Читать книгу Als Fanny ihr Pony fand - Ursula Isbel-Dotzler - Страница 7
Mitten in der Pampa
Оглавление„Liebe Mona! Ich hab ja versprochen, Dir spätestens vierundzwanzig Stunden nach unserer Ankunft in Bayern zu schreiben. Das tue ich hiermit pflichtgemäß. Allerdings würde ich mich lieber im Bett verkriechen und mir die Decke über den Kopf ziehen. Meine Schlafcouch steht nämlich schon in dem Zimmer unter dem Dach, das mir gehören soll. Sonst sitzen wir aber noch zwischen lauter Umzugskartons wie Schiffbrüchige am Strand zwischen den Überresten eines Wracks.
Hier ist es affenscheußlich. Ich hab’s ja gewußt, wir sind mitten in der Pampa gelandet! Heute mittag sind wir mal schnell durch dieses Nest gefahren. Man braucht ungefähr sieben Minuten dazu. Es gibt kein Kino, kein Schwimmbad, nicht mal einen Buchladen; dafür aber zwei Kirchen und drei Wirtshäuser.
Die Leute tragen keine Lederhosen. Jedenfalls hab ich bis jetzt noch niemanden damit rumlaufen sehen. Die Berge sind irgendwo in der Ferne. Auf einigen liegt noch Schnee. Wir wohnen am Ortsrand. Unser Haus ist das mittlere von fünf Reihenhäusern, die alle gleich aussehen. Dahinter kommt Gebüsch und ein paar Bäume und dann eine Wiese, auf der Kühe grasen.
Du findest das mit den Kühen jetzt bestimmt stark. Aber ich sage Dir, wenn Du hier wärst, würdest Du durchdrehen! Hier kann man absolut nichts tun außer in die Schule gehen und vielleicht ab und zu mit dem Rad fahren und natürlich lesen und fernsehen. Aber das kann man ja praktisch überall, wenn man nicht gerade auf einer einsamen Insel gestrandet ist.
Ich habe beschlossen, nicht hierzubleiben, weiß aber noch nicht, wie -“
Bei diesem Wort hörte ich zu schreiben auf und dachte: Nein, ich verrate noch keinem Menschen etwas davon. Nicht einmal Mona. Sie ist so schlampig. Womöglich läßt sie den Brief herumliegen, und ihre Mutter liest ihn und ruft meine Eltern an.
Außerdem mußte ich mir erst etwas einfallen lassen. Vor ein paar Jahren, als ich noch jünger war, wäre ich wahrscheinlich einfach auf und davon gegangen, ohne lange zu überlegen – mit einem Butterbrot und nur fünf Mark in der Tasche.
Heute wußte ich, daß Abhauen nicht so leicht ist. Ich hatte fast zweihundert Mark gespart, aber damit kommt man nicht sehrweit. Ich konnte mir zwar ab und zu ein Brötchen oder einen Hamburger kaufen und auch etwas zu trinken. Doch wo sollte ich schlafen? Anfangjuni kann es nachts noch verdammt kalt sein. Außerdem ist es gefährlich, irgendwo im Wald oder auf einer Parkbank zu übernachten.
Ich hoffte darauf, daß mir in den nächsten Tag irgend etwas einfallen würde. Den letzten Satz im Brief an Mona strich ich mehrfach durch, so daß man nichts mehr davon lesen konnte. Dann schrieb ich noch Grüße an Jens und Birge dazu.
„Wir gehen abends zu Tante Bea“, sagte mein Vater. „Dann kannst du deinen Brief unterwegs einwerfen.“
„Bea hat uns zum Essen eingeladen“, erklärte meine Mutter.
Sie stand in der Küche und packte Geschirr und Töpfe aus. Um sie herum war ein Berg von zerknülltem Zeitungspapier, der immer größer wurde.
Wäre Tante Beas Haus bei uns in Tübingen gestanden, hätte es mir bestimmt total gut gefallen. Es sah aus, als ob es in ein grünes Fell gehüllt wäre. An den Wänden wuchsen und kletterten überall Pflanzen hoch. Ein großer Baum wuchs dicht neben dem Haus und streckte seine Äste und Zweige über das Dach.
Einmal habe ich zu Weihnachten von meiner Großmutter einen violetten Stein bekommen. Er ist ziemlich groß und besteht aus mehreren Teilen, die sechseckig sind. Wenn man ihn gegen das Licht hält, leuchtet er von innen heraus. Meine Großmutter sagte, es wäre ein Amethyst.
Damals, als ich den Amethyst bekam, war ich sechs oder sieben Jahre alt. Ich sah ihn nur kurz an, legte ihn dann in eine Schachtel und vergaß ihn. Zwei Jahre später fand ich ihn wieder. Da sah ich plötzlich, wie wunderschön der Stein ist. Jetzt liegt er immer bei mir auf der Fensterbank, wo das Licht auf ihn scheint. Er gehört zu den Dingen, die ich am liebsten mag.
Ähnlich ging es mir jetzt mit Tante Bea. Als sie uns vor ein paar Jahren besucht hatte, kümmerte ich mich kaum um sie. Eigentlich war mir nur wichtig, daß sie mir etwas mitgebracht hatte. Tante Bea war eine Erwachsene wie alle anderen, abgesehen davon, daß sie eben die Schwester meiner Mutter war.
Jetzt wunderte ich mich über mich selbst. Wieso hatte ich nicht bemerkt, daß Tante Bea etwas ganz Besonderes war? Es lag nicht nur daran, daß sie sich anders anzog als meine Mutter oder andere Frauen in ihrem Alter. Sie trug einen ziemlich langen, bunten Rock und eine Bluse, die anders gemustert war als der Rock. Trotzdem paßte beides irgendwie zusammen und sah witzig aus. Zwischen ihren roten Haaren baumelten zwei verschiedenfarbige Ohrringe. Einer war lila wie mein Amethyst, der andere blau.
Ich hatte auch nie zuvor bemerkt, wie blau ihre Augen waren, und daß sie so nett lächeln konnte.
„Allmächtiger, Fanny, bist du groß geworden!“ sagte sie.
Sie umarmte mich, hielt mich dann von sich ab und fügte lachend hinzu: „Ich möchte mal wissen, wie viele Tanten schon genau das gleiche zu ihren Nichten und Neffen gesagt haben. Da hätte mir echt was Besseres einfallen können!“