Читать книгу Katzmann und die Dämonen des Krieges - Uwe Schimunek - Страница 7

ZWEI
Samstag, 14. Februar 1920

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DER SCHWARZE zog das Messer aus dem Gürtel und beugte sich über Preßburgs Leiche. Er zog den Kopf an den Haaren vom Körper weg, setzte die Klinge an, schnitt. Das Messer fuhr durch die graue Haut, durch das Fleisch, durch den Kehlkopf, als würde es Gelee zerteilen. Erst an der Wirbelsäule blieb der Stahl stecken. Der Schwarze sägte, zerrte, drehte den Kopf und bekam ihn schließlich vom Körper los. Er hielt ihn in die Höhe wie eine Trophäe. Kein Blut. Nur eine Kruste am Schnitt. Aus dem Kopf starrten tote Augen gen Decke.

Der Schwarze wandte die dunklen Augen zum Fenster. Er schritt durch den Raum, vorbei an den dicken Ordnern mit den Vertragssachen der Jahre 1900 bis 1913, passierte die schmalen Hefter der Jahre 1914 bis 1917 und erreichte das Fenster. Die Flügel klangen beim Öffnen wie die Holztür eines Hexenhauses.

Der Schwarze schwang sich in die Luft, flog los, Preßburgs Kopf an der ausgestreckten Hand vornweg.

Am Boden rauschte der Karl-Heine-Kanal durch das Dämmerlicht. Die Plagwitzer Klinkerbauten sahen aus wie die Zitadellenanlage eines Raubrittergeschlechts. Nebel schmeichelte sich um Schornsteine und um die Lastkraftwagen auf den Höfen, die an schlafende Ungeheuer erinnerten. Der Wind pfiff ein krankes Lied.

Die Häuser bekamen prächtigere Fassaden: Ornamente, Figuren auf Fenstersimsen und über Toreinfahrten, Erker. Schleußig. Dann der Park.

Über den Wipfeln der ersten Bäume warf der Schwarze den Kopf nach oben. Als der Schädel wieder fiel, trat er mit voller Kraft gegen ihn und schoss ihn Richtung Scheibenholz.

Kein Mensch spazierte durch den Park an diesem Morgen. Keiner sah, wie der Kopf auf die Wiese neben der Pferderennbahn plumpste, über das taufrische Gras kullerte. Als der Kopf zum Liegen gekommen war, nahm der Schwarze Anlauf zum nächsten Volleyschuss.

Der Kopf flog in hohem Bogen über den Zaun der Rennbahn, landete vor der Haupttribüne.

Der Schwarze machte einen Satz, mit einem Sprung landete auch er im Rund des Scheibenholzes, wandte sich zur Tribüne. Unter den beiden Türmen des massiven Steinkolosses saßen Skelette. Tausende. Sie klapperten Beifall. Es klang, als würde eine Ladung Besenstiele von einem Laster fallen.

Nach einer Verbeugung nahm der Schwarze den Kopf auf und hielt ihn in die Höhe. Aus seinem Mantel holte er Kürbismasken. Die Fratzen grinsten wie breitgezerrte Wölfe in einem Hohlspiegel.

Der Schwarze jonglierte. Der Applaus toste lauter. Die ersten Gerippe standen von ihren Sitzen auf, klapperten mit allen Knochen.

Nach ein paar Runden schoss der Schwarze die Kürbisse nacheinander gen Tribüne, wo sie an den Säulen der Restaurantanlage im Erdgeschoss zerbarsten. Die Menge tobte. Die Skelette sprangen, fielen sich in die Arme - ein paar Gebeine flogen in die Luft.

Der Schwarze verbeugte sich tief, winkte seinen Zuschauern zu, wandte sich dem linken Flügel der Tribüne zu, der Mitte, der rechten Seite. Noch einmal beugte er sich mit dem Kopf fast bis zum Boden. Dann streckte er Preßburgs Kopf abermals in die Höhe und schwang sich zum Himmel hinauf. Flog zurück über den Park, über Schleußig hinweg, nach Plagwitz. Rasend schnell.

Das Licht blieb diffus, die Sonne schien die Dämmerung nicht beenden zu können - ganz, als sei die Zeit stehengeblieben.

Der Schwarze erreichte die Weißenfelser Straße, stoppte seinen Flug vor einer der schmucklosen Mietskasernen. Er blickte durch das Fenster im dritten Stockwerk auf das schlafende Mädchen.

Sie hatte die Daunendecke bis über ihr Kinn gezogen, wie ein Schild, das sie vor der Unbill der Welt schützen sollte. Der Schwarze kniete sich auf den Fenstersims, legte Preßburgs Kopf neben sich ab, presste die linke Hand auf die Scheibe. An seiner rechten wuchs ein Nagel aus dem Zeigefinger, scharf wie eine frischgeschliffene Klinge. Er zog mit dem Fingernagel einen Kreis - so groß wie ein Küchentablett - um die linke Hand.

Das Glas klebte an der Linken, als er es vorsichtig aus der Fensterscheibe löste. Mit einem Schwung schleuderte der Schwarze das Glas gen Himmel - es flatterte im Flug und erinnerte dabei an einen Hut, den ein feiner Herr auf einen Garderobenständer wirft. In hohem Bogen pfiff das Glas über das Haus gegenüber und verschwand.

Der Schwarze nahm den Kopf auf und schwebte durch das Loch, näherte sich dem Bett des Mädchens, legte Preßburgs Kopf auf das Kissen.

Liesbeth Weymann schrie, so laut sie konnte. Mit einem Ruck schoss sie in ihrem Bett hoch. Die Decke flog zum Fußende.

Sie riss die Augen auf. Stille. Kein Schwarzer da. Sie blickte über ihre Schultern auf das Kopfkissen. Kein Kopf. Das Fenster unversehrt.

Auf ihrer Stirn rann der Schweiß, verwandelte Haare und Augenbrauen in feuchtes Gewebe. Das Herz raste, die Schläge unter der Haut klangen wie ein Pochen an der Tür.

Es pochte an der Tür.

Liesbeth Weymann griff nach der Decke, zog sie über das Nachthemd.

Poch, Poch!

Sie sah, wie sich die Klinke bewegte, die Tür geöffnet wurde.

«Mama!»

«Kind, warum schreist du denn so? Da gefriert einem ja die Haut.»

Mokka, Zeitung, Zigarette - Heinz Eggebrecht genoss seinen Luxus. Der Tisch stand direkt am offenen Fenster, und viel Platz bis zur Tür in seinem Rücken blieb nicht. Aber er konnte immerhin auf die Zeitzer Straße schauen.

Auf das möblierte Zimmer musste er einen großen Teil seines Lehrlingslohnes verwenden, dafür konnte Heinz Eggebrecht in der Südvorstadt wohnen, zwischen all den Handwerkern, kleinen Ladenbesitzern, Lehrern - dem Leipziger Mittelstand.

Nicht wenige seiner Kollegen bei der LVZ wohnten in den Mietskasernen im Osten der Stadt. Vielleicht, weil sie es so nicht weit bis zur Redaktion in der Tauchaer Straße hatten, sicher aber auch aus Überzeugung. Dabei waren viele von ihnen durchaus bürgerlicher Herkunft. Zwar kam nicht jeder aus so gutem Hause wie Katzmann, aber das Gymnasium hatten sie fast alle besucht.

Heinz Eggebrecht trank einen Schluck Mokka. Diese Delikatesse verdankte er seiner Stelle bei der Zeitung. Die Anzeige für den Kolonialwarenhändler war ihm tatsächlich gut gelungen, deshalb hatte Heinz Eggebrecht auch kein schlechtes Gewissen, das Päckchen mit dem schwarzen Mokkapulver anzunehmen. Auch die feinen englischen Zigaretten kamen von einem Kunden. Die Kollegen sahen die kleinen Präsente zwar nicht gern, sagten aber auch nichts. Sicher werteten sie seinen jämmerlichen Lehrlingslohn als mildernden Umstand.

Das Getränk lag auf der Zunge wie ein winziger Teich, Bitterkeit breitete sich im Rachen aus, belebte den Gaumen. Herrlich! Noch ein Zug von der Zigarette. Ein perfekter Samstagvormittag.

Unten auf der Straße kauften die Leute Waren ein. Hier oben klangen die Menschen, als schnatterten Enten im Stimmbruch. Gelegentlich klang eine Türglocke von einem der zahllosen Ladengeschäfte in der Zeitzer Straße herauf.

Heinz Eggebrecht nahm die Morgenausgabe der Leipziger Neuesten Nachrichten und las. Er begann mit einem kurzen Artikel über Die Aussichten der Frühjahrsmesse, ganz oben auf der Titelseite: Über 11 500 Aussteller seien bereits angemeldet, 40 000 Einkäufer hätten sich beim Messeamt eingetragen. Es schien also wieder aufwärts zu gehen, mit der Wirtschaft, mit dem Leben.

Die Berichte aus der lokalen Wirtschaft las Heinz Eggebrecht in den Neuesten Nachrichten gerne. Die endlosen Börsenberichte interessierten ihn mangels Vermögen nicht, die Hinweise auf die Versammlungen der Deutschnationalen ignorierte er. Die Zeitung bekam er von der Vermieterin kostenlos, wenn diese sie gelesen hatte. Er schaute in das großbürgerliche Blatt aber auch, um zu wissen, was die anderen so trieben.

Zum Beispiel ging es um die Auslieferung der deutschen Kriegsverbrecher an die Ententestaaten. Die Neuesten Nachrichten behandelten dieses Thema seit Wochen fast täglich auf dem Titel. Auch heute berichteten sie, dass der Leipziger Studentenausschuss gestern auf einer Versammlung gegen die Auslieferung protestiert hatte. Es gehe um die Ehre Deutschlands, wurde Rektor Brandenburg zitiert.

Heinz Eggebrecht dachte an den Krieg, sah die von deutschen Soldaten gehängten Zivilisten vor seinem inneren Auge, wie sie an den Galgen zappelten. Die Schreie vor den Erschießungen, schrill wie berstendes Glas. Die Leichenberge. Der Gestank …

Ehre ? Ekel spürte er. Aber waren die Sieger tatsächlich besser, oder konnten sie nur die Moralischen spielen, weil sie den Krieg gewonnen hatten?

Schnell blätterte er weiter, während er an der Zigarette zog. Auf Seite drei fand er einen kurzen Bericht über Stresemann und den Wiederaufbau Deutschlands. Stresemanns Rede vor der Leipziger Ortsgruppe des Industriellenverbandes wurde zitiert: Sozialisierung sei gefährlich, Politik solle aus den Betrieben herausgehalten werden - lauter Thesen, die in der LVZ sicher heftig bekämpft würden, könnte sie erscheinen. Am Ende wurde Stresemann optimistisch: Die Arbeitslust im Lande sei wieder vorhanden. Auch der Wunsch nach Autorität.

Ersteres konnte Heinz Eggebrecht nachvollziehen, von Autorität allerdings hatte er seit dem Krieg die Nase gestrichen voll.

Schnell umblättern. Ein Schluck aus der Tasse. Er trank so hastig, dass er kurz husten musste. Da, die Meldungen aus Leipzig…

Das Wetter sollte weiter mild bleiben, gelegentlicher Regen. Heinz Eggebrecht überflog die Seite, blieb hängen an einer kurzen Meldung:

Großhändler im Bureau erschossen

Am Freitagmittag wurde der Unternehmer August Preßburg in seinem Bureau tot aufgefunden. Wie die Polizei mitteilte, ist der Inhaber des Großhandels Preßburg erschossen worden. Die Sekretärin habe den Leichnam nach der Mittagspause entdeckt. Vom Täter fehlt bislang jede Spur.

Heinz Eggebrecht legte die Zeitung auf den Tisch. Er blies einen Rauchkringel zum offenen Fenster hinaus. Den Namen Preßburg hatte er schon mal gehört. Aber wo?

Der letzte Schluck Mokka aus der Tasse half auch nicht. Nein, spontan fiel ihm nichts ein zu dem Namen. Das musste er in der Redaktion klären.

Die Kartoffelsuppe dampfte im Kochtopf und roch nach Kindheit. Die zeitige Samstagsschicht steckte Liesbeth Weymann noch in den Knochen, und sie war hungrig. Im Betrieb galt der Achtstundentag. Die Arbeiter hatten sich das Mehr an Wochenende durch die frühe Schicht erkämpft, deshalb musste Familie Weymann schon um fünf Uhr aufstehen. Und heute auch noch mit Alptraum.

Sie stellte Teller auf den viel zu großen Tisch. Früher hatte die Familie kaum in die Küche gepasst. Doch Albert und Karl, die beiden Brüder, waren im Krieg geblieben, und nun lebte die Familie zu dritt in der Wohnung. Liesbeth Weymann hatte ihr eigenes Zimmer, und drei Löffel reichten für das Weymann’sche Mittagsmahl.

Käthe Weymann rührte mit einer Holzkelle im Topf. Sie hatte sich in den letzten Jahren so sehr verändert, dass Lisbeth Weymann angst und bange wurde. Mama sah aus wie eine alte Frau: lief gebeugt wie eine Oma, die Haare ergraut, tiefe Falten auf Stirn und Wangen.

Ludwig Weymann trat in die Essküche. Auch bei ihm hatten sich graue Strähnen an die Schläfen gemogelt. Doch der Vater strotzte vor Kraft, schien zu blühen. Er schlang den Arm um die Taille seiner Frau, gab ihr einen flüchtigen Kuss auf den Schopf, beugte seine Nase über den Topf. «Hm, wie das riecht …»

Käthe Weymann kicherte. Sie wuchtete mit einer Drehung aus der Hüfte den Topf auf den Esstisch. Durch ihr Lächeln wirkte sie gleich um Jahre jünger, fand Liesbeth Weymann. Das freute sie, auch wenn die Zärtlichkeiten ihrer Eltern ihr unangenehm waren - sie kam sich dabei immer so vor, als würde sie im Schlafzimmerschrank der Eltern durchs Schlüsselloch linsen.

Die Mutter verteilte die Suppe und faltete die Hände zum Gebet, der Vater verdrehte die Augen. Liesbeth Weymann senkte den Blick, bevor Vater sie ansehen konnte. Das Ritual vorm gemeinsamen Essen.

Frau Weymann seufzte leise.

«Nun aber Mahlzeit!» Ludwig Weymann hielt den Löffel aufrecht in der Hand.

Liesbeth Weymann murmelte: «Guten Appetit!» Sie begannen zu essen. Die Suppe war cremig. Seit Liesbeth und der Vater Geld nach Hause brachten, konnte Mama mehr Kartoffeln in die Suppe schnippeln. Da war schon wieder der Gedanke an das Bureau. An Preßburgs Leiche …

«Wo hat der Bastard eigentlich das Loch im Kopf gehabt?» Der Vater schien auch nicht von dem Mord loszukommen.

«So spricht man nicht über Tote!», mahnte Mama.

«Vom Sterben wird so einer auch nicht besser», brummte Ludwig Weymann, aß einen Löffel Suppe und blickte zu seiner Tochter.

Ach ja, die Frage nach dem Loch im Kopf. «Mitten auf der Stirn.» Auch Liesbeth Weymann aß etwas von der Suppe. Sie zögerte. «Und Herr Preßburg war immer nett zu mir. Urteile nicht zu hart über ihn, Vati!» Sie hoffte, dass der Kosename seinen Zorn milderte.

«Lieschen, er zahlt Hungerlöhne, und beim kleinsten Fehler gibt es noch Abzüge. Die Überstunden werden auch nicht bezahlt. Er ist ein Ausbeuter!»

«Aber Ludwig, er ist doch tot. Lass ihn ruhen!»

«Außerdem war er ein rechter Hund. Wenn es deinen Gott gibt, schmort er in der Hölle.»

«Nun ist aber gut, Ludwig! Wenn du schimpfen willst, such dir einen lebendigen Gegner!» Die Mutter legte den Löffel neben den Teller.

Liesbeth Weymann überlegte, wie sie die Situation entspannen konnte. Vater und seine Politik, da schaltete er auf stur. Dabei war Herr Preßburg seinen Verkäufern ein guter Chef gewesen: immer für sie zu sprechen, stets einen guten Hinweis parat. Aber das würde ihr Vater niemals gelten lassen - für ihn war er schlicht ein Ausbeuter, ein rechter Hund …

Und Mama? Die kochte schon fast über vor Ärger. Liesbeth Weymann musste das Thema wechseln …

«Ich gehe morgen übrigens ins Lichtspielhaus.»

Mama schaute sie an, Liesbeth kam sich vor, als habe sie eine exotische Fremdsprache benutzt, Chinesisch vielleicht. Aber immerhin, es schien zu wirken: Mama schüttelte nur den Kopf und aß weiter. Dabei bewegten sich ihre Wangenknochen, als müssten sie Kieselsteine zermahlen. «Das ist doch nichts für Mädchen.» Und mit einem Blick zum Vater: «Sag doch auch mal was, Ludwig!»

«Ach Käthchen, das Kind ist doch erwachsen.» Der Vater brummte die Worte, ohne aufzuschauen.

«Aber man hört so schreckliche Sachen über diese Filme … «

«Du musst nicht immer alles glauben, was so getratscht wird. Unsere Tochter weiß schon, wo sie hingeht.»

«Wir sind immer noch ihre Eltern!»

Am liebsten hätte Liesbeth Weymann laut protestiert. Konnten ihre Eltern nicht mit ihr reden? Sie saß doch hier am Tisch. Der Vater musste ihren Ärger bemerkt haben - er schaute sie an, als hätte er zu ihrem Geburtstag die Blumen vergessen. Dann blickte er zu seiner Frau. Die schüttelte immer noch den Kopf.

«Lieschen, mit wem gehst du denn?»

«Mit Frieda. Wir treffen uns auf dem Markt, und dann spazieren wir zum Colosseum auf dem Roßplatz.»

«Das klingt nach einem schönen Sonntag. Das sollten wir auch mal machen, Käthe.»

«Ach Ludwig.» Käthe Weymann kicherte wieder. «Das überlass mal den jungen Leuten.»

«24.» Helmut Cramer lächelte in sich hinein, versteckte sein Grinsen ganz tief im Rachen. Nur keine Regung nach außen zeigen!

Der Rauch seiner Zigarette stieg zur Decke, schimmerte wie ein dünner Streifen Seide, der die Fallrichtung verwechselt hatte. Das Kneipengemurmel gab ihm ein gutes Gefühl: Heimat, Sicherheit.

Er hatte das Blatt gegeben, ein bisschen getrickst, wusste nun, dass der Eichel-Bube im Skat lag. Ede konnte nicht mitreizen. Und wenn sein Gegenüber, Hans oder Franz oder so, zu lange im Rennen blieb, würde er sich überreizen und verlieren. Stieg Hans/Franz aus, gingen die Trümpfe an ihn, den Schönen, den Gewinner. Der Alte würde gut zum grünen Buben auf seiner Hand passen. Genau wie das Grün-Ass, das auch im Skat wartete. Hier konnte nichts schiefgehen.

Hans/Franz nickte, und dann ging alles ganz schnell.

«30.»

Nicken.

«33.»

Nicken.

Das Grün ließ sich auch mit den beiden höchsten Buben nicht mehr spielen. Hans/Franz würde gleich den Skat aufnehmen, den Eichel-Buben finden und merken, dass er sich überreizt hatte. Jetzt nur die Ruhe! Helmut Cramer hob sein Blatt vor die Augen, drehte es leicht hin und her, so, als müsse er die einzelnen Karten auf ihr Gewicht hin prüfen. Er schloss kurz die Augen, neigte den Kopf ein wenig nach hinten, so, wie er sich vorstellte, dass ein Denker seiner Tätigkeit nachgeht. Die Bewegungen blieben spärlich, das hatte er zu Hause vor dem Spiegel geübt. Große Gesten wirkten immer unecht, es musste aussehen, als sei jede seiner Regungen eine unwillkürliche Reaktion auf den Spielverlauf.

«Dein Spiel.» Helmut Cramer hörte seine Worte, das vermeintliche Bedauern in ihnen - er war stolz auf sich.

«Eichel-Hand.»

Verflixt! Eichel-Hand war 36 wert, Hans/Franz hatte ihn gefoppt! Spielte der auch falsch?

Hans/Franz trank einen Schluck Bier, guckte arglos wie ein pflanzenfressender Waldbewohner, ein Reh vielleicht.

Jetzt ging es um Schadensbegrenzung. Mit Edes Skatkünsten rechnete er lieber nicht, der spielte an diesem Tisch das Opfer. Aber auch wenn er das Spiel abschrieb, lag er noch gut im Plus.

Alles lief schief. Hans/Franz spielte seine Trümpfe gekonnt aus. Kleine Stiche nutzte er, um lästige Karten abzuwerfen und Ede nach vorn kommen zu lassen.

Erst ganz zum Schluss reichten die Trümpfe nicht mehr. Mit den letzten beiden Stichen rettete Helmut Cramer sich und Ede aus dem Schneider.

«Da haben wir aber Glück gehabt.» Ede zählte ihre gewonnenen Stiche.

Der zählte während des Spiels nicht mal mit.

Helmut Cramer trank einen winzigen Schluck Bier. Hier in der Kanalschenke musste er natürlich Alkohol trinken, sonst würde er auffallen. Aber Geld mit Skat ließ sich nun mal nur in nüchternem Zustand machen. Nur mit voller Konzentration.

Ede mischte die Karten neu, legte den Stapel vor Helmut Cramer zum Abheben hin und trank einen großen Schluck von seinem Bier.

Helmut Cramer nahm die Karten in die Hand und schaute Ede an. Er ließ die Ecken der Karten schnippen und teilte den Stapel. Aus dem Augenwinkel konnte er erkennen, wie zwei Buben und das Rot-Ass in seinen Händen kurz vors untere Ende des neuen Blattes wanderten. Ohne den Blick von ihm zu lassen, schob er die Karten wieder zu Ede.

Erst als der gab, trank Helmut Cramer einen weiteren Schluck und sah beiläufig zu Hans/Franz hinüber. Nur kurz. Dann drehte er seinen Kopf, als würde er sich vor lauter Langeweile umgucken. Hans/Franz wirkte arglos. Die Kneipensitzer interessierten ihn nicht, auch nicht der Kollege seines Bruders aus dem Großhandel, der in der Ecke mit großer Geste Reden schwang. Aber dieser feine Pinkel dort - wieso starrte der ihn so an?

«He, Schöner, du sagst an! Hannes hört.» Ede riss ihn aus den Gedanken. Und Hans/Franz hieß also Hannes.

«Immer mit der Ruhe.» Helmut Cramer nahm sein Blatt auf. Eichel-Bube, Schell-Bube, Rot-Ass lagen ganz unten. Den grünen Buben fand er auch und die Rot-Zehn, das Eichel-Ass. Ja, er half dem Glück ein bisschen auf die Sprünge, aber es ließ sich auch gerne helfen.

«18.»

«Nach einem guten Spiel soll man passen.» Hannes sprach die Worte selbstsicher wie ein Richter sein Urteil, verzog keine Miene, als er Ede zunickte.

«20.» Ede spuckte die Zahl aus, als hätten sich die Ziffern beim Warten im Rachen angesammelt.

«Ja.» Helmut Cramer wunderte sich kurz über Edes Elan. Aber sein Grand mit Zweien würde der nicht überbieten können. Keine Gefahr.

«Zwei.»

«Ja.»

«Drei.»

«Ja.»

Ede zögerte. Wollte der Null spielen? Das bedeutete, dass Ede nur kleine Karten hatte und Hannes ein schlechtes Blatt. Helmut Cramer versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie er sich fühlte. Wie ein Primaner, der durch Abschreiben eine Eins in Mathe kassiert hatte. Er lehnte sich zurück, schaute ins Kneipenrund, der Lackaffe war ins Gespräch mit seinem Tischgesellen vertieft. Was für ein Pärchen! Der Pinkel redete auf einen Lockenkopf ein - der steckte in einem zerknitterten Jackett, das vielleicht zur Konfirmation mal gepasst hatte.

«Sieben.» Ede schnaufte beim Sprechen wie ein Pferd.

«Ja.»

«30?»

«Ja.»

«33?»

«Ja.»

«Und … äh … 35?»

«Ja.»

«Ach Mann, dann spiel den Scheiß!» Ede sah aus, als hätte der Wirt ihm gesagt, dass er heute Abend nicht anschreiben dürfe.

Helmut Cramer nahm den Skat auf: Schell-Bube und Rot-Ass. Unglaublich! Heute schienen alle Götter aus Himmel und Hölle freigenommen zu haben, um sich um sein Skatspiel zu kümmern.

«Grand. Schneider angesagt!» Er ließ den Worten das Rot-Ass folgen.

«Ist in Ordnung, ich zahle heute Abend!» Konrad Katzmann untermalte seine Worte mit einer Armbewegung, als wolle er die ganze Kneipe einladen.

Die Worte galten selbstverständlich ihm, Heinz Eggebrecht. Er hätte sonst nach diesem Bier den Heimweg antreten müssen, mehr ließ seine Lehrlingslohntüte einfach nicht zu.

Nun konnten sie ihre Diskussion über die Photographie fortsetzen, Konrad Katzmann spendierte das Bier wohl auch aus einem gewissen Eigennutz heraus.

«Ich danke dir! Der Photographie gehört trotzdem die Zukunft.»

«Schon gut, du lädst mich ein, wenn du ein berühmter Photograph geworden bist. Aber eins musst du mir erklären: Was soll eine Photographie denn zeigen, was ein Text nicht schildern kann?»

Dagegen ließ sich schwer argumentieren. Auch Heinz Eggebrecht konnte ein gut geschriebenes Buch oft nicht aus der Hand legen, las die Nacht hindurch, bis zum Ende des Textes.

Er nahm eine Zigarette aus dem Etui, das Konrad Katzmann vorhin auf den Tisch gelegt hatte. Das Streichholz warf eine fingerhohe Flamme, der Tabak glimmte mit dem Rot eines Spätsommer-Sonnenuntergangs. Ein Schluck Bier, ein perfekter Moment. Jetzt fiel ihm das entscheidende Argument ein: «Menschen glauben am ehesten, was sie selbst sehen. Das aber liefert ihnen nur die Photographie, nicht der Text.»

Katzmann schien einen Moment überlegen zu müssen. In seinem Gesicht arbeitete es wie auf einer Baustelle, der Mund war schmal wie ein Graben, und auf der Stirn schienen kleine Schaufeln ihr Werk zu tun.

«Eine Photographie zeigt immer nur den Moment. Der Text aber beschreibt den Prozess, zeigt die Zusammenhänge auf, beleuchtet die Hintergründe. Der intelligente Leser weiß das.»

«Natürlich wird es immer Texte in der Zeitung geben, Nachrichten, Reportagen. Aber es wird der Tag kommen, an dem keine Zeitung mehr ohne Photographien erscheint.»

«Ah, der junge Mann ist also Hellseher!» Katzmann grinste von Ohr zu Ohr. «Photographien sind teuer. Wer soll eine Zeitung bezahlen, in der jeden Tag welche abgedruckt werden? Die Leute hier?» Sein Arm beschrieb einen Kreis, der den Gastraum umfasste.

Der Punkt ging schon wieder an ihn. Für die Arbeiter hier waren bereits die 2,75 Reichsmark für das Selbstabholerabonnement kein Pappenstiel. Teurer dürfte die Zeitung wirklich nicht werden.

Auch Konrad Katzmann nahm sich eine weitere Zigarette. Zwei Rauchsäulen stiegen vom Tisch auf, verschmolzen unter der Deckenlampe zu einer Wolke.

Heinz Eggebrecht arbeitete an einer Erwiderung. Konrad Katzmann hatte ja recht. Aber diese Selbstgefälligkeit! Da musste ihm etwas einfallen.

«Und ich weiß noch immer nicht, was eine Photographie sagen sollte, was ein Text nicht kann …» Konrad Katzmann sprach die Worte nachdenklich, von Selbstgefälligkeit keine Spur mehr.

Na gut, dann musste er sich eben ernsthaft auf die Gegenargumente einlassen.

«Schau dir noch mal den Skatspieler an, den du vorhin schon so fasziniert angeguckt hast. Ja, den da vorn … Ein gutaussehender Junge. Was fällt dir noch auf?» Heinz Eggebrecht ließ ein paar Sekunden vergehen, zog an der Zigarette.

Konrad Katzmann fixierte den jungen Mann, als wolle er einen afrikanischen Zauber an ihm anwenden. Seine Konzentration schien die Zeit einzufrieren. Die Asche seiner Zigarette, die in Fingernagellänge vor der Glut gehangen hatte, fiel auf den Tisch.

«Also gut.» Konrad Katzmann lehnte sich zurück. «Die Frisur stammt von einem Vorort-Friseur, nicht die neueste Mode, aber solide gearbeitet. Der Anzug ist gepflegt, sieht aber ein bisschen aus, als sei er geerbt, vom großen Bruder oder vom Onkel. Der Junge hat nicht viel, gibt sich aber Mühe. Ordentliche Rasur, die Wangenknochen zeigen Charakter. Wenn er lächeln würde, könnte er ziemlich sympathisch aussehen, ein Mädchenschwarm sicher. Er lächelt aber nicht. Vermutlich ist er ein geübter Glücksspieler.»

«Nicht schlecht.» Heinz Eggebrecht nickte. Keine Frage, der Reporter hatte ein Auge für Details. Jetzt war er dran. Mit einem Zug von der Zigarette bereitete er seinen Monolog vor. «Wenn er auf dem Lichtbild wie der nette Kartenspieler von nebenan aussehen soll, würde ich ihn von links unten ablichten. Mund und Kinn kämen gut zur Geltung, der Blick würde Richtung Bildmitte und über den Betrachter hinweg nach oben zeigen. Die Augen nur so weit offen, dass sie nicht wie aufgerissen aussehen. Ein Kämpfer, einsam und überlegen.» Heinz Eggebrecht schnippte die Asche seiner Zigarette in den Becher und fuhr fort: «Nehmen wir aber mal an, der junge Mann wäre ein Lump und wir wollten zeigen, dass er seine Spielpartner ausnimmt. Dann wählen wir dir frontale Perspektive. Den Auslöser betätigen wir, wenn er gerade die Augenbrauen zusammenzieht, damit die Augen eng stehen. Eine Haarsträhne hängt vor Anstrengung über die Stirn. Lassen wir ihn verbissen in sein Blatt starren. Fertig ist der Bösewicht. Wie viele Worte hättest du gebraucht, um dieses Bild einzufangen?»

Konrad Katzmann nickte. Er lächelte, als habe er eine überraschende Entdeckung gemacht. Mit einem weiteren Nicken hob er die Hand und bestellte mit Zeige- und Mittelfinger zwei weitere Bier.

Heinz Eggebrecht merkte, wie seine Brust anschwoll. Er schaute noch einmal zum Skatspieler hinüber. Der stand auf, ging zur Toilette. Hatte er bemerkt, dass sie über ihn sprachen?

Helmut Cramer bahnte sich seinen Weg vorbei an Biertischen. Wieso hatten der feine Pinkel und der Lockenkopf ihn beobachtet? Hatten die bemerkt, dass er seinem Glück beim Skat nachhalf?

Und überhaupt, was machte dieser reiche Kerl hier? Einen maßgeschneiderten Anzug erkannte Helmut Cramer auf hundert Meter Entfernung. Und der Schnösel trug einen, der schlichte Schnitt konnte ihn nicht täuschen. Der leistete sich also teure Bescheidenheit, ein Zeichen von Souveränität, von echter Klasse. Aber wieso hatte der so einen wie den Lockenkopf dabei? So einer kam doch mit einem wie dem Pinkel allenfalls bei einem Einstellungsgespräch zusammen. Oder bei einer Kündigung. Doch hier unterhielten die sich wie Kumpels.

Polizisten? Nein, Bullen konnten sich den teuren Stoff nicht leisten und mussten auch nicht derart zerknitterte Lappen tragen. Beobachteten ihn schon die Verbrecher, die es auf Preßburgs Koffer abgesehen hatten? Aber wie sollten die auf ihn kommen? Am besten, er würde nach der Runde aussteigen und dann schnell, aber auf Umwegen nach Hause gehen. Ein paar Mark hatte er gewonnen, das musste für heute reichen.

Er erreichte das Klo und öffnete die Tür. Uringestank. Wenigstens war kein Mensch hier. Ein bisschen Ruhe konnte er gebrauchen. Er trat an die Pissrinne, öffnete den Hosenstall, pinkelte und beobachtete, wie der Strahl an die Wand stieß, in die Rinne lief, in den Abguss floss.

Hinter ihm öffnete sich die Tür, ein Hauch frischer Luft schwappte herein. Cramer schüttelte die letzten Tropfen von seinem Pimmel und steckte ihn in die Hose.

Eine Hand an seinem Kragen. Ein Griff wie von einer Eisenfaust. Ein Ruck. Sein Kopf knallte an die Pisswand.

«Scheiße! Was soll denn das? Aua!»

Wieder ein Ruck. Rums, sein Kopf knallte gegen die Wand. In seiner Stirn stach ein Schmerz, als würde ein Specht direkt auf den Schädel picken.

«Au! Scheiße! Aufhören!»

Der Griff wurde gelockert. Helmut Cramer versuchte, den Mann in seinem Rücken mit den Händen zu greifen. Wieder die Eisenfaust. Und wieder krachte sein Kopf gegen die Wand. Er hielt still, so gut er konnte. Seine Knie zitterten. Der Kopf brummte inzwischen, als wäre eine ganze Spechtfamilie am Werke.

«Der Junge wird also langsam vernünftig.» Die Stimme klang tief, fast wie von einem Bären. Der Kollege von seinem Bruder? Die Worte rochen nach Bier.

«Was ist denn los?»

«Das fragst du mich? Warte, ich helfe meinem Falschspieler beim Nachdenken.» Erneut knallte sein Kopf gegen die Wand.

«Au! Scheiße!»

«Das hatten wir schon. Ich möchte jetzt einen Vorschlag hören, wie es weitergeht.» Der Bär brummte, als mache ihm die Anstrengung nichts aus, aber auch keinen Spaß. Als wolle er am liebsten schnell zurück in seine Höhle.

«Ich höre auf zu spielen. Ich wollte nach der Runde sowieso gehen.»

« Nach der Runde?» Kopf gegen die Wand.

«Au! Nein, gleich. Ich sage, ich habe plötzlich Kopfschmerzen bekommen.»

Die Tür öffnete sich. Ein Mann nuschelte etwas, Helmut Cramer verstand die Worte nicht.

«Wir müssen uns noch kurz zu Ende unterhalten. So lange hältst du es aus.» Der Bär brummte die Worte von Helmut Cramer weg.

Der Nuschler murmelte: «Sgud, Ludwich.»

«Danke. Wir sind fast fertig.» Die Stimme des Bären und der Biergeruch kehrten zu Helmut Cramers Kopf zurück. Die Tür fiel zu. Dann sagte der Bär: «Also, du gehst raus und sagst, dass du nicht mehr spielen kannst. Was machen wir mit den Runden, die schon gespielt sind?»

«Äh …» Kopf gegen die Wand. «Au! Scheiße, Scheiße!»

«Du musst an deinem Ausdruck arbeiten, junger Mann. Das werde ich deinem Bruder bei Gelegenheit sagen. Aber zurück zu deinen Skatfreunden: Was machst du mit den gespielten Runden?»

«Ich sage, ich will das Geld nicht. Habe nur um die Ehre gespielt.»

«Um die Ehre, haha.» Der Bär lachte noch tiefer, als er sprach. Helmut Cramer spannte seine Muskeln an, er erwartete den nächsten Schlag. Zum Glück blieb der aus.

«Also gut, mein junger Freund. So kannst du es machen. Ich gebe dir noch einen Rat für die Zukunft. Den Ede nimmst du nicht mehr aus. Das ist eine gute Seele. Und wenn ich dich erwische, wie du den betrügst, setzt es eine Tracht Prügel. Verstanden?»

«Verstanden.» Es schien fast ausgestanden zu sein. Selbst die Spechte schienen langsamer zu flattern.

«Mit Hannes kannst du dich meinetwegen anlegen. Aber wenn der dich erwischt, wirst du dir eine Tracht Prügel von mir wünschen.

Mit einem Gesicht voller Narben bist du auch nicht mehr der Schöne .»

Der Bär lockerte seinen Griff. Helmut Cramer entspannte seine Muskeln.

Eisenfaust. Kopf gegen die Wand.

«Au! Scheiße!»

«Und gewöhn dir diese Ausdrücke ab.» Der Bär ließ los. Helmut Cramer erwartete einen letzten Schlag. Die Schmerzen stachen nicht mehr, es fühlte sich eher an, als ob der Kopf ein Kürbis sei, kurz vorm Platzen.

Doch die Schritte entfernten sich. Er schaute zur Tür und sah, wie der Bär in den Gastraum ging. Das war tatsächlich dieser Kollege seines Bruders aus dem Großhandel! Dieser Vorarbeiter, Heilmann oder Weymann oder so. Er würde eine Gelegenheit finden, es ihm heimzuzahlen.

Heinz Eggebrecht trank Bier und sah im Augenwinkel, wie der Skatspieler sich von seinen Tischkumpanen verabschiedete. Warum nur so plötzlich? Hatte ihre Aufmerksamkeit ihn vertrieben?

«Der Kerl geht. Sieht fast so aus, als fühle er sich bei etwas ertappt. Da war er wohl eher der Lump.» Konrad Katzmann schlürfte einen Schluck vom frischen Bier.

Am Skattisch schien es Ärger zu geben. Einer der Mitspieler gestikulierte wild mit den Armen. Die Stimmen wurden lauter, drangen durch den Kneipenlärm: «Mitten in der Runde.», «… der will uns wohl verarschen!»

Der junge Mann, den sie beobachtet hatten, antwortete zu leise, Heinz Eggebrecht konnte nichts verstehen. Aber offenkundig versuchte er, die aufgebrachte Runde zu beschwichtigen, indem er mit den Handflächen symbolisch Luft nach unten pumpte. Der Gestikulierer rief laut: «Das reicht! … Lass dich nicht mehr hier blicken! Raus jetzt!»

Der junge Mann nahm den Mantel über den Arm und lief zur Tür.

«Ja, er war doch eher der Bösewicht. Wenn ich ihn jetzt ablichten würde, bräuchte man gar keinen Text mehr.»

«Könnte sein. Ein Prosit auf die Photographie!» Konrad Katzmann lachte und hob sein Bier.

Heinz Eggebrecht stieß seins dagegen und trank einen großen Schluck. So viel Bier wie heute konnte er sich sonst nicht leisten - langsam merkte er, wie ihm der Alkohol in den Kopf stieg. Es fühlte sich an, als würde jemand mit einem Schwungrad in der Hand die Innenseite seines Hinterkopfes hinaufklettern und dabei das Rad langsam drehen. Dies hier musste das letzte Bier sein.

«Vielleicht reicht das für heute auch an guten Taten. Sonst kann ich morgen gar nichts mehr vom großen Reporter lernen.»

«Ja, ich kann das Ende des Tages auch schon am Grund meines Bieres sehen. Was du morgen von mir lernen kannst, weiß ich allerdings auch nicht. So ein Reporter ist ja nur ein halber Mensch ohne Zeitung.»

Heinz Eggebrecht griff nach dem Zigaretten-Etui. Noch zwei Stück lagen darin. Das war ein Zeichen. «In der Redaktion sind trotzdem immer Leute.»

«Klar. Man darf doch nicht den Anschluss verlieren, nur weil nichts gedruckt wird. Ich werde morgen auch in die Tauchaer Straße gehen.»

Die Zigaretten konnten die Luft kaum noch schlechter machen. Heinz nahm einen kräftigen Zug. Der Qualm biss in seinen Augen. Er musste an den Vormittag, an die Neuesten Nachrichten, denken. An den Mord an diesem … Wie hieß der gleich? «Heute morgen hab ich bei der Konkurrenz übrigens von einem Mord gelesen. Es gibt nun einen Unternehmer weniger in Leipzig. Er hieß Plensdorf oder Proßberg … nein, Preßburg. Ich kenne diesen Namen irgendwoher. Ich weiß nur nicht, woher.»

«Bis nach Dresden ist Preßburgs Ruf jedenfalls noch nicht gedrungen. Ich höre den Namen zum ersten Mal.»

«Großhändler ist er wohl gewesen, schreiben die Neuesten Nachrichten .»

Konrad Katzmann liefen die Gesichtszüge in die Breite wie bei einem Brei, der überkocht. « Die Neuesten Nachrichten, so so. Was hast du denn mit dieser Ausbeuterpostille am Hut? Schaust du dort nach, in welche Anleihen du deinen Lohn am besten steckst?» War das immer noch ironisch gemeint, oder vermutete Katzmann allen Ernstes, dass Eggebrecht seine Einladung erschlichen hatte, obwohl er eigentlich im Geld schwamm? Er beschloss, vorsichtshalber nicht nach einem Spruch zu suchen, sondern die schlichte Wahrheit zu sagen. «Nein, nein. Meine Vermieterin schiebt mir das Blatt unter der Tür durch, wenn sie es gelesen hat. Ich habe keine Aktien unterm Bett.»

Konrad Katzmanns Gesicht behielt seine Breite, nur das Grinsen trat jetzt deutlicher hervor. «Nicht mal ein winziges Milliönchen?»

Der foppte ihn doch! Er musste reagieren. Der Alkohol ließ die Gedanken jedoch nur langsam wabern, so dass Eggebrecht wieder keine Chance auf eine schlagfertige Antwort haben würde. Oder doch? Ein Versuch war es wert: «Doch, jetzt fällt mir’s ein. Daher kenn’ ich den Preßburg. Der Laden gehört mir!»

Konrad Katzmann lachte so laut, dass er Tabaksrauch in großen Mengen ausstieß und dabei an eine Dampflok beim Beschleunigen erinnerte. Er boxte Heinz Eggebrecht freundschaftlich an die Schulter, quer über den Tisch. Ein Treffer zum Feierabend, herrlich!

Zwei Biere trafen sich über der Tischmitte. Plong! Die Kehle wurde kühl. Währenddessen drehte das Schwungrad im Kopf seine Runden.

«So ein Mord kann eine feine Sache sein, zumindest für einen Reporter, der keine Artikel für den nächsten Tag schreiben muss.» Konrad Katzmanns Grinsen war verschwunden, die Worte fuhren nur noch in einer winzigen Spur der Ironie. «Morgen in der Redaktion sehen wir uns die Sachen mal genauer an. Vielleicht lernen wir beide noch was.»

Katzmann und die Dämonen des Krieges

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