Читать книгу Katharina Keplerin - Mutter des Astronomen - Utta Keppler - Страница 6
2. Kapitel
ОглавлениеKinder bei Hexenbrand und Maskerade
Man hockt eng beieinander in der kleinen Stadt, jeder kennt jeden und weiß, was er für Mühen und Freuden hat, und manchmal auch, was für Geheimnisse. Katharina sieht die Leute oft genug in der Wirtsstube, sie hat auch manchmal in den Häusern zu tun, wenn einer sich das Bier zutragen läßt. Sie tut’s nicht gern, aber man ruft sie jetzt mehr als früher, da es der Mann tat oder die Kellnerin; die hat sie entlassen, sonst wäre der Umtrieb zu teuer geworden.
Der Johannes freilich macht ihr keine Kosten, er ist Stipendiat in Maulbronn, schon mit fünfzehn Jahren, »um seines sonderlichen Ingeniums halben«, und auf herzoglichen »Bevelch«.
Katharina kommt also mit einem heißen gewürzten Trunk zum jungen Beuttelsbacher, der mit ihrem Johannes in die Leonberger Lateinschule gegangen ist, sie läuft, daß der Saft nicht kalt wird, und trägt ihn in ein Tuch eingeschlagen.
Der Bursch hat das Grimmen und kann nicht schlafen, sie soll ihm dazu verhelfen. Es sei ja nicht grad das Amt der Wirtin, aber, hat die Beuttelsbacherin gesagt, sie solle doch um Gottes Güte willen etwas zurechtkochen, das ihm guttue, sie verstehe doch dergleichen. Sie nimmt ihr den Krug ab und schickt ihren Mann damit hinauf in die Krankenstube, und der versucht neugierig den Absud. Der schmeckt gallenbitter. Die Frauen reden derweil: Katharina sehe so elend aus, meint die Lehrersfrau, ob sie sich denn noch nicht erholt habe vom letztenmal, es sei doch arg, wenn man’s so schwer habe und einem dann noch soviel Kindlein stürben. Aber – sie habe ja den Großen, der so gelobt werde, obwohl der auch ein zarter Säugling gewesen sein müsse, ein Siebenmonatskindle halt.
»Schier hätt’ ich auch den schon verloren damals« – bricht es aus Katharina heraus, »sie haben mich geschlagen, als ich schwanger war, sie haben mir’s immer noch nachgetragen, daß ich als Kind bei der Base war …« Sie wird still, ein grausiges Bild steht in ihr auf. »Die Bas«, sagt sie scheu, »bei der ich halt gewohnt hab.«
»Die? Die Hex, die verbrannt ist?« fragt die Beuttelsbacherin geil. Ein häßliches Mißtrauen liegt in der Stimme der Frau.
Katharina nickt zögernd. »Zu mir war sie immer gut«, sagt sie und spürt, daß ihre Augen naß werden.
»Wirst doch kein Mitleid haben mit einer Unholdin?!« fragt die andere angewidert, und sagt auf einmal »du«. Ob sie denn nie die Hexensalbe gerochen hätte bei der, die aus Tollkirschen und Nachtschatten und Bilsenkraut sein solle, und nie das Juchzen gehört?
»Was redet Ihr da, Beuttelsbacherin?« fragt Katharina entsetzt. Sie ist auf einmal weit weg, eine kleine armselige Katharina: Auf dem Anger im Wiesental steht das Kind. Der Morgennebel hat sich gesenkt, in langen Schlieren hält er sich über dem Gras, unter den hängenden Buchen ist es noch naß, der Morgen wird heller werden als die letzten Tage, Anemonen flecken die moosige Feuchte in Büscheln über dem schwarzen Boden.
Katharina friert. Sie hat ein dünnes Fähnchen an, leichte Schuhe, unter dem Häubchen hängen die schwarzen wuscheligen Haare in wehenden Strähnen um das Gesicht. Sie ist blaß, nicht nur, weil sie friert; sie steht und starrt hinüber, wo die welligen Wiesen sich hinter einer Mulde hügelig aufbäumen, bis zu einem breiten Rükken. Dorthin schaut sie und kann nichts deutlich erkennen.
Der Nebel hat sich jetzt verzogen, wie zerfaserte Schleierbänder wellt er über dem kurzen Gras, wird dünner, durchsichtig, glasig.
Aber droben am Hügel steht er noch, ein gelblicher Qualm hat sich gehalten, geduckt wie ein böses Nest. Es geht kein Wind, der ihn endlich auflösen könnte, er hockt da oben breit und hartnäckig. Katharina starrt noch immer hinüber.
Sie weiß, daß alles vorüber ist, es war auch weit genug weg, und man hat sie im Haus gelassen, solang es dauerte.
Sie krampft die Hände in die Schürze, stammelt irgend etwas, das sie selber nicht versteht, und schnüffelt in die Morgenluft. Kein Rauchdunst beizt ihr die Augen – davon haben sie geredet, als sie das Kind zurückhielten, das sei übel. Aber sie weiß schon, wie es gewesen ist. Sie hat einmal eine Maus brennen sehen, die man tot aus der Falle zog.
Und da, dort oben war’s die Base, die Base, bei der sie gewohnt hat und die sie gewaschen und gefüttert und ihr die Kleider genäht hat: Die Base hat brennen müssen.
Katharina wagt sich nicht näher an den Hügel, sie wagt sich auch nicht heim, was so »heim« heißt, das Lehrerhaus, wo sie jetzt wohnen soll.
Sie hat gehofft, die Base könnte fliegen und davonschweben, aber sie hat vom Fenster aus niemand auffliegen sehen, nicht aus dem Gefängnisloch, das sie umlauert hat, und nicht aus dem fernen Qualm …
Schließlich friert sie so in der Morgenkühle, daß sie zum Lehrerhaus trottet. Sie klopft ans Fenster. Die Lehrersfrau macht auf, einen Spalt nur, eine dicke rote Hand zieht den Riegel zurück.
»Wo warst denn die halbe Nacht?« fragt die Frau ärgerlich und mißtrauisch.
»Warum bist nicht in der Kammer?« sagt hinter ihr die Stimme des Lehrers. »Red’ endlich, Katharina Guldenmann!« Er guckt aus der Stube, ein langes Gesicht, lange Haare. »Herumstreifen, Wege unsicher machen!« Es klingt bös. Er schweigt und schiebt der kleinen Gestalt ein Stück Brot hin, das er gerade in der Hand hat. Mann und Frau schielen sie mißtrauisch an, sie spürt, daß sie das Ungreifbare, Verderbliche hinter ihr wittern, für das sie noch keinen Namen haben und das sie, die Arglose, nicht kennt und sehen kann. – Es hat nicht lang gutgetan bei den Leuten.
Dann später ist sie bei den Eltern gewesen, hat auf dem Acker geholfen, auch im Garten und im Haus, und als dann der Heinrich gekommen ist, der sie in der Wirtschaft ihres Vaters gesehen hatte, ist alles ein bißchen leichter geworden, schöner und freudiger, und sie hat manchmal gesungen.
Nur Heinrichs Mutter, die Statthalterin, hat sie nicht leiden mögen, obwohl Katharina doch ihren Namen trägt und sich um Heinrichs willen viel Mühe gibt.
Sie haben dann geheiratet, und bald schon hat sie gewußt, daß sie den Johannes erwartet, ein Kind halt. Hätten die Alten geahnt, daß es ein Bub wird, wären sie vielleicht auch nicht so finster gewesen, aber so haben sie ihr verübelt, daß es ein Esser mehr sein würde, und die Eigenen, die Guldenmännischen, haben’s noch schwerer genommen, daß sie jetzt bei den Keplerischen geholfen hat, und der eigene Vater hat sie geschlagen, auf den Rücken und einmal auf den Bauch, daß sie gemeint hat, das Kind müßte ihr abgehen. Es ist aber doch geblieben, es hat geboren werden sollen und sich vorzeitig ans Licht gedrängt – und jetzt ist’s der Johannes.
Johannes ist aus der Leonberger Lateinschule, wo er manche Prügel litt, in das Grammatistenkloster Adelberg gekommen – und überall wurde streng auf ein geschliffenes Latein gehalten, Griechisch und Hebräisch getrieben; für den jungen Kepler ist es ein Glück, daß er nicht mehr so nah bei der Heimat wohnt, da er allzu oft zum Helfen hergerufen worden war, beim Heumachen oder der Ernte, auf dem Äckerchen oder an den Apfelbäumen. Er hat willig geholfen, ist unter Vorwänden vom Unterricht weggeblieben; und beim Sicheln und Mähen, Breiten und Haufeln, beim Aufladen und Karrenschieben haben ihm manchmal die dünnen Arme versagt oder die Knie, und Katharina hat ihn ausruhen lassen im Schatten am Waldrand, oder ihn heimgeschickt.
Da hat er dann endlich das Schulheft herausholen und weiterlernen können. Ein unbezwinglicher Durst hat ihn dazu getrieben, geistige Neugier, sich alles anzueignen, logisch zu ordnen und zu durchdringen, was ihm da überliefert und – wie er es empfindet – verantwortlich anvertraut worden ist. Das treibt und drängt immer weiter.
Solang die Eltern die »Sonne« in Ellmendingen betrieben haben, hat er auch Fässer gerollt und hier und da im Schankraum Bier getragen, und dabei – zu seinem eigenen Erstaunen – das Landexamen bestanden, die schwerste und schwierigste Prüfung für sein Alter.
Er weiß freilich so wenig wie die Eltern, daß es sein Gutes hat, wie scharf die kleinen Buben hergenommen werden, und wie es ihm nachher hilft; es ist des Herzogs Ehrgeiz, die besten Lehrstätten weit und breit zu halten, und über’s Land hinaus gerühmt zu werden.
Im Grammatistenkloster zu Adelberg ist er wieder einer von den besten Schülern, ehrgeizig und manchmal auch vorlaut, wenn er klarer denkt als der Magister und den Mund nicht halten kann.
Die übrigen mögen ihn deshalb nicht alle, er hat auch einmal einen oder den anderen angegeben, der Unfug trieb, damit ihn die Lehrer nicht selber straften, da ihm die Prügel hart fielen bei seinem schwachen Körper. – Kurz ehe der Vater zum letzten Mal heimkommt – sie haben’s eher gefürchtet, wenn er da war –, bezieht er dann das höhere Klosterseminar Maulbronn und – so sagt der Abt –, wen die Luft der klaren Gliederungen, Torbogen und Hallen nicht wandle, dem sei nicht zu helfen.
Dort ist er jahrelang zu Haus, er fühlt sich aufgenommen ins Innere; der weite Hof mit den edlen Bauwerken ist – ohne daß er es weiß – Bild und Hinweis für ihn selber, magisch gestimmte frühe Gotik und schwingender Übergang zum erfaßbaren Neuen, und er gibt sich willig, da er doch auch Künstler ist, der Atmosphäre hin.
Katharina läßt ihm schreiben, sie werde ihn besuchen. Es ist mühselig, die Erlaubnis dafür zu erwirken, und nur der sichtlich bedeutsame Brief aus dem Feldlager und die Unterschriften und Siegel der Leonberger und Adelberger Schulen haben ihr den Zutritt verschafft, vielleicht auch der Hinweis auf den Statthalter von Weil und – die Leistung des Sohnes, den die Lehrer loben.
Jetzt ist sie wirklich da, im Seminar, in Maulbronn.
Sie muß warten; die Schüler kommen eben erst aus der Kirche, die in den Klosterkomplex eingebaut ist; auch ihren Johannes entdeckt sie und will ihn schnell an sich ziehen, als er an ihr vorüberläuft; aber er faßt nur nach ihrer Hand, rot geworden und dann blaß, er läßt sie los, schlägt die Augen nieder, als wolle er weinen, er schämt sich vor den anderen, daß er sie liebt; die dürfen nicht ahnen, wie groß seine Sehnsucht nach Zärtlichkeit ist. Dann rennt er den anderen Buben nach.
Sie bleibt stehen und sieht hinter ihm her; er ist ihr näher als ihre anderen Kinder, näher als die gestorbenen sogar, denen sie mit allen »Fasern« ihres Wesens nachtrauert; so hat sie einmal zum Heinrich gesagt, und der hat darüber den Kopf geschüttelt.
Sie wird von einem Hausdiener in den offenen Brunnenhof geführt, da solle sie warten. Es rauscht und redet und plätschert und rinnt; sie faßt mit den Augen den großen Brunnen, und mit Gehör und Gespür sein Sprechen und Singen; er ist wie eine Blüte, die aus ihrer Höhe und feinsten Verästelung das klingende Spiel strömen läßt und weiterschenkt, daß nichts verloren gehe.
Aus der schmalsten Fassung strahlt es hinunter zur nächsten, schenkt sich her und überlädt sie mit der kostbaren Spendung, daß es weitersprudelt in die untere, die sich noch weiter offen hält, bis sie weitergibt, was sie nicht mehr fassen kann, es strömt, kreist, schwillt – ein leichtes Spiel, ein himmlischer Tanz, verschwendend und ohne Enge und ohne klammerndes Festhalten, stark und schwingend.
Zaghaft tunkt sie die Fingerspitzen ins Gerinne der weiten Schale; das Kühle, Bewegte bewegt auch sie, rinnt in sie über und tanzt tönend fort, als wären’s Gamben und Flöten.
Wie sie das denkt, merkt sie, daß wirklich Musik da ist, hinter ihr, aus einem Raum, zu dem der finstere gewölbte Gang führt. Es ist kein geistliches Lied, das sie hört, eher ein Reigen, der wie das glitzernde Wasserspiel um sie herschwebt als ein zärtliches Gespinst. Sie sieht in den Kreisen, die in der bewegten Schale umgehen, kleine Sternfunken, und sie sieht, wie im Traum, sich selbst und den Johannes, als sie beide bei Leonberg auf dem Hügel stehen und den Himmel anstaunen. Klar und scharf blitzen die Sterne herunter, und die schneidend-spitzen Strahlen glitzern in der Winterkälte und sind in sonderlicher Weise geordnet; sie zeigt dem Kind den »Großen Bären« und die »Kassiopeia«, das »Große W« im nördlichen Teil der Milchstraße und meint, das sähe aus, als wären’s kleine eingestochene Löchlein in einem schwarzen Mantel, hinter dem ein Licht brennt. Aber der Bub sagt, es seien lauter strahlende Samenkörner, ins schwarze Feld der Wölbung gestreut – damit sie aufgehen sollten.
Katharina ist noch ganz in das lang vergessene Bild eingefangen, als Johannes auf sie zukommt im dunklen Mäntelchen, das Schulbarett auf dem Kopf.
»Frau Mutter, wir üben ein Spiel ein, und ich hab Erlaubnis erwirken können, daß Ihr’s mitansehet« – er zögert, »es ist aber erst die Probe und noch nichts Rechtes … ich muß mittun, und da solltet Ihr’s doch hören.«
Katharina staunt. Sie weiß nicht, ob sie dazu paßt, aber es ist ja eine Freundlichkeit und sicher eine Ausnahme, daß sie zuschauen darf, und als man sie ins Dorment bringt, von wo die vielen Türen in die Schlafsäle führen, wird sie von einem Magister angehalten: Er freue sich, die Mutter eines seiner »wachesten« Schüler zu begrüßen, man habe sie ihm gezeigt …
Des Wachesten? denkt sie, aber sie nickt und lächelt den Herrn an, der mit einer runden Bewegung die unruhige Schar in einem luftigen Zirkel umfaßt, während er Katharina zu einem Stuhl hinschiebt. Vorn ist ein Podium aufgerichtet, auf dem die Musikanten stehen, und dahinter sammeln sich die Akteure, unverkleidet noch, ohne Kostüme, unsicher und zappelig.
Johannes schlüpft wieder zu ihr hin und flüstert, es sei ein Spiel vom Dichter Nikodemus Frischlin, das sie aufführen wollten, es sei deutsch gesetzt, wiewohl er sonst Lateinisch schreibe, und sie werde es wohl verstehen.
Katharina, die Kätter aus Weil der Stadt, hat noch nie ein solches Stück gesehen, und daß ihr Johannes damit zu tun hat, ist ihr unbehaglich. Sie sieht auch keine einzige Frau sonst unter den Zuschauern und wagt lange nicht zu fragen, wer denn der Herr Frischlin sei, der ein solches Spielwerk verfaßt habe? Sie kennt Landsknechtslieder und auch Komödien der Fahrenden – aber dies hier ist ein geistliches Kloster und ein ernsthaftes Spiel.
Sie sitzt gespannt still. Johannes steht hinter einem Verschlag, den man aufgerichtet hat, sie kann ihn nur gerade ahnen, hört aber die Musiker trappeln und brummen, bis sie endlich, unsichtbar versteckt, mit einem Flötenton einsetzen.
Neben ihr lehnt in der ersten Stuhlreihe ein breiter schöngekleideter Herr, sein weicher Bart sieht ein wenig nach dem des Heinrich aus, aber das rötliche Gesicht ist flächiger und die Augen leuchten über einer herrscherlichen Nase unter der gewölbten Stirn; während die Musik fiedelt und bläst – sie zuckt und wippt mit dem Fuß unter dem langen schweren Rock –, schlägt der auch den Takt mit der Hand, und sie guckt zu ihm auf.
Er lächelt und lacht einmal zu ihr hinunter, als ein Horn unerwartet quietscht und der Dirigent – sie sieht seine flatterigen schwarzen Ärmel hie und da neben der Holzwand herauszucken – wütend abklopft und verschwindet. Sie lacht auch, und der prächtige Mann neben ihr fragt, ob sie etwa einen Buben unter den Musikanten hätte.
Nein, bloß mitagieren tät der ihrige, sagt sie halblaut, und sie sei arg neugierig, ob der das könne: Er sei so ein ernster, trockener Kerle, der rechne und zeichne und auch manchmal Verse mache – der ihrige.
»Verse?« fragt ihr Nebenmann, »so? Das hab’ ich auch getan.«
Katharina Kepler wundert sich; sie schaut fragend in das schmunzelnde Gesicht.
»Das Drama ist eins von mir …«, sagt er, »ich bin der Frischlin.«
»Der Professor?« (Johannes hat es ihr gesagt.) »Oh! Da freut’s mich, daß Ihr’s mir erklären könnt – ich versteh’ nicht viel davon.«
Inzwischen sind die Akteure schon da – zwei Bettler humpeln und hinken auf die Bühne, und sie ist froh, als sie merkt, daß Johannes nicht dabei ist …
»Bettelspiele führen sie in England auf …«, sagt sie scheu, denn das hat sie auf der Wanderschaft mit ihrem Mann erfahren. »Eine Versgeschichte!« Halb befremdet klingt es, und Frischlin lacht wieder, diesmal laut.
»Es kommt gleich besser, Frau …«
»Keplerin«, stellt sie sich vor, »der Sohn heißt Johannes.«
Inzwischen haben sie Kulissen verschoben, es knarrt und quietscht hinter dem Bretterzaun, dann fangen die Musikanten wieder an zu spielen.
Es klingt harmonischer als das erstemal, und es scheint auch eine einfachere Weise zu sein, eingängig und wiegend, findet sie.
Aber dann wird die Wand weggetragen, die vorläufig den Vorhang ersetzt. Da steht eine Frau, ein bißchen zu vierschrötig. Katharina muß lachen: Es ist einer von den Buben, den sie in einen Weiberrock gezwängt haben, über den großen Schuhen. Er lamentiert in Frischlins Versen und jammert um seinen Gemahl, den Grafen, der im Krieg sei. –
Katharina wird ernst, düsterer verzieht sie das magere Gesicht, als die Geschichte weitergeht und der Dichter neben ihr um so zufriedener den Takt schlägt bei seinen Blankversen, als könnten so Ausdruck und Eindruck stärker werden: Bettlerszene und würdiges Gerede im Wechsel – und sieh da: Der Graf kommt heim, noch eh die Frau sich zum Wittibsein ganz entschlossen hat – und als Frischlin, warm und begeistert, ihr die breite Hand auf’s Knie drückt und »Hört! Herrlich!« flüstert, hat sie die Augen voll Tränen, weil der Graf da oben auf der Bühne leibhaftig nach Hause kommt und beglückt umhalst wird – und sie hat keine sichere Botschaft vom Heinrich und einen unlesbaren Brief in der Tasche, den ihr der Sohn Johannes deuten soll.
Sie hat’s bisher nicht gewagt, ihn damit zu plagen, wo er doch so voll Geschäftigkeit und Eifer ist; er tritt ja als Bischof aufs Podest und redet getragene Verse, ganz ernst, obwohl er im Stimmbruch ist und manchmal hellauf kieckst – sie merkt es.
Die anderen sitzen gebannt, angetan oder ein bißchen kritisch. Der Dichter neben ihr ist jedenfalls beschwingt und begeistert, da er seine Gedankenarbeit vorgetragen hört, sie bewegt und menschlich lebendig gespielt sieht. Gerührt lobt er die jungen Burschen, und er legt einmal auch den Arm um die Schulter der Keplerin, als der Bischof recht reif und gescheit betont, was er darzutun hat.
Die Spieler sind abgetreten, nach einem pompös aufgemachten Schlußbild; man hat sogar ein paar Büsche und große Blumenstöcke auf die Bretter getragen, Lampen und Fackeln aufgestellt, da es schon dämmrig ist, was der Dichter sehr wirkungsvoll findet und gutheißt, – und dann endlich spielen die Musikanten noch einmal auf, heiter, weil’s überstanden ist und auch, weil es der Komponist so will, der es einem Volkslied nachtönen läßt, tanzartig und empfindsam.
Nach dem Spiel lädt der Abt, obwohl er sich nicht ganz wohl fühlt, den Dichter und seine Magister zu einem Imbiß ein, und auch Katharina, die einzige Frau unter den Zuschauern, läßt er mit ihrem Sohn bitten. Solch ein Gegenüber sehe er gern bei sich, sagt er vergnügt zum jungen Kepler, den er als einen »Besonderen« und »Zukunftsfähigen« gern hat. Die übrigen Spieler, verspricht der Abt, würden an einem besonderen Tag geladen, da nicht alle Platz hätten an seinem Tisch und ihn der große Haufe doch ermüde.
Die Äbtin hat sich wegen der vielerlei Aufsichtspflichten bald entfernt – so ein Spektakel bringe doch manches durcheinander im geordneten Lauf der Schule. Sie ist übrigens eine freundliche Dame, belesen und des Lateinischen kundig, wie man von ihr sagt, aber ihr seltsamer Titel läßt Katharina lächeln.
Viele katholische Klöster sind nach der Reformation zu Seminaren für die jungen evangelischen Pfarrschüler gemacht worden, zu höheren Theologenschulen, deren Lehrpläne strenge Maßstäbe anlegen. Der Herzog will seinem kleinen Land den Ruf erhalten, seine Geistlichen seien allseits geprüfte und gelehrte Leute; in Philosophie und Mathematik, in der Rhetorik geschult, und vor allem den alten Sprachen geschliffen, auch mit der Sternkunde und den alten Schriftstellern vertraut – in der Theologie hart geprüft –, soviel hört Katharina, ohne es ganz zu verstehen.
Wer diese Schule leitet, heißt – noch immer – »Abt«, und da er nach dem Vorbild Luthers heiraten darf, läßt er seine Frau die »Äbtin« nennen.
Katharina wagt sich kaum zu zeigen, da sie ja im Reisehabit sei, und dieses zerdrückt und staubig und kaum für ein Fest gerichtet; aber die Äbtin heißt ihre Jungfer, ein Kleid heraussuchen, das der Keplerin passen könnte, und die findet eins, das der zierlichen Frau, wenn man den Goldgurt enger schnallt und den Halssaum ein bißchen zusammenschnürt, wohl ansteht. Sie wäscht sich, man strählt sie, und sogar die Schuhe werden gewichst.
Johannes bleibt im Bischofskostüm, in dem er agiert hat – bis auf die Mitra, die legt er ab und sieht im lila Rock noch gelber aus als sonst, mit großen dunklen Augen und glattem Haar, und Katharina hat kaum Zeit, ihm die Hand zu streicheln und etwas von einem Brief zu flüstern, den sie bei sich habe.
Auch er kann nichts sagen, schaut nur fragend auf und wartet, bis das Mahl vorbei ist, um sie dann endlich auszuforschen, warum sie gekommen sei.
Aber das zieht sich hin, mit Entenfleisch in der Brühe, mit Klößen und Früchten und Mus, und als man endlich die Gabeln hinlegt und die Messer abwischt – Gabeln, die der Abt durch den Hof aus Italien bezieht –, bleibt man noch beim Wein sitzen.
Dem Scholaren, der irgendeine Regel verletzt hat, ist in den vergangenen Tagen der Weingenuß beim gemeinsamen Essen verboten worden – er denkt schmunzelnd daran, daß der Abt das übersieht oder vergessen hat, und hebt seinen Becher gegen den hohen Herrn, gegen Frischlin und gegen die Mutter, die, rotgeworden, mittut.
Der Herzog, Ludwig von Wirtenbergb, werde mit Nächstem erwartet, sagt der Abt – es könne noch einige Wochen dauern, aber bis dahin müsse das Spiel eingeübt sein und alles superbest stimmen.
Frischlin spricht dem Wein reichlich zu, er ist rot und fröhlich, und endlich beginnt er zu singen, so laut, daß es der Äbtin zuviel wird, die ohnehin ihren Mann ängstlich beobachtet.
Katharina läßt’s den Sohn merken, der ihr bedeutet, er könne doch den großen Mann nicht mahnen, und endlich legt sie ernsthaft den Finger auf die Lippen und sieht den Singenden eindringlich an. Er versteht, so wild es schon in seinem Hirn kreiselt, und hält sich selber scherzweise den Mund zu.
Die Frau Äbtin nutzt die Stille, die sie draußen merkt, und steckt den Kopf zur Tür herein, um ihren Mann zu bitten, er möge sich zur Ruhe begeben.
Und so löst sich die Festgesellschaft auf. Katharina greift nach der Hand des Sohnes und geht – mit einem bittenden Blick auf den Abt – mit dem scheuen Buben hinaus.
Sie stehen dann wieder vor dem dreifachen Brunnen. Es ist dunkel, aber aus der Tür hinter ihnen scheint Licht, jenseits des Ganges, und Johannes stellt sich so, daß er den Brief lesen kann, den sie ihm reicht.
Es ist ein harter Bogen, ein Fetzen eigentlich, und er kann kaum herausbringen, was die krakeligen Buchstaben bedeuten.
Es sei Botschaft gekommen, steht da, von der Grenze nach Hungaria, da die Söldner und Knechte stünden, daß der Henricus Keplerus habe sein Fähnlein wacker geführt … Bis hierher liest Johannes vor, sagt dann, das Schreiben sei von einem Fremden, nicht vom Vater, aber es scheine von ihm zu handeln. Erst danach, als Katharina schon stiller und nicht mehr so gespannt zuhört, liest er stumm zu Ende. Seitdem habe man nichts mehr von ihm erfahren, obschon er wegen seiner mutigen Kraft und Furchtlosigkeit bekannt genug gewesen …
Solche gewundenen Auskünfte sind Johannes ärgerlich, er liest noch einmal für sich, ehe er der Mutter sagt, es sei nichts Neues in dem Schreiben, und sie brauche sich nicht zu ängstigen.
Was er nicht sagt, ist, daß der Zettel einen Anhang hat, auf dem die Unterschrift steht, wo Feldhauptmann und Obrist sich unterzeichneten und den ehrbaren Kriegstod des Kepler anzeigen – so glaube man, da er von der letztgewesenen Schlacht nicht ins Lager heimgekehrt.
Katharina läßt sich nicht lang täuschen, zu gut kennt sie die Mienen ihres Buben und dringt und drängt und bohrt weiter, bis sie die bittere Mutmaßung der Hauptleute erfahren hat. Danach fängt sie an zu weinen, weint leiser und endlich nur noch wie ein Windhauch, aber sie zittert, und der Sohn weiß sich nicht zu helfen. »Jetzt bin ich ganz allein«, versteht er und hört noch mehr: »Du bist doch der Älteste und solltest mir beistehen in der Gaststube und bei der Mannsarbeit – ich weiß schon, Hannes, was das wär für dich, aber sieh doch …«
Er steht mit hängenden Händen vor ihr. Endlich streicht er ihr über den Arm, nimmt ihre Hand und wendet den Kopf, als drüben ein Choral gesungen wird, so als brächte der ihm Hilfe. Er seufzt und versucht zu reden. Aber es wird ihm schwer.
»Das kann nicht sein, die Studien sind zu weit, ich muß vollenden, muß fertig machen, bin gebunden – sieh doch …«
Sie sagt nichts mehr. Johannes fragt, um abzulenken, warum man denn das Schriftstück nicht dem Großvater gezeigt habe, der es doch hätte lesen können?
Sie antwortet, der wäre einer Unpäßlichkeit wegen nicht im Amtshaus erschienen, das habe man ihr sagen lassen, und deshalb sei sie ja auch bei ihm eingekehrt, zur Pflege. Der Bote habe es in der Wohnung abgegeben, und soviel hätte sie schon verstanden, daß es etwas Gewichtiges sein müsse und an sie, die Ehefrau des Heinrich – oder Friedrich –, was unleserlich geschrieben, sei es gerichtet gewesen … Und der Ahnherr sei ja auch schon bald siebzig Jahre alt.
Sie reden noch eine Weile, endlich ist es ruhig um sie her, der Abt wird den Scholaren beim Magister entschuldigen. Sie sprechen vom Vater. Katharina meint zögernd, es sei ihr nicht recht glaubhaft und geheuer, daß ihr Heinrich hätte sterben sollen, ohne sich ihr irgendwie »anzuzeigen«. Sie nennt es mit dem alten geheimen Wort, und Johannes sieht verlegen und traurig zur Seite, weil ihn die Ahnungen und Wachträume der Mutter verstören und bedrücken und er sie ihr am liebsten ausreden möchte. Er sagt freilich nichts.
»Ich hab’ deinen Vater oft vor mir gesehen und ihn gerufen, wenn ich es fest wollte, ich sah sogar, wo er gerad’ war – aber ich hab’s kaum einem erzählt.«
Johannes wird unruhig. »Tut das auch nicht, Frau Mutter, Ihr wißt nicht, wie übel die Leute denken, ich …, ich hab’ Angst um Euch, wenn Ihr so redet.«
»Du brauchst um mich keine Angst zu haben, Hannes«, flüstert sie, »ich lern’ es jeden Tag, wie man sich wehren kann und muß – immer besser lern’ ich’s«, sie zögert, »seit der Vater mich alleingelassen hat.«
So hat sie noch nie gesprochen.
»Ja, Mutter, ich weiß schon, aber …«; er besinnt sich, sagt dann betonter: »Wir sind die Schwachen, so, ohne Vater und ohne Geld, und wer’s schlecht mit uns meint, kann uns verderben, und wär’s bloß mit wüsten Reden.«
»Was können sie uns nachsagen, Kind? Wir sind ehrlich und frei, und kein übler Leumund hängt uns an.« Er sieht auf und schüttelt den Kopf. »Ich hab’ gehört, sie wühlen wieder – verwirrte, halbkranke Gemüter – meinen, die Unholden gingen um, man müsse auf der Hut sein; ach! Sag’ kein Wort, das sie dir verdrehen und verdeuteln können.«
Er beißt sich auf die Fingerknöchel, preßt die Lider zusammen. »Ich darf dir nicht helfen, Mutter, hier ist mein Platz, und – Gott hat mich’s geheißen, daß ich das Studium weiterführen soll.«
Sie seufzt.
»Hüt’ dich, liebe Mutter«, flüstert er gequält, »es treibt mich so um, wenn ich fürchten muß, man hängte dir was an – weißt doch: Die arme Bas! Und so ein Verdacht – ach, Mutter, das könnt’ mich einmal das Amt kosten, so ich’s endlich erreicht hätt’!«
Anderntags muß sie reisen, die Wirtschaft und die Kinder brauchen sie, der Heiner ist jetzt dreizehn, immer noch »stumpig«, wie sie in der Nachbarschaft sagen, und seine Anfälle und »schäumenden Krämpfe« hat er jetzt sogar mehr als früher; Margarethe gedeiht, ein rundes, kräftiges Mädchen.
Katharina dankt dem Abt noch einmal, sie gibt Johannes die Hand und beruhigt ihn – sie wolle ihn nicht drängen zum Heimkommen –, vielleicht, wenn alles vorbei sei und er ein Pfarramt angetreten habe, werde es ihr leichter gemacht, man gewinne auch Ansehen damit, und nicht bloß durch den Großvater. Er lächelt trüb – am nächsten Morgen werde er sie noch einmal sehen, sagt er.
Ein Wagen ist schon bestellt, der sie heimbringen soll. Sommermorgen, die Felder sind blaugrün im Tau, es ist noch kühl, sie denkt an den Sohn zurück, an seine Warnung vor den bösen Gerüchten und dem dummen Klatsch, sie wehrt sich gegen das Unklare – und Heinrich? Ach, der hätte ihr auch nicht viel beigestanden, hat ihr von je das Erhalten und Zusammenhalten aufgebürdet und ist wie ein Bub dem bunten Fahnentuch nachgelaufen; und der Sohn, den sie so gern hat – der läuft seiner Wissenschaft nach, seinen Spekulationen, die sie nie verstehen wird, das weiß sie –, Berechnungen und Glaubenssätzen, griechischen Formen und lateinischen Formeln, was soll’s? Gott spürt sie, den braucht sie nicht zu ergrübeln, so nicht, wie die Gelehrten es tun, und nicht mit der dürren Bangnis etlicher Kirchenmänner, und auch nicht mit Beschwören und Gemurmel, das die Leute von ihr wollen.
Das ist ihr höchstens einmal unterlaufen, wenn sie einem Sterbenden den Trost hat geben wollen, den er verlangt hat – und sie hat dabei gedacht: Herr, Heiland, hilf ihm, und wenn’s nur mit meinem verzweifelten Willen ist …
Johannes, der kluge Rechner, der hat Angst vor dem Hexengerede. Und sie? Seit die Base hat sterben müssen, weiß sie doch, daß das ganze Wesen und Meinen wie ein krankhaftes Geschwür ist, Geschwür im Innersten, das man nicht wuchern lassen darf, um der armen, armen Base willen, um der vielen schreiend gequälten Weiber willen; sie kann’s nicht glauben, daß die alle bös waren; nur dumm waren sie, verscheucht, verängstigt, beredet und übertölpelt … Sie schaut wieder über die Felder, während der Wagen rattert, zieht ihr Tuch enger um sich, der Wind kommt stärker auf – die Fahrt wird noch lang dauern …
Da holt sie ein Reiter ein, sie treibt den Fuhrmann an, weil’s ein Straßenräuber sein könnte; dann erkennt sie den Frischlin, den Versemacher und Latinisten, der sie, schon rückwärts gewendet, anlacht und den großen Hut schwenkt.
»Frau Keplerin!« ruft der Reiter, der diesmal in einem kurzen braunen Habit steckt, mit hohen, umgestülpten Stiefeln, einen Radmantel mit aufgeschlagenem Kragen umgehängt, der einseitig schief den langen, breiten Bart zudeckt.
Katharina muß lachen, aus allen trübseligen Gedanken heraus. »Herr Professor!« ruft sie hinauf, da er das Roß gezügelt hat und neben dem Wagen in Schritt fallen läßt. Sie fragt ihn, ob er denn nicht lang vor ihr abgereist und wo er aufgehalten worden sei? – Der Fuhrknecht kennt den berühmten Mann und hält.
Frischlin erzählt, er sei auf dem Weg nach Stuttgart zum Herzog und am Vorabend in einer Kneipe hängengeblieben, unabsichtlich, aber ganz erwünscht.
Sie lacht wieder, es wundert sie, daß der Dichter sie so vergnügt macht, wo doch alles so düster ist, wenn man’s recht ansieht. Dann fragt er, ob er ein Stück Wegs mitfahren dürfe im Wagen, er habe ja fast denselben Weg, und den Gaul könne er vorschirren, wenn sie gestatte.
Aber so viel versteht Katharina von Wagen, Deichsel und Pferdezügel, daß man nicht einfach einen zweiten zum einzelnen Gaul anbinden kann; sie sagt ihm das, und der Fuhrmann fuchtelt aufgeregt, weil er seine Zeit eingeteilt hat und nicht so viel mit dem Gerede vertun mag.
Frischlin gibt ihm Geld und vertraut ihm sein Pferd an, setzt sich zu Katharina in die offene Fuhre, und der Kutscher reitet hinterdrein – sie läßt es zu bei allen Bedenken.
Frischlin nimmt die Zügel und zottelt los.
»Ich hab’ lachen müssen, Herr Professor«, sagt sie nach einer Weile schüchtern, »und muß mich entschuldigen deswegen.«
»Warum habt Ihr gelacht, Keplerin?« fragt er, eher belustigt als erstaunt. »Meinethalben? Hab’ ich so verwegen ausgesehen?«
»Ja, auch. Aber Ihr habt mich vergnügt gemacht, wo ich arg traurig war.«
Er fragt natürlich, was sie drücke; sie erzählt ihm von dem Brief und zeigt ihn vor. Frischlin hält das Pferd an, brummelt vor sich hin, als er die Unterschriften entziffert, vergleicht auch den genannten Ort und das Datum und fragt dann, ob denn der Mann, ihr Eheherr Heinrich Kepler, bei des Scherberg Truppe gewesen oder woher sie das letztemal Botschaft bezogen habe? Sein Ton ist verwirrend, spöttisch oder überlegen, meint sie, oder unsicher.
»Nichts davon weiß ich, der Name, den Ihr da leset, ist mir neu.« Einen Augenblick denkt sie, der Dichter, der ihr die Mitfahrt aufgedrungen hat und sein Pferd nebenher vom Fuhrknecht reiten läßt, wäre ein zudringlicher Mann; derartiges Gerede ging ja um – und er wolle sie gern glauben machen, Heinrich wäre verdorben und verschollen.
Aber als sie ihn von der Seite ansieht, ist er so breit und bieder, wie’s nur sein kann, und sie tut ihm innerlich Abbitte. –
Im Brief – er muß zwischendurch auf die Straße achten, die jetzt abbiegt – ist von einem Leibtrabanten die Rede; er liest es ihr vor, und da fällt ihr ein, wer gemeint sein könnte … Die Nachricht käme aus Hungaria, erklärt er zwischendurch, ob ihr Mann da gewesen sei?
»Der Vetter, Herr, der Vetter Friedrich aus Weil der Stadt, der ist elf Jahr jünger als der Heinrich, könnt’s der sein?«
»Möglich«, murmelt der Briefleser, »sehr möglich.« Dabei schaut er wie verschlafen in den Himmel, der jetzt sonnenflimmrig blitzt und scheint, Katharina denkt erschrocken, er dichte, wäre nicht ganz bei der Sache und beim Fahren, und – wer weiß – habe vielleicht Gesichte.
Aber sie faßt trotz ihrer Schüchternheit nach seinem Arm und fragt eindringlich: »Ist’s gar nicht der Heinrich?«
»Scheint so – Ungarn.« Er schaut wieder in sich hinein, und sie glaubt jetzt bestimmt und fest, er habe eine Vision. Sie selber kennt das ja auch, bloß kommt’s zu ihr nur, wenn sie bedrückt und geängstigt ist, und das kann der Dichter ja nicht sein. Denn Dichter und Professoren müssen doch eigentlich immer eine nahe Beziehung zum Himmel haben und zur ewigen Glückseligkeit …
Er fragt, ob sie auch fahren könne. Er müsse sich etwas Wichtiges aufschreiben, und sie nimmt die Zügel. Frischlin kritzelt. Ihm ist ein Vers eingefallen.
Er sieht den Mann, als wäre er ganz nah neben ihr: Sie will ja, daß er zurückkommt: ein Drama, wahrhaftig, ein Drama oder eine Elegie, für ihn selber und vielleicht – er lächelt bitter –, vielleicht auch für sie.
Frischlin steigt aus, er steht am Wegrand und winkt.
Katharina wartet solang mit ihrem Wägelchen, bis der Fuhrmann mit dem Pferd antrabt; er ist bald schon neben ihr.
Als der Mann auf den Bock steigt und Katharina die Zügel abnimmt, steht Frischlin noch immer und hält das Tier, das unruhig hin- und hertrappelt und den Kopf wirft. Es schaut mit wilden Augen auf den neuen Reiter, der am Sattel herumtastet.
Frischlin redet ihm zu: »Das ist dir nicht recht, daß ein anderer dich jetzt wieder reiten soll, Bukephalos? Mach mir’s nicht so schwer wie dem Alexander, ich will ja kein Mazedonierkönig werden! Komm, sei ruhig, halt still – kennst mich denn nimmer, alter Leihgaul? So … spürst jetzt die kräftigen Beine? Los, trab!«
Er beugt sich herunter und streckt Katharina die Hand hin.
Jetzt hat das Tier den Schenkeldruck verstanden und setzt die Hufe voreinander, langsam und dann in wiegender Gangart. Frischlin ruckt sich zurecht und schiebt sich bequem in den Sattel, halb noch nach hinten gewendet, mit wehendem Bart.
Katharina lacht, so zwiespältig ihr zumute ist und obwohl sie die gelehrten Anspielungen nicht versteht. Aber als sie hinter dem struppigen Knecht wieder im Wagen sitzt, wird ihr doch bänglich; sie winkt und winkt, auch als sie den Reiter nicht mehr sieht.
Es ist dämmrig, es geht gegen Leonberg zu, und sie denkt auf einmal daran, wie man sie empfangen wird. »Kommt der Johannes bald heim zum Helfen?« Und wenn sie den Kopf schüttelt – »Was? Nicht? Was nützt denn das Studieren?«
So werden sie fragen, und nur der Großvater wird ihn in Schutz nehmen, stolz auf das »Ingenium, so ihn zum Stipendiaten würdig gemacht« …
Und was soll sie sagen vom Nutzen des Studiums? Sie weiß, was die engen Hirne im »Städtle« unter Nutzen verstehen und ahnt, was Johannes darunter versteht. Frischlin weiß es auch, obwohl er kaum davon geredet hat, aber als der Dichter neben ihr im Wagen von der »elastischen Phantasia in der Exaktheit« gesprochen, ist’s ihr wie ein junggeborenes Wesen im Flug vor Augen gekommen, ihrem mütterlichen Instinkt nicht fremd, von liebender Angst begleitet, ein Ikarus im Aufschweben … Was wird ihr Johannes finden, der so tief gräbt, unbeirrbar und planvoll? Sie sieht, schon abendmüde, Bilder und Bilder …