Читать книгу Die Schrecken des Pan - Ursula Neeb - Страница 9
Оглавление»Der Beruf des Irrenhauswärters hat in unserer Familie gewissermaßen Tradition«, erklärte die Krankenschwester Maureen Morgan mit grimmigem Lächeln und trank einen Schluck Tee, um munter zu bleiben, denn die Nachtschicht war noch lange nicht zu Ende. »Mein Vater war dreißig Jahre lang Wärter im Bethlem Royal Hospital in London – in der Kriminalabteilung für Frauen.«
»Oh Gott, da hatte er ja das große Los gezogen, der Arme! Ein harter Job. Da sind Sie hier aber besser aufgehoben, Maureen, obgleich unsere Patienten auch sehr anstrengend sein können.« Doktor Sandler rollte mit den Augen und nahm noch ein rosa glaciertes Petit Four vom Kuchenteller.
In diesem Moment ertönte das durchdringende Läuten einer Patientenglocke in dem behaglich eingerichteten Salon, der dem Personal des Holloway-Sanatoriums in Virginia Water als Aufenthaltsraum diente.
»Wem sagen Sie das?«, seufzte die junge Frau mit den rotblonden, modisch geschnittenen Haaren unter der weißen Schwesternhaube schicksalsergeben und erhob sich aus ihrem Sessel. »Das wird doch hoffentlich nicht wieder Sir Alfred sein!«
Als sie auf den langen Flur hinaustrat, an dessen Seiten sich zahllose Zimmerfluchten erstreckten, bestätigte sich ihre Befürchtung. Das Läuten kam aus einer Suite am Ende des Gangs, die von Sir Alfred de Kerval bewohnt wurde, der sie schon den ganzen Abend auf Trapp hielt. Obwohl Maureen erst 18 Jahre alt war, hatte sie ausreichend Erfahrungen mit jedweder Skurrilität und Schrulligkeit ihrer Patienten auf der Entgiftungs-Station des luxuriösen Holloway-Sanatoriums. Die Anstalt war 1873 gegründet worden, um seelisch kranken Menschen aus der Oberschicht die Möglichkeit zu geben, in einer Umgebung zu genesen, die keine Wünsche offen ließ. Doch Sir Alfred, ein rundlicher Herr im Schottenrock, der eine schwarze Perücke und eine Brille mit dunklen Gläsern trug, war noch absonderlicher als die anderen illustren Personen, die sich im Seitenflügel des weitläufigen, schlossartigen Gebäudes von ihren mannigfaltigen Süchten entwöhnten.
Maureen klopfte an die Tür und trat ein. »Was kann ich für Sie tun, Sir Alfred?«
Der korpulente Mann mit dem aufgedunsenen Gesicht lag auf einer Ottomane und stöhnte gequält. »Der Odem unserer Dame könnte mir helfen, Fairy Queen, sonst mache ich heute wieder kein Auge zu.«
»Tut mir leid, Sir Alfred, aber es gibt keinen Äther«, beschied Maureen dem Patienten freundlich, aber bestimmt. Ihr war inzwischen hinlänglich bekannt, was sich hinter Sir Alfreds kryptischer Umschreibung verbarg. In dieser Hinsicht waren Süchtige alle gleich: Sie wollten so viele Drogen von ihr erhalten wie möglich. »Ich muss Sie wohl nicht daran erinnern, dass Sie unter Lähmungsgefühlen, Asthma und Kurzatmigkeit leiden. Dass Sie Ihre Krankheiten mit Kokain, Opium, Morphium, Heroin und Äther zu behandeln pflegten, hatte bereits fatale Folgen für Ihre Gesundheit.«
»Sie haben noch was vergessen, Fairy Queen, nämlich Haschisch, Wein und Schnaps. Dann bringen Sie mir wenigstens einen Cognac«, quengelte der Mann im Schottenrock wie ein unleidliches Kind. Den Kilt trug er Tag und Nacht, und das schon seit fünf Tagen, denn so lange war er jetzt hier.
Sein Gesicht glänzte vor Schweiß und Maureen, die ihm den Puls fühlte, bemerkte, dass auch sein Körper schweißgebadet war. Er litt unter schweren Entzugssymptomen. Sie hatte ihm vorhin schon 300 mg Morphinsulfat verabreicht und mehr war nicht drin, so leid es ihr tat – und das machte sie ihm auch unmissverständlich klar. Als sie anschließend seinen Blutdruck prüfte und feststellte, dass er deutlich erhöht war, ließ sie sich jedoch erweichen und eilte zum Schwesternzimmer.
»190 zu 140«, sagte sie zu Doktor Sandler, der ihr aus dem Salon entgegenkam.
»Dann geben Sie ihm meinethalben ein Amlodipin, aber sonst kriegt er nichts mehr. Warten Sie, ich hole es!« Der dunkelhaarige Psychiater mit dem markanten Gelehrtengesicht, der auf der Entwöhnungsstation als Assistenzarzt arbeitete, betrat gemeinsam mit Maureen das Schwesternzimmer und machte sich am Medikamentenschrank zu schaffen.
Als er Maureen das Porzellanschälchen mit den Tabletten reichte, berührte er flüchtig ihre Hand. Sie erschauerte und spürte, wie sie rot wurde. Schon seit geraumer Zeit hegte sie Gefühle für den Psychiater, die sie jedoch geflissentlich zurückhielt – zum einen, weil Liebesbeziehungen zwischen den Angestellten des Sanatoriums strengstens verboten waren, zum anderen, da sie mutmaßte, dass sich der aufstrebende junge Arzt, der noch eine vielversprechende Karriere vor sich hatte, bestimmt nicht mit einer einfachen Krankenschwester abgeben würde. Obgleich »Joe«, wie sie ihn im Stillen zu nennen pflegte, nicht die Spur von Standesdünkel verströmte und sich ihr gegenüber stets freundlich und kollegial verhielt. Das traf allerdings auch auf die anderen Kollegen der Entgiftungsstation zu. Lediglich der Anstaltsleiter, Professor Sutton, ein Nachkomme des Gründers und Multimillionärs Thomas Holloway, strahlte die Arroganz der britischen Oberschicht aus.
Die pfiffige Maureen, die aus einfachen Verhältnissen stammte, hatte ihre Schäfchen gut im Griff und war bei Patienten und Pflegepersonal gleichermaßen beliebt. Auch von den Anstaltsärzten wurde die Schwester, die selbst in brenzligen Situationen einen kühlen Kopf bewahrte, wegen ihres angenehmen Wesens geschätzt. Obgleich sie noch jung war, verfügte sie schon über eine erstaunliche Reife und Charakterstärke – für die sie einen hohen Preis bezahlt hatte. Als Jugendliche war sie in schlechte Kreise geraten und erheblich ins Straucheln gekommen. Doch die Hilfe ihrer Eltern und ihr eigener unbändiger Lebenswille hatten ihr aus der Krise herausgeholfen. Sie hatte im London Hospital eine Ausbildung zur Krankenschwester gemacht, die sie mit Bravour abgeschlossen hatte, und war danach ins Holloway-Sanatorium gewechselt, wo sie in der Pflege seelisch kranker Menschen ihre große Berufung gefunden hatte.
»Die andere Tablette ist kein Barbiturat, sondern lediglich ein Placebo«, riss die Stimme des Arztes Maureen aus ihrer Versonnenheit.
»Gut so«, erwiderte sie zustimmend, »denn der eiserne Grundsatz der Suchtmedizin lautet ja: so viel wie nötig und so wenig wie möglich. Und ihre Wirkung wird die Pille trotzdem nicht verfehlen.« Sie hatte es schon häufiger erlebt, dass eine harmlose Milchzuckerpastille bei Patienten die gleiche beruhigende Wirkung erzielen konnte wie ein Sedativ, das den ohnehin vom Drogen- und Alkoholabusus geschwächten Körper noch zusätzlich belastete.
Doktor Sandler lächelte verschwörerisch. »Sie sagen es, meine Liebe – und halten Sie sich den alten Schwerenöter bloß auf Abstand!«
»Das dürfte schwierig werden«, flachste Maureen grinsend. »Ich möchte ihn nämlich dazu überreden, endlich mal seinen Schottenrock abzulegen, eine Dusche zu nehmen und ein frisches Nachthemd anzuziehen, denn das hat er bitter nötig«, fügte sie mit gesenkter Stimme hinzu und nahm ein weißes Krankenhemd aus dem Wäscheregal des Schwesternzimmers. »Residiert in einer Luxus-Suite und hat noch nicht mal einen anständigen Pyjama dabei«, mokierte sie sich kopfschüttelnd, während sie über den chinesischen Seidenläufer im Flur lief.
Sie goss dem Patienten etwas Wasser in ein Glas und bat ihn, die Blutdrucktablette zu nehmen. Dann platzierte sie das Nachthemd auf der Lehne der Ottomane und fügte hinzu, dass Sir Alfred völlig verschwitzt sei und daher ein Bad oder eine Dusche ratsam wäre.
»Danach ziehen Sie sich ein frisches Nachthemd über, legen sich ins Bett, nehmen das Barbiturat und schlafen wie ein Baby!« Sie schenkte Sir Alfred, der ohnehin von ihr entzückt war und sie immer seine »Feen-Königin« nannte, ein strahlendes Lächeln.
»Das mach ich aber nur, wenn Sie mich einseifen«, säuselte er anzüglich.
Maureen musterte ihn resolut. »Das schaffen Sie schon alleine, Sir Alfred! Ich lass Ihnen aber gerne Wasser in die Wanne und lege alles zurecht, was Sie brauchen.«
Maureen, die sich auf einem Sessel am Kamin niedergelassen hatte, nachdem ihr Patient im Badezimmer verschwunden war, um ihm zur Seite zu stehen, falls er Hilfe brauchte, mochte ihren Augen nicht trauen, als Sir Alfred in einem goldverbrämten schwarzen Seidenkaftan, der mit einem goldenen Pentagramm und anderen okkulten Symbolen bestickt war, aus der Badezimmertür trat.
»Sie sehen ja aus wie ein Zauberer«, entrang es sich ihr unwillkürlich.
»Magier wäre treffender«, konterte Sir Alfred, der sich auch der dunklen Brille und Perücke entledigt hatte. Dadurch kam seine Kahlköpfigkeit zum Vorschein und die dunklen, glasigen Augen, die Maureen eindringlich fixierten. »Und – erkennen Sie mich?«
Maureen zuckte nur mit den Achseln, was Sir Alfred zu enttäuschen schien.
»Lesen Sie denn keine Zeitungen? Ich bin der gefährlichste Mann der Welt, der Zauberer der Verderbtheit.«
Erst jetzt dämmerte es Maureen, wen sie vor sich hatte. »Sie sind Aleister Crowley, über den die Presse die ganze Zeit diese schlimmen Hetzartikel schreibt«, äußerte sie verblüfft. »Ich hätte Sie fast nicht erkannt. Sie sehen so … so harmlos und gutartig aus, ganz anders als auf den Zeitungsfotos.«
Ehe sie sich’s versah, ergriff der Okkultist ihre Hand und küsste sie. »Mein gutes Kind, Sie haben mich erkannt! Im Grunde meines Wesens bin ich harmlos und gutartig. Und dass Sie diese Zeitungsschmierereien als das erkennen, was sie sind, nämlich bösartiges Machwerk, zeigt mir einmal mehr, wie klug Sie sind. Sie durchschauen die schnöde Welt, obwohl Sie noch so jung sind. Da ist eine ganz eigene und mächtige Kraft in Ihnen, das habe ich von Anfang an gespürt. Und es kommt auch nicht von ungefähr, dass ich Sie ›Fairy Queen‹ nenne – was nicht alleine an ihrer feenhaften Anmut liegt, sondern auch daran, dass sie in der Lage sind, den Dingen auf den Grund zu schauen. Deswegen habe ich mich auch entschlossen, Ihnen meine wahre Identität zu offenbaren, die sonst nur dem Anstaltsleiter und den behandelnden Psychiatern bekannt ist. Eine Vorsichtsmaßnahme, die leider unumgänglich war. Denn dank Queen Bettys Schandmaul, das das Blaue vom Himmel herunter lügt und alles verdreht, was verdreht werden kann, bin ich zum meistgehassten Mann Englands aufgestiegen. Auch hier in dieser Luxus-Klapse gibt es bestimmt einige, die mich lynchen würden, wenn sie wüssten, wer ich bin.«
»Von mir erfährt keiner was«, sicherte ihm Maureen zu.
Sein Blick wirkte mit einem Mal gehetzt und er schaute immer wieder hektisch zur Tür. »Ich weiß, dass ich Ihnen trauen kann, Fairy Queen«, erklärte er mit gedämpfter Stimme, »deswegen möchte ich Ihnen auch etwas zeigen.« Er verschwand in seinem Schlafzimmer und kehrte mit einem Kuvert zurück, dem er mit bebenden Händen einen Zeitungsartikel entnahm, den er Maureen zeigte.
»Aleister Crowley – Ein zweiter Jack the Ripper«, stach ihr die fette Schlagzeile ins Auge. In dem Artikel aus dem John Bull wurde reißerisch über die Leichenfunde in Palermo berichtet und dass die italienische Polizei Crowley verdächtigte, die Morde begangen zu haben.
Maureen schüttelte unwirsch den Kopf. »Aber das ist doch gar nicht mehr aktuell! Im Daily Telegraph war vor zwei Tagen zu lesen, dass Sie für die Morde gar nicht infrage kommen, da Sie für die Tatzeit ein wasserdichtes Alibi haben. Ich habe es selbst gelesen.«
»Natürlich kann ich das nicht gewesen sein, denn als die Morde begangen wurden, war ich ja schon hier im Holloway-Sanatorium. Der Anstaltsleiter hat mich informiert, dass er das Scotland Yard gegenüber bestätigt hat. Nein, darum geht es gar nicht.« Crowley war so erregt, dass ihm Schweißperlen übers Gesicht rannen. »Der Artikel wurde mir heute mit der Post zugestellt. Was ich damit sagen will, ist – es muss durchgesickert sein, dass ich hier bin. Irgendjemand da draußen weiß es und hat mir das geschickt.«
Maureen musste ihm zwar recht geben, dennoch war ihr daran gelegen, den aufgelösten Mann zu beruhigen. »Wer immer das auch gewesen sein mag, der Ihnen diesen üblen Streich gespielt hat, ich kann Ihnen jedenfalls versichern, Mr Crowley, bei uns auf der Station sind Sie so sicher wie in Abrahams Schoß. Kein Außenstehender oder Unberufener hat hier Zutritt, dafür sorgt schon unser Pförtner. Sie brauchen sich also keine Sorgen zu machen, Sir, und können sich beruhigt zu Bett begeben.« Sie reichte Crowley das vermeintliche Barbiturat, welches er mit einem Schluck Wasser hastig herunterwürgte.
»Das kann ich jetzt auch gut gebrauchen«, krächzte er heiser, »denn ich sage es Ihnen unumwunden, Fairy Queen: Ich habe panische Angst. Bitte helfen Sie mir und lassen Sie mich nicht alleine«, stammelte er und umklammerte angstvoll Maureens Hand.
Sie sagte ihm in besänftigendem Tonfall, dass derlei Angstzustände beim Entzug häufiger auftreten würden, das würde sich aber wieder legen und ihm könne gar nichts passieren. Anschließend geleitete sie ihn zu seinem Bett, wo sie fürsorglich die Decke über ihn breitete und ihm wie einem Kind versprach, bei ihm zu bleiben.
»Wenn es Ihnen guttut, über Ihre Ängste zu sprechen, dann tun Sie das ruhig, denn das kann durchaus heilsam sein.«
»Danke, mein Engel!«, stieß der Okkultist unter Tränen hervor. »Aber ich weiß gar nicht, ob ich deine reine, unschuldige Seele überhaupt mit solchen Abgründen belasten soll.« Er war Maureen gegenüber nun noch vertraulicher geworden.
»In meinem Beruf ist mir nichts Menschliches fremd, Mr Crowley«, entgegnete sie. »Also sagen Sie ruhig, was Sie auf dem Herzen haben.«
»Ich … ich habe einen ganz schrecklichen Verdacht. Ich glaube nämlich, dass er mir den Artikel geschickt hat.« Der Magier gab ein peinvolles Wimmern von sich und war kaum noch in der Lage, weiterzusprechen.
Maureen musterte ihn mit wachsender Anspannung, da sie zunehmend den Eindruck gewann, dass sich in seinem Bewusstsein Wahn und Wirklichkeit mischten, was beim Drogen- und Alkoholentzug keine Seltenheit war. »Wen meinen Sie denn mit ›er‹?«, erkundigte sie sich.
»Seinen richtigen Namen kenne ich nicht. Er kam am 13. Mai 1922, also vor knapp einem Jahr, zu meiner Abtei nach Cefalù auf Sizilien. Ich erinnere mich noch genau an ihn: ein großer, muskulöser Mann mit einem blassen Dutzendgesicht unter dem Strohhut und einem eleganten, gut geschnittenen hellen Leinenanzug. Er sah aus wie ein britischer Aristokrat in der Sommerfrische – und das war er wohl auch. Er hatte ausgezeichnete Manieren, lüftete vor mir den Hut wie ein Gentleman und stellte sich als John Smith vor. Gleichzeitig räumte er ein, dass es sich dabei um ein Pseudonym handele, da er mir aus Gründen der Diskretion seinen wirklichen Namen nicht nennen könne, wofür er mich aufrichtig um Entschuldigung bat. Ich ließ ihn wissen, dass in der Abtei von Thelema weltliche Namen ohnehin nichts bedeuteten und jeder Adept von mir einen magischen Namen erhalte, der wahrhaftiger zu ihm passe. Mit großer Ehrfurcht berichtete mir der junge Mann, er habe an der Front als Militärarzt gedient und zu dieser Zeit sei ihm ein Artikel aus dem International in die Hände gekommen, aus der Feder von mir, dem großen Meister der Magie. Das Gesetz von Thelema, ›Tu was du willst, soll sein das einzige Gesetz‹, habe ihn so tief beeindruckt, dass er daraufhin alle meine Schriften gelesen habe und zu mir gereist sei, um mein Adept zu werden. Ich habe sofort gemerkt, dass mit ihm etwas nicht stimmte, doch ich habe nicht genau gewusst, was. Da ich aber spürte, wie viel ich ihm bedeutete, willigte ich ein, ihn als Schüler aufzunehmen. Noch am gleichen Tag sagte ich ihm offen ins Gesicht, dass er unter einer höllischen Verkrüppelung leide, woraufhin er mir anvertraute, dass er bestialische Kopfschmerzen habe und unentwegt Stimmen höre. Er hoffe sehnlichst darauf, dass es mir als seinem Herrn und Meister gelingen möge, sie zum Schweigen zu bringen. Zunächst exerzierte ich mit ihm Stellungsund Atemübungen des Yoga, vollzog an ihm verschiedene Bannungsrituale und hielt ihn dazu an, Opium zu rauchen und ein magisches Tagebuch zu führen, worin er Träume, zufällige Gedanken und Stimmungen aufzeichnen und mir zur Analyse aushändigen sollte. ›Der dunkle Drang in mir schreit nach Verwirklichung, ich kann an nichts anderes mehr denken‹, schrieb er. Ich deutete dies als Signal, dass es an der Zeit war, seine Sexualität auszuleben, da ich die augenscheinliche Gehemmtheit des Mannes als das eigentliche Problem ansah. Also zelebrierte ich mit ihm und meiner ersten Konkubine Alostrael eine Orgia. Die Riten verliefen wenig erfolgreich – obwohl meine scharlachrote Frau ihn mit der Hand stimulierte, bekam er keine Erektion.«
Maureen bemühte sich zwar um Gelassenheit, mochte ihre Abneigung aber nicht verhehlen. »Ich kann nicht behaupten, dass ich derartige Schilderungen besonders ergötzlich finde, zumal sie auch ein Stück weit bestätigen, was in den Skandalblättern über Sie zu lesen war, Mr Crowley«, sagte sie kühl und erhob sich von ihrem Stuhl mit der Erklärung, sie habe auch noch andere Patienten zu versorgen. Sie verspürte wenig Lust, noch weiteren drastischen Anekdoten aus Crowleys magischem Schaffen zu lauschen.
Doch ihr exzentrischer Patient hielt sie zurück. »Bitte, Fairy Queen, lass mich nicht alleine!«, flehte er verzweifelt. »Er geht mir nicht mehr aus dem Sinn und ich habe die schlimmsten Alpträume.«
Da es offenkundig war, in welcher Bedrängnis sich Crowley befand, beschloss Maureen, ihm in seiner Krise beizustehen. Sie tupfte ihm behutsam die Schweißperlen von der Stirn und ließ sich wieder auf dem Stuhl an der Kopfseite des Bettes nieder.
Wenn seine Angstzustände schlimmer werden, muss ich Doktor Sandler Bescheid sagen, sinnierte sie. Aber vorher würde sie selber versuchen, die Lage in den Griff zu bekommen – zumal sie zu Crowley einen guten Draht hatte. Einen weitaus besseren, als ihn der Magier zu den Psychiatern hatte, wie sie aus den Dienstbesprechungen wusste, denn im Gegensatz zu den Ärzten, die er als Dilettanten und Seelenklempner beschimpfte, fraß er Maureen förmlich aus der Hand.
»Schwester Maureen, unsere Spezialistin für schwierige Fälle«, pflegte Doktor Sandler immer zu scherzen, wenn es Maureen wieder einmal gelungen war, einen renitenten Patienten »handzahm« zu machen.
»Wenn es Ihnen guttut, darüber zu reden, Mr Crowley, dann tun Sie sich keinen Zwang an«, ermunterte sie den Magier, dessen entrückter Blick verriet, wie gefangen er in seiner Gedankenwelt war.
Mit belegter Stimme fuhr Crowley mit seinen Schilderungen fort: »Schließlich dämmerte es mir, warum die sexualmagischen Rituale nicht in der Lage waren, den Knoten zu lösen: Mein Adept war homosexuell und hatte panische Angst, sich das einzugestehen. Also versicherte ich ihm, dass es nichts gäbe, wofür er sich schämen müsse. Er senkte betreten den Blick und gestand mir, dass ihm die Stimmen sehr böse und hässliche Dinge sagen würden. Auch das Böse und Hässliche gehöre zum Kosmos, ließ ich ihn wissen, genauso wie die schwarze Sonne und die dunkle Seite des Mondes.« Er presste angespannt die Lippen zusammen. »Damit muss ich wohl den Nagel auf den Kopf getroffen haben. Er starrte mich an und begann zu keuchen. Seine Augen drohten aus den Höhlen zu quellen. Zu meinem Erstaunen riss er sich die Kleider vom Leib, rannte splitternackt den Berghang hinab wie eine junge Ziege und stürzte sich ins Meer. Als er zurückkam, bat er mich mit bleichem Gesicht und ehrfürchtiger Stimme, noch einmal zu wiederholen, was ich zuvor zu ihm gesagt hatte. ›Auch das Böse und Hässliche gehört zum Kosmos, genauso wie die schwarze Sonne und die dunkle Seite des Mondes‹, sprach ich mit tiefer Überzeugung.«
Maureen hatte ihm fasziniert zugehört. »Die schwarze Sonne, das hört sich richtig unheimlich an.«
Crowley lächelte sinister. »Du hast es erfasst, Fairy Queen. Die schwarze Sonne ist ein alter Name Satans.«
Obgleich es Maureen unwillkürlich fröstelte, ermahnte sie sich zur Sachlichkeit. »Ich glaube nicht an den Teufel, die eigentlichen Erfinder der Hölle sind die Menschen.«
»Richtig, mein schlaues Mädchen! Hinter der Hölle verbergen sich die grausamsten Fantasien, die jemals von Menschen ersonnen wurden – zur Ehre der großen Schlange Satan. ›Ich bin die Schlange Satan, ich lebe an den äußersten Enden der Welt‹ – so stand es schon in den ältesten Hieroglyphen der Ägypter geschrieben.« Crowleys Augen funkelten diabolisch.
Für den Bruchteil einer Sekunde fürchtete sich Maureen vor ihm. Sie erinnerte sich daran, dass er in der gesamten Presse, selbst in seriöseren Blättern, als Satanist angesehen wurde.
Doch ohne seine Drogen und den ganzen magischen Zinnober ist er nur ein armer Teufel, der unter höllischen Entzugserscheinungen leidet, ging es ihr durch den Sinn und die Bangigkeit fiel von ihr ab. »Wie ging es denn weiter mit Ihrem Adepten?«, fragte sie interessiert.
»Unmittelbar danach verfiel er in eine drei Tage dauernde Trance«, erwiderte der Okkultist. »Anschließend kam er zu mir wie die Verkörperung der Freude selbst und erklärte, er könne mir gar nicht sagen, wie dankbar er mir sei. Ich hätte ihm den Schlüssel zur innersten Schatzkammer seines Herzens gegeben. Das war mir mit meinen kraftvollen Worten gelungen und er hatte nach nur drei Tagen überwunden, was er fast dreißig Jahre lang unterdrückt hatte. Denn wenn die tiefsten Wünsche nicht befreit werden, resultiert daraus der Wahnsinn. Ich habe ihm den Weg gezeigt, der aus seiner höllischen Verkrüppelung hinaus ans Licht führt. Dafür würde er mir bis ans Ende seiner Tage danken, wie er mir versicherte. In einem feierlichen Ritual gab ich ihm den magischen Namen ›Bruder Pan‹, da er mich an den Ziegengott Pan erinnerte. Er ließ mich wissen, dass er in jenem Augenblick der Erleuchtung so deutlich wie nie zuvor erkannt habe, dass alles nur ein Eingehen und Lauschen auf sein Unterbewusstes sei, das unbedingt in die Tat umgesetzt werden müsse, wenn man seinen wahren Willen und damit die Quintessenz der Lehre von Thelema ausleben wolle. Tu was du willst, soll sein das ganze Gesetz – das sei für ihn die absolute Wahrheit, die er fortan befolgen werde. Ergriffen bekannte er, dass er sich die schlimmen Qualen, die so gewaltig gewesen seien, dass sein Kopf zu zerspringen drohte, hätte ersparen können, wenn er mir nur früher begegnet wäre. Stattdessen habe man ihn mit der verdammenswerten Lehre betrogen, dass seine machtvolle Begierde schandbar und des Teufels sei, man sie unterdrücken müsse und am besten gar nicht erst haben dürfe, um ein achtbarer Mensch zu sein. Er habe sich sein Leben lang mit eiserner Selbstzucht daran gehalten und umso schmerzlicher erfahren müssen, dass die Stimmen in ihm noch stärker und drängender geworden seien. Erst jetzt habe er entdeckt, dass er mehr als nur ein Mensch sei, dass er die Majestät des ewig sich erhebenden Adlers besitze und die Stärke des Löwen. Nun sei es endlich so weit, dass sich der mächtige Adler in die Lüfte erhebe. Seine Begierde war so offensichtlich, dass ich genau verstand, was er meinte«, seufzte Crowley kurzatmig. »Ich rasierte mich und schminkte mein Gesicht wie die allergemeinste Hure. Dann rieb ich mich mit meinem Parfüm ein und machte mich an Bruder Pan heran.« Seine Atemzüge mischten sich mit einem rasselnden Pfeifen, er bekam einen heftigen Hustenanfall und konnte nicht weitersprechen.
Maureen holte seinen Inhalationsapparat aus dem Wohnzimmer, stülpte ihm die Maske über und betätigte den Zerstäuber. Nach einer Weile beruhigte sich zwar seine Atmung, doch ihm stand das blanke Entsetzen ins Gesicht geschrieben. Er riss sich die Maske vom Kopf.
»Bei unserem magischen Sexualakt hat er mich so brutal penetriert, dass er mich fast umgebracht hätte«, krächzte er außer sich. »Er schlug, biss und würgte mich so heftig, dass ich die schlimmsten Todesängste hatte. Obwohl er fast übermenschliche Kräfte besaß, gelang es mir, mich aus seinem Klammergriff zu befreien und lauthals um Hilfe zu rufen. Alostrael und Schwester Ninette stürmten ins Zimmer und Bruder Pan ließ endlich von mir ab. Ich war zutiefst bestürzt und verwies ihn der Abtei. Er hatte mir so zugesetzt, dass ich überall Blessuren hatte und eine Woche lang nicht laufen konnte. Die dunkle Energie in ihm war so übermächtig, dass sie mich fast getötet hätte.« Er gab ein panisches Wimmern von sich. »Inzwischen glaube ich sogar, dass ich mit meiner magischen Formel bei ihm eine Art Büchse der Pandora geöffnet habe, aus der das Böse über die Welt gekommen ist. Das magische Tagebuch, das er zurückgelassen hat, war ein Inferno des Hasses und der Bestialität. Es war gespickt von den abartigsten Gewaltfantasien, die man sich nur vorstellen kann. Ich zelebrierte einen Abwehrzauber und verbrannte es im Feuer. Danach sah ich ihn niemals wieder und mit der Zeit gelang es mir, den Horror zu vergessen, den er über mich und die Abtei gebracht hatte.« Das Beben, das ihn in immer kürzeren Abständen überkam, wurde stärker und er schlotterte so sehr, dass seine Zähne klapperten. »Aber nun weiß ich, dass ich alles nur verdrängt habe, denn es ist schlimmer als zuvor. Als kürzlich in Palermo die verstümmelten Männerleichen gefunden wurden, habe ich sofort an ihn denken müssen, weil … weil er so etwas in seinem Tagebuch beschrieben hat. Und nun hat er mir diesen verfluchten Artikel zugeschickt, um sich mit seinen Taten zu brüsten.« Crowleys Körper wurde von konvulsivischen Krämpfen geschüttelt. »Schütze mich, oh dunkler Gott, vor dem Geist des Abgrunds, der mich zu verschlingen droht!«, schrie er gellend und klammerte sich an Maureen fest wie ein Ertrinkender.
Vom Flur her waren laute Schritte zu vernehmen und gleich darauf trat Doktor Sandler in Begleitung eines hünenhaften Krankenwärters ins Zimmer, um den Tobenden ruhig zu stellen. Während ihn der Pfleger mit routiniertem Griff bändigte, setzte Maureen den Psychiater über Crowleys Zustand in Kenntnis.
»Er fantasiert die ganze Zeit von einem gewissen Bruder Pan und fühlt sich von ihm bedroht«, erläuterte sie knapp.
»Toxische Paranoia«, diagnostizierte der junge Nervenarzt und injizierte Crowley eine Bromlösung, die ihn in einen Dämmerschlaf versetzte.