Читать книгу Reiterhof Dreililien 8 - Wenn der Sommer geht - Ursula Isbel - Страница 5

2

Оглавление

Mikesch begrüßte uns bei unserer Rückkehr mit der Nachricht, daß sich unerwartet noch einmal Gäste für die letzte Ferienwoche bei uns angesagt hatten.

„Es wird nicht einfach sein“, sagte er. „Es sind vier Leute zwischen fünfzehn und neunzehn, alle behindert. Und natürlich ohne Reiterfahrung.“

Wir sahen ihn überrascht an. Bisher hatten wir nur einen Behinderten unter unseren Reitschülern – Moritz, der Spastiker war.

„Sind sie schwer behindert?“ fragte Jörn.

Mikesch machte ein zweifelndes Gesicht. „Jedenfalls nicht so schwer, daß man sie nicht auf ein Pferd setzen könnte. Zwei sind mongoloid, einer ist Spastiker, einer hyperaktiv. Die Eltern der vier scheinen sich zusammengetan zu haben. Offenbar sind sie mit Moritz’ Mutter bekannt, die ihnen so vom Reitunterricht hier vorgeschwärmt hat, daß sie auf die Idee gekommen sind, ebenfalls nach Dreililien zu kommen.“

„Aber wir wollten doch eigentlich keine Erwachsenen als Reitschüler aufnehmen“, wandte ich ein.

„Das ist das geringste Problem. In diesem Fall könnten wir eine Ausnahme machen“, meinte Mikesch.

„Und wie sollen wir hier mit Behinderten klarkommen?“ fragte Jörn. „Können sie sich denn überhaupt selbst versorgen?“

„Die Frau, die mit mir telefoniert hat, meinte, sie und ihr Mann würden die vier Reitschüler betreuen und sich bei uns einmieten“, erklärte Mikesch. „Damit hätten wir also keine Schwierigkeiten.“

„Und was sagt Vater dazu?“ fragte Matty.

„Er ist der Meinung, daß wir es versuchen sollten.“

„Aber wäre es nicht besser, wenn die Leute es bei einer Ponyreitschule versuchen würden?“ warf Maja ein. „Ponys sind ruhiger und leichter zu handhaben. Behinderte Leute auf so großen, nervösen Stuten wie den unseren, das ist nicht gerade die ideale Lösung, finde ich.“

„Sie haben es offenbar schon bei ein paar Ponyhöfen im bayerischen Raum versucht, aber nur zwei nehmen Behinderte auf, und die waren total überfüllt. Es scheint sowieso recht schwierig zu sein, einen Ort zu finden, an dem Behinderte gemeinsam Urlaub machen können. Offenbar gibt’s Gastwirte und Ferienveranstalter, die fürchten, der Anblick von Behinderten könnte die anderen Gäste stören.“ Mikesch seufzte. „Außerdem scheinen sich die Bergböhmers von Dreililien besonders viel zu versprechen, weil wir mit Moritz so gut klarkommen. Ich hab Frau Bergböhmer jedenfalls gesagt, daß ich noch mit euch sprechen wollte, ehe ich ihr endgültig Bescheid gebe. Denn es kann sein, daß ich eure Hilfe brauche. Ihr wißt ja, daß Helge jetzt drei Wochen Urlaub hat.“

„Ich arbeite nächste Woche wieder“, sagte Jörn. „Aber abends kannst du auf mich zählen.“

Ich versicherte: „Ist doch klar, daß ich helfe, wenn du mich brauchst.“

Matty und Maja nickten nur. „Gut“, sagte Mikesch. „Dann rufe ich jetzt gleich dort an und sage zu.“

„Wann kommen sie?“ fragte ich.

„Montag vormittag.“

Nachdenklich versorgten wir unsere Pferde. Diese Reiterferien würden nicht einfach sein, das war uns allen klar. Vier behinderten jungen Leuten das Reiten beizubringen – oder sie zumindest auf Pferde zu setzen und dafür zu sorgen, daß sie oben blieben –, war schon eine Aufgabe für sich. Doch warum sollte es eigentlich nicht gehen?

„Mit Moritz hat es jedenfalls von Anfang an prima geklappt“, sagte ich. „Er hat eine bessere Hand mit Pferden als so mancher andere Reitschüler, auch wenn er seine Bewegungen schlecht kontrollieren kann.“

„Sie müssen nicht alle so sein wie Moritz“, wandte Jörn ein. „Man kann bloß hoffen, daß die Eltern wissen, was sie tun. Sie müßten ja beurteilen können, ob die vier wirklich fähig sind, sich auf Pferden zu halten.“

„Wenn sie’s überhaupt schaffen, mit Pferden umzugehen“, fügte Maja hinzu.

Abends hatten wir noch Besuch auf Dreililien. Zuerst kam Carmen auf der Haflingers tute ihres Vaters an, einen Korb mit frischgebackenem Zwetschgenkuchen über dem Arm – Zwetschgendatschi, wie man das hierzulande nennt. Kurz darauf marschierten Pauli und Gesine durch den Torbogen. Auch Gesine hatte einen Korb dabei, in dem sich Zwetschgendatschi befand. Wir stellten einen alten Tisch und ein paar Stühle zur Bank im Innenhof, und Jörn und ich kochten Tee auf dem Dörrboden, wie Jörns kleine Wohnung noch immer hieß. Maja brachte ein paar Kerzen, und Mikesch und Helge holten Bier und Zitronenlimonade aus dem Keller. Beides wurde zu einem erfrischenden Getränk gemixt, einer sogenannten „Radlermaß“.

Ich lief zum Kavaliershäusl, um die Geschenke zu holen, die ich auf dem Wiener Flohmarkt gekauft hatte. „Ich hab für alle etwas mitgebracht, nur für Gesine nicht“, sagte ich zu Kirsty und Vater, die unter der Eiche saßen und lasen. Es kam mir dumm vor, jedem außer Gesine ein Geschenk zu überreichen. „Meint ihr, ich soll ihr das Myrtenstöckchen geben, das Birgit mir geschenkt hat?“

„Nein“, sagte mein Vater. „Geschenke soll man behalten, nicht weitergeben.“

„Ich möchte es auch lieber behalten“, gab ich zu.

„Ich hab letzte Woche ein paar Blumenübertöpfe gemacht“, sagte Kirsty. „Davon wollte ich Gesine sowieso einen schenken. Warte, ich hole den Topf, du kannst ihn mitnehmen.“

Sie ging in ihre Werkstatt und kam mit einem hellgrün glasierten Tontopf zurück, der mit einem Muster aus Blütenranken verziert war.

„Ist der aber hübsch!“ rief ich. „Sie wird natürlich sofort wissen, daß er von dir ist.“

„Das macht doch nichts. Sag ihr einen Gruß von mir, und der wäre für ihre Duftgeranie am Küchenfenster.“

Diesmal kam auch ich mit einem Korb daher, allerdings nicht voller Zwetschgendatschi. Jörn bekam einen Gürtel mit Perlstickerei – den hatte ich die ganze Woche aufgehoben, weil er sein Mitbringsel nicht früher als die anderen kriegen sollte – und Matty ein vergilbtes Volksliederbuch mit Noten für Gitarrenbegleitung. Mikesch gab ich einen schönen alten Gedichtband von Baudelaire und Carmen einen indischen Schal, der mit Goldfäden durchwirkt war, Helge ein Taschenbuch über biologischdynamischen Gartenbau und Pauli bunte Fingerhandschuhe aus Peru.

„Dir hab ich leider nichts mitgebracht“, sagte ich ehrlich zu Gesine. „Aber hier ist was von Kirsty – ein Übertopf für deine Duftgeranie am Küchenfenster.“ Und sie lachte und sagte, ich könne schließlich nicht das ganze Dorf beschenken.

Ich glaube, am meisten freute sich Pauli über seine Handschuhe. Er hatte ja keinen, der ihm etwas von einer Reise mitbringen konnte. Seine einzige Tochter lebte in Kanada und kümmerte sich nicht mehr um ihn; und bis auf uns und Gesine und einen alten Mann in Mariabrunn hatte er keine Freunde.

Er strahlte über sein ganzes runzliges Gesicht und fuhr mit den Fingerspitzen immer wieder ehrfürchtig über die bunten Muster, als wären die Handschuhe etwas besonders Kostbares, ein kleines Kunstwerk. Und das waren sie ja eigentlich auch, obwohl sie so wenig Geld gekostet hatten. Peruanische Frauen hatten sie in den alten Mustern ihres Landes gestrickt, die Wolle vielleicht sogar von Hand versponnen und mit Pflanzenfarbe gefärbt.

Alle prosteten mir mit Tee und Radlermaß zu und nannten mich „Gärtnerstift“. Und Carmen war sofort Feuer und Flamme, als ich ihr von Majas Idee erzählte.

„Du könntest den Rübenacker und das Weizenfeld hinter den Ställen haben“, sagte sie. „Das ist ein schönes Stück Land, und ich kann später sowieso nicht alles allein bewirtschaften. Auch Gewächshäuser könnten wir anbauen, da, wo jetzt der alte Holzschuppen steht. Der ist längst baufällig.“

„Sachte mit den jungen Pferden!“ sagte Mikesch lachend, und Helge meinte, ich müßte schon vorher eine Bank ausrauben, ehe ich eine Gärtnerei aufmachen könnte. Und plötzlich war meine Hochstimmung verflogen, denn ich wußte, daß er recht hatte. Selbst wenn ich die Ausbildung schaffte – und warum sollte ich das nicht? –, fehlte mir doch das erforderliche Startkapital, das man für eine Gärtnerei braucht, auch wenn sie noch so klein ist.

„Die wenigsten können sich sofort selbständig machen, wenn sie ihre Ausbildung abgeschlossen haben“, meinte Gesine. „Und es schadet ja auch nichts, mal einige Zeit für andere Leute zu arbeiten. Dabei lernt man noch eine ganze Menge, und die Fehler, die man als Anfänger immer macht, kommen einen nicht so teuer zu stehen.“

„Aber nicht mal in fünf Jahren könnte ich so viel Geld zusammensparen, daß ich das nötige Startkapital hätte“, sagte ich und fühlte mich wie ein angestochener Ballon, aus dem die Luft entweicht.

„Ich glaube, es gibt für Jungunternehmer billige Kredite vom Staat“, warf Mikesch ein. „Wenn du ein bißchen Eigenkapital hättest, könnte es vielleicht gehen.“

Jungunternehmer, Eigenkapital – wie das klang! Pauli meinte, ein Gewächshaus könne man auch selber bauen, das käme auf alle Fälle billiger. „Ich rede mal mit Roddy“, sagte Carmen. „Er müßte wissen, was das Material für so ein Glashaus ungefähr kosten würde.“

Ich dachte plötzlich, daß das alles Zukunftsmusik war. Bis gestern hatte ich nur mit dem Gedanken gespielt, Gärtnerin zu werden. Jetzt hatte sich die Idee unversehens auf geheimnisvolle Weise selbständig gemacht und war zu einer Tatsache geworden, die mich zu überrollen drohte.

„Zum Glück mußt du jetzt noch gar nichts entscheiden“, sagte Jörn, der wieder einmal meine Gedanken gelesen hatte, und drückte meine Hand. „Brüte ruhig noch einige Zeit darauf herum. Eines Tages wirst du das Ei dann ganz von allein legen, ohne viel Gegackere und Gedruckse.“

Alle lachten über den komischen Vergleich. Dann redeten wir über die behinderten Ferienreiter, die uns ins Haus standen, und mir war der Themawechsel nur recht. Helge erklärte auf seine übliche knallharte Art, er wäre froh, daß er jetzt Urlaub machen könne und sich nicht mit Leuten herumplagen müßte, die schon Probleme damit hätten, auf ihren eigenen Beinen zu stehen.

„Na, dann ist’s ja nur gut, daß du nicht hier bist“, sagte Mikesch kühl. „Im übrigen kann’s jedem mal passieren, daß er auf die Hilfe von anderen angewiesen ist. Dir auch.“

Ich wußte inzwischen, warum Helge so mürrisch und gereizt war. Matty hatte uns am Nachmittag erzählt, daß Helge zu seinem Vater gekommen war und eine Gehaltserhöhung gefordert hatte, und daß Herr Moberg abgelehnt hatte. Natürlich war Helges Monatsverdienst nicht gerade üppig; er sparte für ein Motorrad. Andererseits warfen das Gestüt und die Reitschule wirklich sehr wenig Geld ab; es reichte gerade immer mit knapper Not für die Ausgaben. Was Mikesch anging, so hätte er Helge sicher mehr Geld gegeben, wenn es irgendwie möglich gewesen wäre.

Helge murmelte etwas Unverständliches, und Gesine versprach, gleich morgen früh bei Frau Hopfwieser vorbeizuschauen und ihr auszurichten, daß wir für kommende Woche auf Dreililien noch eine Gruppe von Ferienreitern erwarteten.

Hopfi war diejenige, die sich darum kümmerte, daß die Fremdenzimmer sauber und die Betten frisch überzogen waren, wenn Gäste erwartet wurden. Und während die Ferienreiter hier waren, sorgte sie unbarmherzig für Ordnung und Sauberkeit und kochte zusammen mit ihrer Nichte, einer molligen Frau aus Mariabrunn, herzhafte bayerische Spezialitäten.

Langsam brach die Abenddämmerung herein, und wir zündeten Windlichter und Kerzen an. Pauli erzählte von seiner Kindheit auf einem Bergbauernhof. Er hatte acht Geschwister gehabt, die inzwischen alle gestorben waren. Sie waren arm gewesen; die Kinder hatten von klein auf im Stall und draußen auf den Bergwiesen mitarbeiten müssen. Maschinen hatte es damals kaum gegeben; auf den steilen Berghängen hätte man sie auch gar nicht einsetzen können. Zur Schule mußten sie eine weite Strecke ins Tal hinuntergehen, im Sommer wie im Winter. Im Sommer waren sie barfuß gelaufen, im Winter mit Holzschuhen und in dünner Kleidung; erbärmlich gefroren hatten sie, und die Mutter hatte ihnen Brot und ein Kännchen Ziegenmilch mitgegeben.

„Aber trotzdem is’ a schönere Zeit g’wes’n als wia heutzutag mit dene Mass’n von Autos und Seilbahnen und Fremd’n überall“, sagte er. „Damals hat’s no koa Luftverschmutzung net geb’n und koa Waldsterb’n und koane Löcher in unserer Ozonschicht, so groß als wia Amerika.“

„Ja, wir zahlen einen viel zu hohen Preis für unseren modernen ‚Komfort’ – Spraydosen und Atomstrom, Massentierhaltung, Unkrautvernichtungsmittel, chemische Düngung, Autos und Flugzeuge und was es sonst noch so alles an angeblich unentbehrlichen Sachen gibt“, stimmte Mikesch zu. „Dabei wären wir sicher glücklicher und gesünder, wenn wir das alles nicht hätten.“

„Aber so ein armer Bergbauer, der sein Leben lang schuftet und kaum genug zu essen für sich und seine Kinder hat, hätte ich trotzdem nicht sein mögen“, sagte Maja.

„Mir ham’s net anders kennt“, erwiderte Pauli ruhig. „Aber freili, a bißl mehr Ruh und weniger Sorgen hätt’ i meine Eltern scho gönnt. A leicht’s Leb’n hab’n die zwoa bestimmt net g’habt.“

„Und ihr Kinder sicher auch nicht“, sagte Gesine.

Aber der Pauli meinte, so schlimm wäre seine Kindheit gar nicht gewesen. „I möcht heutzutag koa Kind mehr sei“, behauptete er. Er fand es schlimm, daß so viele Kinder auf vorgefertigte Spielplätze abgeschoben wurden, daß sie sich in den Großstädten nur noch zwischen Autos und Häusern bewegten und nur an der Hand von Erwachsenen gehen konnten, solange sie klein waren; und daß sie ständig Abgase einatmen mußten. Kinder sollten frei spielen können, fand er, draußen in der Natur.

„Naa, i möcht nimmer jung sei in derer Zeit“, schloß er. „I bin froh, daß i scho so alt bin und nimmer miterleb’n muß, was die no alles mit unserer Welt anstell’n, die Großkopfert’n da drob’n.“

Politiker und Industriebosse waren für Pauli nur „die Großkopfert’n“, denen man nicht trauen konnte. Und vielleicht hatte er ja recht. Er lebte nun schon ein Dreivierteljahrhundert; und obwohl er immer nur ein einfacher Bauernknecht gewesen war – oder vielleicht gerade deshalb –, ließ er sich nicht so leicht etwas vormachen.

Matty meinte halb spaßhaft, halb im Ernst, wenn es so etwas wie Wiedergeburt wirklich gäbe, hätten wir wohl alle noch mehrere Leben vor uns, und Pauli wehrte laut und fast erschrokken ab: „Naa, naa, i möcht mei’ Ruah hab’n, wann i amoi unter der Erd’n bin!“

Das klang so komisch, daß wir alle lachen mußten. Ich sagte, ich hätte schon Lust, noch einmal auf die Welt zu kommen; auf einem schottischen Schloß vielleicht, oder im vorigen Jahrhundert, als irischer Widerstandskämpfer.

„Du meinst also, man könnte sozusagen nach rückwärts geboren werden – in die Vergangenheit hinein?“ fragte Jörn.

„Es kann doch sein, daß die Zeit nur in unserer Vorstellung existiert“, erwiderte ich. „Daß es eigentlich gar keine Gegenwart oder Vergangenheit oder Zukunft gibt, wie wir uns das vorstellen,“

„Hältst du’s für möglich, daß vielleicht alles gleichzeitig abläuft, sozusagen nebeneinander? Nein, das ist zu hoch für mich, das kapiere ich nicht!“ sagte Matty. „Da macht meine Vorstellungskraft nicht mit. Schließlich ist doch das, was heute passiert, bei uns und auf der ganzen Welt, nur eine Folge von vergangenen Ereignissen, Daß man gewissermaßen in der Zeit herumreisen könnte, weil Vergangenheit und Zukunft vielleicht irgendwo ebenfalls stattfinden, jetzt, zur gleichen Zeit, das widerspricht den Gesetzen unserer Logik. Das hält man ja im Kopf nicht aus!“

„Vielleicht gibt’s Dinge, die wir uns einfach nicht vorstellen können“, meinte Carmen, „weil unser Verstand dafür nicht ausreicht. Oder meint ihr im Ernst, daß im Kosmos nur das möglich ist, was wir Menschen begreifen und erklären können? Vor vierhundert Jahren haben noch die meisten Menschen geglaubt, daß die Sonne um die Erde kreist. Kaum einer konnte sich etwas anderes vorstellen. Gestimmt hat’s trotzdem nicht. Galilei hat erkannt, daß es nicht so ist, und wie ist er deswegen angefeindet worden!“

„Außerdem hat sich das, was Menschen für möglich oder unmöglich hielten, im Laufe der Jahrhunderte gewandelt“, fügte Mikesch hinzu. „Es war sogar von Kultur zu Kultur verschieden. Das gilt vor allem für den Jenseitsglauben – das, was die einzelnen Volksstämme über das Leben nach dem Tod vermuteten. Im Grunde hat es früher wohl keine Volksstämme gegeben, die der Meinung waren, nach dem Tod wäre alles aus. Diese Vorstellung ist erst in unserer sogenannten aufgeklärten Zeit entstanden. Woher wollen wir wissen, daß wir im Recht sind und unsere Vorfahren sich geirrt haben? Beweise gibt’s nicht, weder für ein Leben nach dem Tod noch dagegen.“

Es war ein seltsames Thema, das wir da angeschnitten hatten; und doch paßte es irgendwie zu dem dunkler werdenden Spätsommerabend und dem flackernden Kerzenschein.

„Dann glaubst du an ein Weiterleben nach dem Tod?“ fragte ich, überrascht, als hätte ich eine ganz neue Seite an Mikesch entdeckt.

Er lächelte mir zu und sagte: „Ganz ehrlich, Nell – ich weiß es nicht. Ich hab keine Ahnung, woran ich glauben soll. Aber ich würde mich nie hinstellen und verkünden: Ein Leben nach dem Tod, das ist Unsinn, so was gibt es nicht. Für möglich halte ich es jedenfalls. Weiter bin ich mit meiner Weisheit bis jetzt noch nicht gekommen.“

„Aber an dö G’schicht mit Himml und Höll und Fegfeuer, an dös glaab i net!“ sagte Pauli. „Dös hab’n si die Großkopfert’n bloß ausdenkt, damit die kloan Leut parier’n vor der Obrigkeit und net aufmuck’n aus Angst vor Straf’ im Jenseits, und damit s’ die Hoffnung hab’n, daß’s eahna für ois Elend und die ganze Schufterei nach ‘m Tod amoi bessergeht.“

„In der Bibel steht, daß Gott reine Liebe und Güte ist, und daß er den Sündern vergibt“, stimmte Carmen zu. „Dazu paßt die Story vom Fegefeuer und der Hölle überhaupt nicht.“

„Das mit den armen Seelen, die im Feuer brutzeln, daran glaubt ja sowieso kein Schwein mehr!“ sagte Helge. „Das ist doch finsterstes Mittelalter; damit jagen sie doch heute keinem Spatzengehirn mehr Angst ein!“

„Augenblicklich ist’s ja modern, an Wiedergeburt zu glauben“, warf Gesine ein. „Die ganze New-age-Bewegung geht in diese Richtung.“

„Ach, die glauben an alles, was mystisch und unerklärlich ist – an Astrologie und Karma, an Seelenwanderung und Wunderheilung“, sagte Jörn und verzog das Gesicht. „Je unergründlicher, desto besser. Ich mag solche Bewegungen nicht. Und ich finde auch, es ist leichter, abzuheben und irgendwo in höheren Sphären herumzuschweben, als fest auf dem Boden zu stehen und sich mit dem auseinanderzusetzen, was in unserer Welt schief ist und verändert werden muß, damit noch weitere Generationen in ihr leben können. Es geht schließlich darum,

Verantwortung für uns selbst und unsere Erde zu übernehmen, anstatt sich auf eine Blumenwiese zurückzuziehen und zu überlegen, welches Schicksal die Sterne uns auferlegt haben könnten.“

Matty war anderer Meinung. „Ich glaube, man muß jedem zugestehen, daß er seinen eigenen Weg geht – auch, wenn man diesen Weg für falsch hält“, erwiderte er. „Was dir richtig erscheint, muß für andere noch lang nicht richtig sein.“

„Ja, ja, laß uns nur weiter großzügig und verständnisvoll sein!“ sagte Jörn zornig. „Laß die einen ihre Wiederaufbereitungsanlagen und ihre Atomfabriken bauen, weil sie das für gut und vor allem für einträglich halten. Laß die anderen sich um ihren Guru scharen und an ihrem Seelenheil herumbasteln, laß andere wieder Menschen und Tiere quälen und ausbeuten oder Waffen hersteilen und auf der ganzen Welt stationieren. Jeder nach seinem Geschmack, wie? Und eines Tages fliegt dann ein Atomkraftwerk in die Luft, oder gewisse Leute kommen auf die Idee, die Waffen auch mal zu benutzen, die sie jahrzehntelang so trickreich gebastelt haben; das bringt’s dann ja voll!“

„Ich finde nicht, daß man das alles in einen Topf werfen kann“, versetzte Matty ruhig. „Es gibt schließlich noch Unterschiede zwischen den Anhängern eines Gurus und der Atommafia,“ „Außerdem kann man die Leute nicht dazu zwingen, Verantwortung für unsere Erde zu übernehmen und aufzuhören, an ihren eigenen Profit und ihr eigenes Wohl zu denken, wenn sie nicht wollen“, wandte Maja ein.

„Nein“, sagte Jörn, „das kann man nicht. Und von selber tun’s die meisten leider nicht. Das ist ja der Mist.“

„Bei so einem Gespräch kommt mal wieder echte Freude auf!“

Diese Bemerkung kam von Helge, und er brachte sie so trocken heraus, daß wir trotz des ernsten Themas lachen mußten.

Hinter dem Stall ging der Mond auf – eine schmale, leuchtende Sichel. Eine Eule rief aus dem Wald; Carmen behauptete, es wäre eine Schleiereule. Einer nach dem anderen zog einen Pullover oder eine Strickjacke an. Die schwülen Sommerabende und die warmen Nächte waren vorbei; schon lag eine Ahnung des kommenden Herbstes in der Luft. Man merkte es an den Gerüchen, die Erde und Pflanzen verströmten – nicht mild und süß wie im Sommer, sondern schon herb und würzig, mit einem Hauch von Vergänglichkeit.

„Jetzt werd’ er bald da sei, der Winter“, sagte Pauli schwer; so, als wären die Jahreszeiten menschliche Wesen, die aus der Ferne zu uns gewandert kamen, um Blumen und Früchte oder Schnee und Stürme zu bringen. Im Alter, so erklärte er, würde einem der Winter immer mehr verleidet; und ich konnte ihn gut verstehen, wenn ich daran dachte, wie lang mir selbst die Wintermonate vorkamen, in denen alles kalt und starr und kahl war, und wie sehr ich schon im Januar auf den Frühling wartete.

Doch noch blieb uns eine Sommerferienwoche, und ich beschloß, sie voll auszukosten. Ich wollte mit Hazel durch den Wald reiten und zwischen Apfelbäumen in der Hängematte liegen, wollte Mikesch mit den Ferienreitern helfen, morgens unter der Eiche frühstücken und abends, wenn Jörn von der Klinik zurückkam, mit ihm nach Törwang ins Gasthaus radeln und Eis essen.

Auch der Herbst hatte im Tal von Dreililien seinen Reiz – die kurzen, aber goldenen Tage mit unwahrscheinlich blauem Himmel, wenn die Bauern ihre Ernte einbrachten und auf den

Feldern die Kartoffelfeuer schwelten. Hier auf dem Land war der Herbst eine Zeit der Fülle und der Vorbereitung auf den Winter. Auch wir mußten dafür sorgen, daß die Tennen und Scheunen mit Heuvorrat für die Pferde gefüllt wurden; wir kauften Hafer bei den Bauern der Umgebung und lagerten Rettiche, Karotten, Mohrrüben und Runkelrüben in den Futterkammern. Haselnüsse wurden gesammelt, Pilze getrocknet; Kirsty verarbeitete Äpfel und Hutzelbirnen zu Dörrobst, und Carmens Eltern setzten Apfelmost in mächtigen Glasballons an, der wochenlang im Keller blubberte.

Doch in diesem Jahr würde alles anders sein. Es war das Jahr von Tschernobyl; ein Jahr, in dem die Pilze nicht gegessen werden durften, in dem das Heu und die Haselnüsse verstrahlt waren und das Obst erst untersucht werden mußte, ehe man es unbedenklich essen, verfüttern oder verarbeiten könnte.

Vielleicht war dieses Ereignis als Warnung für uns gedacht; ein kleiner Vorgeschmack auf das, was geschehen konnte, wenn wir nicht zur Besinnung kamen. Dieser Reaktorunfall, den die Fachwelt als „vergleichsweise harmlos“ bezeichnete, hatte seine Spuren in unserem Erdboden hinterlassen; Spuren, die noch nicht verwischt sein würden, wenn ich selbst und meine Generation längst tot waren. Andere Generationen hatten Kunstdenkmäler hinterlassen, kostbare Überreste einstiger Höchkulturen; wir hinterließen unverrottbare Plastikabfälle, verseuchtes Wasser, Atommüll. Vielleicht würden wir es sogar schaffen, diese Erde für Lebewesen unbewohnbar zu machen. War das unser Schicksal, daß wir uns selbst vernichten würden, weil wir unsere Grenzen nicht kannten, uns gegen die Natur stellten und zu anmaßend waren?

Es waren keine guten Gedanken für einen Sommerabend mit Freunden, doch in diesem Jahr fiel es mir nicht leicht, unbeschwert zu sein. Und wieder dachte ich, wie schon morgens im Stall, daß es wichtig war, die Gefahr zu erkennen und trotzdem nicht in einem Zustand der Angst zu verharren, sondern das Leben auszukosten.

„Nell träumt“, sagte Helge. „Von ihrer Gärtnerei wahrscheinlich. Aber es scheint kein besonders angenehmer Traum zu sein. Hat jemand Steine auf deine Glashäuser geschmissen?“

Ich fing Jörns forschenden Blick auf und schüttelte den Kopf. „Es gibt Schlimmeres“, sagte ich.

Reiterhof Dreililien 8 - Wenn der Sommer geht

Подняться наверх