Читать книгу Sophienlust - Die nächste Generation 6 – Familienroman - Ursula Hellwig - Страница 3

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»Wenn ich meine Hausaufgaben gemacht habe, komme ich wieder zu dir«, versprach der elf Jahre alte Junge dem rotbraunen Wallach und klopfte dem Pferd mit einer Hand freundschaftlich den Hals, während er ihm mit der anderen ein trockenes Brötchen zusteckte. Jeden Tag besuchte Florian nach der Schule seinen Sancho, der in einem Reitstall untergebracht war. Dieser Reitstall lag auf seinem Heimweg, nur wenige hundert Meter von dem kleinen Einfamilienhaus entfernt, in dem der Junge mit seiner Mutter wohnte.

Vor fast zwei Jahren war Florians Vater, Sören Beermann, bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Wenige Tage vor dessen Tod hatte der Frühling Einzug gehalten. Niemand hatte damit gerechnet, dass der Winter noch einmal zurückkehren könnte. Trotzdem war das geschehen, nicht mit Schneefall, sondern mit tiefen Nachttemperaturen, bei denen sich in ungünstigen Lagen Glatteis gebildet hatte. Der Architekt Sören Beermann hatte sich am frühen Morgen auf den Weg zu einem Kunden gemacht. Es war bei seiner Abfahrt noch dunkel gewesen. Auf einer Brücke, die über einen Bachlauf führte, war das Auto auf eine spiegelglatte Fläche und direkt anschließend ins Schleudern geraten. Sören hatte offensichtlich die Gewalt über das Fahrzeug verloren und war gegen einen Baum am Ende der Brücke gefahren. Den massiven Aufprall hatte Florians Vater nicht überlebt.

Anfangs war es für Florian und seine Mutter schwer gewesen, den Verlust zu verkraften. Das Leben der beiden schien völlig aus den Angeln gehoben zu sein. Inzwischen hatten Mutter und Sohn gelernt, sich auf die neue Situation einzustellen und wieder einen normalen Tagesablauf zu finden.

Sören Beermann war ein begeisterter Reiter gewesen und hatte sich vor sechs Jahren den damals dreijährigen Sancho gekauft. Es war ihm gelungen, auch seinen Sohn für diesen Sport zu begeistern. Mit viel Geduld hatte er Florian unterrichtet, und der Junge hatte sehr schnell viel gelernt. Nachdem sein Vater gestorben war, hatte Florian den Wallach gewissermaßen geerbt. Henrike Beermann, die Mutter des Jungen, hatte Sancho ebenfalls sehr gern und fand sich recht häufig im Reitstall ein. Aber sie war keine Reiterin und besuchte das Pferd nur, um ihm ein paar Leckerbissen zu bringen oder einfach ein bisschen mit ihm zu schmusen. Noch nie in ihrem Leben hatte Henrike auf dem Rücken eines Pferdes gesessen, und es war auch nicht ihre Absicht, in Zukunft etwas daran zu ändern. Sie freute sich allerdings sehr darüber, dass ihr Sohn so große Freude am Reitsport hatte und diesem Hobby fast seine gesamte Freizeit widmete.

Als Florian den Stall verließ, stieß er auf Hubertus Meurer, einen etwa fünfzig Jahre alten Mann, dem der Reitstall gehörte, in dem nicht nur dessen eigene Turnierpferde, sondern auch noch achtzehn Pensionspferde untergebracht waren.

»Hallo Florian«, grüßte Herr Meurer freundlich. »Wenn du willst, kannst du Sancho auf die Weide drüben am Bach bringen. Dann kann er sich noch etwas auslaufen, bis du nachher kommst und ihn reitest. Seinen Freund Valesco habe ich vorhin schon auf diese Weide gebracht.«

»Dann lasse ich Sancho auch nach draußen«, entgegnete Florian und griff auch schon nach dem Führstrick, um ihn an Sanchos Halfter zu befestigen. Zwischen Valesco, einem Grauschimmel, der ebenfalls in diesem Reitstall untergestellt war, und Sancho war in den letzten Monaten eine nette Freundschaft entstanden. Die beiden freuten sich immer, wenn sie gemeinsam auf eine der umliegenden Weiden gebracht wurden. Dann galoppierten sie manchmal um die Wette oder kraulten sich mit den Zähnen gegenseitig vorsichtig die Mähnen.

Als Valesco den Jungen mit Sancho kommen sah, wieherte er freudig, und kaum hatte Florian sein Pferd auf die Weide gelassen, ging die wilde Jagd auch schon los. Eine über zwanzig Jahre alte Stute, die auf diesem Anwesen ihren Lebensabend in Ruhe verbringen durfte und sich gerade ebenfalls auf dieser Weide befand, schaute auf. Ein Grasbüschel hing seitlich aus ihrem Maul, als sie aufhörte zu kauen. Es hatte beinahe den Anschein, als würde die alte erfahrene Stute über die übermütig galoppierenden Wallache den Kopf schütteln. Sie selbst dachte gar nicht daran, sich an dem wilden Spiel zu beteiligen. Sie ließ es viel lieber ruhiger angehen. Florian fiel der verständnislose Blick der betagten Stute auf, die ganz in der Nähe des Weidetores stand.

»Für dich ist das nichts mehr, Alissa. Aber du musst deswegen nicht so erstaunt gucken. Lass die beiden ruhig ein bisschen toben. Sie sind noch jung, und es macht ihnen Spaß, sich nach Herzenslust zu bewegen. Wenn sie erst einmal so alt sind wie du, dann wollen sie das auch nicht mehr.«

Alissa schnaubte, blickte noch einmal auf die beiden Wallache, die jetzt etwas ruhiger wurden und nur noch nebeneinander hertrabten, und beugte ihren Hals wieder zu dem schmackhaften, saftigen Gras hinunter. Florian wandte sich ab, griff nach seiner Schultasche, die er auf einer Bank vor dem Stallgebäude abgestellt hatte, und machte sich auf den Heimweg. Seine Mutter wusste zwar genau, dass er regelmäßig nach dem Schulunterricht noch rasch einen Abstecher zu Sancho machte, und sie nahm es nicht krumm, wenn er deshalb ein paar Minuten später nach Hause kam. Zu lange wollte sie mit dem vorbereiteten Mittagessen dann aber doch nicht warten müssen.

Als er das Gelände verlassen und das Wohnhaus des Reitstallbesitzers hinter sich gelassen hatte, wurde die Weide wieder sichtbar. Florian stellte fest, dass Sancho und Valesco sich inzwischen offensichtlich ausgetobt hatten und jetzt friedlich Kopf an Kopf grasten. Der Junge freute sich schon darauf, in wenigen Stunden im Sattel seines geliebten Pferdes sitzen zu können. Wieder einmal stellte er insgeheim fest, dass er eigentlich ein glückliches Leben führte. Seine Mutter war die beste Mutter der Welt. Das konnten nicht alle Kinder von ihren Müttern behaupten. Zugegeben, die meisten Freunde und Klassenkameraden hatten nicht nur Mütter, sondern auch Väter. Einen Vater konnte Florian nicht mehr aufweisen, aber er besaß dafür einen großen vierbeinigen Freund, Sancho, und er kannte in seinem Umfeld kein anderes Kind, das ein Pferd sein Eigentum nennen konnte. In dieser Tatsache sah der Junge einen Ausgleich.

*

Schon seit einigen Wochen gab es ein ernsthaftes Problem, von dem Henrike Beermann belastet wurde. Die Witwenrente, die sie seit dem Tod ihres Mannes erhielt, war nicht besonders hoch. Davon hätte sie ihren Lebensstandard nicht halten können. Das kleine Haus, das sie sich zusammen mit Sören vor zehn Jahren gekauft hatte, war noch mit einer Hypothek belastet. Auch wenn diese Hypothek nicht sehr hoch war und in wenigen Jahren getilgt sein würde, musste Monat für Monat der Ratenbetrag aufgebracht werden. Auch die Stallmiete für Sancho war regelmäßig zu begleichen, und für Hufschmied und Tierarzt fielen ebenfalls Kosten an. Bisher waren diese finanziellen Belastungen kein nennenswertes Problem gewesen. Henrike hatte eine gut bezahlte Arbeitsstelle in einer privaten Sprachenschule, in der sie als Englischlehrerin angestellt war. Nun aber hatte diese Schule vor einigen Wochen angekündigt, dass sie ihre Pforten schließen würde. Die Betreiber hatten die siebzig Jahre längst überschritten und wollten sich zur Ruhe setzen. Nachfolger, die die Sprachenschule übernehmen wollten, hatten sich leider nicht gefunden. Henrike wurde somit arbeitslos. Das Arbeitslosengeld, das sie beziehen würde, reichte jedoch hinten und vorne nicht. Die Überstunden, die Henrike geleistet und mit denen sie eine Menge Geld verdient hatte, wurden bei der Berechnung des Arbeitslosengeldes nicht berücksichtigt. Mit spitzem Bleistift hatte Henrike in der letzten Zeit immer wieder nachgerechnet, wie und wo sie etwas einsparen konnte. Dabei war sie stets zum selben Ergebnis gekommen. Es hatte keinen Sinn, an Kleinigkeiten sparen zu wollen. Das führte im Endeffekt zu nichts. Wirklich hilfreich würde es nur sein, große Posten von der Liste der finanziellen Verpflichtungen streichen zu können. Dazu gehörten die Kosten, die Sancho verursachte. Es widerstrebte Henrike, Sancho zu verkaufen. Der Wallach hatte ihrem Mann sehr viel bedeutet, und jetzt hing Florian mit allen Fasern seines Herzens an dem Pferd. Für ihn würde es eine Katastrophe bedeuten, sich von seinem Freund trennen zu müssen. Auch sie selbst würde Sancho sehr vermissen. Aber einen anderen Ausweg gab es einfach nicht. Noch schlimmer würde es sein, wenn sie beide das Dach über dem Kopf verlieren würden, weil die Hypothek nicht bedient werden konnte.

Die Frage, wie sie Florian die Notwendigkeit, Sancho verkaufen zu müssen, beibringen sollte, hatte Henrike bereits mehrere schlaflose Nächte bereitet. Sie hatte das Gespräch immer wieder verschoben. Aber jetzt ließ es sich einfach nicht länger hinauszögern. Die Zeit drängte zu sehr. Heute musste Florian erfahren, dass Sancho neue Besitzer bekommen würde, Besitzer, die natürlich gut mit ihm umgehen würden.

Florian ahnte nichts Böses, als er am Küchentisch Platz nahm und sich darüber freute, dass seine Mutter heute seine Leibspeise zubereitet hatte, Fischstäbchen mit Kartoffelbrei und Erbsen. Herzhaft langte der Junge zu. Henrike aß mit ihrem Sohn gemeinsam und wartete ab, bis er satt war und auf einen angebotenen weiteren Nachschlag verzichtete.

»Florian, ich muss mit dir reden«, begann Henrike. »Es handelt sich um eine sehr wichtige Angelegenheit.«

»Was ist denn passiert?«, erkundigte sich der Junge und versuchte, in dem besorgten Gesicht seiner Mutter zu lesen. »Das scheint ja tatsächlich eine schlimme Sache zu sein. Aber ich habe in der Schule nichts angestellt und auch sonst keine Dummheiten gemacht, über die du mit mir reden müsstest.«

»Nein, das hast du nicht«, bestätigte Henrike. »Es ist etwas ganz anderes, über das wir uns unterhalten müssen. Du weißt doch, dass ich meinen Arbeitsplatz verloren habe, weil die Sprachenschule schließt. Morgen habe ich meinen letzten Arbeitstag. Wenn ich nun viel weniger Geld haben werde, muss intensiv gespart werden. Wir können uns nicht mehr so viel leisten wie bisher.«

»Kannst du nicht einfach bei einer anderen Sprachenschule Arbeit finden?«, wollte Fabian wissen. »Du bist doch eine sehr gute Lehrerin.«

Henrike lächelte gequält. »Danke für das nette Kompliment. Ich habe natürlich längst versucht, einen neuen Arbeitsplatz zu finden, aber das hat nicht geklappt. Wir werden uns deshalb einschränken und auf viele Dinge verzichten müssen, die eigentlich wertvoll für uns sind.«

»Na gut, du brauchst mir nicht unbedingt neue Reitstiefel zu kaufen, weil ich aus meinen fast schon wieder herausgewachsen bin. Am schwarzen Brett in der Stallgasse werden immer gebrauchte Sachen angeboten. Gestern habe ich gesehen, dass dabei auch ein paar Reitstiefel waren, die sehr wenig kosten. Auch sonst können wir bestimmt viel einsparen, wenn wie uns ein wenig Mühe geben, immer auf die Preise achten und wirklich nur das kaufen, was wir auch wirklich brauchen.«

Henrike legte eine Hand auf Florians Unterarm. »Ich weiß, dass du es gut meinst und helfen möchtest. Das finde ich auch sehr lieb von dir. Aber leider reicht es nicht, wenn wir nur auf die Preise achten und ein bisschen bescheidener leben. Das hilft uns nicht viel. Florian, ich habe lange darüber nachgedacht und mir die Entscheidung nicht leicht gemacht. Für mich ist es auch ein schlimmer Gedanke, aber es gibt einfach keinen anderen Weg: Wir müssen uns von Sancho trennen und ihn in gute Hände verkaufen. Dann bleiben mir jeden Monat große Ausgaben erspart.«

Florian starrte seine Mutter fassungslos an. »Sancho verkaufen? Das geht doch gar nicht! Er gehört zu unserer Familie. Das hat Vati auch immer gesagt, und ein Familienmitglied kann man nicht verkaufen. Wie kommst du nur auf so eine Idee?«

»Du musst das verstehen. Wir ­befinden uns in einer Notlage. Ich habe kein eigenes Einkommen mehr. Das Arbeitslosengeld ist viel geringer, als es mein Verdienst gewesen ist. Allein schon durch die zahlreichen Überstunden hatte ich stets reichlich Geld zur Verfügung. Das ist jetzt nicht mehr der Fall. Die Witwenrente ist auch mehr als bescheiden. Aber wir beide müssen doch leben, und Monat für Monat muss ich Geld an die Bank zahlen, weil wir noch Schulden für das Haus haben.«

»Wir könnten doch das Haus verkaufen und uns ein kleineres und billigeres Haus kaufen«, schlug Florian vor. »Das könnten wir bezahlen und hätten keine Schulden bei der Bank mehr. Viel Platz brauchen wir beide doch nicht. Ich bin mit einem ganz kleinen Kinderzimmer zufrieden, und ein Gästezimmer, wie wir es jetzt haben, ist überhaupt nicht nötig.«

Henrike war gerührt darüber, zu welchen Kompromissen und persönlichen Einschränkungen ihr Sohn bereit war, nur um sich nicht von seinem geliebten Pferd trennen zu müssen. Es tat ihr in der Seele weh, ihm keine Hoffnungen machen zu können.

»Diese Idee hatte ich auch schon«, erklärte sie. »Deshalb habe ich nach einem kleinen Haus gesucht und sogar Wohnungsangebote genau unter die Lupe genommen. Es müsste ja nicht unbedingt ein Haus sein. In einer Wohnung könnte es uns auch gefallen. Aber es werden nicht viele Wohnungen verkauft und wenn, dann sind sie unverhältnismäßig teuer. Die Preise sind in den letzten Jahren stark angestiegen. Die Häuser, die zum Verkauf stehen, passen leider nicht zu uns. Die meisten sind noch größer als unser Haus und deshalb auch wesentlich teurer. Tatsächlich gibt es ein paar wenige kleine Häuschen. Aber die sind alle sehr alt und müssen grundlegend saniert werden. Das kostet unglaublich viel Geld. Der Plan, in ein anderes Haus zu ziehen und dadurch Geld zu sparen, funktioniert leider nicht. Aber wir brauchen ein Dach über dem Kopf. Also bleiben wir hier und müssen unsere finanziellen Probleme anders lösen.«

»Aber doch nicht, indem wir Sancho verkaufen«, begehrte Florian auf. »Es muss einfach einen anderen Weg geben. Ich will Sancho nicht verlieren.«

»Ich auch nicht«, versicherte Henrike. »Aber wir haben keine andere Wahl. Das musst du einsehen, auch wenn es sehr schwer ist. Natürlich achten wir beide darauf, dass Sancho in gute Hände kommt. Wir verkaufen ihn nicht einfach an jemanden, nur weil der einen guten Preis bietet. Sanchos neuer Besitzer muss ein Mensch sein, bei dem wir sicher sind, dass er immer gut mit dem Pferd umgeht. Mit ein bisschen Glück bleibt Sancho in Zukunft weiterhin im Reitstall. Dann darfst du ihn vielleicht ab und zu besuchen und kannst ihn auf deinem Schulweg sogar auf der Weide stehen sehen. Ist das nicht ein Trost für dich?«

Florian schüttelte den Kopf. »Nein, das ist überhaupt kein Trost. Er gehört dann ja nicht mehr mir und darf irgendwie nicht mehr mein Freund sein. Ich sehe ja ein, dass du große Geldprobleme hast. Eigentlich haben wir die beide, weil wir eine Familie sind. Aber dass wir Sancho deswegen verkaufen sollen, will ich nicht begreifen.«

Henrike sah, wie ihrem Sohn Tränen über die Wangen rannen, und nahm den verzweifelten Jungen in ihre Arme. Wortlos wiegte sie ihn wie ein Baby. Ihr war selbst zum Weinen zumute. Auch wenn sie keine Reiterin war, hatte sie den braven und immer zuverlässigen Wallach von Herzen gern. Aber sie konnte ihn sich eben nicht mehr länger leisten.

*

Vor wenigen Wochen hatte Florian einen Artikel in der Tageszeitung gelesen. Da war die Rede von einem Kinderheim, das in dem nicht weit entfernten beschaulichen Örtchen Wildmoos lag. Sophienlust hieß dieses Kinderheim, in dem es auch zahlreiche Tiere gab, mit denen sich die Kinder beschäftigen konnten. Eine Dogge namens Anglos gehörte ebenso dazu wie ein Bernhardiner, der auf den Namen Barri hörte. Im Wintergarten lebte der Papagei Habakuk, der als Sprachgenie galt. Aber es gab auch Pferde und Ponys, die zum Kinderheim gehörten und laut Zeitungsartikel ein wundervolles Leben führten.

Florian hatte zu den Schülern seiner Parallelklasse kaum Verbindung, wusste aber, dass es sich bei zwei der Jungen, Martin Felder und Fabian Schöller, um Kinder handelte, die in Sophienlust wohnten. Das hatte er irgendwann einmal von anderen Schülern erfahren und kannte auch Martin Felders Gesicht. In der großen Pause blickte Florian sich suchend um, und als er Martin entdeckte, ging er auf ihn zu.

»Hallo, ich bin Florian«, stellte sich der Junge vor. »Neulich habe ich einen Zeitungsartikel über Sophienlust gelesen. Da stand drin, dass es dort auch Pferde gibt. Stimmt das wirklich? Du wohnst doch in diesem Kinderheim und müsstest das wissen.«

»Ja, bei uns gibt es Pferde und ein paar Ponys«, gab Martin freimütig Auskunft. »Die Kinder dürfen auch reiten. Für die kleineren Kinder sind die Ponys da und die Pferde für die größeren, die meistens schon sehr gut reiten können. Warum willst du das wissen?«

»Ach, eigentlich nur so.« Florian zog die Schultern hoch. »Pferde kosten doch ziemlich viel Geld. Man braucht für sie Futter, Heu, Stroh, und auch der Hufschmied muss kommen. Wenn ein Pferd dann einmal krank ist, muss man auch noch den Tierarzt bezahlen. Je mehr Pferde man hat, umso teurer wird die Sache. Was würde passieren, wenn das Kinderheim die Kosten für die Pferde plötzlich nicht mehr aufbringen könnte? Müssten sie dann verkauft werden, oder könnte man auch eine andere Lösung finden?«

»Darüber habe ich mir noch nie Gedanken gemacht«, gab Martin zu. Auch Fabian, der sich inzwischen zu den beiden Jungen gesellt hatte, schüttelte den Kopf.

»Darüber habe ich auch noch nicht nachgedacht. Aber ich glaube, so etwas kann in Sophienlust überhaupt nicht passieren. Da ist immer genug Geld für die Pferde da. Doch auch sonst würden die Pferde sicher nicht verkauft werden. Tante Isi und auch Nick, der jetzt volljährig und für das Kinderheim verantwortlich ist, würden auf jeden Fall einen Ausweg finden. Die Pferde und Ponys gehören zur großen Familie von Sophienlust, und Familienmitglieder verkauft man nicht, niemals.«

»Das sehe ich auch so«, bestätigte Florian. »Ein Pferd versteht doch gar nicht, wieso es sich plötzlich an einen anderen Besitzer gewöhnen soll, und es ist unendlich traurig, wenn man sich von seinem Pferd trennen muss, nur weil das Geld nicht reicht.«

Martin und Fabian wechselten etwas verständnislose Blicke. Anschließend schaute Martin Florian fragend an. »Ich begreife noch immer nicht, wieso du dir Sorgen um die Pferde von Sophienlust machst und darum, dass sie aus finanziellen Gründen eventuell verkauft werden müssten. Kannst du mir das erklären?«

»Eigentlich geht es gar nicht um die Pferde von Sophienlust«, entgegnete Florian düster. »Ich wollte nur mit euch über dieses Thema reden, weil ihr auch Pferde habt, von denen ihr euch sicher nie trennen wollt. Ein Bekannter meiner Mutter hat nämlich ein Pferd. Das muss er jetzt verkaufen, weil er seinen Job verloren und nun weniger Geld hat. Er sieht keinen anderen Ausweg, obwohl er sehr an seinem Pferd hängt. Jetzt wollte ich von euch wissen, wie euer Kinderheim in so einem Fall reagieren würde. Vielleicht ist in Sophienlust so etwas schon einmal vorgekommen und man hat eine Lösung gefunden.«

Martin schüttelte den Kopf. »Ich habe keine Ahnung, wie reich oder arm Sophienlust ist. Aber für die Pferde war immer genügend Geld da. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass sich daran jemals etwas ändern wird. Aber der Bekannte deiner Mutter tut mir richtig leid. Er wird sein Pferd bestimmt sehr vermissen und das Pferd ihn auch.«

»Ich finde es auch schlimm, wenn man sein Pferd abgeben muss«, bekundete Fabian. »Für mich war es schon furchtbar, dass ich meinen Hund nicht mitnehmen konnte, als ich in die Schweiz ins Internat musste. Das war eine schreckliche Zeit. Jeden Tag habe ich mich nach Anglos gesehnt. Aber jetzt bin ich ja wieder da, und alles ist gut. Bei einem Pferd ist das bestimmt nicht anders, wenn man sich von ihm trennen muss. Vielleicht findet der Bekannte deiner Mutter doch noch einen Ausweg. Das wünsche ich ihm sehr.«

»Ich glaube, in diesem Fall gibt es leider keinen Ausweg«, erwiderte Florian traurig. Er hätte sich gerne noch länger mit Martin und Fabian unterhalten, aber der Gong ertönte und beendete die große Pause. Die Kinder verabschiedeten sich kurz voneinander und strebten ihren Klassenräumen zu.

*

Als Henrike ihrem Sohn vorsichtig mitgeteilt hatte, dass sie Sancho in einer Fachzeitschrift zum Verkauf angeboten und dass sich auch schon ein Interessent gemeldet hätte, geriet Florian regelrecht in Panik. Bisher war ihm noch gar nicht so recht bewusst geworden, dass er sich schon sehr bald von Sancho trennen musste. Mit dem Gedanken, wie wenig Zeit ihm noch blieb, hatte sich der Junge nicht beschäftigen wollen.

»Vielleicht hat sich dieser Interessent einfach nur so zum Spaß gemeldet und will Sancho eigentlich gar nicht haben. Es gibt doch immer wieder Leute, die sich nur wichtig machen wollen. Nachher hört man von ihnen nie wieder etwas.«

»Nein, das glaube ich in diesem Fall nicht«, erklärte Henrike. »Herr Oldendorf besitzt bereits ein Pferd. Er sucht jetzt noch das passende Pferd für seine Frau, die er vor drei Monaten geheiratet hat. Die kurze Beschreibung von Sancho hat ihm gut gefallen. Deshalb wollen die beiden übermorgen kommen und sich Sancho ansehen. Herr Oldendorf klang sehr nett, und er versteht eine Menge von Pferden. Das habe ich schon am Telefon gemerkt. Ich bin sicher, dass Sancho bei ihm und seiner Frau in guten Händen wäre. Nur wird er leider nicht hier im Reitstall bleiben. Die Oldendorfs wohnen fast achtzig Kilometer von hier entfernt. Aber ich werde die beiden bitten, uns ab und zu einmal ein Foto von Sancho zu schicken.«

»Ich will aber kein Foto von Sancho«, verkündete Florian verzweifelt. »Ich will ihn so behalten, wie er jetzt ist, lebendig und ganz nah bei uns. Bitte, Mama, gib Sancho nicht her. Ich will auch nie wieder ein Geschenk zu Weihnachten oder zum Geburtstag haben. Wir müssen in den großen Ferien auch nicht mehr in den Urlaub fahren. Auf teure Klassenfahrten verzichte ich auch gerne. Ich möchte nur meinen besten Freund nicht verkaufen müssen.«

»Ich möchte das doch auch nicht«, erwiderte Henrike und nahm ihren Sohn in die Arme. »Glaube mir, es fällt mir unglaublich schwer, Sancho abzugeben. Wenn es irgendeine Möglichkeit gäbe, um das zu verhindern, würde ich es sofort tun. Leider gibt es aber keine. Ich habe mir wochenlang den Kopf darüber zerbrochen, aber keine Lösung gefunden. Manchmal muss man in seinem Leben einen sehr schweren Weg gehen. Genau das müssen wir beide jetzt tun. Es wird nicht einfach werden, aber wir können uns gegenseitig trösten, wenn einer von uns einmal zu traurig sein sollte. Wir beide halten fest zusammen. Dann schaffen wir das schon.«

Es tat Henrike ungeheuer weh, in die verzweifelten Augen ihres Sohnes blicken zu müssen. Als Florian dann auch noch aufstand und mit Tränen in den Augen wortlos das Zimmer verließ, fühlte sie sich so niedergeschlagen wie noch nie zuvor in ihrem Leben.

Florian zog sich in sein Zimmer zurück, setzte sich auf sein Bett und legte seine Arme um die angezogenen Knie. Er konnte und wollte nicht akzeptieren, sich von Sancho, seinem über alles geliebten Sancho trennen zu müssen. Natürlich sah er ein, dass seine Mutter sich in einer schwierigen Situation befand und keinen anderen Ausweg sah, als das Pferd zu verkaufen. Leicht hatte sie sich diese Entscheidung sicher nicht gemacht. Das wusste der Junge genau und war deshalb nicht wütend auf seine Mutter. Trotzdem war er mit ihren Plänen alles andere als einverstanden. Ob die Interessenten, die sich den Wallach ansehen wollten, auch tatsächlich gut mit ihm umgehen würden, konnte niemand sagen. Sancho war zwar sehr brav und gutmütig, hatte aber doch so seine Eigenarten. Wenn man ihm zum Beispiel den Sattel auf den Rücken legte und den Gurt festziehen wollte, holte er immer tief Luft und pumpte seinen Bauch auf. Dann war es unmöglich, den Sattelgurt fest anzuziehen. Wenn man ihn aber mit den Fingern ein bisschen an der Flanke kitzelte, atmete er sofort wieder aus. Manche Leute sahen in einem solchen Verhalten jedoch eine Unart, die sie sofort hart bestraften. Einige boxten den Pferden dann mit der Faust kräftig in die Rippen. Allein schon der Gedanke daran, dass es Sancho bei seinen neuen Besitzern so ergehen könnte, versetzte Florian in Panik. Er musste seinen vierbeinigen Freund schützen und konnte sich sowieso nicht damit abfinden, ihn niemals wiedersehen zu können. Ja, vielleicht würden die neuen Besitzer tatsächlich ab und zu einmal ein Foto schicken, aber ein Bild reichte Florian nicht. Er brauchte Sanchos Nähe, wollte sein lustiges Grummeln hören, mit dem der Wallach ihn stets begrüßte, und seinen warmen Atem an seinem Hals spüren.

Nein, Sancho durfte nicht einfach aus seinem Leben verschwinden! Florian schwor sich selbst, das zu verhindern. Allerdings fiel ihm nicht ein, wie er das anstellen sollte. Das Pferd einfach am Halfter zu nehmen und mit ihm fortzulaufen, war absolut unmöglich, auch wenn der Junge das nur zu gern getan hätte. Er sah ein, dass das zu nichts führen konnte. Wie hätte er auf Dauer für sich und Sancho sorgen sollen?

Plötzlich kam Florian eine Idee. Zuerst war es nur ein unbestimmter Gedanke, der allerdings mehr und mehr Konturen annahm und sich zu einem festen Plan formte. Der Junge atmete befreit auf. Ja, es gab einen Weg, um die Trennung von Sancho zu verhindern, und diesen Weg wollte er gehen!

*

Henrike ahnte nichts von dem, was im Kopf ihres Sohnes vor sich ging. Sie schöpfte auch keinen Verdacht, als Florian ihr erzählte, dass er an diesem Tag mit einem Klassenkameraden und dessen Eltern eine Fahrradtour unternehmen wollte. Das teilte er ihr mit, als er aus dem Reitstall gekommen war, in dem er sich heute nur etwa eine Stunde lang aufgehalten hatte.

Henrike freute sich über diese Pläne, die den Jungen ein bisschen von seinem Kummer ablenken würden. Am nächsten Tag sollten Herr und Frau Oldendorf kommen, um sich Sancho anzusehen. Möglicherweise würden sie ihn sofort kaufen und mitnehmen wollen. Das würde für Florian hart werden, und es war gut, dass er wenigstens heute nicht mehr länger darüber nachdenken würde. Für eine ausgedehnte Radtour war es zwar schon ein bisschen spät, aber für ein paar Runden reichte die Zeit trotzdem noch aus.

»Wohin soll die Radtour denn gehen?«, wollte Henrike wissen und schaute ihren Sohn interessiert an.

»Das weiß ich noch nicht genau. Pauls Eltern haben gesagt, dass das Ziel eine Überraschung sein soll. Du brauchst dir auch keine Sorgen zu machen, wenn ich erst spät wieder nach Hause komme. Wahrscheinlich ist es dann schon dunkel. Aber Pauls Eltern haben versprochen, dass sie mich auf dem Rückweg bis zu unserem Haus begleiten. Mir kann also überhaupt nicht passieren.«

»Ich mache mir keine Sorgen. Bei Pauls Eltern weiß ich dich in den besten Händen. Ich habe sie ja schon auf einem Elternabend in der Schule kennengelernt. Es handelt sich um sehr zuverlässige Leute. Sie werden gut auf dich aufpassen.«

Paul, ein sportlicher Junge mit einem hellbraunen Lockenkopf, war vor zwei Monaten unter Florians Geburtstagsgästen gewesen.

Die beiden Kinder hatten sich auch anschließend noch mehrmals getroffen, um miteinander zu spielen. Bei Paul handelte es sich um ­einen sehr sympathischen Jungen. Henrike hatte nichts gegen die Freundschaft ihres Sohnes zu diesem Klassenkameraden, dessen Eltern sie ebenfalls schätzte.

Als Florian das Haus verließ, um sein Fahrrad aus dem angebauten kleinen Schuppen zu holen, wünschte Henrike ihm viel Spaß. Sie konnte nicht ahnen, dass an diesem Tag gar keine Radtour geplant war …

Florian winkte seiner Mutter noch einmal kurz zu und radelte los. Sein Weg führte ihn allerdings keineswegs zu seinem Freund Paul, sondern schnurstracks zum Reitstall. Er benutzte allerdings nicht die Hauptzufahrt, sondern den kleinen Nebeneingang, der sich etwas versteckt zwischen zwei Buschreihen befand. Dort stellte er sein Fahrrad ab und blickte sich um. Als er vorhin bei Sancho gewesen war, hatte er ihn vorsorglich auf die kleine Weide gebracht, die zwar nicht sehr viel Auslauf bot, aber durch eine Baumreihe schlecht einsehbar war. Zum Reitstall gehörten mehrere Weiden, die nach Belieben genutzt werden konnten. Hinter einem der dicken Baumstämme hatte Florian einen Führstrick deponiert. Den hob er jetzt auf und öffnete das Weidetor. Sancho sah den Jungen, hörte sofort auf zu grasen und ging auf ihn zu.

»Du hast keine Ahnung, was morgen mit dir passieren soll«, murmelte Florian, während er den Führstrick am Halfter des Wallachs befestigte. »Aber ich lasse nicht zu, dass du zu fremden Leuten kommst, die vielleicht schlecht mit dir umgehen. Außerdem will ich nicht, dass du einfach verschwindest und dass wir beide uns nie mehr sehen können. Deshalb bringe ich dich jetzt in Sicherheit. Mama darf davon nichts wissen. Sie wäre mit meinem Plan nie einverstanden. Jetzt bekommt sie ja das Geld nicht, das die Käufer für dich zahlen würden. Dafür spart sie aber wenigstens jeden Monat die Stallmiete und muss auch keinen Hufschmied und keinen Tierarzt bezahlen. Das wird ihr bestimmt schon sehr helfen. Komm, wir machen uns jetzt auf den Weg. Du musst aber ganz leise sein und darfst nicht wiehern oder schnauben. Wir dürfen nicht entdeckt werden. Sonst werden wir gefragt, wohin wir wollen, und das will ich niemandem erzählen.«

Sancho konnte die Worte des Jungen nicht verstehen.

Er interessierte sich sowieso viel mehr für die kleinen Leckerbissen, die Florian aus seiner Jackentasche holte und ihm reichte. Zufrieden kauend folgte der Wallach seinem Freund. Der Führstrick war eigentlich überhaupt nicht nötig.

*

Henrike machte sich keine Gedanken um Florian, den sie in den besten Händen wähnte. Vorsorglich bereitete sie aber ein Abendessen für ihn vor, weil sie nicht wusste, ob Pauls Eltern mit den Kindern unterwegs etwas essen würden.

Während Henrike fest davon überzeugt war, dass ihr Sohn an einer interessanten Radtour teilnahm, sah die Wirklichkeit ganz anders aus. Der Junge hatte sich mit Sancho auf den Weg nach Sophienlust gemacht. Dass es die Pferde dort gut hatten, wusste er durch den Zeitungsartikel. Von Martin und Fabian hatte er erfahren, dass die Pferde, die dort lebten, niemals verkauft wurden. Dort war also genau der richtige Platz für Sancho. Ganz bestimmt würde man ihn aufnehmen und dafür sorgen, dass er zusammen mit den anderen Pferden ein glückliches Leben führen konnte. Außerdem hatte er, Florian, so die Gelegenheit, seinen geliebten Wallach hin und wieder heimlich besuchen zu können, wenn dieser dort auf der Weide stand.

Da der Junge sich nicht an den Straßenverlauf hielt, sondern die Abkürzung wählte, die durch den Wald und an einigen Feldern vorbeiführte, war der Weg nach Wildmoos nicht sehr weit. Sancho wusste nicht, wohin Florian ihn führte, folgte ihm aber vertrauensvoll. Hier und dort blieb er kurz stehen und zupfte ein paar Gräser oder Blätter, die er am Wegrand entdeckte.

Es dämmerte bereits, als der Junge das Gelände von Sophienlust erreichte. Auf der großen Weide standen keine Pferde mehr. Die waren bereits für die Nacht in den Stall gebracht worden. Florian konnte nicht wagen, Sancho ebenfalls in den Stall zu bringen und dort nach einer freien Box Ausschau zu halten. Dabei wäre er möglicherweise entdeckt worden. Außerdem war der Stall wahrscheinlich sowieso abgeschlossen. Für eine Nacht konnte Sancho aber durchaus auf der Weide bleiben, zumal sich an einer Seite der Wiese eine Tränke sowie ein Unterstand befand, den die Pferde nutzen konnten, um sich vor Wind oder Regen zu schützen. Dort konnte sich Sancho, wenn er wollte, niederlassen.

»Morgen wird man dich hier finden«, erklärte Florian, nachdem er den Wallach auf die Weide gebracht hatte, den Strick gelöst hatte und den Hals seines Pferdes streichelte. »Für die Leute, die hier wohnen und arbeiten, wirst du ein fremdes Pferd sein. Aber niemand wird dich wegschicken. Das macht in Sophienlust keiner, nicht mit Kindern und auch nicht mit Tieren. Du wirst ein gutes Leben haben, und ich komme dich besuchen, sooft ich kann. Das verspreche ich dir. Jetzt muss ich aber schnell nach Hause. Es ist schon spät, und ich will nicht, dass Mama misstrauisch wird. Dass die Radtour erst mitten in der Nacht zu Ende ist, glaubt sie mir nämlich nie.«

Sancho blickte seinem Freund ein bisschen irritiert nach, als dieser das Weidegatter schloss und sich entfernte. Noch nie zuvor hatte Florian ihn bei Dämmerung oder Dunkelheit auf einer Weide zurückgelassen und schon gar nicht auf einer, die ihm völlig fremd war. Es dauerte allerdings nicht lange, bis der Wallach sich in sein Schicksal fügte, das ja gar nicht so schlecht war. Leise schnaubend wandte er sich dem Gras zu, knabberte ein paar Halme und wanderte anschließend interessiert die ihm noch unbekannte Weide ab. Die Situation war für Sancho ungewöhnlich, aber aufgeregt war er deshalb nicht.

Als Florian sich ein Stück entfernt hatte und unter einer Baumreihe stand, die ihn vor möglichen fremden Blicken schützte, wandte er sich noch einmal um. Im Mondlicht konnte er Sancho erkennen, der ruhig und gelassen über die Weide schritt und offensichtlich keineswegs verunsichert war. Diese Tatsache beruhigte den Jungen, und er setzte seinen Weg fort. Der Gedanke, dass Sancho nun nie wieder in seiner Nähe sein würde und er ihn nicht täglich nach der Schule auf dem Heimweg besuchen konnte, schmerzte Florian. Aber hin und wieder würde er sein geliebtes Pferd sehen können, und in Sophienlust war Sancho mit Sicherheit besser untergebracht als bei irgendwelchen fremden Leuten, die vielleicht gar nicht so tierlieb waren, wie sie taten.

*

Obwohl es inzwischen dunkel geworden war, machte Henrike sich keine Sorgen um ihren Sohn. Bei Pauls Eltern wusste sie ihn in den besten Händen, und die kleine Gruppe war ohnehin erst relativ spät zu der Radtour aufgebrochen. Es war also kein Wunder, dass die Rückkehr erst in der Dunkelheit stattfand. Das fand Henrike durchaus normal. Hin und wieder schaute sie im Vorbeigehen zwar aus dem Fenster und hielt kurz Ausschau nach den Radfahrern, ängstigte sich jedoch nicht, als sie niemanden draußen entdecken konnte.

Als Florian schließlich zu Hause eintraf, wurde er von seiner Mutter freundlich begrüßt und fand sein vorbereitetes Abendessen auf dem Küchentisch.

»Ich weiß nicht, ob du überhaupt Appetit hast«, bemerkte Henrike. »Vielleicht habt ihr unterwegs schon etwas gegessen, und du bist jetzt satt.«

»Nein, bin ich nicht«, erwiderte Florian. »Wir hatten zwar einen kleinen Picknickkorb mit, aber die Sachen haben wir ziemlich zu Anfang der Tour gegessen. Viel war das auch nicht, und jetzt habe ich wieder Hunger.«

Mit großem Appetit stürzte Florian sich auf das Abendessen. Henrike nahm ihm gegenüber am Tisch Platz und freute sich darüber, dass es ihrem Sohn schmeckte.

»Wohin seid ihr denn gefahren?«, erkundigte sie sich. »Du hattest erwähnt, dass sich Pauls Eltern ein besonderes Ziel als Überraschung ausgedacht hatten.«

Florian war von Anfang an klar gewesen, dass seine Mutter Fragen stellen würde, und hatte sich gut vorbereitet. »Wir sind zu einem Aussichtsturm gefahren. Von dem Turm aus kann man über den ganzen Wald gucken und sogar die Häuser von den Orten sehen, die hinter dem Wald liegen. Den Sonnenuntergang kann man auch prima beobachten.«

»Das habt ihr vermutlich auch getan und seid deshalb erst in der Dunkelheit zurück nach Hause gefahren«, stellte Henrike lächelnd fest. »Es ist schön, dass dir die Radtour so viel Spaß gemacht hat.«

Unwillkürlich musste Henrike daran denken, dass der kommende Tag nicht so schön für Florian werden würde. Dann würde Sancho vielleicht den Besitzer wechseln und noch am selben Tag in seinen neuen Stall umziehen. Kaum war Florians Mutter dieser Gedanke gekommen, als das Telefon läutete. Sie runzelte die Stirn, weil sie sich nicht erklären konnte, wer um diese Zeit noch anrief, und nahm ab. Am anderen Ende der Leitung meldete sich Hubertus Meurer, der Reitstallbesitzer.

»Frau Beermann, ich habe eine seltsame und schlechte Nachricht für Sie. Sancho ist spurlos verschwunden. Ich habe gesehen, dass Florian ihn am frühen Nachmittag auf die kleine Waldweide gebracht hatte. Da ist er aber nicht mehr, obwohl Zaun und Gatter völlig in Ordnung sind. Ausgerissen kann der Wallach also nicht sein. War Florian anschließend noch einmal hier und kann sagen, wo Sancho sich jetzt befindet?«

Verstört bat Henrike um Entschuldigung, wandte sich an Florian und erzählte ihm, was sie erfahren hatte. Anschließend wollte sie von ihm wissen, ob er eine Ahnung hätte, wo Sancho jetzt stecken könnte.

»Keine Ahnung«, erklärte der Junge mit möglichst unschuldigem Gesicht. »Ich war ja nachher nicht mehr im Stall, sondern auf Radtour.«

Henrike konnte Herrn Meurer nicht helfen und ihm keinen Hinweis geben, mit dem er etwas hätte anfangen können. Aber ebenso wie er machte sie sich Sorgen um das Pferd und fragte sich, was passiert sein könnte. Erst etwas später fiel ihr auf, dass Florian die Nachricht vom Verschwinden seines vierbeinigen Freundes relativ ruhig aufgenommen hatte. Das kam ihr verdächtig vor. Obwohl die Radtour ein sicheres Alibi darstellte, war Henrike sicher, dass ihr Sohn etwas mit Sanchos Verschwinden zu tun hatte. Andernfalls hätte er sich weitaus größere Sorgen um ihn gemacht. Auch war der Zeitpunkt dieses Vorfalles recht günstig. Am nächsten Tag wollten die Oldendorfs kommen, um sich das Pferd anzusehen und es möglicherweise sofort zu kaufen. Das war jetzt nicht mehr möglich. Da war kein Pferd mehr, das sie hätten kaufen können, und Florian war sehr daran gelegen, den Verkauf zu verhindern …

»Florian, hast du wirklich keine Ahnung, wo Sancho sich jetzt aufhält?«, wollte Henrike wissen. »Du kannst es mir ruhig erzählen. Ich bin dir nicht böse, wenn du sagst, dass du ihn weggebracht und versteckt hast. Aber ich möchte gerne die Wahrheit wissen.«

»Ich habe Sancho nicht versteckt, wirklich nicht«, erwiderte Florian und hatte damit noch nicht einmal gelogen. Versteckt hatte er das Pferd nicht, sondern ganz offen sichtbar auf eine Weide gestellt.

Sophienlust - Die nächste Generation 6 – Familienroman

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