Читать книгу Im Spiegel des Zwillings - Ute Neas - Страница 5

Unwetter ziehen auf

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Zuerst sah er sie nur im Spiegel, dann war er vollständig von der Wiese eingerahmt. Dunst stieg auf, der Tag war gerade angebrochen und verdrängte die kühle Feuchtigkeit der vergangenen Nacht. Er erkannte den Ort sofort wieder. Beim letzten Mal hatte ein Bussard über ihm gekreist. Die Stadt der schneeweißen Zylinder hatte er nicht vergessen können. Er drehte sich um, und da sah er sie, in der Ferne. Was geschah nur mit ihm, wie kam er hierher? Das war doch kein Traum! Er setzte sich ins immer noch feuchte Gras und wartete, wartete darauf, dass irgendetwas geschah, dass sich etwas verändert. Doch nicht einmal die Zeit schien zu vergehen. Natürlich drehte sich die Erde weiter, die Sonne stieg zum Himmel hinauf, aber auf eine merkwürdige Weise stand die Zeit still, nichts regte sich.

Er wollte es dem Schicksal überlassen, wo es ihn diesmal hin verschlagen würde. Dafür erhob er sich, schloss die Augen und begann sich im Kreise zu drehen, schnell und immer schneller, altes Spiel aus Kindertagen. Jeglicher Orientierung beraubt, blieb er irgendwann stehen, öffnete die Augen und schaute in die Richtung, in die er jetzt gehen würde. Er zog sich die Schuhe aus, um wieder das saftige Gras an seinen Füßen spüren zu können, band die Schnürsenkel beider zusammen, warf sie sich über die Schulter und lief los. Den weißen Ort ließ er hinter sich zurück. Nach einer Weile erreichte er die ersten Bäume, verließ die Lichtung und trat in das dunkle Reich des Waldes ein, dessen Boden über und über mit Moos bedeckt war, als hätte jemand eigens für ihn im Wald einen Teppich ausgelegt. Ottos nackte Füße sandten Botschaften des Glücks an sein Gehirn. Das Gefühl, wenn die Natur durch die Fußsohlen in den Körper eindringt, hatte er schon fast vergessen. Damals, als er in seinen wissensdurstigen Jugendtagen noch auf den nackten Fußsohlen durch den Wald, die Stadt und das Haus gelaufen war, hatte er sich so manche Wunde zugezogen, Bisse und Stiche, bis er sie irgendwann kaum noch spürte. Da glaubte er, dass er eins geworden war mit seiner Umgebung. Dieser samtig weiche Moosboden hier war wahrlich keine Herausforderung für Otto, aber ein Geschenk, nach so langer Zeit.

Sobald sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah er sich umringt von Riesen, die nach ihm zu greifen schienen. Uralte Korkeichen liehen ihnen ihre Gestalt. Er bat sie um Schutz in diesem unbekannten Refugium, und nur einen kurzen Augenblick später sagte ihm sein Gefühl, dass es hier sicher war. In diesem Wald gab es keine Angst, das dämmerige Licht, durch die vielen Blätter des Waldes gefiltert, machte ihn nicht bedrohlich, sondern fantastisch. Die ganze Atmosphäre verlieh Otto das Gefühl der Geborgenheit und Sicherheit. Hier drohten keine Gefahren, das spürte er.

Nachdem er eine Weile gelaufen war, über das saftige, grüne Moos, von den trauernden Ästen der Weiden gestreichelt und von den Riesen, die ihn leiteten, flankiert, da hörte er auch ihn wieder, den Bussard. Direkt über Ottos Kopf stieß er wieder seine hohen, vielleicht warnenden Rufe aus, war aber durch das üppige Blätterdach nicht auszumachen. Etwas bewegte sich ganz oben im Geäst, vielleicht sein Junges? Otto blieb stehen, wollte sich vergewissern, entdeckte aber nichts, trotz angestrengter Beobachtung jener Stelle. Wahrscheinlich war er bemerkt worden. Bestimmt hatte er viel zu auffällig dorthin gestarrt, und damit jedes Wesen, egal welches sich dort oben verbarg, vor Gefahr gewarnt. Vögel können Menschenblicke auf hundert Meter Entfernung und mehr, spüren und verharren dann ganz still. Dort oben würde sich nicht so bald wieder etwas rühren. Mangels anderer Ereignisse, zog Otto weiter, lies sich von seinen Riesen leiten. Farn bedeckte stellenweise den Boden so dicht, dass er seine Füße nicht mehr sehen konnte, was den Eindruck vermitteln könnte, als schwebe er durch das Grün. Alles wirkte so friedlich, es gab nichts was ihn ängstigte. Er lief durch diesen fremden, finsteren Wald, als könnte ihm Nichts und Niemand etwas anhaben, alles schien ihm so vertraut. Als er den Bussard nicht mehr hörte, lichtete sich der Wald ein wenig. In einiger Entfernung sah er Zypressen, die den Wald überragten, wie Säulen, die das Himmelszelt trugen. Doch bevor er dorthin gelangen konnte, wurde seine Wanderung jäh unterbrochen. Vor ihm tat sich ein breiter Graben auf, der mit fließendem Wasser gefüllt war. Hinüberspringen konnte er nicht. Das andere Ufer war viel zu weit entfernt und das Wasser brach sich im reißenden Tempo seine Bahn durch dieses Land. Die Tiefe des Grabens war schlecht einzuschätzen, und ein Ende nicht auszumachen. Der Fluss schien sich unendlich weit durch den Wald zu schlängeln, ihn in zwei Teile zu spalten. Otto konnte nur umkehren oder am Graben entlang weiterlaufen. Da der Weg nach links von kräftigen Dornenbüschen versperrt war und er bestimmt nicht umkehren wollte, lief er nach rechts entgegen dem Wasserlauf. Ein paar vereinzelte Seerosen blühten dicht an der Böschung, dort, wo das Wasser seicht und ruhig war. Am Ufer formten Weiden schier endlose Phantasiegestalten. Ein intensiver, süßlicher Geruch lag in der Luft. Seine Nase kannte diesen Duft. Er kam von dem Lavendel, der sich hier überall breitmachte. Otto überkam auf einmal das Gefühl, als wäre er schon einmal dort gewesen. Für einen kurzen Moment hielt er inne und ließ die ganze Atmosphäre auf sich wirken. Zwar fiel ihm nicht ein, woher er diesen Ort kannte, aber er bemerkte nun, dass er bis hierher überhaupt keine Tiere gesehen oder gehört hatte, abgesehen von dem Bussard. Wahrscheinlich war das bedeutungslos, weil der Bussard mit seinen lauten Rufen all die Tiere des Waldes vor Ottos Gegenwart gewarnt hatte, und doch beunruhigte ihn diese Ruhe ein wenig. Rasch schüttelte Otto die unangenehmen Gedanken wieder ab und lief weiter dem Ursprung des Wassers entgegen.

Nach ein paar Stunden hatte er noch immer keine Möglichkeit gefunden das andere Ufer zu erreichen und der Fluss schlängelte sich noch immer weiter ins Landesinnere. Erst als die Sonne den Zenit schon lange verlassen hatte, entdeckte Otto Spuren einer Zivilisation. Jemand hatte ein Schild, mit der Aufschrift „Weltgarten“, in Ufernähe in den Boden gerammt. Dahinter lichtete sich der Wald, endete nach nur wenigen Schritten abrupt, und öffnete sich hin zu einem riesigen Hain blühenden Oleanders, in den verrücktesten Farben, die man sich ausmalen kann, als hätte ein wunderbarer Zauber diese Welt entworfen. Der Fluss versiegte noch immer nicht, fraß sich weiter in das Land, dicht an diesem prächtigen Blütenfeld vorbei. Und hinter all diesen bunten Blumen standen sie wieder, jene großen, weißen Zylinder, die er schon einmal woanders gesehen hatte. Otto spürte wie ihn Hunger und Durst überfielen, außerdem brauchte er dringend ein Bett. Er beschloss hinüber zu gehen, zu diesen sonderbaren Bauten. Aber um dorthin zu gelangen, musste er mitten hindurch durch dieses sagenhafte Blütenmeer. Behutsam setzte er einen Fuß vor den Anderen. Als er sich einmal umdrehte, um seine Spur der Verwüstung zu beschauen, da sah es fast so aus, als würden sich die nieder getretenen Pflanzen wiederaufrichten. Da das aber kaum vorstellbar war, ließen seine Füße auch weiterhin Behutsamkeit walten.

Nachdem er auf der anderen Seite angelangt war, drehte er sich noch einmal um und sah das Unmögliche: Das ganze Feld lag wie unberührt hinter ihm, als hätte es nie jemand betreten. Ohne einen einzigen abgeknickten Halm lag diese farbenfrohe Landschaft dort am Waldesrand und schien die Häuser auf der anderen Seite beschützen zu wollen, denn es ließ einen weiten, freien Blick zu, für mögliche Eindringlinge.

Plötzlich hörte Otto Kinderstimmen hinter sich. Sie riefen sich fremdartige Worte zu die er nicht verstand und lachten vergnügt, zu sehen waren sie aber nicht. Ein lautes „Hallo“ schmetterte er in die Richtung, aus der das Lachen gekommen war und sofort verstummte es. Gespenstische Stille überzog das Land. Er rief noch einmal, wartete ab, und noch ein drittes Mal, begann dann laut um Hilfe zu rufen, doch vergeblich, er erhielt keine Antwort. Vielleicht hatten sie sich hinter den merkwürdigen zylindrischen Häusern versteckt. Otto lief hinüber um nachzusehen, war ungeheuer gespannt und ängstlich zugleich. Schon bald sah er, dass sich hinter den Häusern zwar keine Kinder, aber noch viele andere Häuser befanden. Wie in dem anderen Ort, wo er sich das letzte Mal befunden hatte, schienen auch hier alle Gebäude identisch zu sein. Sie alle waren ganz oben mittels gläserner Stege miteinander verbunden. Zwischen den Häusern verlief eine Art Weg, der sich durch platt getretene Erde hervortat. Er führte abwärts und tiefer in den Ort hinein. Otto lief dort hinüber, und ließ sich auf die Art von dem Weg führen. Als er etwas später einen Platz am Ende der Straße ausmachte, wusste er endlich, dass er diesen Ort schon einmal betreten hatte. Er befand sich an genau demselben Ort wie bei seinem letzten Besuch in dieser unbekannten Welt. Sein Weg musste Otto im Bogen zurückgeführt haben, denn ursprünglich war er ja in die entgegen gesetzte Richtung von der Lichtung aus losgelaufen. Dann musste ihn wohl der Fluss, der durch seinen Lauf Ottos Weg bestimmt hatte, zu diesem Ort zurückgeführt haben.

Er erinnerte sich an das Schild, das er am Rande des Waldes gesehen hatte. Vielleicht hieß dieser Ort hier „Weltgarten“.

Auch dieses Mal war auf dem Platz viel los.

Sie sahen aus wie Menschen, sie verhielten sich wie Menschen, aber ihre Sprache hatte etwas völlig Fremdartiges. Es war nicht nur eine unbekannte Sprache, nein, wenn sie sprachen, klang es, als besäßen sie ein anderes Sprechorgan als die Menschen. Ansonsten verhielten sie sich aber wie Menschen auf einem Markt. Da wurde debattiert, gelacht, geweint und gehandelt, wie es schien. Um das zu erkennen braucht man keine Worte zu verstehen.

Otto trat näher und sprach die erste Person an, der er begegnete. Er hoffte sich irgendwie verständlich machen zu können.

Sie war eine sehr schöne, junge Frau, die gerade in einer Kiste gekramt hatte, als er sie von hinten antippte. Sie richtete sich auf, schaute ihm mit, vor Schreck geweiteten Augen ins Gesicht, sprang einen Schritt zurück, und schrie aus Leibeskräften etwas, das Otto nicht verstand. Jetzt starrten ihn auch all die anderen auf dem Platz an, und plötzlich begannen sie alle vereint, hysterisch laut zu schreien und flohen allesamt vom Platz. Nun verfinsterte sich der Himmel, ein Sturm zog auf, Blitze durchzuckten tiefschwarze Wolken in immer kürzeren Intervallen, so, dass der Himmel bald lichterloh brannte und den Platz, auf dem Otto inzwischen mutterseelenallein herumstand, taghell erleuchtete. Ein furchtbares, Ohren betäubendes Donnern erschall, und Regen ergoss sich in Bächen übers Land.

Alleingelassen in einer fremden Welt, riss Otto völlig verängstigt all seine Nerven zusammen und schnürte sich erstmal die Schuhe wieder an die Füße. Ein im Wind zügellos tanzendes Schild, das dabei laute scheppernde Geräusche von sich gab, zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Es schlug immerfort an die Winde eines Bauwerks, das so etwas wie ein Brunnen sein mochte. Sein Mauerwerk, soweit man das so nennen konnte, war auf eine ganz seltsame, filigrane Weise durchbrochen, und nicht nur das, Otto konnte von außen hindurchgreifen, aber von innen blieb das Material undurchdringlich. Wasser stand nicht darin. Er ging ein paar Schritte zurück, und erkannte aus der Entfernung Buchstaben die Worte bildeten, die sich durch die Brunnenwand schlängelten, Wortschlangen die sich zu Sätzen formierten, doch nichts davon verstand er, nicht das „Wie“, noch das „Was“. Das Mauerwerk bestand anscheinend nur aus diesen Worten, sonst nichts. Da sah er ein Wort das er kannte, auf jenem, im Wind tanzenden Schild, stand „Traumgarten“ geschrieben. Unkontrolliert war er immer weiter zurückgegangen und stieß sich plötzlich seinen Hacken irgendwo hart an. Er blickte sich um, und sah in eine Art riesigen Metalltrichter. Der war so sehr auf Hochglanz poliert, dass Otto hinter seinem eigenen Spiegelbild sogar die Gewitterwolken darin erkennen konnte.

Seine schmerzenden Glieder, der höllische Lärm und diese ewig zuckenden Blitze zwangen ihn dazu, sich hinzukauern, die Ohren zuzuhalten und die Augen zuzukneifen. Und auf einmal wurde es ganz ruhig um ihn herum.

Im Spiegel des Zwillings

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