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Wir nagen am Hungertuch

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Dieser Abend ist ausgesprochen günstig für Verhandlungen. Und zwar deswegen, weil alle Hunger haben und feststellen, dass keine Vorräte mehr im Haus sind.

„Haben wir denn keine Dosen mit Ravioli und Tomatensoße im Vorratskeller?“, fragt Kathi, meine Mutter.

„Alles kahl gefressen“, sage ich.

„Kids“, meint Chris, unser Vater, „ich finde, ihr seid alt genug, um euch auch ein bisschen mit um den Haushalt zu kümmern. Wir schreiben jetzt einen Zettel, an welchen Tagen wer von uns fürs Einkaufen zuständig ist. Den hängen wir an die Küchentür.“

„Und wer stellt die Einkaufsliste zusammen?“, fragt Dani.

„Wir alle miteinander. Wir hängen einen zweiten Zettel daneben. Wenn einem von uns etwas einfällt, was wir brauchen, schreibt er’s drauf.“

Kathi macht ein genervtes Gesicht. Die Stimmung ist überhaupt ziemlich düster. Wir sitzen am Küchentisch und kauen Äpfel und trockenes Knäckebrot. Butter haben wir nicht mehr. August liegt unter dem Tisch und seufzt. Er hat jedenfalls sein Futter gehabt.

„Heute Nacht kann ich bestimmt vor Hunger nicht schlafen“, mosert Emma.

Das ist der günstige Augenblick. Ich sage: „Könnte sein, dass ich einen Kochkurs mache.“

Alle starren mich an. In der Küche ist es plötzlich ganz still bis auf Kukirols Geknusper. Er frisst gerade seine letzten Nüsse.

Dani kriegt sich als Erster wieder ein. „Echt?“, sagt er. „He, das ist ja der göttlichste Geistesblitz, den du je im Leben hattest!“

Emmas Gesicht hellt sich auf. „Au ja, und dann kochst du jeden Tag für uns!“ Sie spuckt vor Begeisterung Knäckebrotkrümel über den Tisch. „Apfelstrudel und Quarkauflauf und Fingernudeln und gebratene Ente und Pizza und …“

„Es ist ein vegetarischer Kochkurs“, sage ich. „Und vegetarisch bedeutet ohne Fleisch. Man lernt da Gerichte kochen, die ohne Fleisch sind, kapiert? Ich brate keine Enten. Und auch sonst nichts, was ein Gesicht hat.“

Kathi und Chris sehen mich an. Ihre Blicke kommen mir irgendwie besorgt vor. Vielleicht denken sie, ich drehe vor Hunger bald durch.

„Jeden Tag koche ich bestimmt nicht“, füge ich schnell hinzu. „Aber vielleicht so zwei oder drei Mal die Woche. Das kommt darauf an.“

„Willst du das wirklich?“, fragt Kathi.

Chris fragt gleichzeitig: „Worauf? Worauf kommt es an?“

Jetzt muss ich die Sache listig anpacken. Ich zerkrümle mein letztes Stück Knäckebrot.

„Also“, sage ich vorsichtig, „ich hab mir gedacht, dieser Kochkurs ist ja eine Art Ausbildung. Und wenn ich eine Ausbildung mache, hab ich auch Anspruch darauf, dass ich anständig bezahlt werde. Schließlich arbeite ich ja für euch, oder?“ „Für uns? Du kochst doch für dich genauso“, wirft Dani ein.

„Also hör mal!“, sage ich. „Es ist schon ein Unterschied, ob man für eine Person kocht oder für fünf! Denk bloß mal an all das Gemüse, das man schnippeln muss …“

„Da hat Nelly aber Recht“, wirft Kathi ein. „Überhaupt, ich finde die Idee nicht übel. Was meinst du, Chris?“

Unser Vater nickt. „Mmm, ja. Anfangs war ich etwas geplättet, aber je länger ich darüber nachdenke, desto besser gefällt mir Nellys Vorschlag. Und ich finde auch, wenn sie bereit ist, für uns alle zu kochen, soll sie es nicht umsonst tun.“ „Heißt das, dass ich ihr was von meinem Taschengeld abgeben muss?“ Emma schaut entsetzt in die Runde.

„Nein. Wir haben doch das Geld, das wir jeden Monat von den Pflaumers für die Ponys kriegen. Davon könnten wir schon einen Teil für Nelly abzweigen. Die Ponys haben trotzdem genug zu fressen.“

Ich beglückwünsche mich heimlich selber, tue aber ganz cool und geschäftsmäßig. „Gut“ ‚sage ich. „Ich möchte einen Stundenlohn. Ich schreibe die Zeit genau auf, die ich arbeite. Zwei Jungs in unserer Klasse helfen bei Leuten im Garten. Sie mähen Gras und graben um und solche Sachen. Dafür kriegen sie sechzehn Mark in der Stunde. Wären sechzehn Mark okay?“

„Jetzt warten wir erst mal ab, bis du den Kochkurs machst“, sagt Chris. „Dann reden wir weiter.“

„Ja, man kann nie wissen, ob du das mit dem Kochen überhaupt raffst“, meint Dani und grinst mich an.

„Moppel!“, sage ich nur.

„Ich glaube schon, dass Nelly Talent zum Kochen hat, wenn ich an ihre wunderbaren Pfannkuchen denke.“ Kathi lächelt mir zu.

Sie und Chris versprechen, die Gebühr für den Kochkurs zu zahlen. Ich bin sehr zufrieden mit dem, was ich erreicht habe. Von Sammy Langbein sage ich nichts, denn dann hätten meine Eltern sofort wieder tausend Einwände. Vorerst soll keiner wissen, wofür ich das Geld brauche. Das ist meine Sache.

Später sitzen wir noch im Wohnzimmer und sehen uns einen Film über Insekten an. In dem Film wird gezeigt, dass es Käfer gibt, die bei furchtbarer Kälte und schlimmster Hitze leben können. Sie halten Temperaturen aus, die wir Menschen nie überstehen würden. Und manche Ameisen legen Gärten tief in der Erde an, zerstückeln Blätter und benutzen sie als Dünger. Sie züchten einen Pilz, der sonst nirgends wächst, um ihre Kolonie zu ernähren. Honigtopf-Ameisen zum Beispiel tragen tödliche Kämpfe mit anderen Ameisenkolonien aus. Und die Sieger machen die überlebenden Ameisen der Besiegten zu ihren Sklaven.

Dani ist wild begeistert von dem Film. Sicher wird er später mal Naturforscher. Er erklärt uns, dass Ameisen noch älter sind, als man bisher angenommen hat. „Wissenschaftler vom amerikanischen Museum für Naturgeschichte in New York haben Ameisen gefunden, die in Bernstein eingeschlossen waren. Und diese Ameisen sind ungefähr 92 Millionen Jahre alt“, sagt er.

Auch August sieht mit fern. Das macht er wirklich manchmal. Zum Beispiel, wenn Emma sich einen Tom-und-Jerry-Film reinzieht. Dann sitzt er neben ihr und fängt an zu kläffen, wenn die Katze auftaucht oder die dicke Bulldogge ihre Zähne fletscht.

Heute spitzt er die Ohren, als ein Bär angetapert kommt, der Ameisen frisst. Und als eine Fledermaus im Sturzflug nach einem Schmetterling jagt, rennt er zum Fernseher und bellt den Bildschirm an.

Wir lachen.

Dann knurrt es ganz laut, aber es ist nicht August, sondern Emmas Magen. Da fällt Chris ein, dass ihm eine Patientin vor drei Tagen eine Schachtel Pralinen geschenkt hat. Unser Vater ist Heilpraktiker.

Er verschwindet und kommt mit einem Päckchen zurück, das in rosa Papier gewickelt ist. Gemeinsam essen wir die Pralinen auf. August bekommt auch eine.

„Ob der Nachtschmetterling genauso gut schmeckt wie eine Marzipankartoffel?“, überlegt Emma. „Der Fledermaus, meine ich.“

„Anzunehmen“, sagte Dani und gähnt.

Dann gehen wir alle ins Bett.

Nelly - Alle lieben Sammy

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