Читать книгу Reiterhof Dreililien 9 - Unter dem Frühlingsmond - Ursula Isbel - Страница 5

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Am Wochenende durften unsere drei Pechvögel, die Pferde, die wir aus einem Münchner Rennstall übernommen hatten, zum erstenmal auf die Weide. Daß sie überhaupt noch lebten, hatten sie Mikesch zu verdanken. Er hatte sie gegen Herrn Mobergs Willen nach Dreililien gebracht, obwohl keiner wußte, ob ihre kranken, überanstrengten Fesseln je wieder so weit heilen würden, daß sie als Reitpferde eingesetzt werden konnten.

Wir hatten den alten Schafstall für sie hergerichtet und uns geduldig bemüht, ihr Vertrauen zu gewinnen. Sie waren nach wie vor ängstlich und voller Argwohn. Es kostete jeden von uns Überwindung, in ihre Boxen zu gehen und sie zu striegeln oder ihre Fesselumschläge zu erneuern, wenn sie mit rollenden Augen und zurückgelegten Ohren gegen die Wand gedrückt standen und aussahen, als warteten sie nur auf eine günstige Gelegenheit, um zu treten oder zu beißen. Seit ein paar Tagen war es jedoch besser mit ihnen geworden. Lucky war der erste, der aufgehört hatte, zurückzuweichen, wenn man in seine Nähe kam; und so, als gäbe es eine geheime Absprache zwischen den dreien, wirkten auch Victory und Star ruhiger und vertrauensvoller. Fast zur gleichen Zeit hatten wir auch bemerkt, daß ihre Fesseln besser heilten, was uns fast wie ein Wunder vorkam. Nur Mikesch meinte, daß das ganz normal und logisch sei.

„Sie fangen an, sich bei uns wohl zu fühlen und kapieren, daß wir’s gut mit ihnen meinen“, sagte er. „Ist doch klar, daß sich das auf den Heilungsprozeß auswirkt. Wenn man glücklich und zufrieden ist, fühlt man sich auch körperlich wohl. Das ist nicht nur bei uns Menschen so.“

Wir beschlossen also, Victory, Lucky und Star auf die Weide zu bringen – abseits von den Stuten, um keinen Aufruhr zu verursachen. Mittags, als die Reitstunde vorüber war und die Stuten, Jährlinge und Jungpferde längst auf den Koppeln grasten, führten wir die drei nacheinander aus dem Schafstall. Mikesch und Helge übernahmen Victory, Jörn und ich Lucky und Matty und Maja Star.

Sie hatten Angst – Angst, den Stall und die Boxen zu verlassen, die ihnen inzwischen vertraut waren, Angst, den Innenhof zu betreten, Angst vor dem Herbstwind, der die dürren Blätter der Linde über das Pflaster wirbelte; und Star scheute vor der Hündin Diana, die sich zwischen uns zwängte, um Jörn zu begleiten.

Doch als wir durch den Torbogen kamen, witterten sie den Geruch von Gras und Erde. Sie hoben die Köpfe und spitzten die Ohren, und ihr Gang wurde lebhafter. Lucky schnaubte eifrig. Ein Glanz kam in seine Augen, den wir nie zuvor bemerkt hatten, und Jörn sagte: „Ja, mein Junge, jetzt fangen bessere Zeiten an!“

Sepp und Helge hatten eine kleine Koppel hinter der Schwammerlwiese abgezäunt, mit einer Gruppe von Birken und einer alten Badewanne, die mit Wasser gefüllt war. Vormittags hatten wir das Gras noch sorgfältig nach Herbstzeitlosen abgesucht; auf den Wiesen, die für gewöhnlich nicht als Koppeln benutzt wurden, konnte es leicht passieren, daß diese schönen, aber giftigen Blumen unbemerkt aufblühten und dann von einem Pferd gefressen wurden.

Der Nebel hatte sich an diesem Sonntag nur zögernd gelichtet. Wie durch einen Tüllschleier schien die Sonne, dünn und kränklich. Das Laub der Birken war schon golden und raschelte im Wind, doch das Gras war nach wie vor grün und saftig, denn noch hatten keine scharfen Nachtfröste eingesetzt.

Star wieherte verhalten, als wir das Gatter öffneten. „Laßt sie nicht sofort los!“ warnte Mikesch. „Wir führen sie erst eine Weile herum, bis sie sich daran gewöhnt haben, im Freien zu sein. Wenn sie wie verrückt herumgaloppieren, können wir mit ihren Fesseln wieder von vorn anfangen.“

Doch es war nicht wie bei anderen Pferden, die vor Freude und Übermut fast durchdrehen, wenn sie nach längerer Stallruhe wieder hinauskommen. Diese drei waren anders, fast wie Menschen, die jahrelang unter ständigem Leistungsdruck leben müssen und deren Dasein von Arbeit und Disziplin geprägt ist. Keines der Pferde versuchte sich loszureißen. Doch sie sahen sich wie verzaubert um, machten lange, schwingende Schritte, hatten die Köpfe hoch erhoben und witterten mit geblähten Nüstern und gespitzten Ohren. Ihre Augen leuchteten, sie schnaubten und wieherten und versenkten schließlich ihre Nasen tief im Gras, um zu fressen. Da wußten wir, daß wir sie unbesorgt freilassen konnten.

Obwohl der erwartete Freudentanz ausgeblieben war, obwohl sie nicht herumgetobt waren, hatte dieses Schauspiel doch etwas Rührendes an sich. Ich grub in meiner Hosentasche nach einem Taschentuch, fand keines und fuhr mir mit dem Handrükken über Augen und Nase. Maja schnüffelte. Auch Mattys Augen waren feucht.

„Von jetzt an kommen sie jeden Tag auf die Koppel“, sagte Mikesch. „Und täglich eine Stunde länger. Wenn ihre Fesseln ganz verheilt sind, können sie auch zu den Stuten – falls die sie akzeptieren.“

„Meinst du denn, daß sie’s nicht tun?“ fragte Maja.

„Man kann nie wissen. Mit neuen Pferden ist das immer so eine Sache. Es könnte Machtkämpfe geben. Aber wir werden sehen.“

Zwei Tage, ehe die Ferienreiter kamen, schlug das Wetter um. Die stillen, nebligen Tage, an denen meist erst mittags die Sonne durchkam, zu kurz, um die feuchten Wiesen zu trocknen, waren vorüber.

In einer Herbstnacht fegte ein Föhnsturm über unser Tal. Ich erwachte vom Heulen des Windes, der an den Fensterläden rüttelte und die Eiche im Garten des Kavaliershäusls zum Ächzen brachte. Mein Fensterflügel schlug auf und zu, und ein wunderlich warmer Wind strich durchs Zimmer wie der Atem eines lebenden Wesens.

Ich stand auf, um das Fenster zu schließen. Der Mond schien zwischen Wolkenfetzen, die wie verrückt über den Himmel jagten, und verbreitete ein unirdisches Licht. Undeutlich sah ich die Baumgruppen auf den Koppeln und die Büsche am Wegrand, die sich unter dem Ansturm des Windes bogen. Die Wälder waren wie ein dunkles Meer, das sich in starker Brandung aufbäumt und wieder glättet.

Am nächsten Morgen waren Wege und Wiesen mit Blättern, Zweigen und Aststücken bedeckt. Der Wind hatte nachgelassen, doch die Pferde waren unruhig nach dieser stürmischen Nacht. Sie empfingen uns mit rebellischem Gewieher, während sie sonst um diese frühe Morgenstunde noch dösten und uns verschlafen entgegensahen, wenn wir die Stalltür öffneten und Licht machten.

„Der Sturm hat sie erschreckt“, sagte Jörn. „Sie mögen’s nicht, wenn es um den Stall herum so heult und poltert. Komischerweise macht es ihnen nicht so viel aus, wenn sie auf der Weide sind – wahrscheinlich, weil sie dann sehen, was passiert, und den Sturm miterleben. Im Stall wissen sie nicht, was draußen los ist; und wenn eins von den Pferden Angst kriegt, drehen die anderen natürlich mit durch.“

Hazel war so aufgeregt, daß sie kaum fressen wollte, was bei ihr selten vorkam. Ich pusselte an diesem Morgen besonders lang mit ihr herum, obwohl ich eigentlich keine Zeit mehr hatte; in dreißig Minuten fuhr in Mariabrunn der Bus los, und ich hatte noch nicht geduscht.

Matty und Jörn hatten den Stall schon verlassen, während ich noch immer bei Hazel stand, bis Maja sagte: „Wenn du dich nicht beeilst, schaffst du den Bus nicht, Nell.“

Ich streichelte Hazel ein letztes Mal. „Ich weiß, aber ich wollte nicht gehen, ehe sie sich beruhigt hat. Schaust du später noch mal nach ihr?“

„Klar“, sagte Maja. „Mach dir keine Sorgen.“

Ich raste nach Hause und sprang dabei wie ein Känguruh über die herabgefallenen Holzstücke. Diesmal mußte eine Katzenwäsche genügen, obwohl ich wußte, daß gewisse Leute in der Schule wieder die Nase rümpfen und mich „Pferdeapfel“ nennen würden; ein Spitzname, der mir schon lange anhing. Carmen nannten sie „Schweinehirtin“, aber sie lachte nur darüber und meinte, es gäbe Schlimmeres. „Man kann machen, was man will, nach Stall riecht man sowieso und merkt’s selber gar nicht mehr“, sagte sie. „Und was ist schon dabei?“

Mit einer Hand griff ich nach meinem alten Trenchcoat, mit der anderen nach dem belegten Brot, das Kirsty mir reichte, küßte Kathrinchen auf die marmeladenbeschmierte Nasenspitze und stürmte hinaus, um mein Fahrrad aus dem Schuppen zu zerren.

Zu allem Überfluß konnte ich an diesem Morgen nicht so schnell radeln wie sonst, weil ich den Holzstücken auf dem Weg ausweichen mußte. Als ich die Hauptstraße von Mariabrunn erreichte, war es fünf nach sieben; doch der Bus stand wie durch ein Wunder noch vor der Gastwirtschaft. Ich schleuderte mein Fahrrad in den Graben, raste über die Straße und hechtete in den Bus.

Der Fahrer schüttelte tadelnd den Kopf und murmelte etwas von „höchster Eisenbahn“. Dann startete er mit einem solchen Ruck, daß ich sehr plötzlich zwischen Jörn und Matty auf den Sitz plumpste. Hinter uns saß Carmen und rief: „Lange hätten wir ihn nicht mehr aufhalten können. Was hast du gemacht? Bist du im Stall gesessen und hast Hazel den Huf gehalten?“ Obwohl ich kaum Luft bekam, mußte ich lachen. „So ungefähr. Herrje, jetzt hab ich mein Referat vergessen!“

„Bloß keine Panik“, sage Jörn. „Es gibt Schlimmeres.“

„Möglicherweise, obwohl mir gerade nichts einfällt“, erwiderte ich. „Unser Deutschlehrer kann so verdammt ironisch sein, daß man sich wie der letzte Idiot vorkommt.“

„Vielleicht ist er ja krank“, meinte Carmen aufmunternd. „Er hat gestern so blaß ausgeschaut. Du weißt doch, wenn Föhn ist, kriegt er meistens seine Migräne.“

Auf dem ganzen Weg zur Schule schickte ich Stoßgebete zum Himmel, daß Dr. Schmidkunz wirklich mit Migräne darniederlag. Und ich hatte Glück: In der dritten Stunde erschien eine junge Lehrerin, die erst seit kurzem an unserer Schule war, um die Deutschstunde in Vertretung abzuhalten. Von den beiden Referaten, die für diesen Tag angesetzt waren, wußte sie nichts.

Gegen Mittag legte sich der Wind. Als wir die Schule verließen, war der Himmel blankgefegt bis auf ein paar pastellfarbene Wolkenstreifen. Der Föhn hatte schwüle Wärme mitgebracht; plötzlich war die Sonne wieder voller Kraft und tauchte alles in blendendes Licht. Es war, als wäre der Sommer für kurze Zeit zurückgekehrt. Ich fühlte mich glücklich und beschwingt, als ich mit dem Bus nach Hause fuhr – allein diesmal, denn Carmen mußte zur Trompetenstunde, und Matty hatte heute noch Nachmittagsunterricht.

Die Pferde hatten die Schrecken der stürmischen Nacht vergessen und grasten friedlich, als ich nach dem Mittagessen den Pfad zwischen den Koppeln entlangging. Hazel stand bei den Erlenbüschen am Bach und kam den Hang herauf, um mich zu begrüßen. Die Sonne glänzte auf ihrem haselnußbraunen Fell, und ich merkte, daß es dichter und stärker geworden war; sie bekam ihr Winterhaar. Vroni, Eileen und Jule folgten ihr, und ich verteilte die mitgebrachten Äpfel unter ihnen. Unten bei den Jährlingen reparierten Mikesch und Sepp den Koppelzaun, und im Innenhof war Helge damit beschäftigt, das Sattelzeug zu reparieren.

„Reitest du?“ fragte er, als ich Hazel an ihm vorbei zur Stalltür führte.

Ich nickte. „Nur ein kurzes Stück, und nur über die Felder. Im Wald liegt heute sicher eine Menge Holz herum.“

Maja hatte ein halbes Dutzend Satteldecken gewaschen. Sie hingen zum Trocknen über dem Balkongeländer des Gesindehauses. Hopfi erschien mit ihrem Staubtuch an einem Fenster und schrie, wir sollten endlich den Innenhof kehren, und Helge murmelte etwas wie „alte Hexe“, während ich mich schleunigst in den Stall verzog, um Hazel zu satteln.

Wir ritten auf Traktorwegen zwischen abgeernteten Feldern dahin und dann ein Stück am Mühlbach entlang. Aus den Wäldern klang das Geräusch der Säge herüber, unterbrochen von Axtschlägen; vereinzelt hörte man auch einen Schuß, denn die Herbstjagd war freigegeben.

Ich versuchte, nicht an die Tiere zu denken, die jetzt wieder ihr Leben lassen mußten. In diesem Jahr erschien mir das Töten besonders sinnlos, denn es war allgemein bekannt, daß die wildlebenden Tiere durch das Grünfutter derart radioaktiv verseucht waren, daß es gefährlich war, ihr Fleisch zu essen. Trotzdem wurden auch in diesem Jahr wieder die üblichen Treibjagden abgehalten, an denen Jäger und Bauern teilnahmen. An solchen Tagen ritten wir nicht aus. Zu oft hörte man von Jagdunfällen, und ich wurde den Verdacht nicht los, daß es Leute gab, die auf alles schossen, was sich bewegte – warum nicht auch auf Pferde? Gesine hatte von einer Freundin, die in Italien lebte, die Geschichte von einem Sonntagsjäger gehört, der seinen eigenen Bruder bei einer Treibjagd „erlegt“ hatte.

Die merkwürdige Lust am Töten hatte ich nie verstehen können – und seit ich auf dem Land so eng mit Tieren zusammenlebte, begriff ich noch viel weniger, wie ein Mensch Freude daran haben konnte, ein harmloses, unschuldiges Geschöpf umzubringen.

„Menschen sind seltsam, Hazel“, sagte ich. „Manchmal ist’s verteufelt schwer, sie zu verstehen.“

Wir kamen an einem einsamen Hof vorbei, wo ein großer schwarzer Hund wie verrückt bellte und im Kreis herumlief, soweit es seine Kette erlaubte. Er fletschte die Zähne wie ein Werwolf, so voll wütender Verzweiflung, daß Hazel Angst bekam und zurückwich. Ich mußte ihr mehrere Minuten lang gut Zureden, um zu verhindern, daß sie umkehrte und nach Hause galoppierte.

„Der arme Kerl ist doch angebunden“, sagte ich. „Er kann uns nichts tun. Hab keine Angst.“ Und dabei dachte ich, daß der Hund wohl nur deshalb so angriffslustig war, weil er an der Kette lag. Schaudernd stellte ich mir vor, wie es sein mußte, Tag für Tag auf einem öden Hofplatz gefangen zu sein, bis sich die Sehnsucht nach Freiheit und Bewegung schließlich in ohnmächtigen Zorn und Haß verwandelte.

Unsere drei Rennpferde grasten auf der kleinen Koppel, als wir nach einer halben Stunde im Schrittempo zurückritten. Sie hoben die Köpfe und schnaubten. Lucky, der Falbe mit dem gelbweißen Haar und der schwarzen Mähne, kam zum Koppelzaun und streckte die Nase weit vor.

Da Hazel am langen Zügel ging, konnte sie selbst entscheiden, ob sie zum Zaun gehen und Bekanntschaft mit ihm schließen wollte; und nach einigem Zögern tat sie es auch. Ich blieb ruhig im Sattel sitzen, während die beiden sich beschnupperten.

Nach einer Weile kamen auch Star und Victory näher, doch gleich drei fremde Pferde auf einmal, das war zu viel für Hazel. Sie machte einen Satz zur Seite, und da ich nicht darauf vorbereitet war, verlor ich natürlich das Gleichgewicht. Noch ehe ich mich am Sattel festklammern konnte, rutschte ich nach links und plumpste rasch, aber unelegant ins Gras.

Hazel vollführte vor Schreck einen Bocksprung. Lucky, Star und Victory stoben hastig in verschiedene Richtungen auseinander. Ich raffte mich ziemlich benommen auf. Drüben bei den Fliederbüschen stand Mikesch und lachte.

Mein Hinterteil tat weh, und mein Kopf brummte, aber ich fing selbst zu kichern an, weil mir unversehens ein altes Kinderlied durch den Sinn ging: Hoppe, hoppe Reiter, wenn er fällt, dann schreit er; fällt er in den Sumpf, dann macht der Reiter plumps. . .

Als ich Hazels Zügel aufnahm, drückte sie ihre Nüstern an mein Haar und schnaubte. Natürlich wußte ich, daß es eine eiserne Regel im Reitsport gibt, nach der ein Reiter sich unverzüglich wieder in den Sattel zu schwingen hat, wenn er abgeworfen worden ist; vermutlich um dem Pferd zu zeigen, daß er sich nie und nimmer unterkriegen läßt. Doch solche Regeln gab es zwischen Hazel und mir nicht; und ich hatte keine Lust, jetzt wieder aufzusteigen, bloß um meine komische Würde zu wahren. Ich küßte sie nur auf die Nase, und dann gingen wir gemeinsam zum Stall, an Mikesch vorbei, der mir zuzwinkerte und sagte: „Bist du heute aber schnell abgestiegen!“

Ich klopfte mir den Schmutz von den Knien. „Ja“, sagte ich schleppend. „Ich bin voller Schwung, mein Blut ist Lava. Das muß der Föhn sein!“

Nachmittags war es ungewöhnlich warm. Ich legte mich im Obstgarten des Kavaliershäusls in die Hängematte – wohl zum letztenmal in diesem Jahr – und las ein Buch, das Jörn mir geliehen hatte: Solaris von Stanislaw Lem. Es war schwierig zu lesen, aber unglaublich spannend. Kirsty und Kathrinchen wuselten zwischen den Bäumen herum und sammelten Fallobst ein, doch ich war so in mein Buch vertieft, daß ich sie kaum bemerkte. Irgendwann kam auch Kater Carlo auf lautlosen Pfoten, kletterte in den Apfelbaum, sprang auf meine Schulter und setzte sich schließlich auf das Buch, als ich ihn nicht weiter beachtete. Da erwachte ich aus meiner Versunkenheit und sah, daß die Sonne hinter den Bäumen verschwand.

Aus dem Küchenfenster kam der verlockende Duft von frisch gekochtem Apfelgelee. Kater Carlo rieb seinen Kopf an meinem Arm, Kathrinchen sang im Garten: „Es geht ein Bi-Ba-Butzemann um unser Haus herum . . .“, und der Kater schnurrte wie besessen, während ich ihn zwischen den Ohren kraulte.

Wie plötzlich die Dunkelheit hereinbrach in diesen Herbsttagen! Die Zeit der Dämmerstunden war vorbei. Noch hatten wir uns nicht daran gewöhnt und wurden stets von der Finsternis überrascht; meist dann, wenn wir die Pferde von den Koppeln holten.

An diesem Abend jedoch hing ein wunderbarer, gleißender Vollmond über unserem Tal. Die Luft war mild; Föhnwolken zogen wie ein Meer aus violetten und und rosaroten Schleiern über den Himmel. Schon begann der Abendstern zu funkeln, und der mächtige Vierseithof, die Wiesen, Wälder und Hügel wechselten zwischen Licht und Dunkelheit.

„Allmächtige Tante, ist das schön!“ sagte Matty andächtig, als wir von den Koppeln kamen. „Wie auf einem Bild von Schwind.“

Helge warf ihm einen spöttischen Blick zu. „Mann, bist du mal wieder gebildet! Schwind, was ist das für ein Typ? Nie gehört.“

„Ein Spätromantiker“, erwiderte Matty friedlich. „Er hat wunderbare Bilder gemalt von Seen und Waldstücken im Mondschein. Immer wenn ich mir seine Bilder ansehe, denke ich, wie schön Deutschland mal gewesen sein muß, und wie armselig das ist, was sie uns davon übriggelassen haben mit ihren Autobahnen und Siedlungen und Kanälen und Flurbereinigungen.“

Fledermäuse schossen über die Dachfirste hinweg durchs Mondlicht, zu schnell, um ihnen mit den Augen zu folgen. Käuzchen schrien, und Dreililiens Katzen strichen wie Geisterwesen über den Hofplatz.

„Schaut euch bloß mal den Mond an!“ sagte Maja später im Stall, während wir die Pferde tränkten und fütterten. Groß und silberweiß stand er hinter den Fenstern und tauchte den Innenhof in unwirkliches Licht. „Man könnte glatt mondsüchtig werden! Warm genug wär’s jedenfalls, um im Nachthemd auf dem Dach herumzutapern!“

Jörn nickte. „Großvater hätte gesagt, das ist ein geschenkter Abend. Eigentlich ist’s zu schön, um im Haus herumzuhocken. Wie wär’s mit einem Mondscheinritt?“

„Gottchen, wie romantisch!“ sagte Helge.

„Gute Idee“, erwiderte Maja, ohne sich um ihn zu kümmern. „Obwohl ich heute abend anfangen wollte, mir einen Pulli zu stricken. Das ist immer so aufregend, anfangs jedenfalls.“

Matty sagte: „Stricken kannst du noch den ganzen Winter lang. Aber nicht an einem Abend spazierenreiten, an dem man einen Gruselfilm drehen könnte bei dem Mondschein und den Wolkenfetzen, mit den fast schon kahlen Bäumen und dem Käuzchengeschrei.“

„Wenn ihr wollt, setze ich mich ins Gebüsch und heule wie ein Wolf“, schlug Helge vor.

„Ich glaube nicht, daß die Pferde das mögen würden“, sagte Jörn.“ Reite lieber mit!“

„Ich wollte einen Brief an Claudia fertigschreiben“, sagte Helge, der seit neuestem seine Freizeit damit verbrachte, lange Briefe an seine Freundin in Passau zu verfassen. Vor kurzem hatte er auch einen freien Tag gehabt, war nachts mit dem Mofa zu ihr gefahren und in der darauffolgenden Nacht zurückgekommen; ein Streß, den man sich wirklich nur auflädt, wenn man bis über die Halskrause verliebt ist.

„Den Brief kannst du morgen auch noch schreiben“, sagte Jörn. „Ich hab morgen Nachtdienst und könnte ihn nachmittags in Rosenheim am Bahnhof einwerfen, wenn du willst. Dann kommt er schneller an.“

Helge brummte etwas Unverständliches.Trotzdem freute es ihn, daß wir ihn dabei haben wollten, das sah ich an seinem Gesicht. Seit dem Ende dieses Sommers war er umgänglicher geworden, war lange nicht mehr so streitsüchtig und überempfindlich wie früher und ließ sich ab und zu sogar herbei, etwas mit uns zusammen zu unternehmen.

„Dann kommst du also mit?“ fragte ich, den Meßbecher in der Hand, während er einen Sack Hafer öffnete.

„Schon möglich“, murmelte er, was so ungefähr die begeistertste Form der Zustimmung war, die man von ihm erwarten konnte.

Aus einer Ecke des Stalles rief Mikesch: „Ich fürchte, Nofret hat jetzt nicht mehr genug Milch für Joringel. Er führt sich auf, als wäre er am Verhungern.“

Joringel war unser „Flaschenkind“, eine Frühgeburt von besonders edler Rasse. Jorinde, seine Mutter, hatte ihn nicht angenommen, da wir ihn gleich nach der Geburt von ihr trennen mußten. Wochenlang hatten wir ihn mit der Flasche gefüttert. Schließlich war es uns gelungen, Nofret dazu zu bringen, Mutterstelle an Joringel zu vertreten und ihn zu säugen, nachdem ihr eigenes Fohlen selbständig war. Doch nun war sie wieder trächtig, und die Zeit, in der sie genug Milch für ein Fohlen hatte, schien vorbei zu sein.

„Au weh, und was machen wir jetzt?“ rief Matty zurück. „Bei Jorinde können wir jedenfalls keine Milch mehr abpumpen.“ „Vielleicht hat Julka genug, um Joringel auch noch mitzufüttern“, meinte Mikesch. „Ich hab den Eindruck, daß sie mehr Milch hat als ihr Fohlen braucht. Und wenn Joringel auch noch einige Zeit zusätzlich bei Nofret trinken kann, müßte es gehen.“

Die Pferde waren sichtlich verwundert, als wir fünf von ihnen nach der Fütterung sattelten und wieder aus dem Stall führten. Vroni, mit der Helge reiten wollte, wirkte nicht allzu begeistert über diese abendliche Störung. Wahrscheinlich wäre sie lieber in ihrer Box geblieben, um in Ruhe zu verdauen und zu dösen. Zweimal versuchte sie umzukehren; und als uns aus dem Stall entrüstetes Gewieher nachschallte, wieherte sie so herzzerreißend zurück, als sollte sie von einer Räuberbande entführt werden.

Das Mondlicht lag wie ein riesiger silberner Teppich auf der Wiese, die zum Wald hin abfiel. Das Gras verschluckte die Laute der Pferdehufe; nur der Wind flüsterte und raunte in den Bäumen, und der Bach gluckste zwischen Moospolstern. Wir ritten am Waldrand entlang, und ich dachte: Wenn’s das Kleine Volk gäbe, müßte es jetzt hier auf den Wiesen zwischen den Herbstzeitlosen tanzen; doch vielleicht gibt es nur in Irland Elfen und Gnome.

Die Pferde fanden immer mehr Gefallen an dem späten Ausritt. Sie bewegten sich mit schwingenden, weit ausgreifenden Schritten, die Köpfe hoch erhoben. Ihr Fell glänzte. Am schönsten war Katama, die aussah wie ein Pferd aus einer Sage von König Artus. Und Jörn mit seinen fast schulterlangen blonden Haaren, dem Stirnband und dem hageren Gesicht paßte zu ihr. Im Mondlicht wirkte er wie ein junger Ritter, nur das Zauberschwert fehlte ihm noch.

Als wir zum Mühlbach kamen, in den unser kleiner Waldbach mündete, überquerten wir die alte Brücke – vorsichtig, denn das Holz war morsch und schlüpfrig. Immer nur einer von uns ritt über die dunklen Planken, auf denen die Pferdehufe hallend klopften, während der nächste wartete, bis die Brücke frei war, ehe sein Pferd sie betrat.

Am anderen Bachufer hatte einst eine Mühle gestanden. Jörn und Matty hatten die Ruine in ihrer Kindheit noch gekannt und darin herumgestöbert. Jetzt waren nur noch ein paar graue Mühlsteine von dem Gebäude übrig, die am Bachufer verstreut lagen, halb überwachsen von Brombeerranken und Holundergebüsch.

Wir wandten uns nach Süden, dem Gebirge zu, und Matty begann zu singen:

„In einem kühlen Grunde,

da geht ein Mühlenrad,

mein Liebste ist verschwunden,

die dort gewohnet hat . . .“

Maja fiel mit ihrer hellen Stimme ein, und nach einer Weile sang auch Jörn mit, leise, denn er behauptete immer, er könne nicht singen. Ich summte nur mit, da ich den Text kaum kannte; doch Matty vergaß nie ein Lied, das er einmal gelernt hatte:

„Sie hat mir Treu versprochen,

gab mir ein’ Ring dabei,

sie hat die Treu gebrochen,

das Ringlein sprang entzwei.

Hör ich das Mühlrad gehen,

ich weiß nicht, was ich will.

Ich möcht am liebsten sterben,

dann wär’s auf einmal still.“

Helge schwieg beharrlich. Es war aber immerhin ein Fortschritt, daß er keine spöttische Bemerkung machte, denn ich wußte, daß er solche Lieder blödsinnig fand. Ich selbst hatte es früher genauso albern gefunden, Volkslieder zu singen, und geglaubt, das wäre nur etwas für Spießer. Doch seit ich Matty kannte, dachte ich anders darüber. Durch ihn hatte ich begriffen, daß auch diese Art von Musik sehr schön sein kann. Und plötzlich kam es mir vor, als hätte Eichendorff, der vor langer Zeit dieses Lied vom Mühlrad im kühlen Grund geschrieben hatte, unser Tal gekannt.

Reiterhof Dreililien 9 - Unter dem Frühlingsmond

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