Читать книгу Wie eine Lilie unter Dornen - Ursula Koch - Страница 9

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Hallo, Rut!

Hallo, Rut – entschuldige, so klingt das heute. Ich weiß, du nimmst es mir nicht übel. Wie sonst sollte ich dich herausrufen aus der Vergangenheit, in der du versunken bist? »Verehrungswürdige Rut«? »Gnädige Frau«?

Ich höre dich lachen, denn so kannst du nicht gewesen sein. Wie hättest du es dann gewagt, auf den Dreschplatz des reichen Boas zu gehen – mitten in der Nacht – wenn du nicht eine ganz pfiffige, mitunter sehr wagemutige junge Frau gewesen wärst? Gar nicht »würdig« hast du dich da benommen, eigentlich sogar … aber lassen wir das zunächst einmal.

Mehr als dreitausend Jahre liegen zwischen dir und mir. Meine Welt ist eine andere als die, in der du gelebt hast. Ich beneide dich ein wenig um die klaren Konturen deines Lebens: Da war der Ablauf des Jahres. Da waren Tag und Nacht. Da war Moab – und da war Israel. Und das war schon fast alles. Der Fluss noch und das Gebirge. Dein Dorf am Fuß eines Berges. Die alte Pinie. Am Anfang: Geburt. Am Ende: Tod. Leben ohne Fragen. Jeden Morgen ging im Osten die Sonne auf.

Rut, wie einfach das alles gewesen sein muss! Oder bilde ich es mir nur ein, dass alles einfach war, weil mein Leben so kompliziert geworden ist – mit seinen Erwartungen und Zwängen, eingeflochten in ein unüberschaubares Ganzes, belastet mit Verantwortung, gefangen in der Ohnmacht? Wirst du es mir sagen, Rut?

»Moabiter – neben Ammonitern und Edomitern eines der südostjordanischen Nachbarvölker Israels«, so steht es im Lexikon. Und du gehörst zu ihnen: Rut, die Moabiterin.

Eines Tages, du warst noch sehr jung, kamen Fremde in euer Dorf. Sie waren erschöpft und müde, in den Gesichtern brannten die Augen: Hunger! Lange hatte es im jüdischen Bergland nicht mehr geregnet. Die Felder um die kleine Stadt Bethlehem waren vertrocknet.

Das ganze Dorf lief zusammen. Es gab ja wenig Abwechslung unter der glühenden Sonne. Die Ältesten des Dorfes versammelten sich im Schatten der weit ausladenden Äste eurer alten Pinie.

Elimelech sprach einige Worte eures Dialekts. Seine Frau Noomi hockte, ein Kind auf dem Arm, am Boden. Ein zweiter Knabe hielt sich verängstigt am Zipfel ihres schwarzen Schleiers fest.

Elimelech fragte, ob er bleiben dürfe. Die Alten berieten und stimmten schließlich zu. Es gab genug Land. Und Elimelech kam ohne Waffen, er hatte nur Hunger. Andere waren vor ihm gekommen und weitergezogen. Andere würden nach ihm kommen. Man duldete sie wie Hunde, die ums Feuer schleichen, gierig nach einem Knochen. Blieben sie lange genug, vergaß man irgendwann, dass sie Fremde waren.

Nachdem sie sich sattgegessen hatten, begannen Elimelechs Söhne mit den Kindern des Dorfes zu spielen. Sie machten Jagd auf Schlangen und bauten sich Hütten aus dürren Ästen. Die Mädchen blieben bei den Häusern, schauten nur manchmal herüber, und hinter der vorgehaltenen Hand blitzten schwarze Augen.

Elimelech starb, als die Jungen gerade allein das Feld bestellen konnten. Ein heimtückisches Fieber warf ihn auf sein Lager. Er stöhnte, und der Schweiß strömte über sein Gesicht. Noomi kniete an seiner Seite und flößte ihm einen Sud ein, den sie mit ihrer Nachbarin gebraut hatte. Doch Elimelech ging ein zu seinen Vätern – fern von Bethlehem, seiner Heimat. Noomi erhob sich und schlang ihr Tuch fest um den mageren Körper. Nur einen Augenblick wankte sie, dann trat sie in die grelle Sonne vor der Tür und stieß einen Schrei aus. Aus den Lehmhütten ringsumher liefen die Frauen herbei und stimmten ein in ihr Schreien. Machlon und Kiljon, die Söhne, standen erstarrt vor Schrecken im Schatten der Wand. Sie mussten hineingehen und sich vor dem toten Vater verneigen. So tief neigten sie sich dabei, dass ihre Stirn den sandigen Boden berührte. Dann schickte die Mutter sie hinaus, und die Frauen wuschen den Toten.

Das ganze Dorf begrub Elimelech, denn er war einer der Ihren geworden. Nachdem sie ihn begraben hatten mit den Füßen nach Westen, so dass er der untergehenden Sonne in das ferne Reich der Toten folgen konnte, und nachdem sie Noomi wieder nach Hause begleitet hatten, nahmen sie Machlon und Kiljon in ihre Mitte. Die Männer setzten sich unter den Baum und schwiegen. Nach langer Zeit standen sie einer nach dem anderen auf, verbeugten sich vor Machlon und Kiljon und gingen zurück in ihre Hütten. Von diesem Tag an gehörten die jungen Männer zum Dorf. Und niemand erinnerte sich mehr daran, dass sie einst als hungrige Fremde gekommen waren. Sie sorgten für Noomi und saßen abends bei den anderen unterm Baum, bestellten in der Regenzeit ihr Feld und warteten auf die Ernte.

Machlon, der Ältere, heiratete zuerst. Orpas Vater war arm. Er gab die Tochter gern dem vernünftigen jungen Mann, der den Brautpreis zahlte, ohne zu feilschen. Ob Orpa schön war, wusste Machlon nicht, denn er hatte nur ihre Augen gesehen. In der Hochzeitsnacht, als das dumpfe Trommeln und Schlagen der Musikanten verklungen war, hob Machlon den Schleier von Orpas Gesicht und freute sich: Es war kein Makel an ihr. Sie lächelte freundlich und ließ geschehen, was geschehen musste.

Machlon war zufrieden mit seiner Frau. Still und demütig tat sie ihre Pflicht, wie es einer Frau ziemt. Und Machlon baute eine neue Hütte neben die der Mutter.

Kiljon dagegen schlich abends durchs Dorf. Keiner wusste, wohin. Seine Mutter betrachtete ihn sorgenvoll.

»Kiljon«, mahnte sie, »nimm dir eine Frau, die zu uns passt! Kiljon, wir sind als Fremde ins Land gekommen. Kiljon, sei bescheiden!«

Dann beobachtete einer, wohin Kiljon schlich: Der Älteste im Dorf hatte seinen Hof neben der alten Pinie. Und – der Älteste im Dorf hatte vier Töchter. Drei waren schon versprochen, und das ganze Dorf feierte die Hochzeiten, aß sich satt an den fetten Hammeln, die der Brautvater am Spieß braten ließ.

Kiljon wartete, bis alle drei Hochzeiten vorüber waren. Wenige Tage danach nahm er ein sauberes Hemd, das Noomi ihm genäht hatte, nahm den Hut seines Vaters und einen kräftigen Stock – und ging in das Haus des Ältesten. Noomi sah ihm sorgenvoll nach.

Als er wiederkam, trat er fest auf und trug den Kopf erhoben. Er kramte aus dem Tontopf in der Ecke der Hütte alle Münzen heraus, die er in den letzten Jahren vom Markt nach Hause gebracht hatte, und zog unter dem Geld zwei Armreifen hervor. Den einen schenkte er seiner Mutter, den anderen hielt er fest in der Faust und ging am Abend noch einmal durch das Dorf.

Aus den Häusern kamen die Frauen zum Brunnen, um Wasser zu holen. Aus dem Haus des Ältesten trat Rut. Sie war schmaler und kleiner als die anderen Mädchen. Und sie hatte den Schleier ein wenig lockerer gebunden.

Kiljon trat nahe an sie heran: Sie schlug die Augen nieder, wie es sich gehörte, und blieb stehen. In der Dämmerung streckte Kiljon die Hand aus und hielt ihr den Armreif hin. Blitzschnell griff sie danach und ließ ihn in ihrem Ärmel verschwinden. Nun hob sie mit beiden Händen den Krug auf den Kopf und folgte mit gemessenem Schritt den älteren Frauen ihres Hauses. Doch vor der Biegung des Weges drehte sie sich noch einmal um.

So warb Kiljon um Rut, und es wurde wieder Hochzeit gefeiert.

Aber, Rut, wie war das mit Kiljon und dir? Warum hast du kein Kind empfangen in der Hochzeitsnacht? Warum hatte auch Orpa kein Kind? Da kann doch etwas nicht stimmen. Noomi wartete vergeblich. Kein Lachen, kein Kindergeschrei in den drei Hütten, die nebeneinander am Rand des Dorfes stehen? Oder starb dir ein Kind? Hast du an kleinen Gräbern gestanden und die Tränen mit dem Schleier abgewischt?

Die Nachbarn redeten schon über euch und eure Männer. Vielleicht taugen sie ja doch nichts, die Israeliten von jenseits des Jordans, die dem Baal kein Opfer bringen und an der Vorhaut beschnitten sind …

Aber da war immer noch Hoffnung, denn jede Nacht kam Kiljon zu dir, und du nahmst ihn freundlich auf. Bis das Furchtbare geschah.

Noomis Schrei drang am Morgen durch die offenen Fensterhöhlen der Hütten, und die Nachbarn fuhren aus dem Schlaf.

Kiljon und Machlon, die Brüder, waren vom Feld nicht heimgekehrt. Bei Sonnenaufgang brachte ein Hirtenjunge Nachricht: Eine Löwin hatte auf dem Land gewütet. Blutige Spuren zogen sich über Elimelechs Acker. Und das Hemd, das Noomi genäht hatte, lag rot und zerrissen unter dem Baum, unter dem die Brüder zu rasten pflegten. Fast bewusstlos vor Schmerz umarmten die drei Frauen einander. Die Klageweiber standen um die Hütte und schrien bis zum Sonnenuntergang. In der Nacht hörte man fern das Brüllen der Löwen.

Noomi verweigerte von dieser Stunde an Speise und Trank. Sie beschloss zu sterben. Es war genug. Vor der Feuerstelle in ihrer alten Hütte saß sie in der Asche und starrte in die dunkelste Ecke: Stunden, Tage, Wochen.

Orpa und Rut kamen und gingen, brachten Brotfladen und füllten den Krug mit Wein. Aber Noomi stand nicht auf, redete nicht.

»Sie wird auch bald sterben«, seufzte Orpa.

Rut nickte. Sie dachte an das reiche Haus ihres Vaters, in dem die Kinder der Brüder spielten, und das Herz schlug ihr schwer in der Brust.

Abends, wenn Orpa zu den Nachbarinnen oder ihren Schwestern ging, setzte sich Rut neben Noomi, wie sie es aus früheren Tagen gewohnt war.

»Erzähl mir«, bat Rut.

Aber Noomi schüttelte den Kopf. Da begann Rut zu wiederholen, was sie von Noomi gehört hatte: »Noomi, erzähl mir! Nicht Baal, der Schreckliche, sondern der Gott Israels hat die Welt geschaffen, ist es nicht so? Er hat die Pflanzen gemacht, die Steine, sogar den Mond und die Sonne. Baal musste kämpfen, um die Welt dem Ungeheuer des Meeres abzuringen – aber euer Gott pflanzte einen Garten, und niemand hinderte ihn daran. Stimmt es, Noomi?«

Die alte Frau nickte.

»Er pflanzte den Garten in Eden, gegen Osten. Wo ist Eden, Noomi, erzähl mir von dem Garten! Hast du ihn schon einmal gesehen?«

Noomi schüttelte traurig den Kopf.

»Nein, meine Tochter, niemand hat ihn je gesehen. Ein Engel, ein furchtbarer Engel, mit einem Schwert aus zuckenden Flammen steht vor dem Tor des Gartens.«

»Aber warum, Noomi, warum?«

Noomi stöhnte auf. »Sie haben von der verbotenen Frucht gegessen.«

Dann erzählte Noomi Rut die Geschichte vom Garten Eden. In der Nacht ohne Licht und Wärme saß Rut und lauschte. Und sie hörte das Zischen der Schlange in der Finsternis der Hütte, und sie fühlte Evas Sehnsucht, zu wissen, was gut ist und böse. Sie hörte die Schritte des Herrn, der abends durch den Garten ging und Adam rief. Aber Adam hatte sich versteckt. Und nun war der Garten verschlossen. Die Menschen lebten jenseits von Eden, und der Boden war hart und steinig. Und grausam war der Tod.

Als der Morgen dämmerte, erwachte Rut zu Noomis Füßen. Die Alte hatte ihr Kleid über sie gedeckt. Orpa trat in die Hütte und holte den Krug. Rut stand auf. Sie folgte der Schwägerin zum Brunnen.

Noomi blieb allein in der Hütte und wartete auf den Tod.

Aber der Tod kam nicht. Stattdessen setzte der Regen ein. Nachts erwachten die Frauen von dem gleichmäßigen Plätschern. Auf den Feldern begann es zu grünen. Durch den steinharten Boden bohrten sich winzige Triebe. Die Arbeit begann.

Eines Morgens stand Noomi doch wieder auf und trat vor die Hütte. Da sah sie zu ihren Füßen einen Grashalm, der mit seiner Kraft, so gering sie auch war, die Erde durchbrochen hatte. Sie hob den Kopf und schaute zum Himmel.

An diesem Abend kamen Rut und Orpa erschöpft und verstört von der Feldarbeit nach Hause. Ein Vetter Orpas hatte ihnen die Hälfte des Feldes genommen.

»Ihr schafft die Arbeit ja doch nicht«, war seine Begründung gewesen. »Von hier ab, das gehört jetzt mir.«

Die Dorfbewohner stimmten zu. Sie verachteten die kinderlosen Frauen.

»Sucht euch neue Männer, ehe ihr alt werdet!«, riet die wohlmeinende Nachbarin.

»Und was soll aus Noomi werden?«, fragte Rut. Aber die anderen zuckten nur die Achseln.

Bei der Heimkehr fanden sie Noomi zu ihrem Erstaunen vor der Hütte. Sie hielt die Hand über die Augen und sah nach Westen. Da kam einer. In der Weite des kahlen Landes war er ein winziger Punkt, aber er bewegte sich schnell und sicher. Wahrscheinlich hatte er das Dorf gesehen und hoffte auf ein Quartier für die Nacht. Noomi wartete, bis er auf ihre Hütte zutrat.

Der Fremde verneigte sich in gebührendem Abstand. Die Frauen winkten ihn heran. Orpa erhob sich, um einen neuen Fladen ins Feuer zu legen. Auch Rut vergaß Sorge und Arbeit des Tages und blickte dem Fremden neugierig ins Gesicht.

»Woher kommst du?«, fragte Noomi.

»Aus Israel.«

»Bist du hungrig?«

Er nickte und setzte sich mit den Frauen an das Feuer. Rut holte den Krug mit Wasser und reichte ihn dem Fremden. Noomi schien tief in Gedanken versunken.

»Gibt es Brot in Israel?«

Der Fremde zog aus seinem Beutel ein Stück trocken gewordenes Fladenbrot und hielt es in den Schein des Feuers.

»Der Herr sei gelobt. Es gibt Brot in Israel.«

Nachbarn drängten sich in die Hütte, begrüßten den Fremden. Sie fragten nach dem Woher und Wohin. Der Fremde erzählte: Sein Bruder diene im Heer des Moabiterkönigs. Nun sei der Vater gestorben. Er sei auf dem Weg, den Bruder nach Hause zu holen. Die alte Mutter verlange, ihn zu sehen.

Noomi seufzte laut.

In einer Nachbarhütte legte sich der Fremde zu den anderen auf den Boden. Bevor er am nächsten Morgen weiterzog, trat Noomi noch einmal auf ihn zu.

»Es gibt wirklich Brot in Israel?«

»Ja, es gibt Brot in Israel«, sagte der Fremde und warf ihr das Stück Brot, das er gezeigt hatte, in die offene Hand. Noomi umschloss es mit ihren mageren Fingern und stand still, bis der Fremde sich weit entfernt hatte.

Am nächsten Abend, ehe das Feuer erlosch, sagte sie zu Orpa: »Ich gehe zurück nach Bethlehem.«

Bald darauf hörte Rut die Alte tief atmen. Rut flüsterte Orpa zu: »Sie wird es nicht schaffen.«

Und Orpa seufzte und flüsterte zurück: »Also müssen wir mitgehen.«

Schon nach wenigen Tagen waren die Frauen reisefertig. Jede trug ein Bündel. Orpa hatte einige Fladenbrote in ein Tuch geschlagen, und Rut, die jüngste, trug den Krug mit Wasser. Die Dorfbewohner gaben ihnen ein Stück weit das Geleit. Einige Nachbarinnen weinten. Orpas Vater weinte, und Ruts Schwestern weinten. Rut sah die Kinder ihrer Schwestern am Wegrand entlangspringen. Schwerer als der Krug auf ihrem Kopf drückte die Traurigkeit auf ihr Herz. Aber sie weinte nicht.

Nach und nach blieben Angehörige und Freunde zurück. Als die Sonne hoch stand und über dem Land glühte, gingen die drei Frauen allein weiter. Der Weg war steinig. Noomi blieb stehen.

»Es ist Zeit«, sagte sie. Orpa nahm ein Fladenbrot, brach ein Stück ab und gab es der alten Frau.

»Es ist Zeit, meine Töchter. Ihr müsst umkehren.«

Rut wandte sich ab. Im gleißenden Licht lag hinter ihnen im Osten das Dorf, das bis heute ihre Heimat gewesen war. Sie sah aus der Ferne die Hütten, die sich an den Berghang klammerten, und meinte sogar, die Pinie zu erkennen, neben der das Haus ihres Vaters stand. Einen Augenblick kam es ihr vor, als hörte sie Lachen und Stimmen bis hierher in die Einsamkeit. Aber es war wohl nur der Wind, der durch das vertrocknete Laub der Büsche strich.

Noomi setzte sich auf einen Stein am Rand des schmalen Fußweges, der ins Tal hinabführte. Rut stellte den Krug neben ihr ab und sah nach Westen.

Tief unten, zwischen den kahlen Felsvorsprüngen, schimmerte die unbewegte Wasserfläche des salzigen Meeres. Noomi hatte ihr erzählt, wie Sodom und Gomorra, die Städte des Schreckens, im Feuer untergegangen waren. Und sie hatte ihr auch erzählt: Kein Fisch und kein Vogel lebten mehr in dem Pfuhl des Todes. Weit und blau liege Wasser wie ein Leichentuch über den Verdammten.

Dort entlang führte der Weg nach Bethlehem. Der Weg nach Bethlehem führte ganz nach unten. Es war ein gefährlicher Weg. Orpa legte seufzend die Fladenbrote auf den Boden. Sie trank einen Schluck und sah Rut fragend an.

»Kehrt heim, meine Töchter«, wiederholte Noomi und wies mit der Hand nach Osten. »Ihr wart gut zu den Toten. Meine Söhne hatten gute Frauen. Ich hatte gute Töchter. Aber ihr seid jung, und ich bin alt. Noomi nennen sie mich, die ›Liebliche‹. Was ist noch lieblich an mir? Ja, als ich jung war wie ihr, da habe ich den Reigen getanzt und das Tambourin geschlagen. Aber nun … Nein, meine Töchter, kehrt um! Ihr werdet Männer finden in eurem Dorf, denn jeder weiß, dass ihr achtbare Frauen seid. Jeder kennt euch. Eure Väter und Brüder werden euch in ihren Schutz nehmen. Was aber kann ich alte Frau für euch tun?«

Rut nahm den Schleier ab und setzte sich zu Noomis Füßen auf den Boden. Orpa blickte ratlos in das Gesicht der Schwägerin.

»Nein, Noomi«, widersprach Rut, »wir gehören zu dir. Unsere Väter und Brüder haben uns fortgegeben. Das ganze Dorf hat die Hochzeit gefeiert. Nun sind wir deine Töchter. Wir lassen dich nicht allein gehen.«

Orpa seufzte und nickte. »Wir sind deine Töchter«, wiederholte sie, »und wir werden dich nicht verlassen.«

Schweigend teilten sie ein Brot und tranken. Dann begann Noomi von Neuem: »Ja, ihr seid meine Töchter, weil ihr meine Söhne geheiratet habt. Aber wo sind meine Söhne? Zerrissen, grausam zerrissen. Hätte ich noch mehr Söhne, dann hättet ihr auch Männer. Aber mein Schoß ist leer. Wie also soll ich euch die Söhne ersetzen? Ihr seid noch jung und schön, und euer Schoß wird fruchtbar sein, wenn ihr Männer nehmt, die leben. Ach, Kiljon! Ach, Machlon!«

Heißer Wind aus der leblosen Tiefe streicht um drei dunkel gekleidete Gestalten im gnadenlosen Licht des Mittags. Kein Schatten und kein Trost. Weit, weit entfernt liegt der Garten, den Gott einst dem Menschen pflanzte. Und ein Engel mit flammendem Schwert, gleißend wie die Sonne am südlichen Himmel, bewacht das Tor.

Die Frauen, schwarz verschleiert, setzen sich wieder in Bewegung. Zwei gehen nach Westen. Langsam. Eine wendet sich nach Osten. Sie geht schneller, befreit von ihrer Last. Einmal noch dreht Orpa sich nach den anderen um. Aber die bleiben nicht mehr stehen und schauen nicht zurück. Sie gehen weiter, barfuß, den Blick fest auf den Boden gerichtet. Und der Weg ist steinig und führt ins Tal.

Verzeih mir, Rut, ich habe deine großen Worte ausgelassen. Wer weiß, ob du sie überhaupt gesprochen hast?

»Wo du hingehst, da will ich auch hingehen …« (Rut, Kap. 1,

Vers 16)

Es ist nicht wichtig, was du sagtest, Rut. Denn jeder Schritt auf diesem Weg war mehr als ein Versprechen. Und wenn Noomi hinter sich das Rascheln deines Kleides hörte, dann war es mehr als Gesang.

»Und wo du bleibst, da bleibe ich auch.

Dein Volk ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott.

Wo du stirbst, da sterbe ich auch, da will ich auch begraben werden.« (Rut, Kap. 1, Vers 16f.)

Wer auch immer sie aufgeschrieben haben mag, deine Worte – er hat sie verstanden, auch ohne, dass er sie hörte. Du hast sie gelebt, auch ohne, dass du sie zu sprechen brauchtest.

»So gingen die beiden miteinander, bis sie nach Bethlehem kamen …« (Rut, Kap. 1, Vers 19)

Wie einfach ist das – für uns! Fünfzig Kilometer, hundert Kilometer, zweihundert Kilometer … Wüste, Sand, Steine, Hitze. Und in der Nacht: Vielleicht ein Unterschlupf unter einem überhängenden Felsen? Ein Feuer? Löwen in der Ferne und die Angst: So war es auch bei Machlon und Kiljon …? Vielleicht eine Höhle bei Qumran? Freundliche Hirten, die euch Milch geben? Sie ziehen weiter. Ein alter Baum. Die glühende Hitze am Tag. Die Kälte nachts. Salz, das an den Füßen brennt. Mal ein Händler mit seinem Esel.

Ihr kommt durch Dörfer, kauft Brot. Rut darf nur Wasser schöpfen, wenn alle anderen fertig sind. Sie muss warten, und ihr seid doch so durstig. Erst trinken die Hirten und machen grobe Späße. Doch die Frauen ziehen stolz an den Fremden vorüber. Und dann vielleicht tritt Rut an den Brunnen und zieht und füllt den Krug – wenn nicht noch einer mit seinem Esel kommt, sie beiseitestößt.

Rut nimmt den vollen Krug, ohne zu trinken, und bringt ihn Noomi. Die alte Frau sitzt auf einem Stein, ringt die Hände ineinander.

»Trink, meine Tochter, trink!«

»Nein, du, Mutter!«

Noomi trinkt. Das Wasser kühlt die brennenden Lippen, macht den Mund frisch.

»Danke, Rut, nun trink du …«

»Ja, Mutter, ich trinke.«

Dann wird es wieder kalt. Rut zieht das Kleid fest um den Körper. »Ach, könnte ich dich wärmen«, sagt Noomi, »aber ich bin alt …«

Bis sie nach Bethlehem kamen …

Sie müssen wieder aufsteigen aus der Tiefe, lassen das Salzmeer und den Tod hinter sich. Auf schmalen Pfaden, die Füße blutig gestoßen, erreichen sie irgendwann eine Höhe, von der aus man hinüberschauen kann – nach Bethlehem.

»Da!«, ruft Noomi, und Rut hebt den müden Kopf, versucht, etwas zu erkennen:

An den Hängen grünen Felder. Oben auf dem Bergrücken liegt eine Stadt mit Hütten und Feldsteinmauern, mit kleinen wehrhaften Türmen. Noomi wankt. Noch einmal geht die Sonne unter, noch einmal schlafen sie im Freien, im Schutz einer niedrigen Hecke. Dann erreichen sie das östliche Tor.

»Noomi, die Frau Elimelechs?«

»Unmöglich!«

Es ist Markt, und am Stand der Zippora laufen die Frauen zusammen. Eine bringt die Nachricht vom Tor: »Sie hat gesagt, sie sei Noomi, die Frau Elimelechs.«

»Und wo sind ihre Söhne, Kiljon und Machlon?«

»Warum kommt sie allein?«

Eine schweigende Gasse bildet sich mitten im Lärm des Marktes. Noomi kommt. Sie hat den Schleier vom Gesicht gezogen. Sie geht ganz langsam und ganz aufrecht. Zippora, die alte Nachbarin, tritt ihr entgegen.

»Noomi!«

Rut hält sich dicht hinter der Schwiegermutter. Ihr Gesicht ist verhüllt. Sie sieht die fragenden Blicke, hört das Getuschel. Aber sie kann die Worte nicht verstehen, die Noomi redet.

»Ja, Zippora, ich bin’s! Noomi, nein, Mara bin ich, die ›Bittere‹! Elimelech ist tot. Kiljon ist tot. Machlon ist tot. Der Herr hat mich geschlagen. Ich habe nichts mehr. Ich bin leer. Ich bin tot. Geht und betrauert mich.«

Schweigend bleiben die anderen zurück, Noomi stützt sich auf Ruts Arm. Die Frauen gehen eine lange Straße entlang. In den Türen der Häuser laufen die Kinder zusammen.

»Wer ist das?«

»Noomi.«

»Was will sie hier?«

»Sie gehört zu uns.«

»Ich habe sie noch nie gesehen.«

Am Ende der Straße steht noch die Hütte, aus der Elimelech mit seiner Familie einst aufbrach. Noomi tritt hinein und sieht sich um. Eine Wand ist fast zur Hälfte eingebrochen. Aber das Dach scheint zu halten. Rut bindet aus Zweigen, die in der Ecke liegen, einen Besen und kehrt den losen Sand zusammen. Noomi kniet an der Feuerstelle. Da ist noch Asche …

In der Tür erscheint Zippora. Sie hat den Marktstand ihrer Schwester überlassen und ist nach Hause gelaufen. Jetzt bringt sie Brot. Rut sitzt in der Ecke und hört Noomi mit Zippora leise sprechen. Sie fühlt die Müdigkeit in ihren Gliedern und in ihrem Herzen. Über dem Reden der Frauen, das sie nicht versteht, schläft sie ein.

*

Langsam verheilen die Wunden an den Füßen. Zippora bringt Mehl. Ein paar andere Nachbarn geben ihnen Wein und Früchte; Rut versucht, das Haus bewohnbar zu machen. Noomi kniet an der Feuerstelle.

Hin und wieder bemüht sich Rut, ein paar Worte in der fremden Sprache zu sprechen.

»Du wirst es lernen«, sagen die anderen.

Nur wenige Tage später beginnt die Gerstenernte.

Morgens sieht Rut die Schnitter aufs Feld ziehen. Noomi sitzt vor der Hütte in der frühen Sonne und wärmt ihre schmerzenden Glieder.

»Wir brauchen Getreide.«

»Ja«, sagt Noomi, »aber wir haben kein Geld.«

»Ich gehe mit den Schnittern. Vielleicht finde ich ein paar Ähren, die sie übersehen haben. Was soll ich hier herumsitzen?« Ungeduldig streckt Rut ihre Arme.

»Geh, meine Tochter«, seufzt Noomi, »ich kann nicht mitgehen. Meine Beine sind schwach geworden. Geh du nur – Gott schütze dich!«

Rut bindet den Rock fester. Der Gesang der Schnitter verklingt schon am Ende der Stadt. Sie greift den Korb und läuft ihnen nach. Die Nachbarinnen stecken die Köpfe zusammen. »So jung noch, so jung …«

»Doch kräftige Arme hat sie.«

»Aber was soll sie hier?«

»Noomi wäre ganz allein.«

»Soll sie ihr Leben lang nur die Schwiegermutter versorgen? Eine so schöne Frau?«

»Sie ist dunkel. Ihre Augen sind ganz schwarz. Das gefällt keinem Israeliten.«

»Kiljon hat es wohl gefallen …«

Rut läuft den Berg hinab hinter den Schnittern her. Es tut gut, zu laufen, die Beine wieder zu spüren. Sie schwenkt die Arme. Über ihr ist der Himmel. Auch in der Heimat reift jetzt das Korn.

Einige Schnitter bleiben an einem kleinen Acker stehen und beginnen ihre Arbeit. Rut folgt dem größeren Trupp, der bis ins Tal hinunter zu einem ausgedehnten Feld geht und erst dort zu arbeiten beginnt. Sie nähert sich dem Knecht an der Spitze der ersten Reihe und zeigt den leeren Korb.

»Bitte, lass mich nachlesen!«

Die Umstehenden lachen über ihre drollige Aussprache. Sie senkt beschämt den Kopf. Der Knecht scheucht die anderen mit einer Handbewegung zur Arbeit.

»In Ordnung! Lies auf, was wir liegenlassen.«

Am Wegrand wirft Rut den Schleier ins Gras. Sie bindet den Rock hoch und wartet, bis sich die lange Reihe der Knechte und Mägde vor ihr ein Stück entfernt hat.

Schon jetzt beginnt die Sonne zu stechen. Der gebeugte Rücken schmerzt. Aber Rut achtet nicht darauf. Dort ein Halm und hier einer. Reifes Korn. Dort drüben. Wie zu Hause. Noomi wird sich freuen. Noomi isst so wenig. Der Korb füllt sich. Nun brauchen sie nicht länger Zipporas Mildtätigkeit. Hat Rut nicht starke Arme? Ist sie nicht jung? Hier ein Halm. Dort liegen zwei. Und die Sonne steigt zum Mittag.

Unterdessen ist der Herr des Feldes aus dem Schatten der Bäume auf den Weg getreten. Er sieht die Sicheln blitzen, sieht über die gebeugten Rücken der Knechte und Mägde hinweg, und sein Herz klopft freudig erregt. Das wird eine Ernte!

Boas beginnt das große Dankgebet seines Volkes zu sprechen; laut, so dass es auch die Knechte und Mägde hören:

»Mein Vater war ein Aramäer, dem Umkommen nahe, und zog hinab nach Ägypten und war dort ein Fremdling mit wenig Leuten und wurde dort ein großes, starkes und zahlreiches Volk.

Aber die Ägypter behandelten uns schlecht und bedrückten uns und legten uns einen harten Dienst auf. Da schrien wir zu dem Herrn, dem Gott unserer Väter.

Und der Herr erhörte unser Schreien und sah unser Elend, unsere Angst und Not und führte uns aus Ägypten mit mächtiger Hand … und brachte uns an diese Stätte und gab uns dies Land, darin Milch und Honig fließt.

Nun bringe ich …« (5. Mose, Kap. 26, Verse 5-10)

Er stockt: Hinter der letzten Reihe der Schnitter taucht eine einsame Gestalt auf. Sie geht langsam, die Augen auf den Boden gerichtet, hin und her, bückt sich, liest hier einen Halm auf und dort einen.

Pinhas, der Vorarbeiter, ruft die anderen zur Pause. Sie lagern sich lachend im Schatten und lassen den Krug von Mund zu Mund gehen. Boas schaut immer noch auf das Feld. Er sieht die fremde Frau auf und ab wandern, sich bücken, sich aufrichten, unermüdlich und ohne Zögern.

»Wer ist die Frau?«, fragt Boas.

»Die Fremde aus Moab, die mit Noomi kam«, sagt Pinhas und wischt sich den Schweiß von der Stirn. »Sie bat darum, nachlesen zu dürfen. Ich habe es ihr erlaubt, Herr. Und sie war fleißig. Ich wünschte, unsere Mägde wären auch so fleißig.« Boas kümmert sich nicht um die kichernden Mädchen im Schatten. Er sieht, wie Rut näherkommt. Ihr Korb scheint fast gefüllt, aber sie sucht immer noch weiter.

»Ich hab aus meinem Hause gebracht, was geheiligt ist, und hab’s gegeben den Leviten, den Fremdlingen, den Waisen und den Witwen ganz nach deinem Gebot, das du mir geboten hast.«

(5. Mose, Kap. 26, Vers 13)

»Was sagst du, Herr?« Pinhas hat sich schon abgewandt, um sich auch im Schatten ein wenig auszuruhen.

»Nichts, Pinhas, nichts! Oder doch: Lass das Mädchen weitersammeln. Du kennst das Gebot Gottes, unseres Herrn. Und pass auf, dass niemand sie belästigt!«

Rut richtet sich auf. Sie muss sich den Schweiß aus den Augen wischen, sie kann nur verschwommen sehen. Das Mittagslicht blendet, die Luft flimmert über dem Feld.

Da kommt einer auf sie zu. Ist es der Knecht? Wird er sie fortjagen? Hat sie zu viel gesammelt?

»Bitte, lass mir den Korb!«

Wo ist ihr Schleier? Halbnackt steht sie unter der Sonne, und der Mann ist schon vor ihr. Sie hört eine angenehme Stimme.

»Also du bist Rut, die Moabiterin. Ich habe von dir gehört. Verstehst du mich?«

Rut nickt und hält den Kopf gesenkt. Wer mag er sein, dieser Fremde? Er spricht wie ein Herr.

»Ich bin Boas aus Bethlehem, und ich will, dass du weiter auf meinem Feld sammelst, was du brauchst. Du sollst auf keinen anderen Acker gehen. Bleib in der Nähe meiner Mägde. Sie werden dir nichts tun. Ich bin der Herr des Feldes, und ich habe es befohlen.«

Rut zittert. »… der Herr des Feldes …«

Sie schlägt die nackten braunen Arme vor der Brust zusammen.

»Ich bin eine Fremde, aber du bist gut zu mir.«

Schon im Gehen wendet sich Boas noch einmal um.

»Du hast Noomi beigestanden nach dem Tod ihrer Söhne. Unser Gott, dessen Name unaussprechlich ist, vergilt das Gute ebenso wie das Böse.«

Ungläubig hebt Rut den Kopf und richtet die schwarzen Augen fest auf das Gesicht des Mannes. Ihm wird heiß, nicht nur von der Sonne.

»Ich weiß, du bist fremd und ohne Schutz. Darum wird Gott dich schützen. Wie der Adler dort oben seine Jungen unter die Flügel nimmt, so wird Gott dich unter seine Flügel nehmen.«

Rut ahnt nur, was er ihr sagen will. Ihre Augen folgen voller Staunen dem Flug des mächtigen Vogels über das Tal. Er kreist und verschwindet jenseits des Bergrückens in der flimmernden Luft.

»Geh jetzt zu den anderen, trink und iss mit ihnen!«

»Gott ist gut«, flüstert Rut. Dann ergreift sie ihren Korb und eilt zu den Mägden. Halbleer steht da der Krug mit Wasser. Sie trinkt ohne Hast.

Inzwischen ist es Zeit, das Brot auszugeben. Boas überwacht die Verteilung des Essens. Es bleibt sonst für die Schwächeren zu wenig übrig. Zwei Mägde haben einen Krug mit gerösteten Körnern gebracht und stellen ihn vor Boas ab. Ehe der Herr ihn an die Knechte weiterreicht, greift er mit beiden Händen hinein.

Rut sitzt ein Stück abseits, den müden Kopf auf die Arme gestützt. Mit gefüllten Händen tritt Boas zu ihr. Wieder trifft ihn ein staunender Blick.

»Nimm«, sagt er leise, seine Stimme ist ihr schon vertraut. Schweigend und ohne die Augen abzuwenden, nimmt sie aus seiner offenen Hand.

Die jüngste Magd beginnt zu kichern. Die älteren halten sich die Hände vor den Mund.

»Gackert nicht!«, schimpft Isai, der alte Knecht. »Wisst ihr nicht, dass unser Gott befohlen hat, die Witwen zu ernähren? – Es ist gut, was du tust, Herr«, ruft er Boas zu. »Der, dessen Name unaussprechlich ist, wird dich segnen und dein ganzes Haus!« Als habe der Priester gesprochen, so still ist es auf einmal im Schatten am Rand des Feldes.

Boas schiebt sich langsam ein Stück Brot in den Mund und blickt verstohlen hinüber zu den Frauen.

Rut hat die Körner in ihrem Schoß ausgebreitet und isst. »Gott ist gut«, murmelt sie, und dann wickelt sie die restlichen Körner in einen Zipfel ihres Rockes. Sie schaut auf. Jetzt ist es derselbe Himmel – hier wie zu Hause.

Es dämmert schon, als Rut in die Hütte tritt. Noomi sitzt in dem schmalen Innenhof an ihrer Feuerstelle und backt Brotfladen in der heißen Asche. Mit einem sorgenvollen Blick betrachtet sie Ruts Gesicht. Schweiß und Staub haben ihre Stirn und die Wangen verschmiert, doch die dunklen Augen blitzen Noomi fröhlich an.

»Hier, Mutter!«

Sie stellt den vollen Korb neben die Alte und knotet den Rocksaum auf.

»Hier …«

Auf den flachen Teller neben Noomi prasseln die gerösteten Körner. Noomis magere Finger greifen danach, drehen die Körner hin und her, und dann schiebt sie langsam eins nach dem anderen in den Mund.

»Wer hat dich beschenkt, meine Tochter? Wo warst du? Du bist reich geworden, Rut, an einem einzigen Tag!«

Rut wendet sich ab und wäscht ihr Gesicht mit Wasser aus einem der Krüge. Dann setzt sie sich neben die Schwiegermutter auf den Boden, erzählt lachend, während sie einen Bissen Brot in den Händen zerbröselt:

»Es war der Herr des Feldes. Er heißt Boas. Ich soll morgen wieder auf seinem Feld lesen. Und er hat seinen Knechten etwas gesagt …«

Noomi legt stumm die Hände ineinander. Über ihnen der Himmel ist schwarz geworden, übersät mit Sternen. Noomi blickt hinauf.

»Leg dich schlafen, meine Tochter«, sagt sie leise, »der Herr, der Gott Israels, hat sich erbarmt über uns.«

Rut tritt in den Innenraum der Hütte. Als sie die Augen schließt, sieht sie den Engel mit dem flammenden Schwert vor dem Tor des Paradieses stehen. Aber es kommt ihr so vor, als lächelte er.

Noomi bleibt sitzen. Sie entzündet die Öllampe mit einem dürren Holz aus der Glut. In dem flackernden Licht erscheinen vor ihren Augen noch einmal die steinigen Wege, die sie mit Rut gegangen ist. Sie sieht Ruts blutige Füße; sieht, wie die groben Hirten sie vom Brunnen wegstoßen, sieht den Schweiß auf Ruts Stirn und die Erschöpfung in ihrem Blick. Sie hört noch einmal das Brüllen der wilden Tiere aus der Einsamkeit und spürt die Kälte der Wüstennacht. Seufzend ringt sie die Hände und beginnt, leise zu singen. Sie singt das uralte Lied ihres Volkes aus den Tagen der großen Wanderung:

»Ich will dem Herrn singen,

denn er hat eine herrliche Tat getan …« (2. Mose, Kap. 15, Vers 21)

Als das Öl in der Lampe zur Neige geht, steht Noomi auf und tritt an Ruts Lager. Der Schlafenden ist das Obergewand von den Armen herabgeglitten, und nur die langen schwarzen Haare bedecken ihre Brust. Die Haut schimmert im sanften Licht.

»Schlaf, meine Tochter, schlaf«, flüstert Noomi, »er, dessen Name unaussprechlich ist, hat dein Wandern durch diese große Wüste auf sein Herz genommen. Schlaf!« Sie löscht das Licht und legt sich an Ruts Seite.

Am Morgen erwacht Rut erst, nachdem die Sonne schon aufgegangen ist. Sie hört Noomis Stimme von der Straße. Offensichtlich spricht sie mit Zippora. Rut besinnt sich kaum, trinkt ein wenig Wasser und greift hastig nach dem Korb.

»Friede sei mit euch«, ruft sie den Frauen zu.

»Warte!«, befiehlt Noomi und winkt sie in die Hütte zurück. »Hör mir zu, meine Tochter! Geh nirgendwo anders hin als auf Boas’ Feld! Dann weiß ich, dass du in guter Hut bist. Boas ist ein Verwandter Elimelechs, und er trägt die Verantwortung für mich – und für dich. Man sagt hier: Er ist der Löser.«

»Ja, Mutter!« Rut tänzelt ungeduldig in der Tür. »Ich werde bei Boas’ Gesinde bleiben. Leb wohl!« Und fort ist sie.

Sie findet die Knechte und Mägde des Boas neben dem Feld, das sie am Tag zuvor abgeerntet haben. Pinhas begrüßt sie aus einiger Entfernung. Der alte Isai nickt ihr wohlwollend zu. Nur die Mägde können das Kichern nicht lassen.

»Die schöne Fremde, sieh mal! Boas wird sie sich als Sklavin kaufen.«

Isai dreht sich zornig um. »Was redet ihr für dummes Zeug? Ihr habt gehört, was der Herr befohlen hat. Lasst der Fremden etwas liegen, sammelt nicht alles auf – hat er gesagt. Und im Übrigen haltet den Mund.«

»Ja, ja«, kichern die Mädchen. So bleibt hier ein Büschel zurück und dort, so dass sich Ruts Korb schneller füllt als am Tag zuvor. Boas kommt gegen Mittag. Er sieht zu ihr hinüber und fragt die Mägde: »Habt ihr der Fremden aus Moab auch etwas übriggelassen?« Und die Mägde antworten: »Sie findet mehr, als sie tragen kann.«

Mittags lagert sich Rut bei den anderen, sie geben ihr Wasser und Brot und geröstete Körner. Boas aber kommt nicht mehr zu ihr, sondern kehrt noch am Mittag in sein Haus zurück.

In ihrer Hütte reinigt Noomi an diesem Tag die Grube, in der die Familie ihre Vorräte aufbewahrt hat. Sie erneuert die zerbrochenen Ziegel an den Rändern und füllt das Korn hinein, das Rut gebracht hat. Nach drei Tagen ist ein Vorratsbehälter gefüllt.

»Wir haben genug für uns beide, meine Tochter«, sagt Noomi am Morgen des vierten Tages. Aber Rut steht schon wieder in der Tür.

»Lass mich weiter sammeln, Mutter, bis die Felder des Boas abgeerntet sind. Wer weiß, was wir noch brauchen werden.« Und sie läuft die enge Straße hinab, den leeren Korb im Arm, und ihr Schleier weht im Wind.

Als die Ernte beendet ist, geht Boas abends zu dem Ältesten der Stadt und setzt sich in dem großen, sauber gefegten Innenhof neben die Feuerstelle.

»Friede sei mit dir, Boas! Wie war die Ernte?«

»Ich habe gut geerntet, Sebulon. Der Herr hat mich gesegnet«, antwortet Boas.

Eine Weile sitzen die Männer schweigend in der Dämmerung. Die Kinder des Hauses sind in ihre Schlafräume gegangen, oben auf dem Dach hört man die Frauen sprechen.

»Was sagt das Gesetz des Mose über das Lösen der Witwen?« Der Älteste steht auf und geht in den äußersten Winkel des Hofes. Er öffnet den Deckel eines kunstvoll verzierten Tonkruges und zieht eine Rolle heraus, die er inbrünstig küsst. Dann kehrt er zurück und lässt sich wieder neben Boas nieder.

»Das heilige Gesetz, das Gott am Sinai dem Mose gab, das Gesetz des Herrn, dessen Name unaussprechlich ist …«

Er ruft nach den Kindern. Ein Junge kommt und hält die Öllampe. Still und ehrerbietig steht er neben dem Vater und sieht zu, wie das flackernde Licht die dunklen Schriftzeichen erhellt und wieder versinken lässt.

»Wenn dein Bruder verarmt und etwas von seiner Habe verkauft, so soll sein nächster Verwandter kommen und einlösen, was sein Bruder verkauft hat.«

Er sucht weiter.

»Wenn einer stirbt, so soll seine Witwe nicht die Frau eines Mannes aus einer anderen Sippe werden, sondern ihr Schwager soll zu ihr gehen …, damit der Name des Verstorbenen nicht ausgetilgt werde aus Israel …« (5. Mose, Kap. 25, Verse 5f.)

Der Älteste rollt die Schriftrolle wieder zusammen, küsst sie und trägt sie an ihren Platz zurück. Der Junge verschwindet mit der Lampe. Die beiden Männer bleiben im Dunkeln sitzen.

»Wer ist Elimelechs nächster Verwandter?«

Sebulon wiegt bedächtig den Kopf.

»Elimelechs Brüder sind gestorben. Du bist sein Vetter. Aber da ist noch Isaak, der Sohn des ältesten Bruders. Isaak ist der Löser von Elimelechs Gut. Du bist nicht dazu verpflichtet, mein Sohn.«

»Nein«, sagt Boas, »ich bin nicht verpflichtet. Isaak muss dann aber auch die Witwe des Kiljon zur Frau nehmen. Und wenn er das nicht tut?«

Sebulon schweigt. Nach einer Weile sagt er:

»Ich verstehe, Boas. Sie ist eine Fremde. Man erzählt, sie sei schön vor Gottes Angesicht, und Noomi ist geschlagen von dem Herrn. Du könntest sie als Sklavin erwerben.«

Boas steht auf. »Nein«, widerspricht er heftig, »sie ist die Witwe eines Verwandten. Wie könnte ich eine Sklavin aus ihr machen, wenn sie die Frau meines Bruders war! Hast du es nicht eben gelesen? ›Ihr Schwager soll zu ihr gehen, damit sein Name nicht ausgetilgt werde in Israel …‹ Das Gut Elimelechs gehört Noomi. Und wenn Noomi stirbt, gehört es Rut oder einem Kind der Rut.«

»Geh hin«, sagt Sebulon, »und tu nach dem Gesetz des Herrn.«

Boas verabschiedet sich und tritt auf die Straße. Es ist eine mondlose Nacht.

In Gedanken verloren geht der Mann durch Bethlehem. Er denkt an seinen Vetter Isaak. Der liebt Frauen. Man munkelt darüber. Freilich – er würde es nicht wagen, die Hand an Rut zu legen, solange sie bei Noomi lebt. Aber nach dem Gesetz steht es ihm frei, den Besitz Elimelechs auszulösen, und dann – wer sollte ihn daran hindern, Rut zur Sklavin zu machen? Der Gott Israels hatte wohl verboten, die Nachkommen Abrahams, des Vaters, und Isaaks und Jakobs zu versklaven. Aber die Töchter der Heiden kann sich jeder Israelit aneignen. Boas seufzt und bleibt stehen. Er sieht sich suchend um. Wohin nur hat er sich verirrt?

Stimmen dringen an sein Ohr! Frauen lachen miteinander. Irgendwo hinter einer Mauer sitzen sie ums Feuer.

»Rut, warum lachst du nicht mit uns?«, ruft jemand. Boas versteht die leise Antwort nicht. Er hört nur, wie eine andere helle Stimme sagt: »Schade, dass du keine Israelitin bist. Du könntest Boas heiraten. Er ist ein guter Mann – und reich!«

»Aber auch schon etwas beleibt, Rebekka! Mir wäre er zu alt.« Boas fährt zusammen. Drinnen lachen sie wieder. Er zieht sich den Mantel fester um die Schultern und eilt durch die Dunkelheit nach Hause. Mit einem ärgerlichen Fußtritt verjagt er die Hunde, die vor seiner Tür liegen, tritt durchs Tor und lässt den Mantel zu Boden fallen.

»Was ist los, Boas?«, fragt seine Mutter, die am Feuer sitzt und sich wärmt. »Wo warst du so lange? Suchst du dir endlich eine Braut unter den Töchtern Bethlehems?« Boas antwortet nicht und legt sich schlafen.

Rut ist still geworden. Sie fegt am Morgen das Haus und geht zum Brunnen. Sie backt Fladenbrote in der heißen Asche und besucht Zippora, um an der Mühle der Nachbarin ein wenig Getreide zu mahlen. Sie versteht auch mehr und mehr von dem, was die anderen reden. Aber sie schweigt dazu.

Manchmal – in der Hitze des Tages – tritt sie vor die Tür der Hütte und blickt zum Himmel.

»Was suchst du?«, fragt Noomi.

Rut sieht über die umliegenden Höhen, ihr Blick folgt jedem Vogel, der sich ins Blaue hinaufschwingt. Aber nach dem Adler schaut sie vergeblich aus. Geblendet vom Licht kehrt sie in den Schatten des Hauses zurück und beginnt, das Mehl zu kneten.

Abends geht Noomi oft zu einer der Nachbarinnen. Aber Rut mag sie nicht mehr begleiten und bleibt allein am Feuer sitzen. Dann kommen ihr die Abende mit Kiljon in den Sinn. Sie denkt an seine kräftigen, behaarten Arme, die der Löwe zerrissen hat. Sie denkt auch an den Engel mit dem Schwert vor dem verschlossenen Tor des Gartens.

Als sie eines Nachts so sitzt – Noomi bleibt lange aus –, da hört sie Mädchen singen, die wohl von einem Fest nach Hause kommen. Die Melodie hat sie schon von Kiljon gehört, aber erst jetzt versteht sie die Worte des Liedes:

»Wo ist denn dein Freund hingegangen,

o du Schönste unter den Frauen?

Wo hat sich dein Freund hingewandt?

So wollen wir ihn mit dir suchen.«

(Das Hohelied, Kap. 6, Vers 1)

Und unerwartet nah antwortet die Stimme eines jungen Mannes den Mädchen, die vor Schrecken und Entzücken aufschreien:

»Siehe, meine Freundin, du bist schön!

Siehe, schön bist du!

Deine Augen sind wie Taubenaugen

hinter deinem Schleier.

Dein Haar ist wie eine Herde Ziegen,

die herabsteigen vom Gebirge Gilead.«

(Das Hohelied, Kap. 4, Vers 1)

Rut lauscht, bis das Singen in den nächtlichen Straßen verklungen ist. Dann sinkt ihr Kopf müde und schwer auf die Arme herab, und die Tränen kühlen das glühende Gesicht.

*

Wie ein junges Mädchen tänzelt Noomi zur Tür herein. Sie lächelt verschmitzt. Ihr von Falten zerfurchtes Gesicht leuchtet, als sei sie verliebt.

»Rut«, ruft sie in das Haus. Es ist noch früh am Morgen, Rut ist mit Fegen beschäftigt. »Rut, ich bringe dir etwas, meine Tochter!«

Seufzend legt Rut den Reisigbesen in die Ecke und richtet sich auf. Sie betrachtet die seltsam verwandelte Schwiegermutter mit einem erstaunten Lächeln. Aber ihre Augen sind rot und verschwollen.

Aus einem alten Tuch nestelt Noomi umständlich eine kleine Flasche. »Hier, das ist für dich!« Sie gießt vorsichtig einige Tropfen auf Ruts Handrücken. Ein wundersamer Duft entströmt dem Öl. Rut sieht die Alte verwundert an.

»Komm, setz dich zu mir. Ich muss mit dir reden. Meinst du, ich bin ohne Grund jeden Abend in die Höfe der Nachbarn gegangen? Ich habe es für dich getan. Wollte ich doch wissen …«

Während sie nachdenklich die kostbaren Tropfen auf der rauen Hand verreibt, hört Rut der Schwiegermutter zu. Noomi spricht mit leiser Stimme, als habe sie Angst, man könne sie hören. Sie spricht eindringlich und lange, ein glückliches Lächeln liegt auf ihrem Gesicht.

»Du wirst es erreichen, Rut«, flüstert sie. »Lass den Besen stehen, und leg dich in den Schatten. Du musst ruhen, meine Tochter. Wenn die Sonne sinkt, dann wasche dein Gesicht und salbe deine Haut mit dem Öl. Ein Händler aus dem reichen Land jenseits der Wüste hat es gebracht.« Zärtlich nimmt sie die Hände der jungen Frau und streichelt sie.

»Du hast viel gearbeitet, Rut! Aber du sollst nicht umsonst gearbeitet haben. Du sollst nicht umsonst mit der alten Noomi durch die Wüste gewandert sein. Du sollst Ruhe finden und Frieden. Deine Haut soll wieder schön werden und glänzen wie das Wasser des Jordans im Mondlicht. Und jetzt geh! Ruh dich aus! Ich sage dir, wann du aufbrechen sollst.«

Sie nimmt Ruts Kopf fest in ihre Hände und küsst sie auf die Stirn. Dann steht sie auf und geht wieder auf die Straße.

Diese Nacht, Rut – nie wirst du sie vergessen! Wie oft wohl wirst du in den Jahren, die kamen und gingen, vor deinem Haus gestanden und zu den Sternen hinaufgeschaut haben, den verschwiegenen Zeugen deiner Liebe? Wie oft hast du still in dich hineingelächelt, wenn du dich zur Ruhe legtest an die Seite deines Mannes, der dich mit seinen Armen umschlang und mit seinem Mantel bedeckte?

Was für eine Nacht, Rut!

Da wird gefeiert. Boas und sein Gesinde haben hart gearbeitet. Die Ernte war gut. Nun ist gedroschen worden. Das Stroh liegt zusammengefegt, die Kornhaufen säumen den Platz, in der Mitte brennt ein Feuer. Der Krug mit Wein geht von Mund zu Mund. Lachen hört man weit übers Land bis hinein in die schlafende Stadt. Die Reste des Hammels hängen am Spieß, das Fett tropft auf den Boden. Alle wissen: Heute feiert Boas. Da wird keiner abgewiesen.

Auch die verschleierte Frau, die ein wenig entfernt in der Dunkelheit steht, hat aus dem Krug getrunken. Einer reicht ihr die Schale mit den gerösteten Körnern, und sie isst. Sie isst, und sie schweigt.

Langsam werden alle müde. Die Frauen kehren in die Stadt zurück. Die Knechte schnarchen im Stroh. Auch Boas geht nicht nach Hause. Er ist ein wenig betrunken. Über ihm tanzen die Sterne. Noch einmal schaut er sich um: Sein Reichtum liegt zu Bergen gehäuft auf der Tenne. Das Feuer verlischt. Ein paar Schatten huschen noch davon. Er erkennt niemanden mehr, geht und legt sich hinter einen Kornhaufen, um zu schlafen. Mit seinem Mantel deckt er sich zu. Es wird kühl. Im Schutz der mondlosen Finsternis huscht Rut heran. Lautlos lässt sie sich zu den Füßen des Schlafenden nieder. Der Duft des Öls, mit dem sie ihre Haut gesalbt hat, durchdringt das Gewand und verzaubert die Nacht, die anders ist als alle Nächte vorher.

Einen Zipfel des Mantels hebt sie auf und zieht ihn über ihre Brust. Der Schleier fällt zur Seite. Das lange schwarze Haar deckt die Füße des Mannes zu. Der rührt sich im Traum.

Schläfst du, Rut? So unbequem, auf dem nackten Boden und so voller Erwartung? Kannst du schlafen, oder zählst du die Sterne über dir?

Still ist es auf den Feldern bei Bethlehem. Ahnungsvoll schweigt der Wind in den Bäumen, die Vögel erwarten in den Nestern einen neuen Morgen, der anders sein wird als je ein Morgen zuvor.

Und keiner wartet vergeblich.

Vielleicht bist du gerade in einen leichten Schlaf gefallen, als Boas sich rührt.

Er fährt auf. Sein Kopf ist ganz klar, aber ein seltsam angenehmer Duft umnebelt ihn. Die Füße sind warm und weich eingehüllt. Er tastet mit der Hand – und hält den Atem an. Als er sich herabbeugt, erkennt er die schimmernde Haut einer Frau. Seine Hände streichen durch ihr Haar, über ihre Haut. »Wer bist du?«, flüstert er in die Dunkelheit.

»Ich bin Rut, deine Magd.«

Er glüht wie im Feuer.

»Lege deinen Mantel über mich«, bittet Rut, »denn du bist mein Löser.«

»Ja«, sagt er und seufzt leise.

»Der Herr segne dich, Rut, denn du hast alles aufs Spiel gesetzt, um mir deine Liebe zu zeigen. Du bist nicht zu den jungen Männern gegangen, die dich auf den Tanzplatz geführt hätten. Du bist zu mir gekommen.«

Er lauscht. Aber die Nacht birgt ihr Geheimnis.

»Ja, Rut, ich bin dein Löser! Aber da ist noch ein anderer: Isaak. Wenn er dich will, muss ich dich lassen. Doch fürchte dich nicht, ich werde alles tun, was ich nur tun kann. Und nun bleib liegen, bis es Morgen wird. Schlafe, ich werde wachen.«

Seine Hand fährt noch einmal liebkosend durch ihr Haar. Dann legt Boas sich nieder, und du, Rut, schläfst, schläfst, bis der erste Hahn aus der Stadt kräht. Du schläfst zu seinen Füßen, und er wacht, und er sinnt in die Nacht. Als die Sterne erblassen, weiß er, was er tun wird.

Lautlos stehst du auf, willst dich davonschleichen, ehe die Knechte erwachen. Aber da ist Boas schon neben dir.

»Nimm den Schleier ab!«

Du nimmst den Schleier, und dein Haar fällt herab. Er greift mit beiden Händen in den Haufen Gerste und füllt dir das Tuch, bis es so schwer ist, dass du es kaum mehr tragen kannst. »Nimm von meinem Reichtum, und gib deiner Schwiegermutter. Du sollst nicht mit leeren Händen nach Hause kommen, wenn du bei Boas warst!«

Gemeinsam bindet ihr das Tuch zusammen, und er lädt es dir auf den Rücken.

»Nun geh, Rut!«

Es dämmert. Im Osten verkündet ein schmaler Streif den Aufgang der Sonne.

Zwei Gestalten – Schatten, die niemand erkennt – bewegen sich auf verschiedenen Wegen der Stadt zu. Die eine schnell, mit festem Schritt, und die andere langsam unter einer schweren Last.

In dieser Nacht hat Noomi nicht geschlafen. Als es dämmert, geht sie hinaus auf die Straße und schaut sich suchend um. Dann kehrt sie wieder zurück ins Haus. Sie versucht, Feuer zu machen, aber ihre Hände zittern. Wieder läuft sie hinaus – und stößt fast mit Rut zusammen, die aufatmend ihre Last zu Boden sinken lässt.

»Rut – wie steht es? Was hat er gesagt? Was schleppst du da?«

»Gerste, Mutter. Er hat sie mir aufgeladen.«

»Und?«

»Er wird gehen und mich auslösen, wenn …«

»Wenn?«

»Wenn der andere nicht will – Isaak.«

»Oh, es wird gut ausgehen«, jubelt Noomi, »ich weiß es!« Gemeinsam schleppen sie das Korn ins Haus. Der Himmel über den Bergen färbt sich glutrot.

In der Stadt erwacht das Leben. Blökende Schafe werden die Straße entlanggetrieben, die Frauen gehen zum Brunnen. Die Männer machen sich auf den Weg zu ihren täglichen Geschäften, Sebulons Magd lässt den Eimer in den Brunnen hinab und flüstert es Zippora zu. Zippora sagt es Lea. Lea spricht Rebekka an: »Hast du schon gehört? Boas hat die Ältesten zusammengerufen. Sie versammeln sich im Tor.«

»Worum geht es denn?«

Achselzucken.

»Hat Boas nicht gestern gedroschen? Warum sitzt er im Tor?« Die Frauen gehen ihren Weg. Ein paar Kinder schleichen sich die Mauer entlang bis an den Bogen, unter dem sich die Männer versammeln. Die Sonne steigt. Durch das Tor weht noch ein kühler Wind. Sie warten.

Isaak kommt. Er ist auf dem Dreschplatz gewesen und hat Anweisungen gegeben, weil auch er dreschen will. Als er unter das Tor tritt, ruft ihm Boas zu:

»Setz dich zu uns, Isaak! Wir müssen miteinander reden.« Ein wenig widerwillig lässt Isaak sich nieder. Die Männer schweigen eine Weile. Endlich erhebt sich Boas.

»Höre, Isaak, mein Bruder. Noomi ist heimgekehrt. Die Äcker ihres Mannes Elimelech sind verkauft. Mose hat uns geboten, das Gut unseres Bruders auszulösen. Willst du es tun, so kaufe es hier vor den Bürgern und Ältesten für Noomi zurück. Wenn du es aber nicht auslösen willst, dann sag es mir. Ich bin nach dir der nächste Verwandte.«

Boas setzt sich. Isaak sieht vor sich auf den Boden. Seine fleischigen Hände bewegen sich, als rechne er. Auf den Feldern vor der Stadt beginnt eine Lerche ihren Gesang. Im Tor ist es atemlos still.

»Ich will’s lösen«, sagt Isaak.

Boas zuckt kaum merklich zusammen.

Aber er beginnt noch einmal zu sprechen, leise diesmal und im Sitzen. Die anderen beugen sich vor, um besser hören zu können.

»Das Gesetz des Mose gebietet, dass du auch die Witwe deines Bruders zur Frau nimmst. Kiljon ist tot. Noomi kam mit ihrer Schwiegertochter zu uns. Wirst du Rut zu deiner rechtmäßigen Frau nehmen und dem Verstorbenen Nachkommen schaffen aus dem Schoß der Witwe?«

Isaak seufzt. Er blinzelt ins Licht und verzieht ein wenig den Mund, als er zu sprechen beginnt:

»Ich habe drei Söhne, und das Erbe, das mein Vater mir ließ, war nicht groß. Sollen meine Söhne mit den Kindern der Fremden erben? Nein, Boas, mein Besitz ist zu klein. Nimm du, was du lösen willst. Und die Fremde dazu.«

Isaak steht auf. Auch die anderen Männer erheben sich, bilden dichtgedrängt einen Kreis um ihn und Boas. Etwas mühsam bückt sich Isaak und löst seinen Schuhriemen. Boas streckt die Hand aus. Zögernd gibt Isaak ihm den Schuh und wendet sich zum Gehen. Die anderen treten zur Seite und bilden eine Gasse.

Isaak geht in sein Haus. Im Hof erwarten ihn die Söhne. Sie blicken finster in sein Gesicht.

»Macht euch an die Arbeit!«, ruft er ihnen zu. »Was steht ihr hier dumm herum?«

Die Frau steckt den Kopf aus dem Schlafgemach.

»Um euretwillen habe ich verzichtet«, schnaubt Isaak. Seine Frau kichert: »So wirst du dich mit der Schönheit deines Weibes begnügen müssen.«

Mit schweren Schritten verlässt Isaak den Hof und geht über die Straße zum Marktplatz. Dort findet er Ibrahim, den edomitischen Händler. Er spricht mit ihm über die Geschäfte und den schlechten Gang der Zeiten.

Im Tor ist Boas – mit dem Schuh in der Hand – stehengeblieben.

»Ihr habt es gehört«, sagt er um sich blickend, »und ihr seht den Schuh Isaaks! Das Zeichen, dass er mir sein Recht abtritt. Ihr habt gehört, dass ich für Noomi alles kaufe, was ihrem Mann und ihren Söhnen gehört hat. Ihr seid Zeugen, dass ich verspreche, Rut zur Frau zu nehmen, damit sie dem Elimelech Nachkommen zur Welt bringe, die seinen Namen tragen. Ihr habt es gehört.«

Alle nicken.

Aus dem Kreis tritt Sebulon und hebt die Hand.

»Wir haben es gehört, Boas. Der Herr segne die Frau, die in dein Haus kommt, wie er Lea und Rahel gesegnet hat, die Mütter unseres Volkes. Deine Familie soll groß werden, und deine Nachkommen sollen zahlreich im ganzen Land wohnen.«

Boas neigt den Kopf unter dem Segensspruch des Ältesten. »Ich danke dir, Sebulon! Ich danke euch, meine Brüder!«

Sie ziehen ihre Gürtel fest, binden die Tücher um die Köpfe, und jeder geht seines Weges.

Im Fortgehen schaut sich Sebulon um. Hinter einem Stein lugt das Gesicht eines Mädchens hervor.

»Komm heraus, Sara«, flüstert er, »lauf zu Noomi, und erzähl ihr alles, was du gehört hast. Aber sei schnell, dass niemand vor dir da ist.«

Das Mädchen zeigt die weißen Zähne und wirft den Kopf lachend zurück. Wie eine Gazelle schießt sie davon, an den Männern vorbei, die sich in den schmalen Straßen verteilen. So bleibt Boas als einziger unter dem Torbogen zurück. Den Schuh birgt er in dem Ärmel seines Gewandes. Nach einem Augenblick tritt er vor das Tor. Er schaut zum Himmel und bewegt die Lippen. Dann verneigt er sich und macht sich auf den Weg nach Hause.

»So nahm Boas die Rut, dass sie seine Frau wurde.« (Rut, Kap. 4, Vers 13)

Wie anders, Rut, gehst du nun durch die Straßen von Bethlehem! Wie aufrecht ist dein Gang, wie hell deine Stimme. »Da geht Rut, die Frau des Boas …«

Die Mägde kichern nicht mehr. Und Pinhas, der Knecht, neigt sich vor dir. Einen goldenen Reif legt Boas um deinen Arm, und du hebst den Blick lächelnd zu ihm, ohne Angst.

Und Noomi?

Ihre Hütte wird wieder aufgebaut; die Knechte des Boas arbeiten daran. Aber Noomi wohnt nicht mehr dort. Sie hat ihr Lager neben der Mutter des Boas. Morgens bringen die Mägde den Frauen das Wasser, und abends wärmt sie sich an einem Feuer, das sie nicht anzünden musste.

Immer noch ist es still im Haus des reichen Mannes. Alle warten. Ruts Gang wird fester. Ihr Lächeln sicherer. Mit der Hand streicht sie über ihren Leib. Und sie küsst Noomi auf die Stirn: »Warte nur, Mutter, bald …«

Und Boas sieht zum Himmel. Über dem Gebirge Juda ballen sich schwarze Wolken zu Türmen und Mauern.

»Es kommt.«

Die trockene Erde lechzt nach Wasser. In der Nacht öffnet sich die Scholle weit dem herabströmenden Regen. Der Acker wird feucht und schwer. Boas lässt das Saatgut herausbringen. Die Arbeit beginnt. Aber Rut bleibt im Haus.

*

Die Saat geht auf. Das Tal grünt. Wind treibt sanfte Wellen über das Feld. Der Halm wiegt sich, und das Gras blüht.

Noomi, was jubelst du?

Ist es deine Saat?

Am Brunnen bleiben die Krüge stehen, halb gefüllt oder noch ganz leer. Ein Gesang erfüllt die Luft. Noomi, die Alte, steht im Hof des Boas und singt. Nachbarinnen drängen sich durch die Tür.

Noomi, was ist mit dir?

Bist du nicht mehr bei Sinnen?

»Ich will dem Herrn singen,

denn er hat eine herrliche Tat getan.«

(2. Mose, Kap. 15, Vers 21)

Es wird still auf dem Hof und auf der Straße. Aus dem Schatten des Hauses tritt Debora, die Hebamme. In den Armen hält sie das Kind.

»Setz dich, Noomi, dass du den Sohn halten kannst, und tanz nicht umher wie ein Mädchen beim Reigen.«

Gehorsam setzt sich Noomi in das Licht der Morgensonne, der Eingangstür gegenüber, und in die ausgebreiteten Arme nimmt sie das Kind. Die Frauen verneigen sich still. Zippora beginnt das Dankgebet.

»Gelobt sei der Herr, der Gott Israels,

der dich aus Ägypten geführt hat.

Gelobt sei der Herr,

der dir einen Löser geschenkt

und dich nicht verlassen hat.

Höre, Israel, der Herr ist unser Gott …« (5. Mose, Kap. 6, Vers 4)

Schweigend stellt Boas sich zu den Frauen. Sein Gesicht leuchtet.

»Noomi, gesegnet bist du,

denn Gott hat dein Rufen erhört.

Er hat dir einen Sohn geschenkt,

der dich im Alter umsorgen wird.

Deine Schwiegertochter hat ihn geboren,

die dir mehr wert ist als sieben Söhne.« (Rut, Kap. 4, Verse 14f.)

Am Eingang entsteht ein Gedränge. Man führt den alten Isai heran. Er ist blind geworden in diesem Jahr, aber er hat das Gesicht zum Himmel gehoben. »Zeigt mir das Kind!«

Sie führen ihn zu Noomi. Mit der rauen, verkrümmten Hand tastet er nach dem kleinen Kopf.

»Ich sehe«, ruft er, »ich sehe einen Stern aufgehen über Bethlehem. Boas, du bist ein Gesegneter des Herrn.«

Mit Tränen in den Augen umarmt Boas seinen Knecht.

»Geh, Isai, ruf die anderen. Heute wollen wir ein Fest feiern, denn an diesem Tag hat mir die Frau, die ich liebe, einen Sohn geboren.«

Das Kind beginnt zu weinen.

Da erscheint, gestützt auf den Arm der Debora, Rut im Eingang des Hauses. Sie ist noch bleich von den Anstrengungen der Nacht. Sie sieht auch nicht in die Gesichter der Menschen, die sich um sie drängen. Sie beugt sich zu Noomi herab und nimmt den Sohn an die Brust. Ihre schwarzen Augen wandern über den weiten Himmel.

Täuscht dich das blendende Licht, Rut, oder kreist dort wirklich mit mächtigen Schwingen ein Adler über den Höhen von Bethlehem?

Zum Nachlesen:

Das Buch Rut, Kap. 1-4;

5. Mose, Kap. 26, Verse 5-10; 5. Mose, Kap. 26, Vers 13; 2. Mose, Kap. 15, Vers 2; 5. Mose, Kap. 25, Verse 5f.; Das Hohelied, Kap. 6, Vers 1; Das Hohelied, Kap. 4, Vers 1; 2. Mose, Kap. 15, Vers 21; 5. Mose, Kap. 6, Vers 4.

Wie eine Lilie unter Dornen

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