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3.Die Überlebenshelfer
ОглавлениеImmer wieder stellt sich mir die Frage, wie meine Eltern es geschafft haben, trotz allem – Verfolgung und Bombenkrieg – zu überleben. Und nicht nur zu überleben, sondern auch noch das Wunder zu vollbringen, so etwas wie familiäre Geborgenheit aufrechtzuerhalten, die sie vor dem psychischen Kollaps bewahrte.
Da war zunächst die österreichische Niederlassung der Firma Pintsch in Simmering, in der mein Vater als Maschinenbauingenieur mit dem Wohlwollen der Firmenleitung Unterschlupf fand und dort für die Lehrlingsausbildung zuständig war. Es war für mich sehr berührend, als ich im Hause meiner guten Freundin und Ex-ORF-Kollegin Dr. Liliane Roth-Rothenhorst die namhafte Klavierpädagogin Elisabeth Eschwé kennenlernte, eine außerordentliche Künstlerin, Pianistin und ausgebildete Schauspielerin – ganz abgesehen davon, dass sie auch ein Diplomdolmetschstudium absolvierte. Mit einem Wort, eine sehr beeindruckende Persönlichkeit, die es ebenso verdiente, im Rampenlicht zu stehen, wie ihr Bruder, der international geschätzte und auch bei uns besonders vom Volksopernpublikum verehrte Dirigent Alfred Eschwé. Ich erzähle diese Geschichte aber nicht deshalb, sondern weil mir Elisabeth Eschwé eröffnete, dass ihre Mutter meinen Vater gekannt und eine sehr lebendige Erinnerung an ihn habe, denn sie sei als junges Mädchen nach Absolvierung ihrer schulischen und beruflichen Ausbildung in die Buchhaltung der Firma Pintsch dienstverpflichtet worden. Ich durfte die alte Dame vor ihrem Tod noch mehrere Male sprechen und erfuhr so von ihr vom Martyrium meines Vaters; wie er in der Firmenbuchhaltung in Tränen ausgebrochen war, weil meine Schwester nach Absolvierung der Volksschule nicht mehr in eine normale Schule gehen durfte, sondern in eine Schule für „geistig Minderbemittelte“ musste, wie es in dem vom Rassenwahn beherrschten NS-Jargon hieß.
Gertha Gloss, wie sie mit Mädchennamen hieß, war – obwohl damals sehr jung – nicht von dieser Ideologie infiziert. Sie bewunderte meinen Vater, auch wegen seiner zeichnerischen Begabung. Bei ihr musste er sich nicht verstellen, konnte über seine Ängste sprechen, ohne fürchten zu müssen, denunziert zu werden.
Von ihr erfuhr ich auch, dass vor allem der Bücherrevisor Carl von Peez dem Widerstand nahegestanden haben soll. Von ihr habe ich den genauen Namen dieses aus Preußen stammenden Adeligen erfahren, der diskret, aber effektiv eine Art Schutzschild über meinen Vater gehalten hat. Er spielte in den Erzählungen meines Vaters immer eine wichtige, sehr oft auch humorvolle Rolle und war mir daher vertraut, obwohl immer nur von „dem Peez“ die Rede war. Zu den Österreichern hatte er ein wohlwollend-distanziertes Verhältnis, das sich in einer seiner Redensarten, die mein Vater immer wieder gern zitierte, manifestierte: „Vorne hochprima ’nen Berg und hinten mit der Zahnradbahn hinauf …“ Diesen Ausspruch assoziiere ich mit Carl von Peez, dem, heute würde man sagen, Chefbuchhalter der Firma Pintsch in Simmering.
© Elisabeth Eschwé
Gertha Gloss-Eschwé.
Den Pintsch-Managern war natürlich die künstlerische und zeichnerische Begabung meines Vaters nicht entgangen, und so beauftragten sie ihn anlässlich eines Firmenbesuches von Gauleiter Josef Bürckel, ein Fresko einer Wien-Ansicht in der Werkshalle anzufertigen. Mein Vater wählte, und das berührt mich heute noch, den Blick vom Oberen Belvedere auf Wien – den berühmten Canaletto-Blick, also jene Ansicht vom Wienerwald bis zur Inneren Stadt, die Bernardo Bellotto, wie er eigentlich hieß, in seiner berühmten Vedute Mitte des 18. Jahrhunderts festgehalten hat. Das Gemälde ist heute im Kunsthistorischen Museum in Wien zu besichtigen, und dieser sein Blick auf Wiens Innere Stadt ist trotz einiger architektonischer Eingriffe noch immer erhalten. Weshalb mein Vater dieses Sujet wählte, kann ich nur erahnen, wahrscheinlich empfand er es als die Seele Wiens, die das NS-Regime und seinen Terror überleben sollte.
Für jeden anderen wäre so ein Auftrag ein Grund zur Freude gewesen – nicht so für meinen Vater. Für ihn und meine Mutter war er ein Albtraum. Nächtelang berieten meine Eltern, wie sich mein Vater verhalten sollte, falls Bürckel nach dem Schöpfer dieses Freskos fragen würde. Er fragte natürlich danach. Denn das Werk war aufsehenerregend. Von Peez stellte meinen Vater vor: als Leiter der Lehrlingsausbildung. Und mein Vater betete zu Gott, dass der Gauleiter und Reichsstatthalter Hitlers in Wien keine Nachforschungen über ihn anstellen und ihn auch niemand aus der Arbeiterschaft denunzieren möge. Der Firmenchefs konnte sich mein Vater sicher sein, aber ein Betriebsrat der Belegschaft meinte einmal, ihm einen guten Rat geben zu müssen: „Herr Stenzel, lossn’s eahna scheid’n.“ Mein Vater antwortete ihm: „Ein deutscher Mann bricht sein Wort nicht.“ Der Dialog war daraufhin beendet, aber die Angst vor Denunziation blieb bestehen.
Leider ist von den Skizzen, die mein Vater damals für das Fresko anfertigte, um sie in vergrößertem Maßstab an die Wand der Werkshalle zu übertragen, nichts erhalten geblieben. Auch das Fresko fiel dem Bombenangriff auf das Werksgelände zum Opfer.
Meine Politik als Stadträtin wurde durch dieses Werk und die leidvolle Erfahrung meines Vaters trotzdem beeinflusst: Ich fühle mich diesem historischen Blick auf Wien vom Oberen Belvedere aus besonders verpflichtet und werde in dem Kapitel „Von Brüssel nach Wien und weshalb ich zur FPÖ wechselte“ noch ausführlich darauf eingehen.
Die Bombardements auf Simmering und auch auf das Firmengelände von Pintsch hat mein Vater überlebt, weil ihn die französischen Zwangsarbeiter vor jedem Angriff gewarnt haben. Sie wussten offenbar durch das Abhören geheimer, streng verbotener Sender und über ihre Widerstandskanäle Bescheid und warnten meinen Vater: „Du morgen nicht kommen, morgen kommen die Bomb!“ Die Firma Pintsch war ein bevorzugtes Zielgebiet, weil sie Bestandteile für die Rüstungsindustrie herstellte. Der Chefbuchhalter Carl von Peez, seine junge dienstverpflichtete Sekretärin Gertha Gloss, die Mutter Alfred Eschwés und seiner Schwester Elisabeth, sowie die französischen Zwangsarbeiter waren die Überlebenshelfer meiner Familie.
Aber es gab noch andere. Eine der wichtigsten war die Jugendfreundin meines Vaters und beste Freundin meiner Mutter, ihre und meine Taufpatin, die Schriftstellerin Gertrud Steinitz-Metzler.