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Musikalisches Opfer oder Revanche im Kontrapunkt?

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Rätselhafte Geschenke für einen großen König

„Gestern erhoben sich Se. Majestät, der König, von Potsdamm nach Charlottenburg, und nahmen allda die auserlesenen jungen Pferde in höchsten Augenschein, welche der Herr Stallmeister von Schwerin neulich aus den Königlichen Stutereyen in Preussen anhero gebracht hat.“

Der Hofbericht schien an diesem Tag nicht viel herzugeben. Was die Berlinischen Nachrichten von Staats- und gelehrten Sachen am 11. Mai 1747 auf der Titelseite brachten, war kaum der Rede wert. Zuerst ein paar Sätze über den Besuch Seiner Majestät, König Friedrich II. im Pferdestall. Danach der kurze Hinweis, dass die Herren General-Leutnant von Bonin und General-Major von Kalsow „alhier eingetroffen“ seien. Wen interessierte das schon? Doch dann wurde es auf einmal spannend. Der dritte Beitrag bot den Lesern nämlich ein paar Einblicke ins königliche Privatleben und war ausgesprochen unterhaltsam. „Aus Potsdam vernimmt man, daß daselbst verwichenen Sonntag der berühmte Capellmeister aus Leipzig, Herr Bach, eingetroffen ist, in der Absicht, das Vergnügen zu geniessen, die dasige vortreffliche Königliche Musik zu hören. Des Abends, gegen die Zeit, da die gewöhnliche Cammer-Musik in den Königlichen Apartements anzugehen pflegt, ward Sr. Majestät berichtet, daß der Capellmeister Bach in Potsdam angelanget sey, und daß er sich jetzo in Dero Vor Cammer aufhalte, allwo er Dero allergnädigste Erlaubnis erwarte, der Musik hören zu dürfen. Höchstdieselben erteilten sogleich Befehl, ihn hereinkommen zu lassen, und gingen bei dessen Eintritt an das sogenannte Forte und Piano, geruheten auch, ohne einige Vorbereitung in eigner höchster Person dem Capellmeister Bach ein Thema vorzuspielen, welches er in einer Fuga ausführen sollte. Es geschah dieses von gemeldetem Capellmeister so glücklich, daß nicht nur Se. Majest. Dero allergnädigstes Wohlgefallen darüber zu bezeigen beliebten, sondern auch die sämtlichen Anwesenden in Verwunderung gesetzt wurden.“

Friedrich der Große und Johann Sebastian Bach. Die Nachricht von ihrer Begegnung verbreitete sich in Windeseile. Wenige Tage später wurde der Zeitungsbericht auch in Leipzig, Magdeburg, Hamburg und Frankfurt veröffentlicht, und überall konnten die Leute nachlesen, wie der „Capellmeister aus Leipzig“ den preußischen König mit eine Fuge in Staunen versetzte – einer Fuge, aus dem Stegreif gespielt, über ein Thema, das der König selbst erfunden hatte. Ein sensationelles Ereignis. Bach selbst war offenbar so angetan von dem königlichen Einfall, dass er sich spontan zu einem interessanten Projekt entschloss: „Herr Bach fand das ihm aufgegebene Thema so ausbündig schön, daß er es in einer ordentlichen Fuga zu Papier bringen, und hernach in Kupfer stechen lassen will,“ schrieben die Gazetten.

Was aus dem Vorhaben wurde, erfuhren die Leser nicht mehr. Der Name Bach wurde in der Tagespresse nie wieder erwähnt. Und auch von amtlicher Seite erfolgte keine Meldung mehr über die angekündigte „Fuga“ des sächsischen Fugenmeisters. Hatte Bach sein Versprechen nicht eingehalten?

Sieben Jahre später. Im vierten Band der Zeitschrift Neu eröffnete Musikalische Bibliothek, oder gründliche Nachricht nebst unpartheyischem Urtheil von musikalischen Schriften und Büchern erscheint ein Nachruf auf Johann Sebastian Bach, der bereits vier Jahre zuvor, am 28. Juli 1750, im Alter von 65 Jahren gestorben ist. Bachs zweitältester Sohn Carl Philipp Emanuel hat ihn gemeinsam mit Johann Friedrich Agricola, einem ehemaligen Schüler seines Vaters, verfasst. Knapp und anschaulich schildern die beiden die wichtigsten Lebensstationen des Mannes, der „der Musik, seinem Vaterlande, und seinem Geschlechte, zu gantz ausnehmender Ehre gereichet“– und auf einmal taucht sie wieder auf, die Geschichte vom Königsbesuch in Preußen. „Im Jahre 1747 that er eine Reise nach Berlin, und hatte bey dieser Gelegenheit die Gnade, sich vor seiner Majestät dem Könige in Preusen, in Potsdam hören zu lassen,“ steht da geschrieben. „Seine Majestät spielten ihm selbst ein Thema zu einer Fuge vor, welches er so gleich, zu Höchstderoselben besondern Vergnügen, auf dem Pianoforte ausführete.“

Carl Philipp Emanuel Bach war damals Augenzeuge. Als Cembalist in der Hofkapelle Friedrichs II. hat er das Ganze miterlebt, und zweifellos liegt ihm viel daran, der Nachwelt von diesem großen Augenblick im Leben seines Vaters zu berichten. Wie sich herausstellt, ist er nicht der Einzige in der Familie, denn auch sein ältester Bruder Wilhelm Friedemann fühlt sich dazu aufgerufen. Friedemann, der als Organist und Musikdirektor in Halle tätig ist, war seinerzeit Reisebegleiter des Vaters und konnte daher ebenfalls aus nächster Nähe mit ansehen, was an jenem Abend passierte. Sein Gedächtnis ist gut, und er erinnert sich noch an alle Einzelheiten. Allerdings schreibt er sie nicht auf, sondern erzählt sie dem Göttinger Musikwissenschaftler Johann Nikolaus Forkel, der die Absicht hat, ein Buch über den Thomaskantor zu veröffentlichen. Es soll eine Art Biographie werden, und das Thema Potsdam soll dabei eine große Rolle spielen.

Leipzig im Jahre 1802. Forkels Buch mit dem Titel Über Johann Sebastian Bachs Leben, Kunst und Kunstwerke ist soeben erschienen. Ein schmaler Band mit einer Fülle von Informationen, die Forkel den beiden Brüdern Emanuel und Friedemann Bach verdankt, wie er im Vorwort mitteilt. „Die Welt weiß, daß beide selbst große Künstler waren; aber sie weiß vielleicht nicht, daß sie von der Kunst ihres Vaters bis an ihr Ende nie anders als mit Begeisterung und Ehrfurcht sprachen.“ Schon im zweiten Kapitel schildert Forkel den legendären Auftritt von Bach beim König von Preußen, wobei er sich auf Friedemanns Aussagen beruft, und nun, fünfundfünfzig Jahre danach, erfährt die Öffentlichkeit endlich mehr darüber, was sich anno 1747 hinter den Mauern des Potsdamer Schlosses abgespielt hat. Laut Forkel fand das Ereignis damals auf besonderen Wunsch Friedrichs II. statt. „Carl Philipp Emanuel kam im Jahre 1740 in die Dienste Friedrichs des Großen. Der Ruf von der alles übertreffenden Kunst Johann Sebastians war in dieser Zeit so verbreitet, daß auch der König sehr oft davon reden und rühmen hörte; er wurde dadurch begierig, einen so großen Künstler selbst zu hören und kennenzulernen. Anfänglich ließ er gegen den Sohn ganz leise den Wunsch merken, daß sein Vater doch einmal nach Potsdam kommen möchte; allein nach und nach fing er an, bestimmt zu fragen, warum sein Vater nicht komme. Der Sohn konnte nicht umhin, diese Äußerungen des Königs seinem Vater zu melden, der aber anfänglich nicht darauf achten konnte, weil er meistens mit zu vielen Geschäften überhäuft war. Als aber die Äußerungen des Königs in mehreren Briefen des Sohnes wiederholt wurden, machte er endlich im Jahre 1747 dennoch Anstalt, diese Reise in Gesellschaft seines Sohnes Wilhelm Friedemann zu unternehmen.“

In einigen Details weicht Forkels Erzählung von dem Presseartikel ab, der seinerzeit in der Berlinischen erschien. Demnach soll Vater Sebastian zum Beispiel nicht in der Vorkammer gewartet haben, sondern sei sofort ins Schloss befohlen worden, nachdem König Friedrich durch einen Offizier einen schriftlichen „Rapport von angekommenen Fremden“ erhalten habe. Forkel schreibt: „Mit der Flöte in der Hand übersah er das Papier, drehte sich aber sogleich gegen die versammelten Kapellisten und sagte mit einer Art von Unruhe: ‚Meine Herren, der alte Bach ist gekommen!’ Die Flöte wurde hierauf weggelegt und der ‚alte Bach’, der in der Wohnung seines Sohnes abgestiegen war, sogleich auf das Schloß beordert. Wilhelm Friedemann, der seinen Vater begleitete, hat mir diese Geschichte erzählt, und ich muß sagen, daß ich noch heute mit Vergnügen an die Art denke, wie er sie mir erzählt hat. Es wurden in jener Zeit noch ziemlich weitläufige Komplimente gemacht. Die erste Erscheinung Johann Sebastian Bachs vor einem so großen König, der ihm nicht einmal Zeit ließ, sein Reisekleid mit einem schwarzen Kantorrock zu vertauschen, mußte also notwendig mit vielen Entschuldigungen verknüpft sein. Ich will die Art dieser Entschuldigungen hier nicht anführen, sondern bloß bemerken, daß sie in Wilhelm Friedemanns Mund ein förmlicher Dialog zwischen dem König und dem Entschuldiger waren.“

Johann Sebastian Bach, unpassend gekleidet und in großer Verlegenheit. König Friedrich, in noblem Gewand und voller Ungeduld. Welch eine Szene. Wer ist dieser König, der so „begierig“ darauf ist, Bach kennen zu lernen, dass er ihm diese Peinlichkeit zumutet? Ein Musikliebhaber? Oder nur ein rücksichtsloser Potentat, der es gewohnt ist, dass seine Wünsche „sofort exacte executiret“ werden?

Friedrich II., 35 Jahre alt und seit sieben Jahren Regent in Brandenburg-Preußen, nennt sich selbst einen „Pflegling der Musen.“ Er schmiedet Verse, schreibt historische und philosophische Abhandlungen, spielt mit Begeisterung Flöte und hat bereits Dutzende von Werken komponiert. Zwar kokettiert er gelegentlich damit, nur ein „roi pauvre musicien“ zu sein, ein armer königlicher Musiker, doch er weiß, dass er eine weitaus höhere musikalische Begabung hat als die meisten seiner dilettierenden Standesgenossen. Seine Flötenkunst wird immer wieder gelobt, vor allem sein Adagiospiel, und es sind nicht nur Laien unter seinen Bewunderern sondern auch Fachleute. Die berühmte Sängerin Elisabeth Schmehling rühmt seinen starken Ton beim Blasen, und Charles Burney, der weit gereiste englische Musikschriftsteller, schreibt sogar einmal nach einem Konzert: „[…] sein Spielen übertraf in manchen Punkten alles, was ich bisher unter Liebhabern oder selbst von Flötenisten von Profession gehört hatte.“ Auch Johann Sebastian Bach macht dem König Komplimente. Acht Wochen nach ihrer Begegnung wird er ihm schreiben, er sei ein Monarch, „dessen Größe und Stärke, gleich wie in allen Kriegs- und Friedens-Wissenschaften, also auch besonders in der Musik, jedermann bewundern und verehren muß.“ Eine merkwürdige Huldigung. Will Bach mit dem Wort von den „Kriegs- und Friedens-Wissenschaften“ vielleicht auf versteckte Weise andeuten, dass sich hinter der Fassade des Musenkönigs ein Machtmensch verbirgt?

Machtbesessen ist er, das lässt sich nicht leugnen. Ein Mann voller Widersprüche, der eine Jugend durchlitten hat, die er selbst als „Schule der Widerwärtigkeiten“ bezeichnet. Seine Musen haben ihm wohl geholfen, seelisch zu überleben.

Friedrich wächst in einer kulturell tristen Umgebung auf. Sein Vater, Friedrich Wilhelm I., der so genannte „Soldatenkönig“, hat nichts übrig für Musik, Kunst und Wissenschaften, sondern interessiert sich nur für sein Militär und wünscht, dass auch sein Thronfolger zu einem tugendhaften Soldaten „formiert“ werden soll. Der kleine Fritz ist ein sensibles und scheues Kind. Mit sieben erhält er, weil es so üblich ist, den ersten Klavier- und Generalbassunterricht, später kommen noch Violinstunden hinzu, und irgendwann lernt er auch Querflöte spielen, was ihm so gut gefällt, dass er stundenlang zu üben beginnt. Weil er auch gerne Romane liest und über dem Musizieren und Lesen seine Pflichten vernachlässigt, gerät sein cholerischer Vater immer häufiger in Zorn und gibt den Erziehern strikte Anweisungen, ihn „von denen Opern Komödien und andern weltlichen Eitelkeiten abzuhalten und Ihn soviel als möglich abgeneigt zu machen.“

Es gelingt nicht. Mit sechzehn Jahren hört Friedrich während eines Staatsbesuchs in Dresden den Hofmusiker Johann Joachim Quantz auf der Flöte spielen, was ihn so begeistert, dass er sich nun zweimal im Jahr von ihm unterrichten lässt. Der König tobt, als er merkt, dass sein Sohn ihm entgleitet und demütigt ihn schlimmer als je zuvor. Er verbietet ihm das „Flötengesäusel“ und das Romanelesen, und er scheut nicht davor zurück, ihn in aller Öffentlichkeit zu verprügeln. Doch Friedrich unterwirft sich nicht. Je brutaler der Vater ihn behandelt, umso mehr leistet er inneren Widerstand und flüchtet sich heimlich weiter in die Welt der Bücher und der Musik.

Die Konflikte spitzen sich zu. Im Sommer 1730 werden sie so unerträglich, dass der unglückliche Kronprinz einen Fluchtversuch unternimmt. Die Aktion ist jedoch schlecht vorbereitet, und die Flucht misslingt. Friedrich wird gefasst, und sein Vater rächt sich auf grausame Weise. Er lässt Friedrichs besten Freund Hans Hermann von Katte enthaupten und ihn selbst in der Festung Küstrin einsperren. Zwei Jahre muss Friedrich hier zubringen, bis er Gehorsam schwört und bereit ist, eine politische Zweckehe mit der Prinzessin Elisabeth Christine von Braunschweig-Bevern einzugehen. Sie sei der „Kaufpreis“ für seine Haftentlassung gewesen, wird er später abschätzig bemerken, denn er liebt diese Frau nicht und behandelt sie zeitlebens mit Verachtung. Aber inzwischen hat er nicht nur gelernt zu parieren, sondern auch zu heucheln, und Menschenverachtung ist ihm zur zweiten Natur geworden.

Die Hochzeit findet im Juni 1733 statt. Drei Jahre später zieht das Paar nach Schloss Rheinsberg, wo Friedrich sich seinen intellektuellen und künstlerischen Neigungen endlich ausgiebig widmen kann. Die Zeit, die nun folgt, wird er später als „die glücklichste“ seines Lebens bezeichnen. Er korrespondiert mit Voltaire, philosophiert über die Ideen der Aufklärung, schreibt Gedichte, übt Flöte und spielt am Abend zusammen mit seinem Kammerorchester Konzerte. Es ist ein kleines, aber erstklassiges Ensemble, in dem unter anderem die beiden berühmten Geiger Johann Gottlieb Graun und Franz Benda musizieren. 1735 holt Friedrich auch noch Grauns Bruder Carl Heinrich als Kapellmeister und Kompositionslehrer nach Rheinsberg, und 1738 kommt ein weiterer hervorragender Musiker hinzu: Carl Philipp Emanuel Bach, der Sohn des berühmten Leipziger Meisters. Aus Etatgründen kann Friedrich ihm keine feste Stelle bieten, dennoch ist Bach bereit, in Rheinsberg zu bleiben und zunächst freiberuflich als Cembalist in der Kapelle mitzuwirken.

Am 31. Mai 1740 stirbt Friedrich Wilhelm I., und Kronprinz Friedrich übernimmt die Regierungsgeschäfte. Die Erwartungen an ihn sind hoch. „Europa sieht auf Dich, gekrönter Heldensohn / Es sieht, ein Philosoph besteigt den Königs-Thron,“ jubelt Die Spenersche Zeitung, Berlins führendes Nachrichtenblatt. Und zunächst sieht es auch tatsächlich so aus, als würden in Preußen goldene Zeiten anbrechen: Abschaffung der Folter, Aufhebung der Zensur, Öffnung der staatlichen Vorratskammern, um Bedürftige mit billigem Korn zu versorgen… die Reformliste des jungen Königs mit den aufklärerischen Idealen ist beeindruckend. Schlag auf Schlag werden neue Erlasse herausgegeben. Die Akademie der Wissenschaften soll wiedereröffnet werden, der Bau eines prachtvollen Opernhauses wird angekündigt, Kapellmeister Graun bekommt den Auftrag, nach Italien zu reisen, um Sänger zu engagieren, und die Hofkapelle wird auf insgesamt neununddreißig Musiker erweitert. Quantz erhält einen Ruf als königlicher Flötenlehrer und löst daraufhin seine Dienstverpflichtung am Dresdner Hof, und auch Carl Philipp Emanuel Bach bekommt nun eine feste Stelle als erster Hofcembalist. Stolz wird er später betonen, dass er „1740 bey Antritt der Regierung Sr. preussischen Majestät förmlich in Dessen Dienste trat, und die Gnade hatte, das erste Flötensolo, was Sie als König spielten, in Charlottenburg mit dem Flügel ganz allein zu begleiten.“

Anfang August 1741 kommt auch Johann Sebastian Bach nach Berlin. Er besucht seinen Sohn, und vermutlich reizt es ihn auch, die künstlerische Aura dieser Stadt kennen zu lernen, in der „nunmehr das musikalische seculum angegangen“ ist. Der Zeitpunkt ist allerdings nicht besonders günstig, denn König Friedrich befindet sich seit Monaten im Krieg, den er vom Zaun gebrochen hat, um die reiche Provinz Schlesien von Österreich zu erobern. Am 16. Dezember 1740 hat er „den Rubikon überschritten“ und ist in Schlesien einmarschiert. Freimütig gesteht er seinem Freund Jordan, der „Durst nach Ruhm“ habe ihn getrieben, „die Genugtuung darüber, meinen Namen in der Zeitung zu lesen und später im Buch der Geschichte zu lesen, hat mich verführt.“ Am 10. April 1741 haben seine Truppen die Österreicher bei Mollwitz besiegt, Anfang Juni hat er einen Bündnisvertrag mit Frankreich geschlossen, und in diesem Sommer – zu der Zeit also, als Bach in Berlin ist – befindet sich Friedrich in einem niederschlesischen Feldlager bei Strehlen und verkündet siegesgewiss, dass Schlesien so gut wie erobert sei.

Tatsächlich aber ist es erst ein Jahr später so weit. Am 11. Juni 1742 wird der Frieden von Breslau geschlossen und Friedrich erhält das Besitzrecht über Schlesien und die Grafschaft Glatz. Doch lange hält dieser Frieden nicht an, und zwei Jahre später greift Friedrich erneut zu den Waffen, um seine bedrohte schlesische Beute endgültig für sich zu behaupten. Seine Feldzüge gegen die alliierten Österreicher und Sachsen verlaufen blutig und verlustreich, aber auch diesmal ist er erfolgreich. Im Juni 1745 siegt er bei Hohenfriedberg, im September bei Soor. Am 30. November nehmen seine Soldaten die Stadt Leipzig ein, zwei Wochen später besiegen sie die Sachsen in der Schlacht bei Kesseldorf, und nach diesem Gemetzel ist der Krieg endgültig vorbei. Im Friedensschluss von Dresden am 25. Dezember 1745 bestätigt Österreich die Abtretung Schlesiens an Preußen, und Friedrich verlangt von den Sachsen hohe Kriegsentschädigungen. Eine Million Taler will er von ihnen haben, weil sie so waghalsig waren, sich mit den Österreichern zu verbünden. Und den sächsischen Bürgern bleibt nichts anderes übrig, als zu zahlen.

Wie geht es Johann Sebastian Bach in diesen finsteren Wochen? Welche Erfahrungen macht er als Einwohner einer Stadt, die bis Anfang Januar 1746 von Soldaten besetzt bleibt und für die preußischen Eroberer „hochansteigende Summen Geldes theils baar oder durch Wechsel Briefe verschaffet“ aufbringen muss? Ist er gezwungen, Schulden zu machen, um seinen Beitrag „bey diesen Drangsalen“ zu leisten? Oder gehört er zu jenen Familien, die „mit würklicher Einquartierung derer Preußischen Truppen beschweret“ sind? Drei Jahre später noch wird er sich in einem Brief verdrossen an jene Zeit erinnern, „da wir leider! Die Preußische Invasion hatten.“ Doch sonst ist nichts Näheres über seine Lebensumstände bekannt. Ob er am 10. Dezember 1745 in Berlin bei der Taufe seines Enkels anwesend war, ist nicht sicher. Im Taufbuch der Kirche, in der die Zeremonie stattfand, ist er zwar als Pate von Carl Philipp Emanuels erstem Sohn Johann August aufgeführt, aber ob er mitten in den Kriegswirren eine Reise in die preußische Hauptstadt riskiert hat, ist ungewiss. Ende Dezember hätte er dort Zeuge einer großen Siegesfeier werden können, denn König Friedrich wurde in Berlin wie ein Triumphator empfangen, und seine Untertanen schrieen zum ersten Mal auf offener Straße: „Es lebe Friedrich, der Große.“ Friedrich selbst allerdings schien die Kriegslaune abhanden gekommen zu sein. Erst wenige Tage zuvor war er in Dresden bei einem Gespräch mit dem französischen Gesandtschaftssekretär Darget ins Grübeln geraten und hatte vor sich hin philosophiert: „Sind wir armen Menschen dazu da, um Pläne zu schmieden, die soviel Blut kosten? […] Mein Gott, soll ich denn nie mein Leben genießen? Künftig greife ich keine Katze mehr an, außer um mich zu verteidigen.“

Zwei Jahre später. Mai 1747. Friede ist eingekehrt in Preußen und in den Nachbarländern, und Friedrich II. hat sich wieder auf seine alten Tugenden besonnen. Er dichtet und philosophiert, kümmert sich um seine Oper, und er bläst auch wieder regelmäßig Flöte. In seinem Potsdamer Stadtschloss, wo er sich am liebsten aufhält, hat er wieder die „Intermezzi“ einrichten lassen, seine privaten Abendkonzerte, in denen er selbst als Solist mitwirkt, und in der Regel werden nur selten Gäste dazu gebeten. Doch irgendwann in den letzten Wochen hat Friedrich dem berühmten Virtuosen Johann Sebastian Bach eine Einladung übermitteln lassen, und er erwartet ihn in diesen Tagen.

Wahrscheinlich wurde die Einladung durch Bachs einflussreichen Gönner Hermann Carl Reichsgraf von Keyserlingk in die Wege geleitet, der als russischer Gesandter in Berlin tätig ist und sich schon mehrfach erfolgreich für Bach eingesetzt hat. 1736 hatte er ihm im Auftrag des sächsischen Kurfürsten sogar den Titel des „Königlich-Polnischen und Churfürstlich Sächsischen Hofcompositeur“ verliehen. Damals war Graf Keyserlingk noch Gesandter in Dresden. Inzwischen ist er nach Berlin versetzt worden, ins Zentrum der neuen Großmacht Preußen, und nun hat er wohl wieder Vermittlerdienste für Bach geleistet. Vielleicht sogar in der Absicht, ihm einen neuen, prächtigeren Hoftitel zu verschaffen, denn der alte, sächsische Titel hat seit dem verlorenen Krieg erheblich an Glanz verloren.

Was geht Johann Sebastian Bach durch den Kopf, als er an jenem Sonntag, dem 7. Mai 1747, von Friedrich II. empfangen wird? Fühlt er sich nur geschmeichelt oder hat er gemischte Gefühle, als er das Potsdamer Schloss betritt? Seine Rolle ist schließlich nicht ganz unproblematisch. Er, der musikalische Botschafter der Verlierernation Sachsen, muss vor dem Siegerkönig erscheinen, um ihm seine Aufwartung zu machen. Und zwar so schnell, dass er vorher nicht einmal Gelegenheit hat, seine Kleider zu wechseln. Bach ist die Begrüßungsszene unangenehm, aber nach den ersten peinlichen Augenblicken scheint sich das Blatt zu wenden, denn der König schenkt ihm seine ganze Aufmerksamkeit und gibt sich betont kunstsinnig. Wie es weitergeht, wird Forkel später berichten: „Der König gab für diesen Abend sein Flötenkonzert auf, nötigte aber den damals schon so genannten ‚alten Bach‘, seine in mehreren Zimmern des Schlosses herumstehenden Silbermannschen Fortepianos zu probieren. Die Kapellisten gingen von Zimmer zu Zimmer mit, und Bach mußte überall probieren und fantasieren. Nachdem er einige Zeit probiert und fantasiert hatte, bat er sich vom König ein Fugenthema aus, um es sogleich ohne alle Vorbereitung auszuführen. Der König bewunderte die gelehrte Art, mit der sein Thema so aus dem Stegreif durchgeführt wurde, und äußerte nun – vermutlich um zu sehen, wie weit eine solche Kunst getrieben werden könne – den Wunsch, auch eine Fuge mit sechs obligaten Stimmen zu hören. Weil aber nicht jedes Thema zu einer solchen Vollstimmigkeit geeignet ist, so wählte sich Bach selbst eines dazu und führte es sogleich zur größten Verwunderung aller Anwesenden auf eine ebenso prachtvolle und gelehrte Art aus, wie er es vorher mit dem Thema des Königs getan hatte.“

Was Forkel erzählt, klingt wie ein Märchen – zumindest auf den ersten Blick. Johann Sebastian Bach wird zu König Friedrich gerufen, einem der mächtigsten Männer Europas. Er reist hin, spielt Klavier und scheint auf der ganzen Linie zu siegen. Der Preußenkönig bewundert ihn und zeigt ihm seine größte Anerkennung. Doch bei genauerem Hinsehen zeigt sich, dass Bachs Auftritt nicht ganz so reibungslos verläuft, wie Forkels Schilderung es nahe legt. Für einen Bruchteil von Sekunden steht der Erfolg sogar auf der Kippe, und es ist nur seinem Einfallsreichtum und seiner Geistesgegenwart zu verdanken, dass er die brisante Situation meistert.

Zunächst scheint alles ganz glatt zu gehen. Nach dem Begrüßungsentree im Musikzimmer wird Bach in verschiedene andere Salons geführt, in denen sich Klaviere des Hausherrn befinden, und er wird aufgefordert, sie alle auszuprobieren. Es sind moderne Hammerflügel aus der Werkstatt des sächsischen Klavier- und Orgelbauers Gottfried Silbermann, die Friedrich erst vor einem Jahr gekauft hat. Laut Forkel sind es „ihrer 15“. Bach hat also viel zu tun, und sein pianistischer Rundgang durch das Schloss nimmt einige Zeit in Anspruch. Zuerst „probiert und fantasiert“ er eine Weile und lässt sich dabei wohl von eigenen Einfällen inspirieren. Doch dann kommt ihm plötzlich eine andere Idee. Er wendet sich an den König und bittet ihn um eine Melodie, die er zu einer Fuge verarbeiten möchte. Es ist eine höchst schmeichelhafte Geste: Bach hält den Amateurmusiker Friedrich für so kompetent, dass er ihm zutraut, ein Fugenthema aus dem Stegreif zu erfinden. Ob vorher eine Absprache mit dem König erfolgt ist – angeregt etwa durch Carl Philipp Emanuel Bach – wäre denkbar, ist aber nicht überliefert. Der Monarch jedenfalls reagiert unverzüglich. „Ohne einige Vorbereitung“ geht Friedrich ans Klavier und spielt Bach eine Melodie vor, die ungewöhnlich lang und verwickelt ist. Ein aufsteigender Dreiklang mit fallendem Septsprung, dann eine absteigende Halbtonsskala – so sieht sein Thema aus. Ein chromatisches Ungetüm, an das sich Friedrich noch Jahrzehnte später stolz erinnern wird. Dabei hat er eigentlich wenig Anlass, stolz darauf zu sein, denn das Thema ist keineswegs originell, sondern besteht aus zwei alten, aneinander gereihten Melodiefloskeln und eignet sich darüber hinaus nur schwer für eine kontrapunktische Verarbeitung. Aber das sollte wohl auch so sein. Bach, der große Fugenspezialist, sollte schließlich zeigen, was er kann.

Und Bach zeigt, was er kann. Locker nimmt er das komplizierte Tongebilde auf und improvisiert daraus eine – vermutlich dreistimmige – Fuge. Sie gelingt ihm so gut, dass seine Zuhörer „in Verwunderung“ gesetzt werden. Der Triumph ist perfekt. Bach wird den Augenblick nicht mehr vergessen, und wenige Wochen später wird er ihn auch dem König noch einmal schriftlich ins Gedächtnis zurückrufen: „Mit einem ehrfurchtsvollen Vergnügen erinnere ich mich annoch der ganz besondern Königlichen Gnade, da vor einiger Zeit, bey meiner Anwesenheit in Potsdam, Ew. Majestät selbst, ein Thema zu einer Fuge auf dem Clavier mir vorzuspielen geruheten, und zugleich allergnädigst auferlegten, solches alsobald in Deroselben höchsten Gegenwart auszuführen. Ew. Majestät Befehl zu gehorsamen, war meine unterthänigste Schuldigkeit.“

Noch ist alles in Ordnung an diesem Sonntag im Mai. Bach hat bewiesen, dass er aus der königlichen Melodie eine mustergültige Fuge phantasieren kann, und der Abend scheint seinen Höhepunkt erreicht zu haben. Doch kaum hat Bach sein Spiel beendet, legt Friedrich ein sonderbares Verhalten an den Tag. Er bewundert zwar „die gelehrte Art“, in der Bach sein Thema dreistimmig fugiert hat, aber plötzlich äußert er den Wunsch, eine sechsstimmige Fuge über sein Thema zu hören. „Weil aber nicht jedes Thema zu einer solchen Vollstimmigkeit geeignet ist, so wählte sich Bach selbst eines dazu und führte es sogleich […] auf eine ebenso prachtvolle und gelehrte Art aus, wie er es vorher mit dem Thema des Königs getan hatte.“

Johann Sebastian Bach, das Improvisationsgenie, gerät in Schwierigkeiten. Die Aufgabe, die der Preußenkönig ihm stellt, kann er nicht lösen, jedenfalls nicht so, wie es verlangt wird. Friedrich gibt sich mit der ersten Fugenversion nicht zufrieden, sondern wünscht, eine zweite zu hören. Eine Fuge „mit sechs obligaten Stimmen“. Forkel wird später über das Motiv spekulieren und schreiben: „[…] vermutlich um zu sehen, wie weit eine solche Kunst getrieben werden könne.“ Eine sechsstimmige Fuge, zweihändig gespielt, dazu noch aus dem Stegreif – das ist eine Zumutung, eine Provokation. Weiß Friedrich nicht, was er da verlangt? Oder zeigt er wieder einmal seinen „gehässigen Fehler“, jene „unselige Freude […] alle anderen Menschen demütigen zu wollen“, wie Voltaire ihm einmal an den Kopf werfen wird?

Bach wagt sich an dieses sechsstimmige Risikostück nicht heran, jedenfalls nicht mit diesem Thema. „Ich bemerkte aber gar bald, daß wegen Mangels nöthiger Vorbereitung, die Ausführung nicht also gerathen wollte, als es ein so treffliches Thema erforderte“, wird er wenige Wochen später zugeben. Doch er weiß sich zu helfen. Blitzschnell und geschickt zieht er sich aus der Affäre, indem er ein anderes Thema erfindet und daraus die gewünschte sechsstimmige Fuge extemporiert. Eine grandiose Leistung, die ihm den Beifall aller Anwesenden einbringt. In der Presse wird sogar vom „Vergnügen“ des Königs berichtet.

Der Fugen-Wirrwarr ist damit beendet, und König Friedrich ist offensichtlich so zufrieden, dass er auch noch Bachs Orgelkunst kennen lernen will. An den folgenden Tagen wird Bach „zu allen in Potsdam befindlichen Orgeln geführt, wie er vorher zu allen Silbermannschen Fortepianos geführt worden war,“ und noch einmal zieht er alle Register seines Könnens. Dann ist sein Gastspiel endgültig vorbei. Er verbringt noch ein paar Tage in Berlin bei Carl Philipp Emanuel und seiner Frau Johanna Maria, die ihr zweites Kind erwartet und fährt anschließend nach Leipzig zurück.

Am 18. Mai ist er wieder zu Hause. Ohne Zeit zu verlieren, zieht er sich in seine „Componir-Stube“ zurück, oben in den ersten Stock der Thomasschule, und macht sich an die Arbeit. In Potsdam hat er angekündigt, er wolle das Thema des Königs „in einer ordentlichen Fuga“ zu Papier bringen. Nun will er sein Versprechen auch halten. Zunächst korrigiert er die Melodie und bringt sie in eine brauchbare, abgerundete Form. Dann beginnt er, daraus eine Fuge zu entwickeln. Es wird ein dreistimmiges Stück, das seltsam freizügig und locker klingt mit seinen weitläufigen Zwischensätzen und spielerischen Figuren – wie eine Improvisation. Und es ist wohl auch jene improvisierte Fuge, die er im Potsdamer Schloss gespielt hat. Aus dem Gedächtnis schreibt er sie nieder, zur Erinnerung an seinen großen Auftritt und in der Hoffnung, der König möge sich noch einmal daran erfreuen. Nun könnte er abschließen – aber er tut es nicht. Das Thema hält seine Phantasie in Gang, und er fängt an, neue Funken aus dem königlichen Melodiemodell zu schlagen.

In den folgenden Wochen schreibt er sieben kanonische Sätze über das Thema. Lauter entlegene, kleine Stücke, eines schwieriger als das andere: einen Kanon in der Doppeloktav, einen Krebskanon, einen Kanon im Einklang, einen in Gegenbewegung, einen in Vergrößerung und Gegenbewegung, einen Modulationskanon und eine kanonische Fuge in der Oberquint. Das Ganze ist eine geballte Ladung kontrapunktischer Raffinessen. Musik für Kenner, für Eingeweihte. Und so will Bach sie auch verstanden wissen, denn er schmückt sie mit gelehrten lateinischen Randbemerkungen. Den Sätzen, die insgesamt eine kompositorische Einheit bilden, gibt er den Titel: „Canones diversi super Thema Regium“ (verschiedene Kanons über das königliche Thema) und schreibt noch ein paar tiefsinnige Lobeshymnen in die Noten. Über den Kanon, der sich in vergrößerten Notenwerten entwickelt, setzt er den Spruch: „Notulis crescentibus crescat Fortuna Regis“ (mit den anwachsenden Noten wachse das Glück des Königs). Und über dem Kanon, der aufsteigend von einer Tonart in die andere moduliert, notiert er: „Ascendenteque Modulatione ascendat Gloria Regis“ (und mit der ansteigenden Modulation steige der Ruhm des Königs).

Acht beziehungsreiche Werke sind nun entstanden. Ein ganzer Kosmos an Ideen aus einer einzigen, neuntaktigen Melodie. Am 7. Juli 1747, auf den Tag genau acht Wochen nach seinem Potsdamer Fugenabend, schreibt Bach eine Widmung in die Noten: „Schuldiges Opfer der Dankbarkeit, Sr. Maj. Dem König Friedrich II. dargebracht von J.S. Bach“ und fügt noch ein ausführliches Schreiben hinzu:

„Ew. Majestät weyhe hiermit in tiefster Unterthänigkeit ein Musicalisches Opfer, dessen edelster Theil von Deroselben hoher Hand selbst herrühret. Mit einem ehrfurchtsvollen Vergnügen erinnere ich mich annoch der ganz besondern Königlichen Gnade, da er vor einiger Zeit, bey meiner Anwesenheit in Potsdam, Ew. Majestät selbst, ein Thema zu einer Fuge auf dem Clavier mir vorzuspielen geruheten, und zugleich allergnädigst auferlegten, solches alsobald in Deroselben höchsten Gegenwart auszuführen. Ew. Majestät Befehl zu gehorsamen, war meine unterthänigste Schuldigkeit. Ich bemerkte aber gar bald, daß wegen Mangels nöthiger Vorbereitung, die Ausführung nicht also gerathen wollte, als es ein so treffliches Thema erforderte. Ich fassete demnach den Entschluß, und machte mich sogleich anheischig, dieses recht königliche Thema vollkommener auszuarbeiten, und sodann der Welt bekannt zu machen. Dieser Vorsatz ist nunmehro nach Vermögen bewerkstelliget worden, und er hat keine andere als nur diese untadelhafte Absicht, den Ruhm eines Monarchen, ob gleich nur in einem kleinen Puncte, zu verherrlichen, dessen Größe und Stärke, gleich wie in allen Kriegs- und Friedenswissenschaften, also auch besonders in der Musik, jedermann bewundern und verehren muß. Ich erkühne mich dieses unterthänigste Bitten hinzuzufügen: Ew. Majestät geruhen gegenwärtige wenige Arbeit mit einer gnädigen Aufnahme zu würdigen, und Deroselben allerhöchste Königliche Gnade noch fernerweit zu gönnen. Ew. Majestät allerunterthänigst gehorsamsten Knechte, dem Verfasser. Leipzig, den 7. Juli 1747.“

Schon drei Tage später, am 10. Juli, erteilt Bach den Druckauftrag für sein neues Opus. Auf eigene Rechnung lässt er das Widmungsexemplar auf kostbares Papier stechen und in eine Lederhülle einbinden. Dann fällt ihm noch ein Titel ein, eine Inhaltsangabe, die er pompös in lateinische Worte einkleidet. „Regis Iussu Cantio Et Reliqua Canonica Arte Resoluta“ schreibt er mit der Hand nachträglich auf das Blatt (der auf Befehl des Königs ausgeführte Satz und das übrige nach Kanonkunst gelöst). Damit ist das Prunkstück abgeschlossen. Das Opfer hat seinen letzten Schliff bekommen, und Bach könnte zufrieden sein, denn er hat sein Soll mehr als erfüllt.

Doch zufrieden ist er nicht. Das „treffliche Thema“ lässt ihm weiterhin keine Ruhe. In Potsdam ist er davor zurückgeschreckt, einen sechsstimmigen Satz aus dem langen und schwierigen Königsthema zu entwickeln. Nun wagt er das Experiment. Nun schreibt er sie tatsächlich nieder, die Fuge mit sechs obligaten Stimmen – und schafft ein Bravourstück. Ein abenteuerlich verzweigtes Labyrinth melodischer Linien, verwegener Harmonien und beziehungsreicher Motivverknüpfungen. Ganze Passagen lang lässt er alle Stimmen zugleich arbeiten, spannt den musikalischen Prozess in einen grandios weiten harmonischen Rahmen und durchsetzt ihn mit kühnen Halbtonschritten. Es ist ein kompromisslos dichtes Fugengewebe, gebaut nach dem alten kontrapunktischen Ideal des „Stile antico“, und Bach gibt dem Stück auch eine altertümliche Überschrift. Er nennt es nicht Fuge sondern „Ricercar“, so, wie er auch schon die dreistimmige Fuge aus dem ersten Teil bezeichnet hat. Diesen Ausdruck hat er sonst noch nie verwendet. Warum also hier? Noch dazu bei zwei so gegensätzlichen Fugentypen?

„Ricercar“ ist ein alter italienischer Musikbegriff aus dem 16. Jahrhundert; Bachs Freund und entfernter Vetter Johann Gottfried Walther führt ihn in seinem Musikalischen Lexikon auf das Verb „ricercare“ zurück, das er als „mit Fleiß suchen“ übersetzt. Nach Walther hat der Begriff eine doppelte Bedeutung, denn er kann einerseits für eine sorgfältig gearbeitete „künstliche“ Fuge verwendet werden, andererseits aber auch für einen improvisierten Satz, „wobey es scheine, als suche der Componist die Harmonischen Gänge und Entwürffe, so er hernach in den einzurichtenden Pièces anwenden wolle“. Bach kennt diesen Doppelsinn, und es scheint, als habe ihn der Gedanke fasziniert, das Potsdamer Thema in beiden Formen zu verarbeiten. Zuerst hat er daraus eine freie Fuge komponiert, nun liefert er dem König auch noch die strenge Fuge. Hintergründig hat er beide schon im lateinischen Titel angekündigt, denn die Anfangsbuchstaben der acht Wörter „Regis Iussu Cantio Et Reliqua Canonica Arte Resoluta“ ergeben zusammen nichts anderes als diesen Schlüsselbegriff: R-I-C-E-R-C-A-R.

Um das Ganze noch weiter zu treiben, komponiert er außer dem sechsstimmigen Ricercar zwei Rätselkanons über das Thema Regium, einen zweistimmigen und einen vierstimmigen. Es sind reine Denksportaufgaben, denn die Kanons sind jeweils nur einstimmig notiert, und ihre Einsatzpunkte müssen selbst entschlüsselt werden. „Quaerendo invenietis!“ schreibt er vielsagend an den Rand: „Suchet, so werdet ihr finden“. Ein Bibelzitat aus Matthäus 7, 7. Er geht wohl davon aus, dass der König ebenso bibelfest ist wie er selbst und fordert ihn ungeniert auf, diese Musikrätsel zu lösen.

Und dann komponiert er noch ein drittes, größeres Werk. Eine Triosonate für Flöte, Violine und basso continuo, der er den Titel gibt: Sonata sopr’ il Soggeto Reale. Wieder eine Komposition über das Königsthema, doch diesmal ist sie anders geartet: ganz im zeitgenössischen galanten Stil, ganz nach dem Geschmack des Preußenkönigs. Mit gefühlsbetonten, gefälligen Melodien und Seufzerfiguren, mit Trillern, Läufen und Sprüngen, mit überraschenden Rhythmen, Harmonien und Lautstärken. Bach demonstriert, dass er nicht nur ein virtuoser Fugenspezialist ist, nicht nur ein Meister des spekulativen Kontrapunkts, sondern auch ein Komponist der Moderne. Einer, der die galanten Töne ebenso souverän beherrscht wie alle anderen Kompositionsmethoden.

Wie beim ersten Ricercar lässt er auch der Triosonate einen Canon perpetuus folgen, einen Spiegelkanon, der beliebig oft wiederholbar ist und dessen Oberstimmen in Umkehrung zueinander verlaufen. Mit diesem, wiederum höchst vertrackten, Stück schließt Bach sein Musikalisches Opfer endgültig ab. Es ist eine bunt schillernde Sammlung geworden. Zwei Fugen, eine Triosonate, zehn Kanons – dreizehn Stücke, aus einer einzigen Melodie gewonnen. Tastenmusik, Kammermusik und abstrakte Musik, die eher studiert als gespielt werden soll. Die ganze Bandbreite seines Könnens hat Bach hier ausgebreitet: im freien Satz ebenso wie im strengen Kontrapunkt, im alten Stil ebenso wie in modern-galanter Schreibweise.

Warum dieser kompositorische Aufwand? Diese demonstrative Kunstfertigkeit? Wollte er dem König beweisen, dass er vor keiner Aufgabe kapituliert?

Klein bei geben war nie seine Art. Zeit seines Lebens war er immer bereit, bis zum Äußersten zu gehen. Und er hatte sehr früh gelernt, sich selbst ständig herauszufordern – getrieben von seiner „Begierde in der Musik weiter zu kommen“.

Johann Sebastian Bach, der hochbegabte Sohn einer hochbegabten Musikerfamilie. Geboren wird er am Samstag, dem 21. März 1685 als achtes Kind der Eheleute Johann Ambrosius und Maria Elisabetha Bach. Seine Mutter ist die Tochter eines angesehenen Kürschners namens Valentin Lämmerhirt aus Erfurt. Vater Ambrosius stammt aus der berühmten „musicalisch-Bachischen Familie“, die schon seit Generationen Musiker hervorgebracht hat. Stadt- und Ratsmusikanten, Organisten und Kantoren, allesamt begabt, allesamt erfolgreich. Auch der „Hof- und Stadtmusikus“ Ambrosius Bach macht seinem Namen alle Ehre. Als Direktor der Eisenacher Ratsmusik ist er weit über die Stadtgrenze hinaus bekannt, und der Rat der Stadt Eisenach bestätigte ihm sogar schriftlich, er habe sich „in seiner profession dermaßen qualifiziret […] daß wir unß desgleichen soweit wir gedencken, hiesigen Orths nicht erinnern.“ Die äußeren Verhältnisse, unter denen Sebastian aufwächst, scheinen also recht glücklich zu sein, doch verwöhnt wird nicht. „Ich habe fleißig sein müssen; wer eben so fleißig ist, der wird es eben so weit bringen können,“ antwortet er später als Erwachsener auf die Frage, „wie er es denn angefangen habe, der Kunst in einem so hohen Grade mächtig zu werden.“ Seine Eltern erziehen ihn schon früh zu Ausdauer und harter Arbeit. Im Stadtpfeiferbetrieb seines Vaters muss er viel mithelfen, vermutlich auch bei Verwandten und Freunden, und durch die täglichen, höchst anspruchsvollen musikalischen Anregungen wächst seine „Lust“ zur Musik sehr schnell und ist schon im „zarten Alter ungemein.“

Doch Anfang Mai 1694 stirbt die Mutter. Neun Monate später ist auch der Vater tot. Der kaum zehnjährige Sebastian muss nun mit seinen Geschwistern Jacob und Salome die vertraute Umgebung verlassen. Die Schwester zieht zur Familie Lämmerhirt nach Erfurt, die beiden Knaben werden vom ältesten Bruder Johann Christoph aufgenommen, der in Ohrdruf eine Stelle als Organist an der Michaeliskirche hat. Sein bescheidenes Einkommen reicht jedoch nicht aus, um beide Waisen zu ernähren. Deshalb geht Jacob schon nach einem Jahr wieder zurück nach Eisenach und beginnt dort eine Musikerlehre. Sebastians Unterhalt dagegen ist vorläufig gesichert. Er bekommt einen „Freitisch“ für bedürftige Schüler, braucht als Mitglied im Schulchor kein Schulgeld zu bezahlen und hat zudem Möglichkeiten, als Chorknabe Geld zu verdienen. In der Kurrende, dem Straßenchor, kann er sich wie die anderen armen Kinder der Stadt dreimal im Jahr ein paar Almosen ergattern, und möglicherweise wird er auch ab und zu als Solist engagiert, denn er hat eine auffallend schöne Sopranstimme und singt hervorragend.

Ohrdruf wird seine neue Heimat und Bruder Christoph entwickelt sich zu einer Art Ersatzvater. Er bringt ihm „die ersten Principia auf dem Clavier“ bei, lehrt ihn, Orgel spielen, und es zeigt sich sehr schnell, dass Sebastian für beide Instrumente außergewöhnlich begabt ist. „In kurtzer Zeit hatte er alle Stücke, die ihm sein Bruder freywillig zum Lernen aufgegeben hatte, völlig in die Faust gebracht,“ schreibt Philipp Emanuel und schildert, wie die Wissbegier den Jungen so weit treibt, dass er sogar einen handfesten Streit mit seinem Bruder riskiert. „Ein Buch voll Clavierstücke, von den damaligen berühmtesten Meistern, Frobergern, Kerlen, Pachelbeln […] welches sein Bruder besaß, wurde ihm, alles Bitten ohngeachtet, wer weis aus was für Ursachen, versaget. […] Das Buch lag in einem blos mit Gitterthüren verschlossenen Schrancke. Er holte es also, weil er mit seinen kleinen Händen durch das Gitter langen, und das nur in Pappier geheftete Buch im Schranke zusammen rollen konnte, auf diese Art, des Nachts, wenn jedermann zu Bette war, heraus, und schrieb es, weil er auch nicht einmal eines Lichtes mächtig war, bey Mondenschein ab. Nach sechs Monaten, war diese musicalische Beute glücklich in seinen Händen. Er suchte sie sich, insgeheim mit ausnehmender Begierde, zu Nutzen zu machen, als, zu seinem größten Herzeleide, sein Bruder dessen inne wurde, und ihm seine mit so vieler Mühe verfertigte Abschrift, ohne Barmherzigkeit, wegnahm. [….] Er bekam das Buch nicht eher als nach seines Bruders Absterben, wieder.“

Christophs Ärger ist verständlich, denn seine Notensammlung hat einen beachtlichen Wert. Es handelt sich um kopierte Werke bekannter Komponisten, die er seinem ehemaligen Orgellehrer Johann Pachelbel abgekauft hat, und weitere Kopien könnten ihren Wert erheblich vermindern. Und so nimmt er Sebastian die mühsam erworbenen Schätze auch „ohne Barmherzigkeit“ wieder ab. Der Kleine ist sehr enttäuscht, doch der Streit scheint keine tieferen Auswirkungen zu haben. Das Verhältnis der beiden Brüder bleibt gut, und Christoph bemüht sich auch weiterhin, Sebastians erstaunliches Talent durch ein breit gefächertes musikalisches Programm zu fördern. Um die Schulnoten des Jungen braucht er sich keine Sorgen zu machen, denn Sebastian ist ein hervorragender Schüler. Schon in Eisenach konnte er die Sexta überspringen, weil er den Lernstoff bereits beherrschte, und auch in der angesehenen Lateinschule von Ohrdruf fällt er durch ungewöhnliche Leistungen auf. Dabei wird von den Schülern hier viel verlangt, denn auf dem Lehrplan stehen außer Religion und lateinischer Grammatik, als Grundstock des Unterrichtsstoffes, auch Fächer wie Arithmetik, Geschichte, Geographie, Griechisch, Musik und Naturkunde. Sebastian schafft alle Anforderungen mühelos und schneidet gleich im ersten Schuljahr als Viertbester ab, wobei er viele Mitschüler überholt, die älter sind als er. Die Tertia schließt er sogar als Klassenbester ab, obwohl er mit seinen zwölf Jahren der Jüngste der Klasse ist, und auch in den Sekundajahren bringt er gute Zeugnisse nach Hause. Als er mit vierzehn in die Prima versetzt wird, rangiert er nicht nur auf Platz zwei, sondern liegt inzwischen ganze vier Jahre unter dem Altersdurchschnitt seiner Klassenkameraden. Eine phantastische Schulkarriere. Niemand in der Familie hat etwas Ähnliches aufzuweisen, und der Primaner Sebastian ist wohl auch ein wenig stolz darauf.

Aber auf einmal gibt es Probleme, denn Sebastian verliert seine Freistelle. Mag sein, dass das Geld für die Stipendiaten knapp geworden ist oder die Zahl der Anwärter zugenommen hat, jedenfalls kommt der Vierzehnjährige plötzlich in Bedrängnis. Eine Musikerlehre würde seine Nöte schlagartig beseitigen, doch er hat andere Pläne im Kopf. Er will keine Lehre machen, wie es üblich ist in seiner Familie, sondern möchte lieber die Lateinschule abschließen, um sich für ein Studium an der Universität zu qualifizieren. Will er höher hinaus als sein Vater, seine Brüder, seine Onkel und Vettern? Träumt er davon, nicht nur Stadtpfeifer oder Organist zu werden, sondern eines Tages vielleicht in den Rang eines Kantors aufzusteigen, der akademisch gebildet sein muss?

Sebastian trifft eine gewagte Entscheidung. Vier Monate vor Abschluss der Jahresprüfungen verlässt er nicht nur die Schule, sondern kehrt auch seiner Heimat den Rücken und begibt sich laut Schulverzeichnis „am 15. März 1700 wegen des Mangels an Freitischen nach Lüneburg.“ Die Lüneburger Klosterschule Sankt Michaelis sucht Sänger für ihren Mettenchor und bietet Stipendien dafür an. Sebastian will diese Chance wahrnehmen. Weit weg von Thüringen, ohne das Netzwerk der Bachfamilie und ihre sprichwörtlich guten Beziehungen, traut er sich zu, im fernen Norden sein Glück versuchen. Zweifellos reizt ihn die Aussicht, unabhängig zu sein, aber vor allem hat er wohl auch Lust bekommen, die berühmten riesigen Orgeln in Hamburg und den anderen Hansestädten zu hören und selbst einmal auszuprobieren.

Er reist nicht allein, sondern zusammen mit seinem Klassenkameraden Georg Erdmann, der schon Wochen zuvor aus dem Ohrdrufer Lyceum entlassen worden ist und nun ebenfalls Mettensänger in Lüneburg werden will. Nach einem Fußmarsch von rund 350 Kilometern erreichen sie Ende März ihr Ziel: Lüneburg, eine Stadt von zehntausend Einwohnern, viermal so groß wie Ohrdruf und bedeutendes Handelszentrum zwischen Hannover und Hamburg. Hier wird Sebastian nun zwei Jahre bleiben und wichtige Erfahrungen sammeln. Im Mettenchor wird er „wohl aufgenommen“, und seine schöne Stimme beeindruckt offenbar so sehr, dass man ihn nach dem Stimmbruch nicht etwa entlässt, sondern weiterhin als Sänger beschäftigt. Durch die ständigen Chordienste kann er seinen musikalischen Horizont enorm erweitern, und auch beim Klavier- und Orgelspiel versucht er, „alles zu tun, zu sehen und zu hören, was ihn nach seinen damaligen Begriffen darin immer weiter bringen konnte.“ Im Lüneburger Schloss hat er zudem öfter Gelegenheit, französische Orchestermusik kennen zu lernen, die von der Hofkapelle des Herzogs von Braunschweig-Lüneburg und Celle mit Vorliebe gespielt wird. Darüber hinaus gelingt es ihm, fruchtbare Kontakte zu den Lüneburger Organisten herzustellen, vor allem zu Georg Böhm, dem Orgelmeister an der Johanniskirche, der ihn nicht nur mit seinen eigenen Kompositionen vertraut macht, sondern auch ermutigt, nach Hamburg zu reisen, um dort den berühmten Organisten Johann Adam Reinken zu hören. Reinken ist ein faszinierender Virtuose. Mit weit über siebzig spielt er auf einer der größten und besten Orgeln des 17. Jahrhunderts; der junge Bach ist davon so begeistert, dass er die 45 Kilometer lange Fußreise nach Hamburg gleich mehrere Mal unternimmt.

Im Frühjahr 1702 schließt er die Schule ab. Inzwischen spricht er fließend Latein, hat Französisch- und Italienischkenntnisse und verfügt über ein breites, solides Wissen, das ihn zum Studium an der Universität befähigt. Das aber kann er sich nicht leisten, und so kehrt der Siebzehnjährige nach Thüringen zurück, um sich eine Stelle zu suchen. Er bewirbt er sich um das Organistenamt an der Jacobikirche in Sangerhausen und wird vom Stadtrat auch gewählt; dann aber mischt sich der Landesfürst ein, und die Stelle wird einem älteren, erfahreneren Bewerber gegeben. Ein paar Monate später, im Januar 1703, kann Sebastian dann Mitglied der Weimarer Hofkapelle werden, allerdings nur als „Laquey“, was bedeutet, dass er auch Hofdienste als Sekretär oder Kammerdiener verrichten muss. Eine Arbeit, die alles andere als reizvoll ist für den stolzen, jungen Musiker, und lange hält er es in Weimar auch nicht aus. Im Juli wird er ins benachbarte Arnstadt eingeladen, um die neue Orgel an der so genannten Neuen Kirche zu prüfen, und er bewältigt diese Aufgabe so überzeugend, dass man ihm die Organistenstelle anbietet. Der erste große Berufserfolg. Mit seinen achtzehn Jahren bekommt er nun fast doppelt so viel Gehalt wie in Weimar, braucht nur wenige Dienste in der Woche zu leisten und hat Zeit genug, um sich intensiv musikalisch weiterzubilden.

Bald aber zieht es ihn wieder in die Ferne. Im Oktober 1705 nimmt er vier Wochen Urlaub und wandert knapp vierhundert Kilometer von Arnstadt nach Lübeck, um dort den berühmten Organisten an der Marienkirche Dieterich Buxtehude „zu behorchen.“ Will er ihn wirklich nur hören oder interessiert er sich auch für seine Stelle, die demnächst zu beerben ist? Jedenfalls überzieht er seinen Urlaub um mehrere Monate und kehrt erst Anfang Februar wieder nach Arnstadt zurück. Seine Vorgesetzten sind empört. Am 21. Februar 1706 wird er vor die Kirchenbehörde zitiert und muss sich für sein Verhalten rechtfertigen. Kurz und trocken gibt er zu Protokoll, er habe um Erlaubnis gebeten, nach Lübeck zu reisen, um „daselbst ein und anderes in seiner Kunst zu begreiffen“, und er hoffe, dass das Orgelschlagen unterdessen von seinem Stellvertreter „dergestalt seyn versehen worden, daß deßwegen keine Klage geführet werden können.“ Eine provozierende Antwort, die bei den Herren erneut Ärger hervorruft. Nun werden ihm noch weitere Verfehlungen zur Last gelegt. Zum Beispiel seine Eigenart, vor dem Gemeindegesang ausufernd zu präludieren. Er habe „bißher in dem Choral viele wunderliche variationes gemachet, viele frembde Thone mit eingemischet, daß die Gemeinde darüber confundiret worden“, wird er gerügt. Als man ihn darauf hingewiesen habe, dass er zu lang spiele, sei er „gleich auf das andere extremum gefallen, und hätte es zu kurtz gemachet.“ Auch sein ungebührliches Verhalten neulich, während des Gottesdienstes, wird scharf kritisiert: „Verweißen ihm, daß er leztverwichenen Sontags unter der Predigt in Weinkeller gangen.“ Bach entschuldigt sich: „Sey ihm leid, sollte nicht mehr geschehen, und hatten ihm bereits die Herren Geistlichen deswegen hart angesehen.“ Damit ist die Vernehmung zunächst zu Ende. Sieben Monate später jedoch muss er sich erneut heftige Vorwürfe anhören. Zum wiederholten Male wird ihm vorgehalten, dass er nicht mit dem Schulchor musiziert. Das stimmt. Die Schüler singen schlecht und sind undiszipliniert, weil sie keinen geeigneten Chorleiter haben, wie Bach es verlangt, sondern werden lediglich von einem älteren Schüler dirigiert. Hartnäckig hat er sich deshalb immer wieder geweigert, den Chor auf der Orgel zu begleiten, und er tut es auch jetzt wieder. Stoisch wiederholt er seine alte Forderung, man solle „einen rechtschaffenen Director“ einstellen, dann würde er schon spielen. Doch die Behörde denkt nicht daran, seinen Wünschen nachzukommen. Diesmal wirft ihm das Konsistorium auch noch vor, er habe „ohnlängsten“ eine „frembde Jungfer auf das Chor biethen und musiciren lassen.“ Eine fremde Jungfer? Bach hat offenbar gegen das uralte Verbot verstoßen, Frauen bei der Kirchenmusik mitwirken zu lassen. Doch der Vorwurf ist mehr als kleinlich. In einigen Gemeinden sind Chorsängerinnen längst üblich, und im Übrigen sagt er zu seiner Verteidigung, er habe sich in diesem Fall sogar die Erlaubnis des Pastors geholt.

Der Streit mit der Obrigkeit nimmt kein ein Ende. Bachs musikalische Ansprüche, sein Ehrgeiz und seine Unangepasstheit führen immer wieder zu Schwierigkeiten, und nach drei Jahren sieht er wohl keine Perspektive mehr in Arnstadt. Im Frühjahr 1707 bewirbt er sich auf die angesehene und begehrte Organistenstelle an der St. Blasius-Kirche in Mühlhausen und wird nach einem glänzenden Probespiel auch einstimmig gewählt. Am 1. Juli 1707 beginnt er seinen neuen Dienst, der sehr reizvoll zu sein scheint. Als Organist von St. Blasius ist er gleichzeitig eine Art städtischer Musikdirektor, denn er soll nicht nur Orgel spielen, sondern auch regelmäßig Kantaten aufführen, wobei ihm bei Bedarf städtische Ratsmusiker und Chorsänger aus der Lateinschule zur Verfügung stehen. Außerdem erhält er zum ersten Mal einen umfangreichen Kompositionsauftrag. Zum Ratswechsel, der alljährlich mit einer repräsentativen Musikaufführung festlich begangen wird, komponiert er für den 4. Februar 1708 eine Kantate, die so erfolgreich ist, dass man sie auf Anhieb drucken lässt. Das Verhältnis zwischen dem Rat und dem jungen Organisten scheint gut zu sein. Die Mühlhäuser bringt ihm viel Respekt entgegen, und man geht sogar bereitwillig auf seinen Vorschlag ein, die Orgel der Blasiuskirche zu erneuern und zu erweitern.

Dennoch kann die Stadt ihn nicht lange halten. Am 17. Oktober 1707 heiratet Bach seine Kusine Maria Barbara, mit der er schon längere Zeit liiert ist, und wenige Monate später beschließt der junge Ehemann ganz plötzlich, seinen Arbeitsplatz erneut zu wechseln. Sein ehemaliger Dienstherr Herzog Wilhelm Ernst bietet ihm eine Stelle als Kammermusiker und Hoforganist in Weimar an, und Bach sagt sofort zu, denn die finanziellen Bedingungen sind äußerst lukrativ. Nach nur einem Jahr Dienstzeit reicht er am 25. Juni 1708 bei den völlig überraschten Mühlhäuser Dienstherren sein Entlassungsgesuch ein und versucht, in dem Schreiben seine Motive zu erklären. Offen gibt er zu, die höhere Weimarer Gage würde ihm zur „hinlänglicheren subsistence“ gereichen, aber er deutet auch an, dass es in Mühlhausen „Wiedrigkeit“ und „Verdrießligkeit“ für ihn gegeben habe. Wie er schreibt, habe er seinen „Endzweck, nemlich eine regulirte kirchen music zu Gottes Ehren“ nicht erreichen können. Es ist ihm also nicht gelungen, seine Vision von einer guten Musik in Mühlhausen in die Tat umzusetzen. Offenbar waren die Musiker zu dilettantisch und die Aufführungsbedingungen zu schwierig, um seinen Ehrgeiz zu befriedigen. Die Mühlhauser Ratsherren sind wohl ziemlich verärgert, aber sie reagieren zurückhaltend. Gegen eine höfische Berufung können sie ohnehin wenig ausrichten, und man trennt sich im Einvernehmen von dem jungen Musiker. „Weil er nicht auffzuhalten, müste mann wohl in seine dimißion consentiren“, heißt es bedauernd im Ratsprotokoll, in dem die Entlassung bewilligt wird.

Der Umzug nach Weimar erfolgt ziemlich schnell. Am 14. Juli bezieht Bach mit seiner jungen Frau eine Wohnung im Stadtzentrum, und sechs Tage später wird ihm offiziell sein Jahresgehalt von 150 Gulden plus Naturalien zugesichert. Es ist höher als das seines Vorgängers und entspricht – mit Ausnahme der Zulagen – immerhin dem des Vizekapellmeisters. Wieder ist er ein Stück weiter gekommen auf dem Weg nach oben. Mit Maria Barbara führt er „eine vergnügte Ehe“, in der sieben Kinder geboren werden, von denen allerdings nur vier überleben: seine Tochter Catharina Dorothea und seine Söhne Wilhelm Friedemann, Carl Philipp Emanuel und Johann Gottfried Bernhard. Im beruflichen Bereich nimmt er in der Hierarchie der Hofkapelle jetzt eine privilegierte Stellung ein. Als Organist und Kammermusiker hat er besondere Aufgaben zu erfüllen, und es bietet sich ihm die günstige Gelegenheit, mit guten Berufsmusikern auch eigene Werke einzustudieren und aufzuführen. Schon lange hat er sich autodidaktisch mit Komposition beschäftigt und dabei „größtentheils nur durch das Betrachten der Wercke der damaligen berühmten und gründlichen Componisten und angewandtes eigenes Nachsinnen“ gelernt. Nun erweitert er sein kompositorisches Können und setzt sich mit neuen musikalischen Erfahrungen auseinander. Hier in Weimar schreibt er „die meisten seiner Orgelstücke“, beschäftigt sich intensiv mit Vivaldis Kompositionen, die ihn „musikalisch denken“ lehren, und erhält – nachdem man ihn 1714 zum Konzertmeister der Hofkapelle befördert hat – die reizvolle Aufgabe, monatlich neue „Kirchenstücke“ zu komponieren und aufzuführen.

Sein Ansehen wächst. Und im Herbst 1717 verschafft ihm ein spektakulärer Auftritt am Dresdner Hof auch außerhalb von Weimar große Bewunderung. Als er gebeten wird, gegen den berühmten, aber arroganten Pariser Klaviervirtuosen Louis Marchand in einen Improvisationswettbewerb zu treten, erklärt er sich einverstanden und bietet seinem Gegner per Handschreiben an, „alles was ihm Marchand musikalisches aufgeben würde, aus dem Stegreife auszuführen“. Marchand nimmt die Herausforderung an. Tag und Ort werden verabredet. Zum vereinbarten Termin erscheint der Kurfürst mit einer großen „Gesellschaft von Personen von hohem Range“, und gemeinsam mit Bach wartet man gespannt, wie sich das bevorstehende Duell entwickeln wird. Doch Marchand lässt sich nicht blicken, und es stellt sich heraus, dass er schon in aller Frühe „mit Extrapost aus Dreßden“ abgereist ist. Aus Angst vor einer Niederlage hat er die Koffer gepackt. Bach ist „nunmehr allein Meister des Kampfplatzes“ und nutzt die Gunst der Stunde, um das Hofpublikum mit seinen Improvisationskünsten zu beeindrucken.

In diesem wichtigen Jahr 1717 erscheint auch zum ersten Mal eine gedruckte Nachricht über ihn. Der Hamburger Musiktheoretiker Johann Mattheson berichtet in einer seiner Schriften, er habe Kompositionen des „berühmten Organisten zu Weimar“ gesehen, die „gewiß so beschaffen sind, dass man den Mann Hoch ästhimieren muß.“ Bach scheint in einer guten Phase zu sein, doch sein Dienstalltag wird zunehmend enttäuschender. Am Weimarer Hof gibt es erbitterte Machtkämpfe zwischen den beiden regierenden Herzögen Wilhelm Ernst und Ernst August, und Bach ist ständig in Gefahr, zwischen die Fronten zu geraten, vor allem, weil sein Verhältnis zu dem musikliebenden Herzog Ernst August viel enger ist als das zu Herzog Wilhelm Ernst. Vor dem Hintergrund dieser feindseligen Atmosphäre wird auch die Zusammenarbeit mit den Kapellmusikern immer schwieriger, und Bach kommt wohl allmählich zu der Einsicht, dass ein fruchtbares Musikleben hier in Weimar auf lange Sicht wenig wahrscheinlich ist. Hinzu kommt, dass er für sich selbst auch keine weiteren beruflichen Aufstiegsmöglichkeiten mehr sieht, zumal nach dem Tod des Hofkapellmeisters Johann Samuel Drese dessen Sohn Johann Wilhelm zum Nachfolger ernannt wird. Bach hält also wieder Ausschau nach einer neuen Stelle, und mit Hilfe von Herzog Ernst August gelingt es ihm, Kontakt zu Fürst Leopold von Anhalt-Köthen zu knüpfen, der ihn sofort zu seinem Hofkapellmeister ernennt. Am 5. August 1717 unterzeichnet Bach heimlich den Vertrag in Köthen und reicht, kurz nach seiner Rückkehr aus Dresden, in Weimar die Kündigung ein. Herzog Wilhelm Ernst jedoch macht ihm einen Strich durch die Rechnung und weigert sich, ihn freizugeben. Eigensinnig wiederholt Bach seine Forderung, und vermutlich reißt ihm dabei der Geduldsfaden. Jedenfalls kommt es zu einem Zusammenstoß, der für Bach höchst unerquickliche Folgen hat. Anfang Dezember wird in den Hofakten lapidar vermerkt: „eodem d. 6. Nov., ist der bisherige Concert-Meister u. Hof-Organist, Bach, wegen seiner Halßstarrigen Bezeügung u. zu erzwingenden dimission, auf der LandRichter-Stube arretîret […] worden.“

Bach hinter Gittern. 27 Tage lang muss er ausharren, bevor er in „Ungnade“ entlassen wird. Eine Demütigung, wie er sie wohl noch nie erlebt hat. Weder Friedemann noch Emanuel werden jemals darüber berichten. Nur der Sohn eines Schülers lässt später einmal durchblicken, Bach habe den ersten Teil seines Wohltemperierten Claviers „an einem Orte geschrieben, wo ihm Unmuth, lange Weile und Mangel an jeder Art von musikalischen Instrumenten diesen Zeitvertreib abnöthigte“. Das Wohltemperierte Clavier – ein Gefängnisprodukt? Belege dafür gibt es nicht. Sicher ist nur, dass der Häftling Bach seine ungemütliche Behausung am 2. Dezember wieder verlassen darf. Wenige Wochen später übersiedelt er nach Köthen, wo er mit offenen Armen empfangen wird, und spätestens am 29. Dezember dürfte er den größten Ärger abgeschüttelt haben. An diesem Tag wird ihm nämlich sein erstes Gehalt ausgezahlt: 400 Taler. So viel hat er in seinem ganzen Berufsleben noch nie verdient.

32 Jahre ist er inzwischen alt, und er kann stolz sein auf seine Karriere. Stufe um Stufe hat er sich emporgearbeitet – vom Kirchenorganisten bis zum höfischen Konzertmeister – und mit jedem neuen Amt ist auch sein Prestige gewachsen. Nun darf er sich Hochfürstlich Anhalt-Cöthenischer Capellmeister nennen und hat damit den höchsten Rang erreicht, den ein Musiker üblicherweise erreichen kann. Er gehört zu den bestbezahlten Hofbeamten in Köthen, und auch sonst scheint er das große Los gezogen zu haben. Dreizehn Jahre später wird er in einem Brief an seinen Schulkameraden Georg Erdmann einmal wehmütig sinnieren: „Daselbst hatte einen gnädigen und die Music so wohl liebenden als kennenden Fürsten; bey welchem auch vermeinete meine Lebenszeit zu beschließen.“ Da allerdings gehören die goldenen Tage von Köthen schon längst der Vergangenheit an.

Die Arbeitsbedingungen in Köthen sind nahezu ideal. Fürst Leopold ist ein musikalisch gebildeter junger Mann, der seinem neuen Hofkapellmeister außerordentlich viel Achtung entgegenbringt und ihn in jeder Hinsicht unterstützt. Bach hat ein ausgezeichnetes Orchester zur Verfügung, siebzehn hochrangige Musiker, von denen die meisten exzellente Solisten sind. Mit diesem Ensemble kann er nun in seinem eigenen Haus so produktiv proben, wie er sich das wohl immer gewünscht hat. Als Leiter einer Hofkapelle muss er jetzt nicht mehr für Kirchenmusik sorgen, sondern hat die Aufgabe, Musik zur höfischen Unterhaltung zu liefern. Das Bedürfnis danach ist groß und die Anlässe sind zahlreich. Geburts- und Namenstage, Neujahrsfeste, musikalische Soireen – Bach hat viel zu tun, und immer wieder hat er die Möglichkeit, auch eigene Stücke zum Programm beizusteuern. Wieder erkundet er neues Terrain und komponiert für seine Musiker „eine Menge […] Instrumentalsachen, von allerley Art, und für allerley Instrumente“. Konzerte, Orchestersuiten, Solosonaten, Klavierstücke. Eine unübersehbare Fülle von neuen Werken.

Köthen hat aber auch seine Schattenseiten. Die Leute nennen es spöttisch „Kuh-Köthen“, weil es so abgelegen, klein und verschlafen ist. Bach ist wohl froh, wenn er ab und zu verreisen kann, um wieder einmal andere Eindrücke zu gewinnen. 1719 wird er nach Berlin geschickt, wo er im Auftrag des Fürsten ein neues Cembalo kaufen soll, und möglicherweise begegnet er hier dem Bruder des verstorbenen Preußenkönigs, Markgraf Christian Ludwig von Brandenburg, der bei ihm ein paar Kompositionen für seine Kapelle bestellt. Zwei Jahre später widmet Bach ihm sechs Brandenburgische Konzerte und schreibt in seinem Vorwort, er habe sich „die Freiheit genommen, Eurer Königlichen Hoheit meine ergebensten Aufwartungen mit den vorliegenden Konzerten zu machen“. Einen ähnlichen Widmungstext wird er achtundzwanzig Jahre später dem Großneffen des Markgrafen schreiben – Preußenkönig Friedrich II.

Als Bach im Juli 1720 von einer Reise nach Karlsbad zurückkehrt, wohin er den Fürsten begleitet hat, muss er Entsetzliches erfahren. Maria Barbara ist tot. Die 35-Jährige ist ganz plötzlich gestorben und auch bereits begraben, „ohngeachtet er sie bey seiner Abreise gesund und frisch verlassen hatte“, wie Carl Philipp Emanuel später berichtet. „Die erste Nachricht, daß sie krank gewesen und gestorben wäre, erhielt er beym Eintritte in sein Haus.“ Eine Tragödie. Die vier Kinder, Catharina Dorothea, Wilhelm Friedemann, Carl Philipp Emanuel und Johann Gottfried Bernhard, sind zwischen fünf und elf Jahre alt, und Bach muss sie nun ganz alleine versorgen. Fünfzehn Monate später, am 3. Dezember 1721, heiratet er die 20-jährige Anna Magdalena, Tochter des Hoftrompeters Johann Caspar Wilcke aus Weißenfels, eine hochbegabte Sängerin, die als Kammermusikerin am Köthener Hof angestellt ist. Die junge Frau bringt neues Leben ins Haus, und das Ereignis wird groß gefeiert. Acht Tage nach der Hochzeit heiratet auch Fürst Leopold, und seine Wahl ist, wie sich später herausstellt, auf eine „amusa“ gefallen. So jedenfalls nennt Bach die junge Fürstin Friederica Henrietta, die sich anscheinend nicht für Musik interessiert, was zur Folge hat, dass auch die musikalische Begeisterung des Fürsten spürbar nachlässt. Der Musiketat wird drastisch gekürzt, die Hofkapelle reduziert und wieder einmal sieht Bach sich gezwungen, seine „Fortun anderweitig zu suchen“. Im Juni 1722 wird die Stelle des Leipziger Thomaskantors frei und Bach bewirbt sich auf den angesehenen und traditionsreichen Posten, obwohl es ihm „anfänglich gar nicht anständig seyn wollte, aus einem Capellmeister ein Cantor zu werden“, wie er später eingesteht. Nach langem Hin und Her wird er schließlich auch gewählt, und am 5. Mai 1723 kann er seinen Vertrag endlich unterschreiben. Drei Wochen später trifft er mit der Familie und „4. Wagen mit Haus-Rath beladen“ in Leipzig ein, und Anfang Juni wird er offiziell in sein neues Amt eingewiesen. Dabei ermahnt ihn der Schulinspektor und Pastor der Thomaskirche, „sich dem löblichen Consistorio zu unterwerffen, E.E. Rat als Patronum zu ehren, den Herrn Superint. | seinen Vorgesetzten zu erkennen, fridlich und schiedlich mit denen Herren Collegiis insgesamt, sonderlich mit dem Herrn Rectore zu leben, der jugend pflichtgemäß vorzustehen, und überhaupt, das Cantorat-Amt zu St. Thomae, dem Herkommen gemäs, gebührend zu verwalten“. Ein Anfang, der nichts Gutes verheißt. Kann Bach, dieser eigenwillige Musiker, tatsächlich so viel Unterwürfigkeit aufbringen, wie man hier von ihm erwartet?

Mit Elan stürzt er sich in die Arbeit. Als Director Musices ist er verantwortlich für die Musik in den vier Leipziger Stadtkirchen, und er macht sich sofort daran, einen großen Fundus an Kirchenkantaten zu schreiben, um in Zukunft darauf zurückgreifen zu können. Schon im ersten Amtsjahr komponiert er vierzig Kantaten, im nächsten bringt er fast sechzig zu Papier, und so entstehen im Laufe der Zeit fünf komplette Kantatenjahrgänge. Fast dreihundert Werke. Jedes für sich ein Experiment, komponiert mit der Absicht, die bisherigen Grenzen der Gattung zu sprengen. Andere große „Kirchenstücke“ kommen hinzu: die Johannes-Passion, das Magnifikat, das Sanctus der Messe in h-moll, das Oster-Oratorium, die Matthäus-Passion, die Markus-Passion, das Weihnachts-Oratorium. Noch größere, noch beziehungsreichere, noch unkonventionellere Kompositionen, die den Sängern und Musikern ein weit höheres Maß an Können abfordern als sie es bisher gewohnt waren. Bach ist sich darüber im Klaren, doch er denkt nicht daran, seine Ansprüche herunterzuschrauben. Ausdrücklich legt er Wert auf die Feststellung, dass seine Musik „ohngleich schwerer und intricater“ sei, als das, was in den Leipziger Kirchen bisher aufgeführt worden ist. Und er produziert unermüdlich weitere „intricate“ Werke – Motetten, weltliche Kantaten, Festmusiken, Orgelstücke, Orchester-, Kammer- und Cembalokompositionen – seine Kreativität scheint grenzenlos, seine Leistungsfähigkeit fast unerschöpflich zu sein.

Dabei hat er einen Arbeitstag von fünfzehn bis sechzehn Stunden und wird von Zwängen diktiert, die alles andere als angenehm sind. Als Kantor der Thomasschule muss er nicht nur Vokal- und Instrumentalmusik unterrichten sondern auch andere Fächer wie zum Beispiel Latein. Dabei kann er sich zwar auf eigene Kosten vertreten lassen, doch viel Entlastung bringt ihm das nicht, denn, was er an Zeit hier einspart, investiert er in zusätzliche Proben und Einzelunterricht, um die musikalischen Leistungen der Schüler zu verbessern. Einmal im Monat ist er verpflichtet, die Oberaufsicht an der Schule zu übernehmen, was bedeutet, dass er sich eine Woche lang mit disziplinärem Kleinkram herumschlagen muss. Von fünf Uhr früh bis abends um neun hat er dafür zu sorgen, dass die Knaben „bey dem Gebet völlig angekleidet erscheinen“, „ihre Repetir-Stunden fleißig halten“, nicht „mit dem Trunck überladen“ nach Hause kommen“ oder mit „zechen, spielen und dergleichen“ gegen die Schulordnung verstoßen. Für Bachs Temperament sicher eine Tortur, die Stress verursacht und zusätzliche Kraft kostet. Auch außerhalb der Schule gibt es unglaublich viel zu erledigen. Sonntags muss er den ersten Thomanerchor dirigieren, freitags die Morgenandacht gestalten, hinzu kommen musikalische Aufführungen bei Hochzeiten, Beerdigungen, Stadt- und Kirchenfesten. Ständig müssen Chor- und Orchesterproben abgehalten, Noten beschafft, Kopisten-Arbeiten überwacht, Instrumente gewartet und Musiker beaufsichtigt werden. Und weil Bach ein geschäftstüchtiger Mann ist, betreibt er nebenher auch noch eine Reihe von Privatgeschäften – seinen Klavierunterricht, seinen Musikalienhandel, seinen Instrumentenverleih und -verkauf, seine Orgelgutachten, die notwendigerweise mit vielen Reisen verbunden sind.

Verständlich, dass er bei diesen enormen Belastungen ab und zu eine Singstunde ausfallen lässt und versucht, wenigstens einen Teil der anstrengenden Arbeit auf Vertreter abzuwälzen. Dafür haben seine Vorgesetzten jedoch kein Verständnis. Ihre Unzufriedenheit wächst, und am 2. August 1730 kommt es während einer Stadtratssitzung zu heftigen Anklagen gegen den unzuverlässigen Thomaskantor. Einer der Ratsherren kritisiert, Bachs Stellvertreter habe schlechten Lateinunterricht abgeliefert und ereifert sich, „es habe derselbe sich nicht so, wie es seyn sollen, aufgeführet, Notabene ohne Vorwissen des Regierenden Herrn Bürgermeisters einen Chor Schüler aufs Land geschicket. Ohne genommenen Urlaub verreiset etc. etc.“. Ein zweiter Stadtrat schlägt eine noch schärfere Tonart an und wettert, „es thue der Cantor nicht allein nichts, sondern wolle sich auch diesfals nicht erklären, halte die Singestunden nicht, es kämen auch andere Beschwerden dazu, Änderung würde nöthig seyn…“ Und ein dritter Kollege geht sogar so weit zu behaupten, dass „der Cantor incorrigibel sey.“ Die Wellen schlagen hoch, und die erbosten Behördenvertreter vereinbaren schließlich, Bach zu bestrafen und „dem Cantor die Besoldung zu verkümmern.“

Bei der nächsten Verteilung von Zusatzhonoraren geht Bach tatsächlich leer aus. Doch er denkt nicht daran, sich zu den Vorwürfen zu äußern, sondern geht stattdessen selbst in die Offensive und schickt dem Rat am 23. August ein zehn Seiten langes Papier mit dem Titel: „Kurtzer, iedoch höchstnöthiger Entwurff einer wohlbestallten Kirchen Music; nebst einigem unvorgreiflichen Bedencken von dem Verfall derselben.“ Darin prangert er die desolaten Zustände an, die ihm hier in Leipzig zugemutet werden. Einerseits stelle man hohe Erwartungen an seine Kirchenmusik, andererseits aber sei man nicht bereit, die Musiker angemessen zu bezahlen, beschwert er sich. Schonungslos rechnet er den Ratsleuten vor, dass er mindestens sechsunddreißig Sänger benötige, um ordentlich musizieren zu können. Die Thomasschule würde jedoch viel zu vielen untüchtigen und „zur music sich gar nicht schickenden Knaben“ Platz bieten, deshalb habe er zur Zeit nur „17 zu gebrauchende, 20 noch nicht zu gebrauchende und 17 untüchtige“ Sänger in seinen Chören. Zudem seien elf von den achtzehn bis zwanzig Orchesterstellen wegen mangelnder Finanzierung nicht besetzt, und er müsse sich stattdessen mit acht fest angestellten Musikern begnügen – vier Stadtpfeifern, drei Kunstgeigern und einem Gesellen. „Von deren qualitäten und musicalischen Wißenschafften aber etwas nach der Wahrheit zu erwehnen, verbietet mir die Bescheidenheit“, kommentiert er bissig und erklärt, sie seien teilweise schon pensioniert und „theils auch in keinem solchen exercitio […] wie es wohl seyn solte.“

Schlechte musikalische Qualität – das ist Bachs empfindlichster Punkt. Schon in Arnstadt und Mühlhausen hatte er sich deswegen mit der Obrigkeit angelegt. Nun versucht er wieder einmal, eine Behörde von seinen künstlerischen Ansprüchen zu überzeugen. Doch seine Mühe ist umsonst, die Stadträte antworten nicht einmal auf seine Eingabe, und sein Papier landet irgendwo in einem Aktenschrank. Bach ist empört. Am 28. Oktober schreibt er seinem alten Jugendfreund Georg Erdmann, der mittlerweile als russischer Diplomat in Danzig lebt, einen langen Brief, in dem er sich seinen Ärger von der Seele redet. Er habe eine „wunderliche und der Music wenig ergebene Obrigkeit“ und müsse „mithin fast in stetem Verdruß, Neid und Verfolgung leben“, entrüstet er sich. Im Übrigen sei Leipzig „ein sehr theurer Orth“ und sein Dienst sei „bey weitem nicht so erklecklich als mann mir Ihn beschrieben“. Zum Beweis gibt er sein Jahreseinkommen an, das wegen der unregelmäßigen Nebeneinkünfte – wie zum Beispiel Beerdigungsmusiken – ständigen Schwankungen unterworfen sei. „Meine itzige station belaufet sich etwa auf 700 rthl., und wenn es etwas mehrere, als ordinairement, Leichen gibt, so steigen auch nach proportion die accidentia; ist aber eine gesunde Lufft, so fallen hingegen auch solche, wie denn voriges Jahr an ordinairen Leichen accidentien über 100 rthl. Einbuße gehabt. In Thüringen kan ich mit 400 rthl. weiter kommen als hiesigen Ohrtes mit noch einmahl so vielen hunderten, wegen der exceßiven kostbahren Lebensarth.“

Bach ist enttäuscht. Nach sieben Jahren in Leipzig muss er sich eingestehen, dass man ihm hier nicht die Achtung entgegenbringt, die er erwartet. Weder seine gewaltige Kantatenproduktion noch so außergewöhnliche Werke wie etwa die „grosse Passion“ nach dem Evangelisten Matthäus haben bei seinen Vorgesetzten großen Eindruck hervorgerufen. Das verletzt ihn. Mehr noch – es bringt ihn in Rage. Die Ereignisse der letzten Wochen haben das Fass zum Überlaufen gebracht, und an diesem 28. Oktober 1730 ist er so zornig, dass er seinen Freund Erdmann bittet, ihm in Danzig eine neue Stelle zu vermitteln.

Ob er es wirklich ernst meint, ist fraglich. Jedenfalls bleibt er in Leipzig und lernt, sich mit den Verhältnissen zu arrangieren, wobei ihm die „Protection“ des Dresdner Hofs gute Dienste leistet. 1733 widmet Bach dem sächsischen Kurfürsten Friedrich August seine Missa in h-moll und bittet darum, ihm den Titel des kurfürstlich-sächsischen Hofkomponisten zu verleihen, um sich in Zukunft besser vor den Attacken der „wunderlichen Obrigkeit“ schützen zu können. Zunächst hat er zwar keinen Erfolg, aber nach drei Jahren lässt ihm der Kurfürst das gewünschte „Praedicat“ dann doch durch den Grafen von Keyserlingk überreichen. Das Warten hat sich gelohnt. Der neue Titel bringt Bach nicht nur die ersehnte Anerkennung des Dresdner Hofs, sondern stärkt auch seine Position in Leipzig. Als er im Sommer 1736 mit dem Rektor der Thomasschule in Kompetenzstreitigkeiten gerät, kämpft er so lange um seine Rechte, bis die Affäre schließlich per königlichem Dekret entschieden wird – zu seinen Gunsten. Der Titel hat sich als Schutzschild bewährt. Bach ist bis zu einem gewissen Grade unangreifbar geworden, und niemand führt mehr öffentliche Beschwerden gegen ihn.

Der Kleinkrieg aber bleibt, und im Frühling 1739 kommt es zu einer entscheidenden Krise. Nach einem Aufführungsverbot seiner Passionsmusik ist Bach so entmutigt und verärgert, dass er sein Verhalten ändert. Er reduziert seine schöpferische Aktivität für die Kirchenmusik, zieht sich zurück – soweit es seine Amtstätigkeiten erlauben – und verlagert seine Energie darauf, das Spektrum seiner kompositorischen Künste zu erweitern. Immer häufiger verbringt er nun seine Zeit zu Hause in der „Componir-Stube“, vertieft sich in die komplexe Welt der alten Kontrapunktkunst und schreibt zunehmend kühnere Werke, in denen er die „verstecktesten Geheimnisse der Harmonie in die künstlichste Ausübung“ bringt und „die Vollstimmigkeit in ihrer größten Stärke“ zeigt. Mehr denn je konzentriert er sich darauf, die Natur der Musik – ihr „wesen“– zu erschließen, denn er versteht sich als Musikgelehrter, als Komponist, der „Wißenschaft […] in der Musique erlanget“ hat. Vom wissenschaftlichen Ehrgeiz getrieben, will er nun dieses „wesen der Music“ noch intensiver erforschen. Nun will er suchen, ausloten, experimentieren, um alles das hervorzubringen, „was in der Kunst möglich ist“. Vor allem aber, um den eigentlichen Zweck dieser Kunst zu erreichen, den „Beweiß“ nämlich, „daß […] die Musica von Gottes Geist […] angeordnet worden“ ist.

Dabei ist er weder bigott noch ein verschrobener Sonderling. Er trinkt gerne einen guten Tropfen und sucht trotz seiner vielen Beschäftigungen häufig „Gelegenheit mit braven Leuten sich mündlich zu unterhalten, weil sein Haus einem Taubenhause u. deßen Lebhaftigkeit vollkommen“ gleicht. Gesellig und humorvoll kann er sein und sich „zu einer leichten und schertzhaften Denkart bequemen“, obwohl er von Natur aus ein „ernsthaftes Temperament“ hat. Später wird man ihm nachsagen, dass er sich „friedfertig, ruhig und gleichmüthig […] bei allen Widerwärtigkeiten“ verhalten habe, „so lange es nur seine eigene Persönlichkeit betraf.“ Doch wenn „seiner Kunst, seinem Heiligthume, zu nahe getreten wurde“, konnte es passieren, „dass er gewaltig in Harnisch gerieth und seinem Eifer in den stärcksten Ausdrücken Luft zu machen suchte“. Mit Anna Magdalena ist er anscheinend glücklich verheiratet, und er kümmert sich sorgfältig um die Ausbildung seiner Kinder. Aber beide müssen in ihrer Partnerschaft auch viel Leid ertragen, denn sieben ihrer dreizehn gemeinsamen Kinder sterben früh, ein Sohn ist lernbehindert, und ein Sohn aus erster Ehe verstrickt sich in finanzielle Schwierigkeiten und stirbt im Alter von vierundzwanzig Jahren.

„Schmerzen und Wehmuth“ muss er ebenso in Kauf nehmen wie Angriffe auf seine künstlerische Persönlichkeit. Im Frühjahr 1737 veröffentlicht ein neunundzwanzigjähriger Komponist namens Johann Adolf Scheibe in der Zeitschrift Der Critische Musicus einen anonymen Artikel, in dem er die Musik des zweiundfünfzigjährigen Bach in Grund und Boden verdammt. Ironisch nennt er ihn einen „großen Mann“, der „die Bewunderung gantzer Nationen“ sein würde, „wenn er mehr Annehmlichkeit hätte, und wenn er nicht seinen Stücken durch ein schwülstiges und verworrenes Wesen das Natürliche entzöge, und ihre Schönheit durch allzugroße Kunst verdunkelte“. Ein vernichtendes Urteil. Doch Scheibe hat nur ausgesprochen, was viele seiner Zeitgenossen denken. Bachs Musik gilt als überholt, als zu schwierig. Der Musikgeschmack hat sich in den letzten Jahren entscheidend verändert. Die junge Generation lehnt die alten „Contrapunctisten“ ab und schwärmt für leichte „Galanterie-Stückgen“. Neue Einfachheit ist gefragt. Musik, die vor allem Gefühle zum Ausdruck bringen soll – singbare Melodien und gefällige Klänge, die von jedem verstanden werden. Bachs Musik gehört nicht dazu. Und Scheibe ist der erste, der aggressiv dagegen vorgeht.

Seine Kritik erregt Aufsehen und löst unter den Anhängern von Bach große Empörung aus. Der Leipziger Universitätsdozent Johann Abraham Birnbaum verfasst ein langes Schreiben, in dem er zu Scheibes Vorwürfen Stellung nimmt und Bachs Musik vehement verteidigt. Aber auch andere fühlen sich aufgerufen, um für Bach öffentlich Partei zu ergreifen. Einer von ihnen ist Lorenz Christoph Mizler, ein ehemaliger Theologiestudent, der während seiner Studienzeit in Leipzig zu Bachs Schülern gehörte. Zur Verteidigung von Bach stellt er seine Monatsschrift Neu eröffnete Musikalische Bibliothek als Forum zur Verfügung und greift schließlich selbst in die Debatte ein. In einem Artikel vom 5. März 1739 wirft er Scheibe Unkenntnis vor und macht in aller Deutlichkeit darauf aufmerksam, dass Bach nicht nur die alten Kompositionsmethoden beherrscht. „Wenn aber Herr Bach manchmahl die Mittelstimmen vollstimmiger setzet als andere, so hat er sich nach den Zeiten der Musik vor 20 und 25 Jahren gerichtet. Er kan es aber auch anders machen, wenn er will.“ Triumphierend setzt er noch hinzu, dass die Aufführung einer Bach-Kantate zu Ostern letzten Jahres „vollkommen nach dem neuesten Geschmack eingerichtet gewesen, und von iedermann gebillichet worden“ sei. „So wohl weiß sich der Herr Capellmeister nach seinen Zuhörern zu richten.“

Bach selbst äußert sich nicht. Statt Artikel zu schreiben konzentriert er sich auf seine Arbeit und komponiert weiterhin rätselhafte, unmoderne Werke – vielleicht als Antworten auf Scheibe, sicher aber als persönliche Herausforderung. Neue, experimentelle Werke entstehen – Kanons, Fugen und große Instrumentalzyklen – und einige dieser Werke entwickelt er aus einem einzigen melodischen Gedanken: Anfang der 40er Jahre schließt er die Goldberg Variationen ab, 1742 schreibt er die erste Fassung der Kunst der Fuge. In den nächsten Jahren komponiert er die Kanonischen Veränderungen über Vom Himmel hoch, und Mitte Mai 1747 macht er sich daran, das Thema Friedrichs des Großen zu seinem Musikalischen Opfer zu verarbeiten. Nicht nur im „stile antico“, sondern auch im „itzigen musicalischen gustum“, im neuen Modestil also, denn er kann es auch „anders machen, wenn er will.“

Drei Monate später. 1. September 1747. Lorenz Christoph Mizler, der seit einigen Jahren in Polen lebt, schreibt einen Brief an seinen alten Bekannten Meinrad Spieß, den Musikdirektor der Benediktinerabtei im süddeutschen Irsee. Beide haben sich lange nicht gesehen, und Mizler teilt ihm ein paar wichtige Neuigkeiten aus seinem Leben mit. Am 28. Juni sei er in Erfurt zum Doktor der Medizin promoviert worden, berichtet er und fügt hinzu: „Auf meiner Rückreise über Leipzig habe Herrn Capellm. Bach gesprochen, welcher mir seine Berlinische Reise u. Geschichte von der Fuge, die er vor dem König gespielt, erzählt, welche nächstens in Kupfer wird gestochen werden, u. in dem Packet der Soc. ein Exemplar zum Vorschein kommen. Ich habe den Anfang schon davon gesehen.“

Mizler hat also Gelegenheit gehabt, Bachs Musikalisches Opfer zu Gesicht zu bekommen – zumindest den ersten Teil, denn das Opus war zum Zeitpunkt seines Aufenthalts in Leipzig noch nicht fertig. Inzwischen scheint das der Fall zu sein und nach Angaben von Mizler soll es demnächst im Druck erscheinen. Doch was bedeutet seine Bemerkung, Bachs Stück würde „in dem Packet der Soc. als Exemplar zum Vorschein kommen“?

Neun Jahre zuvor hat Mizler einen Verein gegründet, die Societät der musicalischen Wissenschaften, zu deren Mitgliedern auch Pater Spieß gehört. Es ist ein ausgewählter Kreis von Musikgelehrten, der sich zum Ziel gesetzt hat, „die Majestät der alten Musik“ wiederherzustellen. Die Zahl der Mitglieder soll auf zwanzig Personen begrenzt sein, und laut Statuten müssen alle studiert haben – „es mag solches auf Academien oder zu Hause geschehen seyn“. Außer einem hohen Bildungsgrad wird profunde musikalische Sachkenntnis gefordert, um in die Gruppe aufgenommen zu werden, „blose practische Musikverständige“ haben darin keinen Platz, und jedes Mitglied ist zudem verpflichtet, einmal im Jahr eine theoretische oder praktische Arbeit abzuliefern. Mizler schickt sie in einem Zirkularpaket um Ostern und um den Michaelistag an alle Teilnehmer zur Begutachtung, und jährlich verleiht man dafür auch zwei Preise, einen in der Theorie, den andern in der Praxis.

Bis zum Sommer 1747 war es Mizler gelungen, dreizehn illustre Mitglieder für seine Runde zu gewinnen – unter ihnen die berühmten Komponisten Georg Philipp Telemann, Georg Friedrich Händel, Gottfried Heinrich Stölzel und Carl Heinrich Graun. Bach jedoch hatte lange gezögert, dem Verein beizutreten. Erst als Mizler ihn im Juni bei seinem Besuch in Leipzig noch einmal aufforderte, war er bereit dazu. Vielleicht haben ihn die neuen Satzungen überzeugt, in denen von gegenseitiger Solidarität die Rede ist, denn es heißt da unter anderem: „Wenn ein Mitglied von einem andern, der kein Mitglied ist, in Schriften angegriffen wird, so ist die ganze Societät verbunden, dessen Ehre bestmöglich retten zu helfen“.

Bach, nunmehr vierzehntes Mitglied der Societät, liefert im Herbst seinen ersten Jahresbeitrag ab. Er schickt den Kollegen ein paar Exemplare jenes dreifachen Rätselkanons für sechs Stimmen, mit dem er sich stolz von dem Maler Elias Gottlob Haußmann hat porträtieren lassen. Es ist ein kleines, äußerst komplexes Renommierstück voller Zahlen- und Namensymbolik, das hunderte von verschiedenen Auflösungen zulässt. Außerdem gibt er noch seine Orgelvariationen in Umlauf, die Canonischen Veränderungen über das Weynacht-Lied: Vom Himmel hoch da komm ich her. Gelehrte kontrapunktische Kunst von höchster Qualität. Doch beides reicht ihm noch nicht. Er will auch sein neuestes Opus präsentieren, sein Musikalisches Opfer, das mittlerweile im Druck vorliegt. Hundert Exemplare hat Bach auf eigene Rechnung stechen lassen. Am 30. September gibt er per Annonce bekannt, es habe „nunmehro die Presse paßiret“ und sei sowohl bei ihm als auch bei seinen „Herren Söhnen in Halle und Berlin“ für einen Taler pro Stück zu haben. Nun legt er das Musikalische Opfer zusätzlich ins Michaelispaket. Als vorzeitigen Jahresbeitrag sozusagen, für die Saison 1748.

Das Opus ist damit zum Doppelpräsent geworden. In schmuckloser Druckfassung wird es an die Societätsmitglieder verschickt. In prächtiger Sonderausstattung geht es nach Potsdam zu Friedrich II., dem es „in tiefster Unterthänigkeit“ von seinem „allerunterthänigst gehorsamsten Knechte, dem Verfasser“ gewidmet worden ist. Ein taktisch geschickter Schachzug. Einerseits kann Bach sicher sein, dass sein Werk bei den Fachkollegen großen Eindruck hinterlassen wird. Andererseits hofft er, dass auch der König seiner Bitte entspricht, die Arbeit „mit einer gnädigen Aufnahme zu würdigen“.

Er hofft vergeblich, seine Bitte läuft ins Leere. Bach erhält weder Hoftitel noch ein nennenswertes Geschenk für sein Musikalisches Opfer. Friedemann und Emanuel erwähnen kein Wort von einer Belohnung, und auch sonst ist nirgendwo die Rede davon. Über ein Honorar oder wenigstens ein Dankschreiben des preußischen Hofs wird nie etwas bekannt, nicht einmal über eine Empfangsbestätigung. Vielleicht hat Bach schon in Potsdam ein Präsent erhalten. Besonders eindrucksvoll kann es allerdings nicht gewesen sein, denn Carl Philipp Emanuel wird Jahrzehnte später die berühmtesten Wohltäter seines Vaters der Reihe nach auflisten und dabei sehr feine Unterschiede machen: „Fürst Leopold in Cöthen, Herzog Ernst August in Weimar, Herzog Christian in Weißenfels haben ihn besonders geliebt u. auch nach proportion beschenckt. Außerdem ist er in Berlin u. Dreßden besonders geehrt worden.“

Geehrt, aber nicht „geliebt u. auch nach proportion beschenckt.“ Mit anderen Worten: der Enthusiasmus des Preußenkönigs für Bach hielt sich in Grenzen. Dabei konnte er durchaus großzügig sein, wenn er von einem Musiker begeistert war. Dem sächsischen Hofkapellmeister Johann Adolf Hasse zum Beispiel überreichte er einmal zum Dank für einen Auftritt in seiner Kammermusik „einen prächtigen mit Brillanten besetzten Ring“. Seinem Flötenlehrer Johann Joachim Quantz zahlte er sogar lebenslänglich ein glänzendes Jahresgehalt von 2000 Talern und honorierte ihm darüber hinaus noch jede Komposition und jede selbstgebaute Flöte. Hasse und Quantz waren seine großen Favoriten, denn beide komponierten Musik nach seinem Geschmack: neue, „galante“ Musik nach italienischem Vorbild, mit schmeichelnden Melodien, einfachen Harmonien, pulsierenden Rhythmen und überschaubaren, immer wiederkehrenden Formen. Für diese Musik schwärmte Friedrich seit seinem sechzehnten Lebensjahr, nachdem er am Dresdner Hof zum ersten Mal eine Oper von Hasse hörte. Später verlangte er, dass auch sein Hauskomponist Carl Heinrich Graun solche Opern schrieb. Er selbst komponierte ebenfalls in diesem Stil: Arien nach dem Muster von Hasse, Flötenwerke nach den Modellen von Quantz. Experimente erlaubte er sich nicht. In seinen Kammerkonzerten spielte er nur seine eigenen Stücke und Kompositionen von Quantz, in seinem Opernhaus ließ er vor allem Bühnenwerke von Hasse und Graun aufführen. Mit gleich bleibender Begeisterung.

Sein musikalischer Horizont war beschränkt, und entsprechend starr verhielt er sich: was ihm gefiel, wollte er immer wieder hören, was ihm nicht gefiel, lehnte er ab. Die neue, unkonventionelle Musiksprache seines Cembalisten Carl Philipp Emanuel Bach mochte er nicht hören, weil sie ihm zu leidenschaftlich war, zu gefühlvoll und zu bizarr. Zwar räumte er ein, dass Musik fähig wäre „einem das Wasser in die Augen zu pumpen“, aber sie sollte die Grenzen der Vernunft nicht überschreiten. „Es freut mich immer, wenn ich finde, daß sich der Verstand mit der Musik zu schaffen macht“, sagte er einmal, „wenn eine schöne Musik gelehrt klingt, das ist mir so angenehm, als wenn ich bei Tische klug reden höre.“ Doch was verstand er unter „gelehrter Musik“? Für die Kontrapunktkunst der alten Meister hatte er nichts übrig, Fugen schmeckten ihm „nach der Kirche“ und selbst berühmte Komponisten fanden in seinen Augen keine Gnade. Telemanns Musik verabscheute er, Händels Opern waren ihm zu veraltet, und die Werke von Christoph Willibald Gluck hielt er für „ohrenzerreißende Katzenmusik“.

Allerdings war ihm das alles auch nicht besonders wichtig, denn Musik spielte nur eine untergeordnete Rolle in seinem Leben. Friedrich unterschied streng zwischen „nützlichen“ und „angenehmen“ Beschäftigungen und hatte für sich klare Linien gezogen: Philosophie, Geschichte und Sprachen fand er „nützlich“, Musik dagegen nur „angenehm“. Seinen Bruder Heinrich kanzelte er ab, weil er sich zu viel mit Musik beschäftigte: „Zu meinem Bedauern erfahre ich, daß Sie beginnen, sich gehen zu lassen [...] Wollen Sie es in der Welt zu etwas bringen, so müssen Sie das Nützliche von dem Angenehmen, das Gediegene vom Frivolen zu unterscheiden wissen.“ Für Friedrich war Musizieren nichts anderes als eine Form der Entspannung, ein seelischer Ausgleich – keine ernst zu nehmende Tätigkeit. „Den ernsten Beschäftigungen bleibt immer die Prärogative“, behauptete er, „ich kann versichern, daß wir für die Vergnügungen nur vernünftige Anwendung haben: wir ziehen sie nur heran, um den Kopf nicht zu überanstrengen, und als Gegengewicht gegen gelehrte Verdrießlichkeit und gegen das Zuviel der philosophischen Gravität, die sich die Denkerstirn – nicht ganz gutwillig – durch die Grazien glätten läßt“.

Hat ihm das Musikalische Opfer möglicherweise den Kopf zu sehr „überanstrengt“?

Hat es damals, als Bach ihm das Prachtexemplar zuschickte, überhaupt einen Eindruck bei ihm hinterlassen?

Rund drei Jahrzehnte später. 17. Mai 1774. In der Berliner Nicolaikirche und der Marienkirche gibt der Organist Wilhelm Friedemann Bach Solokonzerte. Der Erfolg ist überwältigend. In der Presse werden Erinnerungen an den „unsterblichen Geist des großen Sebastian Bach“ wachgerufen, und man preist Friedemann in überschwänglichen Worten als dessen großen Sohn. Allerdings werden auch andere Stimmen laut. Unter Experten wird diskutiert, ob Friedemann Bach tatsächlich ein so begnadeter Organist sei, wie sein Vater es war, und jeder, der etwas auf sich hält, mischt sich in die Debatte ein. Auch Friedrich der Große gehört dazu, der „alte Fritz“. Sein Flötenspiel hat zwar schon seit Jahren deutlich nachgelassen, aber für einen musikalischen Fachmann hält er sich immer noch. Neun Wochen nach den Orgelkonzerten sitzt ihm der österreichische Gesandte Gottfried van Swieten gegenüber, ein gebildeter Musikliebhaber, der sich mit Johann Sebastian Bachs Kompositionen ein wenig auskennt, da er in Kreisen verkehrt, in denen Bachs Musik häufig aufgeführt wird. Man redet über dieses und jenes, politische Fragen, Tagesgeschäfte, Kulturereignisse. Und plötzlich fängt Friedrich an, seine Meinung zum Thema Friedemann Bach kund zu tun. Drei Tage später berichtet van Swieten seinem Vorgesetzten, dem Fürsten von Kaunitz-Rietberg, in einem vertraulichen Brief: „Unter anderem sprach er mit mir von Musik und von einem großen Organisten namens Bach, der sich gerade in Berlin aufhielt. Dieser Künstler ist von bedeutendem Talent bezüglich allem, was ich gehört habe oder mir vorstellen kann an Tiefe der harmonischen Kenntnis und Kraft der Ausführung. Diejenigen, die seinen Vater gekannt haben, finden aber, daß er ihm nicht ebenbürtig sei. Der König teilt diese Ansicht, und um sie mir zu beweisen, sang er mit lauter Stimme das Thema einer chromatischen Fuge, das er dem alten Bach gegeben hatte, der sofort daraus eine Fuge setzte mit 4, dann 5, schließlich mit 8 obligaten Stimmen.“

Eine achtstimmige Fuge! Friedrich plaudert über Dinge, von denen er offensichtlich nichts versteht. Eine achtstimmige Fuge ist mit zwei Händen nicht zu spielen. Nicht einmal von Bach. Im Übrigen müsste er wissen, dass Bach eine sechsstimmige Fuge über sein Thema komponiert hat, denn im Musikalischen Opfer ist sie schwarz auf weiß niedergeschrieben.

Aber darüber spricht er nicht. Stattdessen setzt er sich vor dem verblüfften Diplomaten in Szene, stilisiert sich als Bach-Experte und prahlt mit seinem eigenen Thema, an das er sich gut erinnern kann. Vom „alten Bach“ ist ihm nur der Tastenvirtuose im Gedächtnis geblieben. Den Komponisten Bach findet er nicht weiter erwähnenswert. Ganz zu schweigen von seinem Musikalischen Opfer.

Ob sich die Partitur überhaupt noch in Friedrichs Besitz befindet, kann man bezweifeln. 1783 tauchen Teile des Widmungsexemplars im Nachlass von Johann Philipp Kirnberger auf, dem Kompositionslehrer und Kapellmeister von Friedrichs Schwester Anna Amalia. Kirnberger war Schüler von Bach und ein enthusiastischer Anhänger seiner Musik. Als die Noten des Musikalischen Opfers in seine Hände gerieten, waren sie bereits zerfleddert und nicht mehr vollständig.

Kirnberger stirbt 1783. Friedrich II. drei Jahre später. Das Musikalische Opfer hat also schon einige Zeit vor dem Tod des Preußenkönigs den Besitzer gewechselt. Er hat sein Widmungsgeschenk einfach aus den Augen verloren – und womöglich ist ihm dies nicht einmal aufgefallen.



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