war Nick einverstanden. »Gut, dann können Sie Charlys Sachen, soweit diese nicht ein Opfer des Wasserrohrbruchs geworden sind, schon packen. Wir holen sie in ungefähr zwei Stunden ab. Anschließend fahren wir mit Charly direkt zu dem Bauernhof, auf dem Alma sich befindet, und nehmen den Hund mit.«

Schwester Ariane schien überglücklich über dieses Hilfsangebot zu sein und bedankte sich noch ­einmal mehrfach bei Nick, dem das­ beinahe schon peinlich war. Schließlich hatte er seine Hilfe gerne angeboten. Das gehörte für ihn zu den normalsten Sachen der Welt. Schon als ganz kleiner Junge hatte er tagtäglich erfahren, wie schön es war, in Not geratenen Menschen helfen zu können. Damit war er aufgewachsen und hatte diese Hilfsbereitschaft in sein Denken und Handeln aufgenommen.

Freundlich verabschiedete er sich von Schwester Ariane und beendete das Gespräch. Anschließend verließ er umgehend den Raum, weil er wusste, dass sämtliche Schützlinge von Sophienlust draußen schon gespannt auf ihn warteten.

Schmunzelnd stellte Nick fest, dass er sich nicht getäuscht hatte. Zahlreiche Augenpaare waren fragend auf ihn gerichtet. Der sechs Jahre alte Kim eilte sofort auf ihn zu: »Und? Kommen viele Kinder und wohnen dann bei uns? Ist auch ein Kind dabei, das kommt aus Vietnam, so wie ich? Sankt Josef ist großes Kinderheim. Da viele Kinder sind. Vielleicht auch aus Vietnam. Ich dann kann reden mit Kind und ihm übel setzen viele deutsche Wörter.«

»Du meinst übersetzen«, bemerkte Pünktchen. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir ein Kind aus Vietnam bekommen. Davon gibt es hierzulande nur sehr wenige.«

»Pünktchen hat recht«, bestätigte Nick. »Es wird wirklich kein vietnamesisches Kind zu uns kommen.«

»Aber vielleicht eins, das ungefähr so alt ist wie ich«, ließ sich Heidi mit hoffnungsvoll leuchtenden Augen vernehmen. »Dann könnte ich mit diesem Kind in einem Zimmer wohnen.«

Nick machte eine beschwichtigende Handbewegung. »Jetzt lasst mich doch erzählen, was ich mit Schwester Ariane besprochen habe. Ihnen reicht es, wenn wir nur ein Kind aufnehmen. Für alle anderen ist schon gesorgt, aber Charly, die mit vollem Namen Charlotte Biese heißt, braucht ganz spezielle Hilfe.«

»Warum denn das?«, wollte Fabian mit einem erschrockenen Gesichtsausdruck wissen. »Ist sie vielleicht behindert? Wenn das so ist, müssen wir besonders nett zu ihr sein und ihr helfen, wann immer wir können. Sie soll bei uns glücklich sein.«

»Nein, Charly ist nicht behindert«, teilte Nick mit. »Bei Charly handelt es sich um ein völlig gesundes, elf Jahre altes Mädchen. Allerdings gehört ihr ein Hund, der sogar ziemlich groß ist. Alma heißt die Hündin und ist wohl eine Mischung aus Neufundländer und Collie.«

»Dann ist Alma wirklich ein riesiges Tier«, stellte Martin fest. Der Dreizehnjährige liebte Tiere über alles, verfügte über eine erstaunliche Sachkenntnis und wollte später unbedingt einmal Tierarzt werden. »Ich kann mir schon denken, wieso das ein Problem ist. In den meisten Kinderheimen ist die Tierhaltung verboten. Das ist wahrscheinlich auch in Sankt Josef so. Deshalb ist Charly von ihrer Hündin getrennt worden, die nun vermutlich in einem Tierheim lebt.«

»Nicht ganz«, stellte Nick richtig. »Alma ist auf einem Bauernhof untergebracht worden. Aber das ist auch nicht viel besser.«

»Hoffentlich gibt es auf diesem Bauernhof wenigstens einen schönen großen Teich«, sagte Martin. »Neufundländer schwimmen meist leidenschaftlich gerne. Aber auch dann ist es nicht gut, dass Charly und Alma voneinander getrennt sind. Hier bei uns passiert ihnen das zum Glück nicht. Wann kommen sie denn nach Sophienlust?«

»Ich habe mit Schwester Ariane vereinbart, dass wir Charly in zwei Stunden abholen«, entgegnete Nick. »Meine Mutter wird mich bestimmt begleiten. Vom Kinderheim aus fahren wir dann zum Bauernhof und nehmen Alma mit.«

»Warum ist Charly eigentlich in einem Kinderheim untergebracht worden?«, fragte Angelika, ein vierzehn Jahre altes Mädchen, das mit seiner zwölfjährigen Schwester Vicky in Sophienlust war, seit die beiden ihre Eltern bei einem Lawinenunglück verloren hatten. »Leben ihre Eltern vielleicht nicht mehr?«

»Das weiß ich noch gar nicht«, gestand Nick. »Aber ich bin sicher, dass wir das noch heute erfahren werden. Jetzt muss ich mich aber auf den Weg machen. Schließlich muss ich dafür sorgen, dass das Zimmer für Charly vorbereitet wird, und bei meiner Mutter muss ich mich auch noch erkundigen, ob sie mich begleitet.«

Die Kinder ließen Nick ziehen und bedrängten ihn nicht weiter. Ihnen war klar, dass es jetzt einige Dinge gab, um die er sich kümmern musste. Sie freuten sich alle darauf, Charly noch am selben Tag kennenlernen zu dürfen.

Denise machte keine langen Umschweife, als Nick sie fragte, ob sie ihn zum Kinderheim Sankt Josef begleiten würde. Dazu war sie sofort bereit. Wenn es darum ging, einem Kind helfen zu können, dachte sie nie lange nach, und so saß sie schon kurze Zeit später mit ihrem Sohn zusammen im Auto.

*

Charly war von Schwester Ariane schon darüber informiert worden, dass sie nach Sophienlust ­umziehen würde. Zwei andere Schwestern hatten die Sachen der Elfjährigen gepackt und ihr bei dieser Gelegenheit erzählt, dass es sich bei Sophienlust um ein ganz besonderes Kinderheim handelte, in das die Kinder sogar ihre Haustiere mitbringen durften. Allein schon diese Tatsache hatte Charly ihre Scheu vor dem unbekannten neuen Domizil genommen. Wenn sie zusammen mit Alma dort wohnen durfte, musste es sich wirklich um ein besonderes Kinderheim handeln. Ob es dort auch einen schönen Garten zum Spielen gab, so wie in Sankt Josef, wusste Charly nicht. Aber das erschien ihr auch nicht wichtig. Die Hauptsache war, dass sie Alma endlich wieder bei sich haben durfte. Bisher hatte sie ihre Hündin sonntags immer für etwa eine Stunde besuchen dürfen. Dabei hatte das Mädchen festgestellt, dass Alma auf dem Bauernhof relativ gut untergebracht war. Sie lag nicht an einer Kette und musste nicht frieren oder hungern. Die Hündin durfte sich frei bewegen, hatte in einem Flur vor der Küche stets gut gefüllte Futter- und Wassernäpfe und konnte sich jederzeit in eine kleine Scheune zurückziehen, in der sie einen warmen und weichen Schlafplatz im Stroh fand. Aber das war trotzdem nicht das, was Charly sich für Alma wünschte. Sie wollte ständig in der Nähe ihrer geliebten Hündin und immer für sie da sein.

Als Denise und Nick das Kinderheim Sankt Josef nach etwa einer Stunde Fahrzeit erreichten, wartete Charly bereits auf sie und reichte ihnen freundlich die Hand.

»Danke, dass Sie mich nach Sophienlust holen wollen. Schwester Ariane hat mir erzählt, dass es dort sehr schön sein soll und dass ich Alma mit nach Sophienlust bringen darf. Stimmt das wirklich?«

»Ja, das stimmt«, bestätigte Nick. »Wir holen deine Alma gleich zusammen ab und fahren dann nach Sophienlust. Da gibt es schon zwei große Hunde, die Dogge Anglos und den Bernhardiner Barri. Die beiden sind ganz lieb und werden sich bestimmt gut mit Alma vertragen. Aber du musst nicht Sie zu uns sagen. Ich heiße Dominik, aber das ist ein ziemlich langer Name. Deshalb nennen mich alle Kinder, die in Sophienlust wohnen, einfach nur Nick.«

»Und ich bin Nicks Mutter«, erklärte Denise. »Alle Kinder von Sophienlust sagen einfach Tante Isi zu mir.«

Charly blickte abwechselnd von Nick zu Denise. »Dann arbeitet ihr also beide in Sophienlust, nicht wahr?«

»Ja, das stimmt«, bestätigte Nick. »Die Geschichte ist ein bisschen kompliziert. Ich habe den großen Gutshof von meiner Uroma Sophie von Wellentin geerbt, als ich noch sehr klein war. Sie wollte, dass das Gut zu einem Heim für in Not geratene Kinder umgebaut werden sollte. Weil ich eben noch viel zu klein war, hat meine Mutter sich dieser Aufgabe gewidmet und ganz vielen Kindern geholfen. Einige wohnen schon seit vielen Jahren in Sophienlust. Jetzt bin ich volljährig und kann mich selbst um alles kümmern. Aber meine Mutter hilft mir noch sehr viel. Ich frage sie häufig um Rat, weil sie natürlich mehr Erfahrung hat als ich.«

Charly nickte verstehend.

»Es muss schön sein, wenn man zusammen mit seiner Mutter arbeiten kann. Ich finde es überhaupt prima, wenn man eine Mutter hat. Meine ist leider gestorben. Ein Lastwagen hat nicht rechtzeitig ­gebremst, als sie an einer roten Ampel stand. Das war vor fast einem Jahr. Meine Mutti hat dann über neun Monate lang im Koma gelegen. Das heißt, sie hat geschlafen und konnte nicht wieder aufwachen. Zweimal durfte ich sie besuchen, aber davon hat sie gar nichts bemerkt. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass diese schlafende Frau gar nicht mehr meine Mutti, sondern eine ganz fremde Frau wäre. Es war alles ziemlich seltsam. Vor einer Woche ist meine Mutti gestorben. Eigentlich hätte ich furchtbar traurig sein müssen, aber … alles war irgendwie anders. Als meine Mutti den Unfall hatte und gar nicht aufwachen konnte, da bin ich sehr traurig gewesen und habe oft geweint. Als Schwester Linda mir letzte Woche gesagt hat, dass meine Mutti jetzt tot ist, konnte ich gar nicht richtig traurig sein. Mutti war ja schon so lange weg von mir. Bin ich jetzt ein schlechtes Kind, weil ich nicht um meine tote Mutti geweint habe?«

»Nein, du bist kein schlechtes Kind«, erklärte Nick. »Es ist ganz normal, dass du jetzt nicht mehr traurig sein und weinen konntest. Das hast du ja schon getan, als deine Mutter im Koma lag.«

»Da hat Nick ganz recht«, pflichtete Denise ihrem Sohn bei. »Du brauchst dir keine Vorwürfe zu machen. Wie ist das denn mit deinem Vater? Lebt der auch nicht mehr?«

Charly zog die Schultern hoch. »Das weiß ich nicht. Mutti hat mir nicht viel von ihm erzählt. Ich weiß nur, dass sie nie mit meinem Vater verheiratet war und dass er überhaupt nichts von mir weiß. Irgendwann habe ich Mutti gefragt, ob ich meinen Vater vielleicht einmal besuchen darf. Ich war neugierig auf ihn und wollte wissen, wie er aussieht. Aber meine Mutti hat gesagt, dass das nicht geht, weil sie gar nicht wüsste, wo er jetzt wäre. Sie meinte, alles wäre gut, so wie es ist, und man sollte nichts daran ändern.«

»Für diese Entscheidung hat deine Mutter bestimmt gute Gründe gehabt«, erwiderte Denise. »Dann wollen wir es auch dabei belassen. Ich schlage vor, dass wir nun zu dem Bauernhof fahren, auf dem deine Alma derzeit lebt, und sie dort abholen.«

»Ja, so sollten wir das machen«, bemerkte Nick. »Ich möchte vorher nur noch rasch ein paar Worte mit Schwester Ariane wechseln. Sie hat mich vorhin darum gebeten, sie noch einmal aufzusuchen, bevor wir uns auf den Weg machen.«

Wenige Minuten später saß Nick Schwester Ariane gegenüber. Sie reichte ihm eine kleine Mappe, in der sich ein paar Unterlagen befanden.

»Diese Sachen hat Charlottes Mutter hinterlassen. Es handelt sich um die Taufbescheinigung des Mädchens, die Geburtsurkunde und ähnliche Dinge. Es ist auch ein versiegelter Briefumschlag dabei. Dabei hat Larissa Biese vermerkt, dass er im Fall ihres Todes geöffnet werden soll. Das hätten wir auch schon getan, wenn es nicht zu diesem Wasserrohrbruch gekommen wäre. Danach wusste keiner von uns mehr, wo ihm der Klopf stand. Um den Umschlag haben wir uns deshalb noch gar nicht gekümmert. Ich denke, dass Sie das in den nächsten Tagen nachholen werden.«

»Ja, das werden wir ganz bestimmt tun«, versprach Nick. »Sie können sich auf uns verlassen.«

Nicht nur Schwester Ariane, auch einige ihrer Kolleginnen und mehrere Kinder verabschiedeten sich wenig später von Charly, bevor diese zu Nick und Denise in den Wagen stieg.

Der Bauer und seine Familie waren bereits darüber informiert, dass Alma heute abgeholt werden sollte. Gemeinsam mit seiner Frau begrüßte er Nick, Denise und Charly. Als er zwei Finger in den Mund steckte und einen grellen Pfiff erklingen ließ, kam Alma angelaufen, die sich irgendwo hinter der Scheune aufgehalten hatte. Es dauerte nur eine Sekunde, bis die Hündin Charly erkannt hatte und vor Freude außer sich geriet. Winselnd umkreiste sie das Mädchen und warf sich schließlich auf den Rücken, um sich den Bauch kraulen zu lassen. Die Hündin hatte auch nichts dagegen, dass Denise und Nick ihr ebenfalls das Fell kraulten. Alma war ein ausgesprochen freundliches Tier und im Augenblick auch ein überglückliches. Als Charly wenig später die Autotür öffnete und eine einladende Handbewegung machte, sprang die Hündin sofort in das Wageninnere, ohne auch nur eine Sekunde zu zögern. Nick betrachtete den großen Hund und lächelte.

»Sag mal Charly, ist auf der Rückbank für dich jetzt überhaupt noch genügend Platz? Wir haben bestimmt eine ganze Stunde Fahrzeit vor uns. Es wäre schlimm, wenn du dich die ganze Zeit über kaum bewegen könntest.«

Charly machte eine wegwerfende Handbewegung. »Da ist reichlich Platz für mich. Wenn ich Alma unterwegs sage, dass sie ein bisschen zur Seite rücken soll, dann macht sie das sofort. Aber es wird für uns beide nicht zu eng. Wir sind so froh, dass wir jetzt ganz dicht beisammensitzen können, nachdem wir so lange voneinander getrennt gewesen sind.«

Charly kletterte nun auch in das Auto, und kurze Zeit später beobachtete Denise im Rückspiegel lächelnd, wie Alma und Charly dicht aneinandergekuschelt glücklich und zufrieden auf der Rückbank saßen.

*

Die Kinder von Sophienlust waren an diesem Tag besonders aufgeregt. Es war immer spannend, wenn ein neuer Gast Einzug halten sollte. Schließlich wusste man vorher nie, ob es sich um ein besonders kompliziertes und verschlossenes oder freundliches Kind handelte, das keine Probleme bereitete.

Als die Kinder den Wagen bemerkten, der auf das Gelände fuhr, wurden sie aufmerksam, verzichteten allerdings darauf, gleich angestürmt zu kommen. Aus Erfahrung wussten sie, dass neue Schützlinge dadurch nur erschreckt und verunsichert wurden. Also warteten sie in der Nähe, bis Denise und Nick mit Charly ausgestiegen waren und sie zu sich heranwinkten.

Alma begrüßte die Kinder wie gute alte Freunde und wandte sich dann Barri und Anglos zu. Als wäre es die größte Selbstverständlichkeit der Welt, liefen die drei Hunde zu der nahen Wiese und spielten dort miteinander.

Im Gegensatz zu Alma verhielt Charly sich ein bisschen schüchtern, als sich ihr die Schützlinge von Sophienlust der Reihe nach vorstellten.

»Es wird eine ganze Weile dauern, bis ich mir alle Namen gemerkt habe«, gestand Charly mit einem verlegenen Lächeln und schaute sich um. Ihr Blick glitt über den weitläufigen Park, an den Ställen und der Pferdeweide vorbei, und blieb an der schmuckvollen Fassade des Herrenhauses haften.

»Ist das wirklich ein Kinderheim?«, erkundigte sich die Elfjährige. »Oder gibt es dahinter noch ein anderes und einfacheres Haus, in dem das Kinderheim untergebracht ist?«

»Nein, hinter diesem Haus gibt es nur noch ein paar kleine Hütten für Gartengeräte und unsere Fahrräder«, erklärte Irmela, mit ihren siebzehn Jahren das älteste Dauerkind. »Was du hier siehst, das ist Sophienlust. Hier wohnen wir alle zusammen unter einem Dach. Das heißt, Tante Isi wohnt mit ihrer Familie auf Gut Schoeneich, gleich hinter dem kleinen Waldstück da vorne. Aber tagsüber ist sie meistens in Sophienlust.«

Charly war geradezu überwältigt. »Es ist wunderschön hier, und dieser riesige Park ist viel größer als der Garten von Sankt Josef, in dem wir spielen durften. Was ist denn mit den Wiesen dort hinten, auf denen Pferde stehen? Die gehören wahrscheinlich einem Reiterhof, den es hier in der Nähe gibt. Darf man die Pferde trotzdem streicheln oder vielleicht sogar mit ein paar Möhren füttern?«

Henrik, Nicks elf Jahre alter Halbbruder, hatte es sich nicht nehmen lassen, an diesem Tag auch nach Sophienlust zu kommen. Er hielt sich häufig hier auf, vor allen Dingen aber immer dann, wenn ein neues Kind aufgenommen werden sollte. Jetzt kicherte der Junge vergnügt.

»Wenn du Lust hast, darfst du auf diesen Pferden sogar reiten. Füttern ist sowieso erlaubt. Hier in der Nähe gibt es keinen Reitstall. Diese Pferde gehören zu Sophienlust und natürlich auch die Ponys.«

»Wirklich?« Charly schüttelte ungläubig den Kopf. »So ein Kinderheim habe ich noch nie gesehen. Das heißt, ich kenne ja nur eines, habe aber viel über andere Kinderheime erfahren. Schwester Linda und Schwester Ariane haben oft mit uns über andere Heime gesprochen. In einigen schien es ganz schön zu sein, in anderen nicht. Aber dass es ein Kinderheim gibt, zu dem Pferde gehören, wusste ich bis jetzt nicht. Und Hunde gibt es auch noch. Das finde ich toll.«

»Dann wirst du gleich noch mehr staunen, wenn wir dich durch das ganze Haus führen und dir alles zeigen. Im Wintergarten gibt es nämlich noch ein paar Tiere. Dort leben einige Wellensittiche und Habakuk, unser Papagei. Der kann sogar sehr gut sprechen, und es wird bestimmt nicht lange dauern, bis er deinen Namen sagen kann.«

Charly hatte ihre anfängliche Schüchternheit längst abgelegt und brannte förmlich darauf, nun auch Habakuk kennenlernen zu dürfen. Die Kinder erfüllten ihr den Wunsch gerne, und schon bald hatten sich alle im Wintergarten versammelt. Der Papagei betrachtete die Gruppe, die den Wintergarten betreten hatte und sich nun um ihn herum versammelte.

»Habakuk! Schöner Habakuk, kluger Habakuk. Nick, du Lausebengel«, schnarrte der Vogel sofort und hüpfte aufgeregt von einem Bein auf das andere. »Habakuk will Leckerchen!«

»Du bist ein verfressener Papagei«, stellte Pünktchen amüsiert fest und steckte Habakuk einen kleinen Keks zu, den er in eine Kralle nahm und innerhalb weniger Momente aufgeknabbert hatte.

Jetzt baute sich Martin vor dem Vogel auf.

»Charly«, sagte er gedehnt. »Wir haben einen neuen Gast, und der heißt Charly. Sag doch mal Charly, Habakuk. Charly, Charly.«

Der Papagei hielt den Kopf schief, schaute Martin aufmerksam an und lauschte der Stimme des Jungen, der den Namen noch mehrmals wiederholte.

»Charly«, krächzte er dann. »Charly, gib Leckerchen. Habakuk will Leckerchen. Charly.«

»Das ist aber ein schlauer Vogel«, stellte Charly bewundernd fest. »Schade, ich habe überhaupt kein Leckerchen, das ich ihm geben könnte.«

»Das ist kein Problem«, erwiderte Pünktchen, öffnete einen kleinen Schrank und griff in eine Pappschachtel, aus der sie eine Knab­berstange holte. »Hier, die kannst du Habakuk geben. Diese Stangen mag er besonders gern.«

Charly reichte dem Vogel die Leckerei, die er ihr förmlich aus den Fingern riss. Genau diese Knabberstangen liebte er wirklich über alles.

»Und was sagt ein gut erzogener Vogel, wenn er ein so leckeres Geschenk bekommt?« wollte Angelika wissen. »Was sagt ein Vogel dann? Na, was sagt ein Vogel dann?«

»Geh weg, dumme Pute«, schnarrte Habakuk und widmete sich eingehend seinem Leckerbissen.

Angelika blähte empört die Backen auf. »Das ist doch wirklich eine Frechheit«, bemerkte sie lachend. »Danke hättest du sagen sollen.«

»Danke, dumme Pute«, ließ Habakuk sich vernehmen und brachte die Kinder mit dieser Bemerkung zum Lachen. Auch Charly amüsierte sich köstlich. So lustig wie hier war es im Kinderheim Sankt Josef nie zugegangen. Zugegeben, dort hatte es auch keine Tiere gegeben, die für Späße gesorgt hatten.

Sophienlust gefiel der Elfjährigen wirklich ausnehmend gut. Als sie abends in ihrem Bett lag und den Mond betrachtete, der über dem Park am nachtblauen Himmel stand, atmete sie befreit auf. Hier war es wirklich schön. Charly hoffte, dass sie sehr lange, vielleicht sogar für immer in Sophienlust bleiben durfte. Das war im Moment ihr größter Wunsch.

*

Denise von Schoenecker saß mit Nick und der Heimleiterin Frau Rennert beisammen und sichtete die Unterlagen, die sie von Schwester Ariane bekommen hatten und die Charly betrafen. Es handelte sich um die üblichen Dokumente, wie alle Menschen sie besitzen. Darunter befand sich allerdings auch der versiegelte Briefumschlag, auf dem Charlys Mutter vermerkt hatte, dass er nur im Falle ihres Todes geöffnet werden sollte. Nick hielt diesen Umschlag nachdenklich und etwas unentschlossen in seinen Händen.

»Es widerstrebt mir, solche Siegel zu brechen«, gestand er. »Aber in diesem Fall kann ich das wahrscheinlich tun. Charlys Mutter lebt nicht mehr. Also habe ich das Recht, diesen Umschlag zu öffnen.«

»Du hast nicht nur das Recht, sondern sogar die Pflicht«, bemerkte Denise. »Charlys Mutter hat Vorsorge getroffen und wollte, dass das, was sich in diesem Umschlag befindet, nach ihrem Tod ans Tageslicht kommt. Dieser Wunsch muss ihr jetzt erfüllt werden.«

Dieses Argument sah Nick ein und hatte nun keine Skrupel mehr, das Siegel zu zerstören. Er zog einen weißen Briefbogen aus edlem Papier hervor und faltete ihn auseinander. Damit auch seine Mutter und Frau Rennert erfuhren, was Charlys Mutter auf diesen Briefbogen geschrieben hatte, las er laut vor:

»Ich hoffe, dass dieser Umschlag niemals von einem Menschen geöffnet werden muss, der sich um meine Tochter Charlotte kümmert, weil es mich nicht mehr gibt. Nun ist es aber doch dazu gekommen, und ich möchte, dass meine geliebte kleine Charly auch ohne mich wieder glücklich werden kann. Deshalb ist es wichtig, dass ihr Vater bekanntgegeben wird. Ich wollte ihn nie belasten. Wir beide haben uns wegen eines dummen Streits aus nichtigem Anlass getrennt, als ich noch nicht wusste, dass ich bereits schwanger war. Charlys Vater hat deshalb keine Ahnung, dass er eine Tochter hat. Ich habe nie wieder Verbindung zu ihm aufgenommen. Er sollte sich nicht verpflichtet fühlen, für ein Kind sorgen zu müssen, das er vielleicht gar nicht haben wollte. Jetzt hat sich allerdings alles geändert. Charly steht ganz allein auf der Welt. Sie hat keine Großeltern mehr und keine sonstigen Verwandten, die sich um sie kümmern könnten. Es gibt nur noch ihren Vater, und den bitte ich von Herzen darum, seine Tochter nicht im Stich zu lassen, auch wenn er bisher nichts von ihrer Existenz wusste. Wer immer Sie auch sind, bei dem meine kleine Charly nun Zuflucht gefunden hat, ich bitte Sie, zu ihrem Vater Kontakt aufzunehmen und ihm mitzuteilen, dass er ein Kind hat. Charlys Vater heißt Steffen Kronberg und besitzt mehrere Juweliergeschäfte in ganz Deutschland. Wohnhaft war er damals in einem kleinen Ort in der Nähe von Frankfurt. Inzwischen ist er allerdings umgezogen. Ich kenne seine neue Adresse nicht, aber die wird sich herausfinden lassen. Bitte sorgen Sie dafür, dass Stefan Kronberg die Wahrheit erfährt, und lassen Sie ihn diesen Brief mit den Worten lesen, die ich an ihn richte: Lieber Steffen! Es tut mir leid, dass wir damals einfach so auseinandergegangen sind. Vielleicht waren wir beide noch zu jung und zu unreif, um die dumme Meinungsverschiedenheit zu bewältigen. Aber wir haben trotz allem ein gemeinsames Kind. Ich war bereit, allein für dieses Kind zu sorgen, und hätte dich nie damit behelligt. Aber jetzt gibt es mich nicht mehr. Charly braucht dich. Sie braucht ihren Vater, weil sie sonst keinen Menschen auf dieser Welt hat. Bitte verstoße sie nicht. Das hätte sie nicht verdient. Steffen, bitte sorge für deine Tochter. Sie ist das wundervollste Kind, das es auf dieser Erde gibt. Ich vertraue dir unsere kleine Charly an und hoffe, dass sie bei dir glücklich wird. - Deine Larissa.«

Nick ließ den Briefbogen sinken. Der Text hatte ihn zutiefst bewegt. Als er in die Runde blickte, stellte er fest, dass auch seine Mutter und Frau Rennert stark beeindruckt waren. Denise räusperte sich, bevor sie sprechen konnte: »Möglicherweise ist es ein Segen für Charly, dass ihre Mutter diese Zeilen vorsorglich verfasst hat. Ich hoffe aus tiefster Seele, dass Steffen Kronberg sich um seine Tochter kümmern will, wenn er von ihrer Existenz erfährt. Ihn ausfindig zu machen dürfte nicht allzu schwer sein, und mit etwas Glück müsste Charly nie wieder in einem Kinderheim leben. Ich weiß, dass sie gerne bei uns ist, aber eine richtige Familie können wir ihr trotzdem nicht ersetzen. Außerdem kann es sein, dass sie wieder nach Sankt Josef zurückkehren muss, wenn die Schäden des Wasserrohrbruchs behoben sind. Sankt Josef ist kein schlechtes Kinderheim, aber Charly müsste sich dann wieder von ihrer Alma trennen.«

»Dann hoffen wir, dass ihr Vater ein Hundefreund ist«, bemerkte Nick. »Und dass er von dem Gedanken, eine Tochter zu haben, begeistert ist. Charlys Zukunft und ihr Glück hängen allein von seiner Entscheidung ab. Wie ist das eigentlich? Sollen wir Charly jetzt schon sagen, dass wir auf der Suche nach ihrem Vater sind?«

Denise wiegte nachdenklich den Kopf. »Ich bin nicht sicher, dass das gut wäre. Dann macht Charly sich womöglich große Hoffnungen. Wenn Herr Kronberg nichts von seinem Kind wissen und es nicht einmal sehen will, würden diese Hoffnungen auf grausame Weise zerstört. Charly könnte sich abgeschoben fühlen und sehr darunter leiden. Du kannst natürlich frei entscheiden, Nick. Wenn du es für richtig erachtest, jetzt schon mit Charly über die Suche nach ihrem Vater zu sprechen, kannst du das tun. Aus meiner Erfahrung heraus rate ich dir allerdings ab.«

»Dann werde ich deinen Rat ­befolgen«, entschied Nick. »Der Schatz deiner Erfahrungen ist für mich ungeheuer wichtig. Ohne dich würde ich ganz sicher eine Menge Fehler machen. Ich will aber nicht, dass Kinder Nachteile hinnehmen müssen, nur weil ich noch viel zu lernen habe.«

»Gut, dann machen wir uns also auf die Suche nach Steffen Kronberg«, sagte Denise. »Soweit ich weiß, gibt es unter anderem in Frankfurt ein Juweliergeschäft mit diesem Namen. Das ist mir zufällig einmal aufgefallen, als ich zum Flughafen gefahren bin. Dort könnten wir etwas über den Besitzer erfahren und vermutlich auch herausbekommen, wo er wohnt.«

»Ich hoffe, dass Herr Kronberg sich seiner Verantwortung bewusst und auch in der Lage ist, sich um seine Tochter zu kümmern«, ließ Frau Rennert sich vernehmen. »Möglicherweise ist er inzwischen längst verheiratet, hat eine Familie gegründet und nicht den Mut, seiner Frau zu beichten, dass er da noch ein Kind mit einer anderen Frau hat. Sie hat möglicherweise keine Ahnung von der intensiven Beziehung ihres Mannes zu Charlys Mutter.«

»Es ist durchaus möglich, dass unser Unternehmen ein Schlag ins Wasser wird«, gab Nick zu. »Aber wir können nicht einfach untätig bleiben, nur weil wir befürchten, enttäuscht zu werden. Das wäre auch nicht im Sinn von Larissa Biese. Sie hat diesen Brief bestimmt nicht nur aus einer Laune heraus geschrieben. Ihr Wunsch ist es gewesen, dass man nach ihrem Tod Kontakt zu Charlys Vater aufnimmt, damit das Mädchen versorgt ist und glücklich werden kann. Ich drücke beide Daumen, dass sich Larissa Bieses Hoffnung erfüllt.«

Sophienlust - Die nächste Generation 7 – Familienroman

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