Читать книгу Die Gottesversprecher - Ute Aland - Страница 6
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ОглавлениеMindestens einmal täglich gehe ich auf Dans Blog, um seine Predigten zu lesen. In meinem Eifer habe ich sogar Annika den Link geschickt.
Annika ist meine beste Freundin. Wir kennen uns schon seit über zehn Jahren und haben viel miteinander erlebt. Wir reden eigentlich über alles – über Liebeskummer, Speckröllchen, Orangenhaut genauso wie über unsere Pläne, Erfolge und Traumprinzen. Ich kann nicht mehr zählen, auf wie vielen Feten wir schon zusammen versackt sind (sie hatte mir immer voraus, dass sie hinterher kein schlechtes Gewissen hatte) und wie viele „Martiniabende“ wir beiden gemeinsam verbracht haben. So ein Martiniabend mit Annika ist ein unumstößliches Ritual und hat ein paar ziemlich unumstößliche Regeln:
Annika und ich wechseln uns mit „Einladen“ ab. Die „Gastgeberin“ besorgt dann eine oder zwei Flaschen Martini, eine Plastiktüte Eiswürfel und schwarze Oliven von der Tanke im Gewerbegebiet und darf bestimmen, wo wir hingehen. Das will die Tradition so.
Oft treffen wir uns einfach nur in meiner Wohnung und kuscheln uns in mein Sofa. Bei Annika waren wir in den letzten Jahren nur ein einziges Mal, denn sie lebt in einer ziemlich stressigen WG, da kommt auch mal irgendein Idiot rein, der Heftklammern braucht oder den Dosenöffner nicht findet oder wissen will, ob Annika die Woche mit dem Treppenhaus dran ist.
Aber richtig gut wird’s, wenn wir unsere „Specials“ haben. Das Heißeste war mal ein Boot von der Hafenpolizei, als wir zusammen in Hamburg waren. Haben uns nachts da draufgeschlichen und uns im Rettungsboot unseren Drink genehmigt. Hatten die Hosen so voll aus Angst, dass jemand kommt und uns festnimmt. Wir haben uns so zugeknallt, dass ich keine Ahnung habe, wie wir da wieder runter sind. Dass die uns nicht erwischt haben, wundert mich noch heute.
Zu diesen Specials mit „Thrill“ gehört auch das Führerhäuschen vom Ladekran am Schrottplatz – man denkt immer, diese Kabinen wären abgeschlossen, sind sie aber oft gar nicht. Oder das Dach von so einem Neubau, wo noch keine Fenster drin waren. Siebte Etage oder so.
Dann gibt’s natürlich auch die eher romantischen Specials wie Waldlichtung, Pavillon im Schlosspark oder im Herbst eine Strohburg auf einem abgemähten Feld.
Heute haben Annika und ich jedenfalls mal wieder ein „Special“ einberufen und frieren uns die Hintern auf einem Hochsitz ab. (Das gibt’s natürlich auch: die Flops, diese Ideen, die sich als total hirnrissig rausstellen wie nachts Hochsitz im September.)
„Also diese Leute“, lallt Annika, obwohl sie höchstens ein Glas getrunken hat, „diese Leute mit diesem total bescheuerten Namen … Church-Dingsbums, wo du mir den Link geschickt hast – finde die beiden Apostel oder was ja auch süß, aber mal ehrlich, was ist das für’n Verein? Für mich sehen die eins a aus wie Sektenführer oder so.“
Ich wünschte, wir wären jetzt auf meinem Sofa und nicht auf diesem scheißkalten Hochsitz, und ziehe mir die Wolldecke fester um die Schultern. Wir haben noch nie ein „Special“ abgebrochen – eine weitere Grundregel: Beende niemals ein Special vorzeitig!
„‚Everlasting Church of God’s Power‘“, sage ich und versuche Annika nicht merken zu lassen, dass mich ihre vorschnelle Art mit allem, was über Martinitrinken, Diäten und Männer hinausgeht, umzugehen, ziemlich nervt.
„Du mit deinen ‚tiefgründigen Gesprächen‘ – entspann dich doch mal!“
Mit Annika kann man echt Spaß haben, und sie verträgt einiges an Alk, aber wenn man mal über was reden will, das etwas anspruchsvoller ist, sucht man sich besser jemand anderen.
Dabei ist Anni echt toll. Sie ist direkt, ehrlich, auf sie kann man sich verlassen. Aber für irgendwelche Fragen nach dem Sinn des Lebens oder so hat sie kein Verständnis. Eigentlich wundert es mich nicht, dass sie so reagiert. Hätte ich mir denken können.
Sie hält ja sogar die Baptisten für eine Sekte. Aber ich kann super umschalten. Das ist ja das Tolle an unseren Martiniabenden, dass man nichts denken muss, nur trinken, rauchen, kichern.
„Schon gut!“, sage ich, fische heimlich die Eiswürfel aus dem Glas und lasse sie zwischen die Ritzen der Bretter unter den Hochsitz fallen – scheiß auf die Tradition.
Hätte mir natürlich schon gewünscht, dass sie mal mitkommt in einen der Gottesdienste, sich das wenigstens mal anschauen. Aber Anni zieht es vor, sich mit den Dingen, zu denen sie sich eine Meinung bildet, nicht zu sehr auseinanderzusetzen. Ist einfacher für sie. Differenzieren ist nicht so ihr Ding.
Also bleiben unsere Martiniabende, was sie immer waren, und wenn ich reden will über Dinge, die mich noch so beschäftigen, dann muss ich mir jemand anderen suchen.
Meiner Clique brauche ich mit Gott eh nicht zu kommen, das gilt bei denen als Liebestöter. Jedenfalls waren sie extrem erleichtert, als ich nicht mehr zu den Baptisten gegangen bin. Im Grunde habe ich ziemlich lange ein Doppelleben geführt.
Wenn ich denen sagen würde, dass ich mein Leben ernsthaft in Gottes Hand gelegt habe, dass ich ihm folgen und vertrauen will – die würden mich doch für krank halten, für eine Spaßbremse allemal. Aber die sollen sich wundern, wenn die glauben, ich entwickle mich jetzt zu einer angepassten Kirchenmaus. Für die passt das wohl nicht zusammen: Markusevangelium und Martini.
Mein Bedarf an Input und Austausch ist neuerdings jedenfalls ziemlich hoch, und ich sauge alles an Predigten und Lehre auf, was ich kriegen kann, als hätte ich Jahre aufzuholen, die ich besser hätte verbringen können, als mich mit selbstverliebten Leuten herumzutreiben, die an allem und jedem etwas auszusetzen hatten.
Ich will Gott gefallen!
Das Einzige, womit ich mich von Anfang an schwergetan habe, ist das Missionieren. Ich finde es ja absolut richtig, die Leute nicht in die Kirche, sondern die Kirche zu den Leuten zu bringen. Die Kirche, meint Dan, sei kein Gebäude, keine Institution, die Kirche sind wir Gläubigen, wo immer wir sind. Deshalb gehen wir raus zu den Menschen.
So weit die Theorie. Die Praxis sieht bei mir leider anders aus. Mit Grauen erinnere ich mich an mein erstes Treffen mit Janett, nachdem sich bei meiner alten Clique doch herumgesprochen hatte, dass ich jetzt „richtig“ fromm geworden bin:
Janett sitzt schon an einem Tisch, direkt an der Tür des Eiscafés, als ich reinkomme. Ich entdecke sie sofort, Janett ist nicht zu übersehen. Sie ist nie zu übersehen. Janett, ganz wie man sie kennt: perfekt geschminkt, perfekt angezogen mit ihrem engen, neongelben Shirt und dem dunkelbraunen Mini-Minirock.
Jeder, der zu einem der Tische in der Eisdiele will, muss ihren tadellosen Beinen mit den hochhackigen Schuhen ausweichen, die sie in den Raum gegossen hat. Die platinblonden Haare wickelt sie wie in Gedanken versunken um ihre schmalen Finger.
Janett ist perfekt. Perfektes Aussehen, perfekter Gang, eine Meisterin des Small Talks, bestimmt ist sie auch gut im Bett – soll ja auch jede Menge Übung haben, nach dem, was man so hört.
Reiß dich zusammen, ermahne ich mich. Immerhin bin ich nicht hier, um über Janetts Moral zu urteilen. Genau das wollte ich mir ja abgewöhnen! Wozu ich allerdings hier bin, weiß ich auch nicht so genau.
Will ich mich vor meiner alten Clique für meinen Glauben rechtfertigen? Denn eines ist ja wohl klar: Janett ist hier, um auszukundschaften, was an den Gerüchten so dran ist, und es den anderen dann brühwarm aufzutischen. Janett würde alles haarklein Charlott, Susan, Christine und Laureen berichten. Jede Wette, nach diesem Eisessen wird Janetts Telefon für mindestens zweieinhalb Tage durcharbeiten. Und mir wird klar, dass es noch gar nicht so lange her ist, da habe ich dieser Gerüchteküche mein Gift tüchtig mit beigemischt. Offiziell habe ich dieses Treffen als meine erste „Freundschaftsevangelisation“ eingeordnet – erfahrungsgemäß die wirksamste Art, Menschen die Gute Nachricht nahezubringen, sagt Dan.
Janett wickelt noch immer ihre blonden Locken um die Finger, sieht aber jetzt mit süßem Augenaufschlag lächelnd zu mir herüber. Die Hand löst sich aus der blonden Pracht und winkt mir zu. Ich stehe noch immer in der Tür und höre das aus Janetts knallroten Lippen gehauchte „Hi“ ganz deutlich. Es verteilt sich wie Erdbeerduft im Raum, und mir ist klar, dass es im Grunde gar nicht mir gilt, sondern allen hier. Janett ist irgendwie immer auf einer Bühne, und der Rest der Welt darf ihr zusehen.
„Hi“, quäle ich mir ein Lächeln ab.
„Toll, dass du da bist, Süße!“, flötet Janett, als ich mich setze, und es ist irgendwie schön, dass sie das sagt, auch wenn ich davon ausgehen muss, dass es geheuchelt ist.
„Ja“, erwidere ich, „freue mich auch total.“ Auch das entspricht mindestens nur zur Hälfte der Wahrheit.
Janett gehört zu der Clique, mit der ich seit der Oberstufe zusammen bin, wobei ich Janett selbst erst am Berufskolleg kennengelernt habe. Janett Kommunikationsdesign, ich Werbegrafik und Design. In Windeseile wurde Janett zur ungekrönten Königin unserer Clique. Was sie toll findet, ist toll. Sie kriegt immer die besten Jungs, die hippesten Klamotten.
Was uns als Clique einte – abgesehen von unserem gemeinsamen Interesse an Klamotten, Jungs, Tanzen? Na ja, das, was die meisten Gruppen eint: die Überzeugung von der eigenen Überlegenheit gegenüber anderen. Ich schäme mich dafür, dass wir uns ständig kichernd die Mäuler zerrissen haben über alle, die unseren fragwürdigen Vorstellungen nicht entsprachen.
Mein Job war da eher der des hässlichen Entleins, auf das der Glanz der anderen herabscheint. Vielleicht habe ich mir gerade deshalb mein Maul am lautesten über die anderen zerrissen.
„Es ist ja echt so lange her, dass wir uns gesehen haben.“ Janett betont das Wörtchen „echt“, als wolle sie darauf ein Universum errichten. „Echt total lange!“
Ich nicke eingeschüchtert. Wir beide sind total verlogen, denke ich. Ich weiß doch, dass ihr über mich herzieht.
Ich will ja weiter Beziehungen zu Nichtchristen führen, habe ich mir vorgenommen, aber was soll das hier für eine Beziehung sein? Ich weiß es nicht. Vielleicht bin ich ja vor allem hier, um genau das herauszukriegen. Ich sollte unserer Beziehung wenigstens eine Chance geben.
„Ja, ja, ich war ziemlich beschäftigt in letzter Zeit“, erkläre ich und spüre, wie schwer es werden würde, den wahren Grund meiner Zurückhaltung zu nennen. Denn wie würde Janett wohl auf einen Satz reagieren wie: „Ich gehöre jetzt Jesus“?
Ich kann mir den Spott und die Verachtung in Janetts Augen ziemlich gut ausmalen. Nein, danke, das brauche ich wirklich nicht.
Ja, ich gebe es zu: Ich bin ein Schisser. Zu feige, für Jesus ein Zeuge zu sein. Die anderen sind da viel cooler. Helena zum Beispiel. Schon als wir uns in der Gemeinde kennenlernten, überschüttete sie mich mit ihren begeisterten Berichten. Was für unglaubliche Dinge sie erlebt, wenn sie fremden Menschen von Jesus erzählt. „Man darf einfach keine Scheu haben“, behauptete sie.
Udo tickt in der Beziehung genauso. Dafür verdrehen die Kollegen aber auch die Augen, wenn er mit seinem „Jesus-Gequatsche“ anfängt.
Aber warum auch gleich mit der Tür ins Haus fallen? Vielleicht wird Janett ja von selbst merken, wie sehr ich mich verändert habe, und nach dem Grund fragen. Dann kann ich es ihr ja immer noch sagen – später vielleicht.
„Hatte einiges zu erledigen – Persönliches und so. Auch im Job war’s ganz schön stressig“, erkläre ich.
„Echt? Das ist ja … Das sind doch bestimmt acht, neun Wochen, dass ich von dir nichts gehört habe. Ist echt alles in Ordnung bei dir?“
„Ja, klar. Acht Wochen schon? Mann, das könnte sein. War das nicht, als ich dich mit Christine im Aroma getroffen habe?“
„Ja, Wahnsinn! Ewig her!“
Dann treiben wir Konversation über Janetts neueste textilen und erotischen Eroberungen. Ich bin ziemlich zurückhaltend, fühle mich unwohl.
Mit einem „Und wie geht’s bei dir so?“ streift Janett ihre lackierten Fingernägel verwirrend leicht über meinen Unterarm und sieht mich mit schräg gelegtem Kopf und Kussmund an, lehnt sich dann wieder zurück und schlägt ihre unverschämt langen Beine übereinander.
„Hab ein paar ziemlich spannende Leute kennengelernt, witzig, total gut drauf, aber auch interessant halt. Wir führen total tiefe Gespräche.“ Ich kenne Janett lange genug, um zu wissen, was die Worte bei ihr auslösen. Deshalb wundere ich mich auch nicht über den kurzen Schatten in Janetts süßem Antlitz.
„Ach wirklich?“ Ihre Stimme klingt tatsächlich so schnippisch, wie ich erwartet habe. „Freut mich ja für dich, schön, echt!“ Dann scheint sie sich auf ihren letzten Gedanken zu besinnen: „Wir beiden Hübschen könnten ja auch mal wieder zusammen shoppen gehen, im Moment hast du ja wohl nicht so was Richtiges zum Anziehen.“ Dabei blickt sie direkt an mir vorbei aus dem mit himbeerfarbenen Seidenschals verhängten Fenster. Ich weiß, was das Biest will, und kann trotzdem nicht anders, als kurz meine Garderobe zu checken; die im Übrigen gar nicht so übel ist, wie ich finde: eine gut sitzende Jeans, eine neue Bluse, ein schicker breiter Gürtel – eigentlich ganz anständig.
Anständigkeit täte deiner Garderobe auch ganz gut, ein bisschen zu nuttig das Outfit, denke ich und finde mich ätzend, sage dann aber: „Bei Schönemann kann man ganz gut einkaufen“, und zucke mit den Schultern.
„Also, ich will jetzt meinen Eisbecher!“, verkündet Janett, schiebt die Eiskarte quer über den Tisch, bettet sich geschmeidig in das mintfarbene Polster und führt dem braun gebrannten, schokobecherlöffelnden Schönling am Nachbartisch die Vollkommenheit ihrer Beine vor. Sie lacht hell, und ich stelle mir die geilen Glotzaugen des Schokobechers vom Nebentisch vor, der sich nicht viel Mühe zu geben braucht, um Janetts Slip zu sehen – falls sie einen trägt.
Janett winkt mit vollendeter Eleganz der kleinen italienischen Kellnerin zu, haucht mit einem zuckersüßen Lächeln: „Ich nehme den Eierlikörbecher“, und ohne die Kleine aus ihrem Bann zu entlassen, blickt sie den Bruchteil einer Sekunde zu mir herüber: „Und was nimmst du?“
„Das Gleiche“, antworte ich, obwohl ich eigentlich lieber noch in der Karte geguckt hätte.
Als die Eisbecher kommen, beginnt Janett lasziv an ihrem langen, schlanken Eislöffel zu lutschen, schließt bei jedem Mal genüsslich die Augen und rekelt sich im Mintkissen.
Ich bin entsetzt. Die Show gilt offensichtlich dem gelockten Schokobecher schräg hinter mir, der – ich ahne es – sein Eis mittlerweile gierig vor sich hinschmelzen lässt. Ekelhaft. Mit solchen Leuten habe ich meine Zeit verbracht? Ich fasse es nicht. Ich bereue, überhaupt gekommen zu sein. Janett scheint mich eh nicht mehr wahrzunehmen. Sie blickt durch mich hindurch wie durch die Seidenschals am Fenster.
Ich räuspere mich. Nichts. Ich bin für Janett im Augenblick nicht existent.
Ich weiß nicht, was mich plötzlich reitet, jedenfalls verkünde ich in dem Moment lauthals: „Ich habe Jesus gefunden!“
Das ist ein Satz! Ein toller Satz, ein Hammersatz, ein echter Schocker, einer, der es in sich hat, ein Satz, der mit dem schnuckeligen Schokobecher am Nachbartisch ohne Probleme mithalten kann.
Und tatsächlich: Janett lässt fassungslos ihren Löffel in das Sahne-Eis-Eierlikör-Gemisch fallen und wirkt mit einem Mal ganz und gar nicht mehr verführerisch. Viel eher sieht sie – sie sieht leicht blöde aus. Als hätte einer sie ausgeschaltet.
Ich gebe zu, ich habe diesen Anblick genossen und ganz langsam meinen Eierlikör-Becher zu Ende gelöffelt und mir die perfekte Janett angeschaut, die wie eingefroren auf ihrer Schickimicki-Bühne vereist war, einige ziemlich lange Momente lang, als hätte sie nicht nur ihren Text, sondern ihre gesamte Rolle vergessen. Ich bin mir sicher, dass selbst Brad Pitt sie in dem Moment nicht aus ihrer Starre hätte befreien können.
Mir dämmerte schon auf dem Nachhauseweg, dass das wohl nicht ganz im Sinne des Erfinders gewesen war. Meinen ersten Bekehrungsversuch musste ich wohl als echten Reinfall verbuchen.
Die zweite Erfahrung auf diesem Gebiet war von komplett anderer Art; es hat allerdings etwas gedauert, bis ich mich habe breitschlagen lassen, mit Helena loszuziehen. Was ich dabei erlebt habe, hat mein Denken ziemlich auf den Kopf gestellt:
Es war am 24. Juni, ich erinnere mich genau an die laue Nacht, als Helena und ich aus dem Bus am Hauptbahnhof ausstiegen. Wir fühlten uns wie Gesandte einer anderen Wirklichkeit. „Ist dir eigentlich klar“, fragt mich Helena, „was für eine wertvolle Fracht wir bei uns haben? Die Botschaft vom Reich Gottes.“
Ich nicke angestrengt, denn ich kämpfe gegen schier unüberwindlichen Harndrang – vor lauter Aufregung. Mit meiner Linken wühle ich in meiner Umhängetasche, drehe die Schachtel Zigaretten zwischen den Fingern. Wenn Helena dabei ist, traue ich mich nicht zu rauchen. Sie sagt dann zwar nichts, aber ich weiß, dass sie Rauchen für Schwäche hält, ungesund, Schnuller für Erwachsene. Und sie hat ja recht – also bleibt die Schachtel in der Tasche.
Bei mir herrscht Chaos im Kopf. Einerseits dieser Gedanke: Du verfügst über die wertvollste Nachricht der Welt, die Menschen aus Verzweiflung und Verlorenheit holen kann; andererseits habe ich auch einfach Schiss, ausgelacht zu werden. „Was kann dir denn schon passieren?“, fragt Helena. „Man trifft viel öfter Menschen, die Gott suchen, als man vermuten würde. Gott hat den Menschen die Ewigkeit ins Herz gelegt. Es gibt also eine Art Brückenkopf Gottes in jedem Menschen!“
Ich bin froh, dass sie die ganze Zeit redet. Sie erzählt von ihren Einsätzen, aber ich kann ihr kaum zuhören, so nervös bin ich.
Dann sind wir endlich beim Marschallplatz. Hier liegt das „Forum“, die angesagteste Disco der Stadt. Da sitzen immer jede Menge junger Leute auf den Stufen, Opfer des allgemeinen Rauchverbots – und potenzielle Opfer unserer geplanten Evangelisation. Ich will nur weg hier. „Herr, hilf mir!“, flehe ich und versuche mich auf Helenas Ratschläge zu konzentrieren.
„Man sollte vorher beten, dass der Herr einem zeigt, wen man ansprechen soll, den Rest regelt Gott.“
Ich hoffe, dass sie recht hat. Vor dem Forum hängt ein Pulk rauchender Jungs ab, die lauthals rumgrölen und sich mit gegenseitigem Anrempeln ihre Existenz beweisen.
Weiter Richtung „Antonios Pizza“ sitzen zwei Mädels auf einer Mauer, sie wirken etwas verlassen. Ich denke: Vielleicht ganz gut für unsere Zwecke. Die Rothaarige mit den Zöpfen, die würde ich gerne ansprechen und frage mich, ob das Gottes Führung ist oder ob mir nur ihr Outfit besonders gefällt. Sie trägt ein moosgrünes, hautenges Shirt und einen kurzen karierten Faltenrock, der ihre geringelte Strumpfhose bis über die Knie freilässt. Vielleicht etwas zu mager auf den zweiten Blick. Girly-Look – ich würde so nicht rumlaufen, aber ihr steht das.
„Die beiden auf der Mauer?“, tippt mich Helena an.
„Hab ich auch schon gedacht“, erwidere ich und weiß noch immer nicht, ob das jetzt Zufall oder Gottes Reden ist.
„Lass uns noch mal kurz beten“, schlägt Helena vor und fängt auch sofort an: „Vater, du liebst die beiden jungen Frauen. Du kennst sie. Du willst ihnen deine Liebe zeigen. Gib uns den richtigen Zugang, offenbare uns, was du ihnen sagen willst. Amen.“
„Amen.“
Mehr fällt mir in dem Moment nicht ein, dann gehen wir rüber. Ich habe ziemlich weiche Knie und versuche mich hinter Helena zu verstecken.
„Hi“, sagt sie.
„Hi“, antworten die beiden etwas kurz angebunden. Wir stören ganz offensichtlich.
„Dürfen wir kurz?“, fragt Helena, ohne sich für die Antwort zu interessieren. Mir ist das unangenehm. Ich mag es nicht, mich aufzudrängen, und setze mein schönstes Lächeln auf, aber sicher wirkt es so bescheuert, wie ich mich fühle.
Helena hat sich schon neben die Schwarzhaarige auf das Mäuerchen gesetzt. Bleibt mir der Platz neben dem Girl. Ich hopse hoch, ohne sie anzusehen. Echt peinlich das alles hier. Helena schweigt eine Weile. Alle schweigen.
„Ihr seid traurig, oder?“, fragt Helena wie aus heiterem Himmel, und ich wundere mich. Nicht so sehr, dass sie das sagt, sondern weil ich die Traurigkeit auch spüre. Bei dem Mädel neben mir besonders. Ich habe so einen süßlichen Geruch wie von rohem Fleisch in der Nase und muss dauernd denken, dass ihr Freund ihr was antut.
Totaler Blödsinn, ich sollte mich lieber auf unser Gespräch konzentrieren, denke ich und versuche den Gedanken fortzuwischen, geht aber nicht. Die Mädels sehen ziemlich verunsichert drein. So ein Intro kennen sie wohl nicht. Vor meinem inneren Auge sehe ich, wie die Rothaarige wie ein verängstigtes Vögelchen unter einem Schlafsofa kauert und weint. Sie hat furchtbare Angst vor irgendwem. Ich werde plötzlich selber total traurig. Muss fast weinen – ganz komisch ist das. Hoffentlich übernimmt Helena das Gespräch – ich fühle mich voll im falschen Film, kann mich gar nicht richtig konzentrieren.
„Wie kommst du denn darauf, dass wir traurig sind? Ist doch Schwachsinn“, macht die Schwarzhaarige Helena an.
„Ich spüre die Traurigkeit“, antwortet Helena. Ich würde mich gerne mit ihr kurzschließen, ob bei ihr derselbe Film abläuft. Ich werde total hibbelig, Adrenalin bis in die Haarspitzen, und fange vor Aufregung sogar an zu zittern – oder vielleicht auch, weil ich etwas zu freizügig angezogen bin und jetzt ein kühler Wind über den Platz fegt.
„Du spürst Traurigkeit? Aha, und was hat das mit uns zu tun?“, will die Schwarzhaarige leicht gereizt wissen.
„Es ist eure Traurigkeit“, behauptet Helena, was bei der Schwarzhaarigen gar nicht gut ankommt.
„Also, hört mal, ihr beiden Oberschlauen. Lasst uns einfach in Ruhe. Wie wir uns fühlen, geht euch nichts an, außerdem wisst ihr gar nichts.“
„Doch, Gott zeigt mir eure Traurigkeit, und er will, dass es euch gut geht.“
„Scheiße, was sagst du? Ich glaube gar nicht an Gott“, blafft die Schwarzhaarige zurück. Das Mädel neben mir betrachtet schweigend ihre geringelten Knie.
„Das ändert aber nichts daran, dass es ihn gibt“, kontert Helena, und ich blöde Kuh zittere immer mehr. Mir ist echt komisch. Am liebsten würde ich das Mädel neben mir ganz fest umarmen. Mache ich natürlich nicht. Nachher denkt sie, ich bin vom anderen Ufer, und hält das für üble Anmache.
Ich höre Helena und die Schwarzhaarige reden, aber das Schweigen von dem Mädel neben mir übertönt alles.
„Gott liebt euch und will euch helfen“, sagt Helena. Ich finde, das klingt total platt, aber die Kleine neben mir bricht in dem Moment in Tränen aus. Ich muss mich zusammenreißen, sie nicht zu umarmen.
Ihre Freundin legt den Arm um sie, als wolle sie sie vor uns schützen. „Lasst uns doch einfach in Ruhe“, sagt sie aufgebracht. „Seht ihr nicht, was ihr anrichtet?“ Aber Helena bleibt sitzen. Ich natürlich auch – was soll ich sonst tun? Bin wie gelähmt.
Das Mädel neben mir will etwas sagen, aber man versteht sie kaum. Nur Schluchzen.
Helena springt von dem Mäuerchen, stellt sich vor sie und legt ihre Hand auf die bebende Schulter, was ich eigentlich auch gerne getan hätte, mich aber nicht traue.
„Gott möchte dir helfen“, sagt Helena zu ihr, und die Rothaarige schluchzt noch schlimmer.
Jetzt springt auch die Schwarzhaarige von der Mauer, baut sich neben Helena auf und giftet, mit einem Seitenblick auf den Pulk Jungs, die offensichtlich schon zu uns rüberschielen: „Ihr schnallt das echt nicht, oder? Haut ab, Rahel geht es nicht gut. Ihr macht alles nur noch schlimmer.“
Ich fühle mich ziemlich scheiße, aber gehen will ich nicht. Ich will noch neben Rahel sitzen bleiben und gebe meinem kaum mehr zu zügelnden Drang nach, ihr meine Hand auf ihren Kopf zu legen, da bekommt sie einen heftigen Weinkrampf.
„Was ist denn?“, flüstert Helena tröstend. Die Freundin zeigt eine unwillige Grimasse und zuckt nur mit den Schultern. Rahel hat sich wie ein kleines Kind an meine Schulter gelehnt und vergräbt ihr Gesicht in meiner Stola.
Sie ist so zerbrechlich. Ich streiche ihr übers Haar und frage mich, was ich hier mache. Was geht hier ab? Ich kenne die beiden doch gar nicht, wundere ich mich über mein eigenes Verhalten.
„Sie will nicht darüber reden, kapiert?“, fährt die Schwarzhaarige uns an.
„Ihr Freund schlägt sie“, behaupte ich, ohne richtig zu checken, was ich da eigentlich sage.
Rahel schaut mir ins Gesicht. Ihre verheulten Augen sagen mir, dass ich recht habe. Ich rede einfach weiter. Was soll’s?
„Sie hat Angst vor ihm. Sie verkriecht sich unter so einer Art Schlafsofa, wenn er mal wieder ausrastet. Sie liebt ihn, sie kann ihn nicht verlassen, aber sie kann auch keine Nacht mehr richtig schlafen. Nachts träumt sie davon, dass er sie jagt, er ist mit einem Messer hinter ihr her, und sie läuft barfuß vor ihm weg und kann ihm nicht entkommen.“
Was ist denn in mich gefahren? Was, wenn das alles Quatsch ist? Ich kann das doch nicht wissen.
„Das kannst du gar nicht wissen“, motzt die Schwarzhaarige. Ich zucke mit den Schultern, gucke in Helenas erstauntes Gesicht.
Sie lächelt und sagt: „Gott hat ihr das offenbart.“
Krass!
„Es stimmt“, gibt Rahel zu, nachdem sie sich beruhigt hat. „Norman schlägt mich. Jede Nacht träume ich, dass er mich umbringen will. Er ist total eifersüchtig. Wenn er wüsste, dass ich hier bin, würde er mich töten.“
„Wo ist Norman denn jetzt?“, fragt Helena.
„Er ist auf Montage. Bis übermorgen“, erklärt Rahel.
„Und was soll das jetzt?“, sagt ihre Freundin. „Wenn euch euer sogenannter Gott das verraten hat, was soll Rahel jetzt machen, eurer Meinung nach? Oder will Gott Norman in einen super Typen verwandeln oder ihn vom Gerüst fallen lassen, damit er seine Freundin nicht mehr quälen kann?“
„Gott will sich um unsere Sorgen kümmern. Lasst uns erst mal beten, vielleicht wissen wir dann, was wir tun sollen“, erwidert Helena.
Die Schwarzhaarige verdreht die Augen und schielt zu den Leuten vor der Disco rüber, die mittlerweile ziemlich unverfroren beobachten, was hier läuft. Ich bin noch total geflasht von dem, was hier gerade abgeht.
„Ich habe schon ganz oft gebetet, dass Gott mir hilft.“ In Rahels Stimme ist ein deutlicher Vorwurf. „Ich glaube nicht, dass Gott Gebet erhört.“
„Was? Du betest? Hast du mir ja nie erzählt“, krächzt die Schwarze.
„Ich dachte, du hältst das eh für dummes Zeug.“
Helena reicht Rahel eine Packung Taschentücher (sie ist echt ein Profi), und Rahel schnäuzt sich.
„Gott hat mir noch nie geantwortet“, schluchzt sie und richtet sich auf. Ich nehme meine Hand von ihrem Kopf.
„Da siehst du: Alles dummes Zeug“, kontert die Schwarzhaarige.
„Vielleicht hat Gott ja doch gehört“, antwortet Helena, „und hat uns vorbeigeschickt.“
Die Schwarze rollt wieder mit den Augen und dreht sich empört weg. Ich denke: Vielleicht stimmt das ja, was Helena sagt, und Gott hat uns tatsächlich vorbeigeschickt. Das wär natürlich irre.
„Rahel, willst du Gott dein Leben anvertrauen und dich unter seinen Schutz stellen, ihn um Hilfe bitten in deiner Not?“
Rahel nickt.
„Und du?“ Helena guckt die Schwarzhaarige an. Aber die zieht wieder ihre Grimasse.
„Ganz sicher nicht!“, zischt sie.
Helena nimmt Rahels Hände.
„Lieber Vater im Himmel …“
Ich schließe die Augen. Es fühlt sich gerade alles richtig an. Ein gutes Gefühl. So sollte das Leben sein, finde ich: sich richtig anfühlen.
„Wir danken dir, dass du Rahels Gebet gehört hast. Danke, dass du uns zu ihr geschickt hast ...“
Das wäre wirklich ein Ding! Gott schickt uns, weil Menschen ihn um Hilfe gebeten haben – und gibt uns auch noch Einsicht in ihre Nöte. Herr, das ist abgefahren!
„… Wir bitten dich, dass du sie schützt und ihr ihren Weg weist. Willst du das, Rahel?“, fragt Helena.
Ich öffne die Augen. Rahel nickt.
„Dann solltest du das Gott sagen.“
Die Schwarzhaarige schüttelt unwillig den Kopf und dreht sich noch ein Stück weiter weg. Ihr ist die Sache peinlich. Mir jetzt nicht mehr.
Es ist wie im Traum. Gott hat mich gebraucht! Mich Flachpfeife!
„Was muss ich tun?“, flüstert Rahel.
„Wenn du willst, spreche ich dir ein Gebet vor, und wenn du das okay findest, sprichst du mir einfach nach. Wäre das okay für dich?“
Rahel nickt. Sie sieht ganz folgsam und neugierig aus, trotz der verweinten Augen, und spricht Helena zögernd das Übergabegebet nach.