Читать книгу Attentat Unter den Linden - Jan Eik, Uwe Schimunek - Страница 6
Zwei
ОглавлениеDer Major von Gontard war geneigt, es eher als ein außergewöhnliches und auffallendes Zusammentreffen denn als einen Zufall zu betrachten, dass ausgerechnet ihm die Aufklärung der Todesumstände des Oberst-Lieutenants Aemilius von Elster, genannt von Streyth, übertragen worden war. Möglichst rasch sollte er Klarheit in den Fall bringen. Deshalb hatte er sich nicht damit aufgehalten, vom Marstall aus noch einmal in seine Mietwohnung in der Dorotheenstraße heimzukehren, sondern war spornstreichs zum Gensdarmen-Markt geeilt, um endlich seinen Freund Kußmaul zu treffen - und ihn wieder einmal um seine medicinische, in diesem Fall pathologische Hilfe zu bitten.
Doktor Friedrich Kußmaul, als praktizierender Arzt an entsetzliche Krankheiten und plötzliche Sterbefälle gewöhnt, teilte Gontards erklärte Vorliebe für geheimnisvolle Todesfälle nur bedingt, war jedoch auch diesmal bereit, sich persönlich für eine gewissenhafte Obduktion des unter so fragwürdigen Umständen Dahingegangenen einzusetzen.
»Ein Einspruch der Familie ist nicht zu erwarten?«, erkundigte er sich sicherheitshalber. Gontards lange zurückliegende Bekanntschaft mit der jäh zur Witwe gewordenen Frau von Streyth war ihm noch in Erinnerung.
»Ich bitte dich!« Beinahe hätte Gontard mit seiner heftigen Handbewegung das zierliche Kaffeetässchen vom Tisch gewischt. »In der Residenz werden alle Unglücksleichen vorschriftsmäßig seziert. Weshalb sollte für unseren Oberst-Lieutenant eine Ausnahme gelten?«
Kußmaul wiegte sein Haupt. »Bei den höheren Ständen weiß man nie, wie weit der Einfluss reicht. Sprachst du nicht seinerzeit von einer gewissen Hand, die schützend über ebendiesem Herrn von Streyth schwebe?«
»Schwebte, mein Lieber, schwebte. Es handelte sich um niemand Geringeren als unseren Gebieter, den Prinzen August, Oberbefehlshaber der preußischen Artillerie …«
»… und letzten direkten Nachfahren Friedrichs des Großen«, ergänzte Kußmaul lachend. »Jetzt erinnere ich mich! Der Gute ist vor einem Jahr gestorben, nicht wahr?«
»Eben. Deswegen wäre die Laufbahn des Herrn Oberst-Lieutenant an unserer Artillerie- und Ingenieurschule ohnedies mit dem auslaufenden Semester beendet gewesen, und niemand hätte ihm eine Träne nachgeweint.«
Kußmaul gab dem bedienenden Markeur ein Zeichen, ihnen noch zwei Mokka zu servieren und dazu zwei Gläschen jenes herben Likörs, den er neuerdings bevorzugte.
»Das spricht natürlich gegen ein Attentat«, stellte er sodann nüchtern fest. »Wenn ihn jemand loswerden wollte, brauchte er doch nur die Zeit abzuwarten, oder?«
Gontard nickte zustimmend. »Allerdings passen die Pistole und der daraus abgegebene Schuss nicht so recht in dieses friedliche Bild.«
»Glaubst du, dieser Kirchner hatte Gründe, etwas gegen von Streyth zu unternehmen?«
Gontard seufzte. »Das eben gilt es herauszufinden. Immerhin halte ich Kirchner für intelligent genug, sich nicht mit einer just abgefeuerten Waffe in der Hand neben einer frischen Leiche erwischen zu lassen.«
»Na bitte! Und wenn es nun der Herr Oberst-Lieutenant höchstpersönlich und eigenhändig war, der die Pistole abfeuerte, um mit dem Ende seiner militärischen Laufbahn auch sein ruhmreiches Leben zu beschließen?«
»Nein, nein.« Gontard dachte einen Augenblick nach und schüttelte abwehrend den Kopf. »Da schätzt du den alten Zausel falsch ein. Er mag nicht besonders klug gewesen sein, aber zäh war er wie ungegerbtes Ochsenleder. Ein ehrpusseliger Soldat von altem Schrot und Korn, der sich zu wehren verstand und ewig Streit suchte. Der hätte sich allenfalls erschossen, wenn Prinz August höchstselbst es ihm befohlen hätte.«
Kußmaul hob das Likörglas. »Um den Prinzen ist es auffallend still geworden, findest du nicht?«
Nun war es an Gontard zu lächeln. »Meinst du, um uns wird man ein Jahr nach unserem Tod noch größeres Aufsehen machen?«
»Das meine ich wahrhaftig nicht!«
»Aber August war schließlich eine herausragende Persönlichkeit bei Hofe und beim Militär. Der letzte leibliche Neffe Friedrichs, der Bruder des unsterblichen preußischen Helden Louis Ferdinand … und der reichste Mann Preußens, vergiss das nicht! Dazu ein mehr als dutzendfacher Vater«, fuhr Gontard mit gedämpfter Stimme fort und sah sich dabei um. Im Roten Zimmer gab es immer den einen oder anderen mit langen Ohren. Gespräche über das gottgewollte Herrscherhaus der Hohenzollern waren allemal gefährlich.
»Ich sehe, du bist in deinem Element.« Kußmaul griente breit. »Zwar hast du die Maulfertigkeit deines dahingegangenen Freundes Heidenreich noch nicht erreicht, doch wirst du gewiss herausfinden, welcher Art Verknüpfungen zwischen dem dahingegangenen Prinzen August und seinem vom eigenen Pferd getöteten Günstling existierten.«
Gontard verstand die Anspielung nur zu gut. Doktor Gebhardt Heidenreich war nicht nur ein ebenso beredsamer wie begnadeter Physiker und Experimentator gewesen, sondern auch ein geradezu manischer Erforscher der Hohenzollern’schen Genealogie, in deren illegitime Verzweigungen er tiefer eingedrungen war, als es für seine Beziehung zu der späteren Frau von Streyth gut war.
»Da gibt es wenig Neues herauszufinden«, meinte Gontard in gedämpftem Ton. »Der Hof hat rechtzeitig dafür gesorgt, dass Augusts Nachkommen beim Erbe sämtlich leer ausgehen - darunter auch die stolze Melitta von Potzlow.«
»Ich sehe schon, du musst mir die Zusammenhänge noch einmal ausführlich erläutern.« Kußmaul erhob sich. »Leider warten meine Abendpatienten auf mich.« Er drückte Gontard die Hand und überließ ihm großzügig die Rechnung. »Du hörst von mir, sobald wir ein Ergebnis haben«, sagte er im Abgehen.
Gontard war ihm nicht böse. Dank der umsichtigen Verwaltung seines zwar ungeliebten, doch tüchtigen Schwagers erbrachte sein Gut in der Prignitz so viel Gewinn, dass er hier in der Residenz kein Leben in Armut führen brauchte. Dennoch wurde es allerhöchste Zeit, in Wutike wieder einmal nach dem Rechten zu schauen, seine Henriette in die Arme zu schließen, und sei es nur für zwei kurze Nächte, und den Kindern einige Stunden zu widmen. Sein erklärter Liebling, die kleine Luise, wurde acht und begann sich unter Henriettes Einfluss zu einer eigenwilligen jungen Dame zu entwickeln. Ferdinand hingegen, inzwischen zehn Jahre alt, schien eher dem ruhigen und besonnenen Naturell des Vaters zu entsprechen, dessen Zweifel sich mehrten, ob dem Jungen wirklich die stillschweigend vorgegebene Kadetten- und Offizierslaufbahn zuzumuten war. Es schien immerhin, dass auch in Ferdinand die väterliche Begabung für die Naturwissenschaften und die technischen Neuerungen schlummerte. Vielleicht würde er auf diesem Gebiet einmal die bescheidenen Leistungen des Vaters übertreffen. Eine militärische Karriere jedenfalls erschien Gontard unter den gegenwärtig trüben Verhältnissen in Preußen wenig erstrebenswert für den einzigen Sohn.
Gontards Entschluss stand demzufolge fest. Sosehr von Schnödens Aufforderung und das unerwartete Ableben von Streyths seinem Interesse an jeglichen rätselhaften Vorgängen entgegenkamen, er hatte nicht vor, diesem Ereignis das geplante Wochenende in Wutike zu opfern. Deshalb dachte er auch nicht lange darüber nach, ob von Schnöden bei der Erteilung seines Auftrags, der gemäß der Rangordnung ja eigentlich einen Befehl darstellte, den bereits bewilligten freien Sonnabend einfach vergessen hatte.
Adalbert Kirchner packte seine Unterlagen für den nächsten Tag in die Kartentasche. Er konnte die Augen kaum noch offen halten, so müde und zerschlagen fühlte er sich. Dennoch, die Tasche wurde am Abend gepackt, sonst würde er in der Nacht unruhig schlafen.
Beim Verstauen der Papiere kam Kirchner sich immer vor wie ein Primaner - und das, obwohl er auf die dreißig zuging. Dieses Gefühl verspürte er nur am Abend, wenn er den nächsten Tag an der Artillerie- und Ingenieurschule vorbereitete. Ansonsten unterschied sich das Studium in Berlin erheblich vom Schulbesuch in der schlesischen Provinz. Natürlich, das preußische Militär führte ein hartes Regime, die Schulleitung nahm es mit der Ordnung, der Pünktlichkeit und der Pflichterfüllung bei den Studenten sehr genau. Damit kam Kirchner, seit frühester Kindheit an eine strenge Erziehung gewöhnt, gut zurecht. Das übliche Studentenleben erschien ihm ohnehin kaum erstrebenswert, lieber lernte er und widmete sich in Ruhe seinen naturwissenschaftlichen Studien. Allein die Labore, die neuesten Instrumente und Geräte in Räumen, die so hell getüncht waren wie frisch gestärkte Hemden und so groß wie ein herrschaftlicher Salon! Kein Vergleich mit der Kammer, in der sein Vater die Medikamente seiner Apotheke mischte. Ganz sicher konnte Kirchner bei der Garnison in Breslau nicht so forschen wie hier. Im täglichen Dienst bei den Pionieren würde er kaum Zeit für seine Passion haben: die Optik.
Kirchner steckte eine letzte Papierrolle in die Tasche und stellte diese auf den Stuhl neben seinem Bett. Er schaute zu Bernward von Pragenaus Bett. Der Stubenkamerad schaffte es nur leidlich, seine Decke nach Vorschrift zusammenzulegen. Jeden Morgen beobachtete Kirchner die Hast, mit der Pragenau das Zeug zusammenraffte.
Die Tür wurde aufgerissen, und Bernward von Pragenau torkelte in die Stube. Die Bierfahne erreichte Kirchner, noch bevor Pragenau den Mund öffnete.
»Das ist gut …« Pragenaus Worte klangen so wacklig, wie sein Gang zwischen den Betten ausfiel. »Ich hatte Sorgen, du schläfst schon …«
Kirchner ärgerte sich, dass er nicht ein paar Minuten früher in sein Bett gekrochen war. Auch wenn er Pragenau gut leiden konnte - ein Feingeist war der nicht gerade.
»O Mann, ich sage dir … ich hatte heute ein Erlebnis! Das glaubt mir kein Mensch!« Pragenau lallte herum, schien aber entschlossen, ein Gespräch anzufangen. Das konnte ja heiter werden!
Der Stubenkamerad ließ seinen plumpen Körper auf den Stuhl fallen. Das Holz ächzte, hielt aber stand. Wenn er saß, sah Bernward von Pragenau wie eine zu groß geratene Maus aus - mit seiner spitzen Nase und dem Kopf, der übergangslos in den Bauch überzugehen schien. Im Schein der Ölfunzel, die kaum das durchs Fenster fallende Mondlicht verstärkte, wirkte seine Gesichtsfarbe ungesund und grau.
»Hörst du mir zu?«, lallte Pragenau.
»Erzähl mir lieber morgen von deinem Erlebnis! Ich hatte auch eines, ein ziemlich schreckliches sogar …«
Pragenau, der sein einziger wirklicher Kamerad hier an der Schule war, schien Kirchners Bemerkung aber eher lustig zu finden. »Ssiemlich schrecklich …«, artikulierte er mühsam. »Du meinst die Schule, stimmt’s?
»Es war im Stall. Aber wir müssen jetzt nicht darüber reden.«
»Im Stall!« Pragenau wieherte wie ein Pferd. »Aber ich sage dir, hinter dem Marstall …« Er machte eine wegwerfende Handbewegung und schüttelte heftig den Kopf.
»Nein, ich sage gar nichts …« Mit weit aufgerissenen Augen glotzte er Kirchner an. »Was war denn los im Stall?«
Ja, was? Wo sollte Kirchner anfangen? »Nun ja … Grani geht es gut.«
Pragenau guckte so verständnislos, als hielte Kirchner einen Vortrag über theoretische Physik. »Grani?«, fragte er gedehnt.
»Na, deinem Pferd.«
»Ich weiß, wie mein Pferd heißt …«
Es war hoffnungslos. Der Einstieg in ein vernünftiges Gespräch war wohl vorerst gescheitert.
Pragenau stützte seinen Kopf in die Hand und nuschelte: »Was ist denn Schreckliches in der Stadt passiert?«
Widerstrebend gab Kirchner Auskunft. »Es fiel plötzlich ein Schuss. Ein Pferd ging durch, und jemand schrie. Und als ich endlich hinzukam, war der Mann tot …«
Zugegeben, das war eine extrem verkürzte Darstellung der Geschehnisse und dennoch die Wahrheit.
»Ein Schuss?«, lallte Pragenau. Anscheinend wurde er immer blasser - oder ging das Öl in der Lampe aus?
»Ja, der Knall war nicht zu überhören. Ich bin sofort losgerannt, und dann fand ich den Oberst-Lieutenant in seinem Blut liegend … und neben ihm die Pistole.«
Pragenau stierte ihn an. Sein Mund stand offen.
»Mit dieser Waffe in der Hand hat mich dann der Rittmeister neben der Leiche von Streyths angetroffen«, ergänzte Kirchner.
»Von Streyth?« Für einen Augenblick schien Pragenau hellwach. »Du meinst, von Streyth ist erschossen worden?«
Kirchner zögerte. Darüber hatte er lange nachgedacht. Konnte er das bestätigen? War die Waffe noch warm gewesen? Er hatte sie am Griff aufgehoben und nicht auf die Temperatur geachtet. Der Criminal-Commissarius hatte behauptet, die Pistole sei kurz vorher abgefeuert worden, und zwar von ihm, Kirchner. Tatsächlich hatte es ja im Stall nach Pulver gerochen. Aber konnte das nicht auch von einer anderen Waffe herrühren? Hatte der Schuss überhaupt von Streyth getroffen? Kirchner schüttelte den Kopf und sagte: »Ich habe keine Ahnung.«
Pragenau starrte ihn an und wollte es nicht glauben.
»Du weißt es nicht?«, lallte er.
»Nein, ich kam zu spät. Und von Streyth … also sein Pferd … er war …« Nun begann auch er, wirr zu reden. Also erst einmal nachdenken! »Nun, das Pferd hatte mit den Hufen den Kopf getroffen. Der war nur noch Brei. Es war wirklich nicht zu erkennen, ob das Blut von einer Schusswunde stammte.«
Pragenaus Kopf rutschte von der Hand. Er konnte den Sturz gerade noch abfangen, bevor das Kinn auf den Tisch schlug. Kirchner fragte sich, ob sein Stubenkamerad die letzten Worte verstanden hatte. Pragenau wackelte mit dem Kopf, als wüsste er nicht genau, wohin er fallen sollte. Mit einem Ruck richtete er sich wieder auf und fragte mit schwerer Zunge: »Was war das denn überhaupt für eine Pistole?«
»Das war so ein kleines Ding. Keine Waffe, die im Heer benutzt wird, würde ich sagen.« Kirchner fiel auf, dass er nicht wusste, ob von Streyth je eine solche Pistole bei sich getragen hatte. Er erinnerte sich an die verdrehten Gliedmaßen, den zertrümmerten Kopf, die Uniform voller Blut … Aber war da eine Tasche für die Waffe gewesen? Er überlegte, aber vor seinem inneren Auge sah er immer nur das Blut - und die Pistole neben der Schulter. Hatte von Streyth selbst geschossen? Oder ein anderer die Waffe des Offiziers benutzt? Oder eine eigene Pistole mitgebracht? Er musste das mit Gontard besprechen. So schnell wie möglich …
Kirchner schaute zu Pragenau. In dessen Gesicht arbeitete nichts mehr, die Augen fielen zu. Der Stubenkamerad riss die Lider hoch und schloss sie gleich wieder. Sein Kopf plauzte auf den Tisch.
Am Freitagvormittag hielt von Gontard die vorgesehenen Lehrstunden zur Ballistik ab, einem Gebiet, das ihn der unabänderlichen Gesetze und der stets gleichbleibenden Beispiele wegen nicht sonderlich berührte, und gab sich dabei alle Mühe, nicht in ein ungebührlich rasches Zeitmaß zu verfallen. Den jungen Herren Studenten fiel es schwer genug, seinen Ausführungen zu folgen, zumal der von Streyth’sche Unglücksfall einige Unruhe an der Schule hervorgerufen hatte. Die Verbreitung der Nachricht, dass einer der Schüler in die Angelegenheit verwickelt war, hatte von Schnöden immerhin unterdrücken können.
Als von Gontard das Schulgelände durch den hinteren Ausgang zur Mittelstraße verließ, überfiel ihn die Junihitze wie eine warme Wolke. Wie so oft verfluchte er innerlich die strenge preußische Uniformordnung, in der den in Preußen herrschenden Temperaturen keinerlei Bedeutung zukam und die es ihm offiziell nicht einmal gestattete, die Kopfbedeckung zu lüpfen. Das tat er jetzt dennoch, während er die in der prallen Mittagssonne liegende Neue Wilhelmstraße entlangeilte und die Spree überquerte. Von dem schmutzig dahinströmenden Wasser stieg kein kühles Lüftchen empor.
Sein Hengst Waldemar stand im Stall der Tierarzneischule, und dorthin hatte er bereits am Morgen das schmale Reisegepäck befördern lassen. Ungesäumt konnte er also die Stadt sogleich über die Unterbaumbrücke in Richtung Spandau verlassen.
Staubig dehnte sich die Straße in der Mittagshitze gen Lietzow und Charlottenburg. Gerne hätte Gontard dem Hengst eine etwas geschwindere Gangart vorgegeben, doch durfte er ihn bei diesen Temperaturen nicht vorzeitig überanstrengen. Bis nach Wutike war es endlos weit, und es würden wahrscheinlich noch einige Jahre ins Land gehen, bis Eisenbahngeleise von der Residenz aus auch ins Nordwestliche führten. Immerhin lag dort Hamburg mit seinem Hafen. Nach Köthen im Anhaltischen fuhren bereits Züge, von wo aus sich Magdeburg, ja Braunschweig oder Leipzig und Dresden erreichen ließen. Selbst nach Stettin konnte man seit zwei Jahren von einer auf dem Gelände der Scharfrichterei angelegten Station aus reisen, und der Frankfurter Bahnhof lag sogar innerhalb der Berliner Stadt- und Akzisemauer. Wie lange würden sich solche künstlichen Absperrungen der Städte und des Handels noch halten?
Nachdem Spandau mit dem einzigen Havelübergang hinter ihm lag, gab Gontard der sengenden Sonne endgültig nach, knöpfte den dunkelblauen Uniformrock auf und lockerte die Halsbinde. Die vorgeschriebenen weißen Lederhandschuhe hatte er längst in die Tasche geschoben und die Dienstmütze am Sattelknopf befestigt. Noch schützte ihn sein dichter Haarschopf vor der Sonne. Immerhin war er glücklich, nicht mehr den hohen Tschako tragen zu müssen und dazu die beengende Litewka der alten Uniform mit den flatternden Frackschößen. Der neue, halblange Waffenrock, seit einem Jahr allgemein vorgeschrieben, war um einiges bequemer. Was allerdings die gleichzeitig eingeführte Pickelhaube betraf, so fiel Gontards Urteil gespalten aus. Wie praktisch diese Haube aus gebranntem Leder mit dem abgerundeten Vorder- und Hinterschirm und den Metallbeschlägen in der Schlacht auch sein mochte - bei der Parade oder sonstigen dienstlichen Verpflichtungen fühlte er sich nicht sonderlich wohl unter dem wehenden Rosshaarbusch, der die keck aufragende Artilleristen-Kugel schmückte. Bei Infanterie und Kavallerie handelte es sich um eine regelrechte Spitze wie bei einer altertümlichen Waffe.
Die Uniform, ja überhaupt die gesamte Montierung waren etwas, das einen in dieser Hinsicht gewissenhafteren Offizier als Gontard pausenlos beschäftigen konnte und überdies ins Geld ging. Mancher seiner Kameraden verbrachte mehr Zeit beim Schneider und in den einschlägigen Uniformläden als Gontard beim Lehrbetrieb an der Artillerieschule. Ihm genügte eine verhältnismäßig spartanische Ausrüstung, zu der gehörte als einzige Waffe der Löwenkopfsäbel in der eisernen Scheide, dessen Griff mit derber Fischhaut überzogen und mit einem vergoldeten Bügel geschützt war. Eine Pistole zu tragen wäre Gontard nie in den Sinn gekommen. Mit derartigen Waffen wurden allenfalls verbotene - und doch immer wieder stattfindende - Duelle ausgetragen, weshalb Pistolen häufig gleich paarweise in entsprechenden Kästen angeboten wurden.
Gontard, täglich mit den schweren und schwersten Kalibern von Schusswaffen beschäftigt, hielt solche Waffen schlichtweg für zu sperrig und umständlich im Gebrauch - jedenfalls solange sich die jüngsten Erfindungen der Hinterlader samt Perkussionsschloss noch nicht durchgesetzt hatten. Eine Steinschlosspistole wie die im Marstall gebrauchte war wohl tatsächlich eher zum Erschrecken eines Pferdes denn zu einem Mord geeignet.
Schade, dass er nicht dazu gekommen war, seinem Freund Kußmaul das Spielzeug zu zeigen. Dem, obwohl kein Freund von Feuerwaffen, wäre möglicherweise an der Pistole das eine oder andere besondere Merkmal aufgefallen. Welche Rolle die Waffe beim Tode Streyths wirklich gespielt haben mochte, würde hoffentlich die Obduktion ergeben.
In der glühenden Sonne des späten Mittags und so weit außerhalb der Stadt hielt sich der Verkehr auf der mäßig gepflegten Kunststraße in erträglichen Grenzen. Weit vor ihm wirbelte eine sechsspännige Kalesche eine gewaltige Staubwolke auf. Gontard verspürte wenig Lust, sich dem Gefährt zu nähern und es zu überholen. Der ruhige Trab des Hengstes ließ ihm genügend Zeit, über von Streyths Ende nachzudenken, wobei in ihm der Gedanke an von Schnödens Order eine leichte Unruhe hervorrief. Was, wenn sich in den nächsten Tagen in dieser Angelegenheit doch das eine oder andere ergab, der übereifrige Criminal-Commissarius Werpel eine unerwartete Aktivität entwickelte oder der Verdächtige Kirchner gar die Flucht ergriff? Nein, das hielt Gontard dann doch für gänzlich ausgeschlossen. Ein preußischer Offizier vom Schlage Kirchners entzog sich nicht auf so ehrlose und billige Weise seiner Verantwortung! Abgesehen davon ging Gontard trotz der eigentümlichen Situation, in der man den jungen Lieutenant angetroffen hatte, vorerst nicht von dessen Verantwortung oder gar Schuld aus.
Vielleicht war es ein Fehler gewesen, von Schnöden allein das Überbringen der Trauerbotschaft zu überlassen. Er versuchte, sich an Melitta von Streyth zu erinnern, sah ihre hohe, schlanke Gestalt vor sich, vermochte aber im Augenblick kein Gesicht damit zu verbinden. Hatte er nicht geglaubt, Prinz Augusts Züge in den ihren wiederzuerkennen? Nach allem, was er damals erfahren hatte, bestand kein Zweifel daran, dass sie zu den illegitimen Töchtern der umtriebigen Königlichen Hoheit gehörte, über dessen Unersättlichkeit im Umgang mit Frauen überall in Preußen hinter vorgehaltener Hand geredet wurde.
Der Prinz, eine eindrucksvolle Gestalt mit schlohweißem Haar und großem Charme und in Berlin so etwas wie ein volkstümliches Original, war über drei Jahrzehnte lang bis zu seinem Tode Kommandeur der preußischen Artillerie und Kurator der von ihm begründeten Vereinigten Artillerie- und Ingenieurschule geblieben, gefürchtet wegen seiner strengen Inspektionen und seiner Prüfungen, beliebt jedoch bei Mannschaften und Offizieren.
Jedermann in Preußen wusste, dass es sich bei dem 1779 im Schloss Friedrichsfelde geborenen Prinzen August um den letzten Spross aus der Hohenzollern-Generation Friedrichs des Großen handelte. Er war ein Sohn von dessen jüngstem Bruder Ferdinand, der seine und Friedrichs Nichte Anna Luise von Brandenburg-Schwedt geheiratet hatte. Augusts unvergessener Bruder Louis Ferdinand war 1806 auf dem Schlachtfeld den Heldentod für Preußen gestorben und genoss noch immer allgemeine Verehrung.
Welch mutiger Kriegsheld und tüchtiger Artillerie-Inspekteur der Prinz auch war - seine Erfolge im Bett übertrafen die des Kriegers beiläufig um ein Beträchtliches. Bis an sein Lebensende mit fast 65 Jahren unverheiratet, jedoch mit einer 40 Jahre jüngeren Geliebten begnadet, hatte der wackere Kämpfer sich in mindestens zwei längeren Beziehungen ein Dutzend Mal im Fleische verewigt. Die zur Frau von Waldenburg geadelte Schwester der beiden Bildhauerbrüder Wichmann war die Mutter seiner ersten vier Nachkommen, von denen der Sohn Eduard im Mai 1807 in Soissons geboren worden, wohin Karoline Wichmann dem Geliebten in die französische Gefangenschaft gefolgt war, was den nicht daran hinderte, in Paris einer anderen feurig den Hof zu machen. Wenig später verfiel er seiner großen Liebe Juliette Récamier, die ihn über viele Jahre hinzuhalten wusste. Ende 1807 nach Berlin zurückgekehrt, rief ihn der König nach Königsberg, und dort, so wusste Gontard aus Heidenreichs nachgelassenen Notizen, begegnete er, nicht ohne Folgen, einer weiteren jungen Dame aus gutem Hause, die neun Monate später eine Tochter namens Melitta gebar.
Gontard verfügte über ein gutes Gedächtnis, und der staubige Ritt in der Nachmittagssonne bot ihm ausreichend Gelegenheit, sich die Einzelheiten in Erinnerung zu rufen. Gebhardt Heidenreich hatte nämlich herausgefunden, dass es sich bei Prinz August von Preußen wohl nur um einen vermeintlichen Sohn des 1813 dahingegangenen Prinzen Ferdinand handeln konnte. Dieser Ferdinand, jüngster Bruder des unsterblichen Friedrich und nur angeblich nicht von ähnlicher Abneigung gegen das weibliche Geschlecht befallen wie der und beider Bruder Heinrich, hatte als 25-Jähriger die acht Jahre jüngere Tochter seiner und Friedrichs Schwester Sophie geehelicht.
Prinz Ferdinand stieg so rasch zu militärischen Ehren auf, wie es einem leiblichen Bruder des Herrschers zustand, musste jedoch die Armee des ruhmreichen F II. als 28-jähriger Generalmajor wegen, wie es hieß, »schwächlicher Leibesbeschaffenheit« verlassen. Fortan führten er und seine junge Frau Luise in Friedrichsfelde, Rheinsberg und im eigens erbauten Lustschloss Bellevue ein eher zurückgezogenes Leben. Nach sechs Jahren Ehe wurde 1761 eine Tochter geboren, der ab 1769 in schooner Regelmäßigkeit sechs weitere Kinder folgten, von denen nur der Jüngste, eben der Prinz August, ein höheres Alter erreichte, während Preußens Kriegsgott, der ältere Bruder Louis Ferdinand kaum 34-jährig in der Schlacht bei Saalfeld sein ruhmreiches Ende fand.
Die kluge Luise wusste sich anscheinend über die schwächliche Leibesbeschaffenheit ihres Angetrauten hinwegzusetzen. Dessen hochgewachsener Adjutant, Preußens hochgeschätzter Kartograph August von Schmettau, fünf Jahre jünger als Luise, galt insgeheim als der Vater mindestens ihrer sechs jüngeren Kinder.
Deren Onkel Louis Ferdinand, ein Bild von einem Mann, sechs preußische Fuß groß und blond gelockt, war ein tapferer Militär und noch dazu ein begabter Komponist und Musiker, der leider gegen Ende seines kurzen Lebens dem Alkohol verfiel und täglich ein Dutzend Bouteillen Champagner trank. In Berlin hatte er im Salon der Rahel Varnhagen verkehrt, wo er auch seiner letzten Geliebten Pauline Wiesel begegnet war. Bereits als 16-Jähriger hatte Louis Ferdinand ein Fräulein von Schlieben geschwängert, bevor er später die Magdeburger Bürgerstochter Friederike Fromme kennen und lieben lernte. Sie gebar ihm zwei Kinder, Louis und Blanche genannt, die nach dem Heldentod des Vaters geadelt wurden und im Hause ihrer Tante Luise Radziwil aufwuchsen.
In jener für Preußen so verhängnisvollen Schlacht gegen Napoleon lieferte auch der junge Prinz August als Chef eines Grenadier-Bataillons Beweise höchster Tapferkeit. Erst in den Sümpfen nördlich von Prenzlau geriet er in französische Kriegsgefangenschaft.
Zwei Jahre später reformierte und kommandierte er als Generalmajor Preußens Artillerie. Doch nicht diese Tätigkeit, die der scharfäugige Inspekteur später über Jahrzehnte überaus gewissenhaft ausübte, hatte Heidenreichs Interesse erweckt, sondern die zahllosen Affären, die sein Auftreten immer wieder begleiteten. Bei seinem Aufenthalt in England war die englische Thronfolgerin Charlotte in Liebe zu ihm entbrannt. In Wien traf er am Rande des Congresses neben Wilhelmine von Sagan, geborene Prinzessin von Kurland, die exzentrische englische Schönheit Lady Emily Rumbold. War es Zufall, dass seine bald danach in Berlin geborene Tochter den Namen Emilie erhielt, während es ihn schon wieder zu Juliette Récamier nach Paris zog?
Noch im Nachhinein erstaunte Gontard die Akribie, mit der der Freund Heidenreich dem vielfältigen Liebesleben Augusts nachgegangen war, dessen Liaisons mit bürgerlichen Frauen mindestens zwei neue preußische Adelsgeschlechter begründet hatten.
Nach der Trennung von Karoline Wichmann teilte der Prinz sein privates Leben mit der achtzehnjährigen Auguste Arend, der Tochter eines jüdischen Geldverleihers. Sieben Kinder, darunter drei Söhne, entsprossen der vierzehn Jahre andauernden Verbindung. Standesgemäß wurden Auguste und ihre Kinder mit dem Namen »von Prillwitz« geadelt. Davor und dazwischen kam es immer wieder zu neuen Affären. 1826 bezichtigte ihn eine Siebzehnjährige, der Vater ihrer Tochter Agnes zu sein. August bestritt es nicht, versuchte jedoch, die fällige Entschädigung herunterzuhandeln, bis sich das dafür zuständige Königliche Pupillenkollegium einmischte. Die junge Mutter erhielt schließlich fünfhundert Taler und monatliche Alimente für das geistig unterentwickelte Kind, wie Heidenreich herausgefunden hatte. Eine Frau Schlesinger, geborene Arend, bezog für ihren im September 1830 geborenen Sohn Rudolf eine jährliche Zahlung von sechshundert Talern.
Bald nach der Geburt seiner jüngsten Tochter Clara von Prillwitz hatte der Prinz seine Liebe zu Emilie von Ostrowska entdeckt, der anmutigen Tochter eines verwitweten polnischen Grafen. Er mietete für die Fünfzehnjährige eine Wohnung in der Leipziger Straße und besuchte sie dort regelmäßig. Sechs Tage nach seinem 59. Geburtstag gebar ihm Emilie eine weitere Tochter, die auf den Namen Charlotte getauft wurde. Von dieser kindlichen Halbschwester und ihrer Mutter hatte Melitta von Streyth Gontard berichtet, als sie ihn nach Heidenreichs Ableben aufgesucht hatte.
Nun war es an ihm, der Witwe seine Aufwartung zu machen und ihr seine Anteilnahme auszusprechen - ein nicht sonderlich angenehmer Gedanke, der gut zu den schwärzlich drohenden Wolken passte, die sich am nordwestlichen Himmel vor ihm aufzutürmen begannen. Waldemar schien das Unheil zu spüren und fiel in schnelleren Trab. Dennoch schaffte es Gontard nicht, das Städtchen Friesack zu erreichen, bevor das Gewitter losbrach.
Über dem Thiergarten brütete die sonntägliche Mittagshitze. Die Spaziergänger versuchten, unter den Kronen der Bäume zu bleiben, im Schatten ließ sich der Junisonntag ertragen. Adalbert Kirchner schlenderte mit der Sonne im Rücken durchs Grün. Er hatte das Brandenburger Thor ein paar hundert Meter hinter sich gelassen, und vor ihm ließ langsam das Gedränge nach.
Endlich Ruhe. Vergeblich versuchte er schon die ganze Zeit, die Erinnerungen an den zertrümmerten Kopf des Oberst-Lieutenants loszuwerden. Er hatte kaum geschlafen, in der Schule gelang es ihm nicht, einen klaren Gedanken zu fassen. Verstohlen hatte er sich aus dem Labor geschlichen und behauptet, er müsse in der Königlichen Bibliothek etwas nachschlagen.
Eine Familie kam ihm entgegen. Die Frau trug ein Kleid der neuesten Wiener Mode. Die fassonierte Seide war mit Spitzen besetzt, die gerafften Ärmel ließen die Arme kräftig aussehen. Kirchner fand das nicht besonders hübsch - und der Hut mit der angesteckten Feder erschien ihm nachgerade albern. Aber so etwas musste die Frau von Welt in der Residenzstadt wohl anziehen. Auch die Kinder waren in feinen Stoff gehüllt, während die Kleidung des Vaters eher nüchtern ausfiel. Der Anzug war ziemlich neu und saß korrekt, aber es sah aus, als führe der Mann Buch über die Kosten jeder einzelnen Naht. Vielleicht war er ein Beamter in der Kämmerei.
Kirchner überholte eine Gruppe von Infanteristen in Uniform. Die vier unterhielten sich in obszöner Weise über Mädchen, prahlten laut mit Abenteuern. Ihre Milchbärte ließen Kirchner vermuten, dass die Angeberei und die Geschichten nur der Phantasie entsprangen. Aber war er selbst viel reifer? Genau betrachtet waren seine Erfahrungen mit Frauen dürftig.
Er beschleunigte seine Schritte, um Abstand von den Soldaten zu gewinnen. Sofort lief ihm der Schweiß übers Gesicht. Kirchner nahm den Helm ab, zog sein Taschentuch aus der Hose und tupfte sich die Stirn ab. Vor ihm lag eine Weggabelung. Er hörte, wie die Soldaten hinter ihm über ihren Weg diskutierten und schließlich entschieden, nach links abzubiegen. Also wandte sich Kirchner nach rechts. Da vorn floss die Spree am Rande des Thiergartens, eine schöne Ecke, augenscheinlich derzeit nicht sehr belebt. Gut so, denn Kirchner suchte Ruhe, wollte seine Gedanken sammeln.
Er hatte die ganze Nacht nicht geschlafen, weil Pragenaus Schnarchen durch die Stube dröhnte - und wenn er doch eingenickt war, weckten ihn die Schreie in seinen Träumen gleich wieder auf. Dieses mörderische Quieken, er glaubte es jetzt schon wieder zu hören …
Nein, da war etwas anderes. Die Tonhöhe - das klang viel schriller als im Marstall. Und die Laute kamen von vorn, von der Spree herüber und nicht aus seinem Kopf.
Kirchner rannte los. Schon wieder!, dachte er. Er schwitzte immer mehr. Trotzdem lief er noch schneller. Er hörte keine Worte, er konnte das Quieken nicht einordnen. Das war bestimmt kein Mensch, dachte er erleichtert.
Der Weg endete an einer Spreewiese, und dort stand eine ältere Dame am Ufer und fuchtelte mit den Armen - mit offenem Mund, aber ohne ein Wort zu sagen. Ein Fellknäuel trieb vom Ufer weg und strampelte und kläffte. Kirchner lief noch schneller, warf die Pickelhaube ab. Den Waffenrock wurde er nicht so leicht los. Acht Knöpfe wollten geöffnet werden. Er zerrte am Kragen, am Revers, endlich bekam er den Rückenstoff zu fassen und warf das Kleidungsstück ins Gras. Jetzt nur noch die Stiefel! Er hüpfte, bis er sie los war. Mit Hose und in Hemdsärmeln stürzte Kirchner sich in die Spree.
Das Wasser war kühl wie ein Frühlingsregen, eine angenehme Temperatur. Erst jetzt merkte er, wie stark er geschwitzt hatte. Kirchner schwamm auf das Hündchen zu. Die Strömung war nicht stark, nahm aber gegen die Flussmitte zu. Sie reichte, um den Kläffer stromabwärts treiben zu lassen.
Also ab in die Mitte und hinterher! Sein Vater hatte ihm das Schwimmen in einem See im Riesengebirge beigebracht, aber seitdem hatte Kirchner kaum Gelegenheit zum Üben gehabt. Meter für Meter kämpfte er sich an das Tier heran. Aus der Nähe sah der Köter aus wie ein kleiner Dämon, japste beim Kläffen nach Luft, strampelte wie ein Besessener auf der Flucht vorm Exorzisten. Die spitzen Eckzähne schnappten beim Bellen. Also nicht ins Maul greifen!, dachte Kirchner.
Er umkurvte das Hündchen und griff in den haarigen Nacken. Der Kläffer zappelte in seiner Hand, Kirchner packte zu, so kräftig er konnte. Aus dem Quieken wurde ein Wimmern und dann ein Quengeln.
Kirchner schaute zum Ufer, er war ein ganzes Stück abgetrieben. Der Versuch, gegen die Strömung zurückzuschwimmen, erschien ihm aussichtslos. Mit dem freien Arm kam er kaum von der Stelle, und der Köter jaulte an der rechten Hand, den ließ er nicht wieder los. Er musste ans Ufer schwimmen und dann zu Fuß zu Waffenrock, Stiefeln und Helm laufen, das war die einzige Möglichkeit. Einarmig bewegte sich Kirchner aus der Flussmitte weg, er kam sich vor wie ein Kutter, der gegen den Wind kreuzen muss. Aber immerhin, das Ufer kam näher, und er trieb kaum noch ab.
Auf der Wiese trappelte ihm die Dame entgegen. Sie trug ein Bündel unterm Arm. Nun, da Kirchner nur noch ein paar Meter zu schwimmen hatte, sah er die Details: Die Alte hielt seinen Waffenrock ordentlich gefaltet in der einen Hand, die Pickelhaube und seine Stiefel in der anderen. Schön, da blieb ihm der Weg zurück erspart. Er merkte, wie seine Kraft nachließ. Allmählich wurde der linke Arm lahm.
Kirchner tapste, als er schließlich Boden unter den Füßen hatte, die letzten Meter bis zum Ufer und hob den Kläffer aus dem Wasser. Das Quengeln wurde zum aufgeregten Gebell, es klang fast so, als halte er eine Krähe mit nassen Haaren in der Hand. Das Fell triefte genau so wie Kirchners Kleidung. Das Hemd hing an ihm, als seien Gewichte in den Saum genäht.
In den nassen Sachen war die Hitze angenehm, jedoch pikste es an den Füßen, da er nur auf Strümpfen lief. Kirchner setzte den Kläffer auf die Wiese. Das Tier schüttelte sich und flitzte zu der Alten. Die bückte sich, legte Waffenrock, Pickelhaube und Stiefel ab, nahm das nasse Tier in die Arme und kam damit zu Kirchner gelaufen - mit kleinen Schritten, aber schnell wie ein Wiesel, wackelte sie heran.
»Hach, junger Herr, Sie waren so mutig! Wie kann ich Ihnen nur danken?«
»Keine Umstände, meine Dame«, krächzte Kirchner. Er hatte das Gefühl, er müsse sich ausruhen. »Es ist alles in Ordnung.« Er lief noch ein paar Schritte und setzte sich auf der Wiese nieder.
»Wirklich? Ich muss doch etwas für Sie tun …«
»Sie müssen auf Ihren Hund aufpassen. Mir geht es gut.«
Das Tier strampelte in den Armen der Alten. Sie redete auf das nasse Knäuel ein.
Kirchner winkte und sagte: »Nun gehen Sie nur.« Dann ließ er sich rücklings ins Gras fallen und schloss die Augen.
»Sie sind ein guter Mensch.« Das war nicht die Alte, aber zweifellos gehörte die Stimme einer Frau.
Kirchner öffnete die Augen. Eine junge Frau, sie zählte vielleicht achtzehn Jahre und stand mit einem einfachen handbreiten Haarband in den brünetten Locken direkt vor der Sonne. Das Licht, das um ihren Kopf herum blendete, zeichnete die Konturen scharf. Er konnte die Gesichtszüge kaum erkennen. Stand die Frau schon lange da? War er eingenickt? Und wenn ja, für wie lange?
Er richtete sich auf. In einiger Entfernung tippelte die Alte mit dem Kläffer von dannen. Viel Zeit schien nicht vergangen zu sein.
»Ich habe eine Decke.«
Kirchner überlegte, ob er fror. Nein, kalt war ihm nicht. Das Hemd klebte an seinem Oberkörper, und die Hose, nass wie ein Schwamm im Badebottich, schnürte die Beine ein. Doch er fror nicht.
»Nein, danke, das ist nicht nötig … Aber vielen Dank!« Kirchner stand auf. Die nasse Kleidung beschämte ihn. War dieser Aufzug eines preußischen Offiziers würdig?
Die Frau trat einen Schritt zurück und sagte: »Ich hoffe, ich wirke nicht aufdringlich.«
Da bemerkte Kirchner, dass sie offenkundig ohne Begleiter weitab von den großen Straßen im Park war. So eine junge Dame, fast noch ein Mädchen … Nein, wie ein Mädchen sah sie bei näherer Betrachtung nicht aus. Sie war sehr schlank und hatte Rundungen nur dort, wo sie für Kirchners Geschmack hingehörten. Sie trug ein dunkles Kleid, dessen Schnitt die Taille betonte. Als er ihr ins Gesicht schaute, bemerkte er, wie ernst ihre Augen aussahen. Er fragte: »Sind Sie … allein hier?«
»Nein, bewahre, natürlich nicht!«
»Oh, ich bitte um Entschuldigung.«
Sie sah ihn an, und im Augenblick wich die Entrüstung in ihrem Gesicht einer Milde, die erwachsene Geschwister zeigen, wenn sie das Brüderchen bei einer Dummheit erwischen. Kein Mädchen mehr, eindeutig, dachte Kirchner.
Würdevoll sagte sie: »Mein Vater hat einen Bekannten getroffen, und sie unterhalten sich für eine Weile unter Männern. Er braucht sicher noch einige Zeit, bis er mich abholen kommt.«
Wäre es nach Kirchner gegangen, so durfte der Vater seine Unterhaltung in aller Ruhe führen. Er schaute über die Wiese. Nur ein paar Schritte entfernt lag eine Wolldecke ausgebreitet auf dem Rasen. Vermutlich hatte sie dort gesessen, als er das Hündchen der Alten gerettet hatte.
Er fragte: »Darf ich Sie zu Ihrer Decke geleiten, Frau …«
»Fräulein - Fräulein Tschech.« Die junge Frau senkte kokett den Kopf und nickte.
Kirchner überlegte, ob er so eine Bewegung auch hinbekommen würde. Nein, so etwas Entzückendes konnten nur Frauen machen. »Mein Name ist Kirchner, Adalbert Kirchner. Und meinen Arm biete ich Ihnen lieber nicht an. Sie würden nass werden.« Er wies ihr mit der rechten Hand den Weg, legte den Waffenrock über den linken Unterarm, nahm die Pickelhaube und … bemerkte, dass er immer noch keine Schuhe trug. Sollte er mit den nassen Strümpfen in die Stiefel schlüpfen? Oder die Strümpfe erst ausziehen? Oder barfuß laufen?
Fräulein Tschech nahm ihm die Entscheidung ab, indem sie die Stiefel aufhob und sagte: »Kommen Sie! Bis zur Decke wird es gehen.«
Sie liefen nebeneinander über die Wiese. Fräulein Tschech reichte Kirchner etwa bis zur Nase. Genau die Größe, die eine Frau haben musste, um sich an seine Schulter zu lehnen, dachte Kirchner. Schnell weg mit dem Gedanken - von Anlehnen, Umarmen und anderen Zärtlichkeiten waren er und die Frau neben ihm so weit entfernt wie ein Ochse von einem Universitätslehrstuhl. Und für den Augenblick fiel ihm auch nichts ein, was das ändern könnte. Die nasse Hose hing an ihm, als sei sie ein alter Lappen. Elegant sah das bestimmt nicht aus.
»Ich hatte auch einmal einen Hund. Eine Schäferhündin.« Sie schaute zu ihm auf. Ihre Augen waren braun wie Kastanien.
»Was ist mit Ihrem Hund?«
»Er ist tot.«
Warum stellte er so dumme Fragen? Als hätte die Vergangenheitsform in ihren Worten nicht genügt. Wie konnte er nur so grob sein?
»Olga hat wahrscheinlich den Umzug in die Residenzstadt nicht vertragen. In der Kleinstadt war sie glücklicher.« Fräulein Tschech schaute in den Sommerhimmel, träumte anscheinend von Hund und Provinz.
Kirchner biss sich auf die Zunge. Nur nicht gleich wieder eine so blöde Frage stellen! Doch sie sprach nicht weiter. Sie sah ihn nur an, als würde sie gern etwas sagen, aber traue sich nicht. Sie schwiegen. Was sollte er fragen, ohne sie noch trauriger zu machen? »Wo haben Sie mit Ihrem Hund gewohnt?« Das war sicher nicht die beste Frage, dachte Kirchner, aber immerhin beendete sie das Schweigen.
»Unsere Familie hat in Storkow gewohnt. Mein Vater war dort Bürgermeister. Es war eine glückliche Zeit. Die Felder, die Wiesen … Wir hatten ein schönes Haus mit einem großen Garten.« Fräulein Tschech lächelte beim Reden, als erlebe sie die Stunden gerade noch einmal. Dann kräuselte sie die Stirn und sagte: »Aber die Menschen … Es gab viele üble Neider. Deswegen mussten wir dort weg.«
Sie senkte den Kopf und schaute zu ihm. »Aber ich möchte Sie nicht mit meiner Vergangenheit langweilen …«
Wenn es etwas gab, das Kirchner in diesem Augenblick nicht verspürte, dann war es Langeweile. Ihr Mund sah zwar auch geschlossen hübsch aus - aber wenn sich die Lippen bewegten, konnte er kaum seinen Blick von ihnen lösen.
Sie hielt ihm die Stiefel hin, nur waren seine Strümpfe immer noch nass. Sie lächelte. Er schlüpfte in die Stiefel, es klang, als würde eine zahnlose Oma Kartoffelbrei schmatzen.
Wie konnte er sie wiedersehen? Was konnte er sagen, ohne aufdringlich zu wirken? »Bestimmt kommt Ihr Vater bald zurück.« Das war nicht das Richtige. Warum fielen ihm keine passenden Worte ein?
Sie nickte.
Er stand auf, hob Waffenrock und Pickelhaube auf, verbeugte sich und sagte: »Ich gehe oft im Thiergarten spazieren …« Eine Hitzewelle stieg von seinem Hals hinauf zum Kopf. Verstand sie seine Worte richtig, oder wirkten sie zu dreist?
Sie lächelte und machte einen Knicks. Kirchner drehte sich um und schritt in seinen durchnässten Hosen Richtung Stadt.