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Zwei Mittwoch, 9. Januar 1907

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Lassen Se mich schaun«, sagte Machuntze in seinem breiten Sächsisch und blätterte die Unterlagen auf seinem Schreibtisch durch. Auch wenn der Beamte vor einem Jahr zum Polizeikommissar befördert worden war, oblag ihm weiterhin die Aufgabe, Edgar Wank mit Informationen für die Rubrik Polizeiliches aus Leipzig zu versorgen. Dafür war der Redaktionsdirektor höchstpersönlich in der Behörde vorstellig geworden. Machuntze tippte auf ein Blatt und fuhr fort: »De Welt wird immer verrüggder, mei Liebor. Hörn Se sich de Geschichte von dem Mädchen an.« Er berichtete, dass ein zwölfjähriges Mädchen in der Eisenbahnstraße kleinen Kindern das Geld abluchste, mit dem sie zum Einkaufen geschickt worden waren. »’ne Zwölfjährige! Um so was müssn mer uns nunne gümmern. Als wärn mir’n Gindergarden.«

»Was trug die kleine Gaunerin denn für Kleidung?«, fragte Wank, während er die Fakten notierte.

Machuntze hielt sich die Unterlagen näher vor die Augen. Eine Spitze seines gezwirbelten Schnurrbarts ragte neben dem Blatt in die Höhe. »’n graues Schagett und ’ne rote Deggelmütze, ham de Beamten vermerkt.«

»Adrett«, murmelte Wank.

»Dann ham wir ’nen Selbstmord von ’nem Fabrikanten, ’nen Einbruch in een Goldwarengeschäft.« Machuntze blätterte die Atkten durch. »Und schaun Se nur hier, een Arbeiter is in een Restaurant eingestiegn und wollte die Gasse klaun, sein Gumpane stand Schmiere. Ooch hier dürfn Se de Festnahme vermeldn.« Machuntze klang stolz, als hätte er die beiden eigenhändig festgesetzt.

Wank schrieb die Informationen in sein Notizbuch und wartete darauf, dass Machuntze auf den Toten aus der Blumengasse zu sprechen kam.

Vergebens, denn der Beamte legte den Papierstapel beiseite. »Das war’s. Mehr gibt’s erscht ema aus unsrer Behörde nisch zu vermeldn.« Machuntze erhob sich. Der Polizist war so klein, dass die Papierstapel auf seinem Schreibtisch beinahe bis zu seiner Brust reichten. Er kam hinter dem Schreibtisch hervor, tippelte zu Wank und zog zum Abschied seine Dienstmütze.

Wank blieb auf seinem Schemel sitzen.

»Is noch ewas unglar, mei liebor Herr Wank?«, fragte der Kommissar mit zum Gruß ausgestreckter Hand.

»Nun ja, ich denke, Sie ahnen es, Herr Kommissar. Mir ist da ein Vorfall zu Ohren gekommen.«

»’n Vorfall«, murmelte Machuntze. Er trat einen Schritt zurück und stützte sich mit dem Ellenbogen auf seinem Schreibtisch ab.

»In der Blumengasse«, ergänzte Wank.

»Ich hätt’s wissn müssn. Wenn zwee Schmier …« Machuntze verschluckte das Wort und setzte erneut an. »Wenn zwee Schlaumeier sich kenn, dann gann nüscht Gutes dabei rauskomm.«

Wank blieb still und bemühte sich, ein Grinsen zu unterdrücken.

Der Beamte krümmte sich, so als müsste er vor etwas zurückweichen. »Was soll’sch da sagn? Mir wissn noch überhaupt nüscht.«

»Nun, wer da in der Blumengasse gefunden wurde, ist schon bekannt. Und dass der Herr ziemlich tot war, auch.« Wank merkte, dass er eine Spur zu sarkastisch klang.

Machuntze zog ein missmutiges Gesicht und brummte: »Wenn Se alles scho wissn, müssn Se mich ooch nimmer frachn.«

»Entschuldigen Sie bitte, Herr Kommissar.« Wank hob die Hände und suchte nach einem versöhnlichen Ton. »Gibt es einen Grund, warum wir über diesen Todesfall nicht berichten sollen? Es handelt sich doch immerhin um ein mutmaßliches Kapitalverbrechen.«

»Genau das is ebn no gar ni glar. Mir untersuchn gerade noch de Leiche von dem Herrn Orlog und ooch den Ziechel. Aber de Kollechn findn nüscht.« Machuntze hob die rechte Hand und zählte die Punkte an den Fingern ab. »Keene Fingerabdrügge annen Sachen von dem Herrn. Keene Fingerabdrügge am Ziechel. Keene Spurn von ’nem Kampf oder dergleichn. Nüscht.«

Den folgenden Vortrag über die Daktyloskopie kannte Wank schon zur Genüge. Er hörte kaum noch hin, als Machuntze ihm erzählte, dass bei der Leipziger Polizei nun auch Fachbeamte mit dem erst vor vier Jahren in Deutschland eingeführten Verfahren arbeiteten. Wank selbst hatte in einem Artikel für die Beilage darüber berichtet, wie leicht es geworden war, Personen zu identifizieren, seit der britische Forscher Edward Richard Henry die Muster der Handlinien klassifiziert hatte.

Geduldig ertrug Wank die Ausführungen des Polizisten und wandte anschließend ein: »Es hat den ganzen Tag geschneit. Leicht nur. Aber könnte der tauende Schnee die Fingerabdrücke nicht abgewaschen haben?«

Machuntze hielt immer noch die drei Finger der rechten Hand in die Höhe, schwieg nun aber.

»Oder was, wenn der Täter Handschuhe getragen hätte? Es ist schließlich Winter.«

»Wenn, wenn, wenn!« Machuntze führte die Hand zu seinem Gesicht und zwirbelte seinen Schnurrbart. »Wenn dor Däder sich bei uns gemeldet hätte, wär er schon eingesperrt. Aber so wissen mer halt nisch ema, ob’s ’ne Dad gab.«

»Hören Sie, Herr Machuntze, ich war gestern mit Herrn Kutscher in der Blumengasse. Und da ist uns etwas aufgefallen.« Wank berichtete in kurzen Worten von ihren Flugbahnberechnungen rund um den Hut des Toten. »Aus meiner Sicht bleibt angesichts dessen kaum eine andere Möglichkeit, als dass Herr Orlog ermordet wurde.«

»Nunne, so’n Hut kann ooch ma vom Wind een paar Meter geweht wern, wenn er offm Boden liecht, oder?« Machuntze bewegte die Hand in leichten Wellen durch die Luft.

»Herr Kutscher hat von Windstille berichtet.«

»Da reicht schon ma ’ne Bö. Vielleicht bevor Ihr Freund off de Straße trat.«

»Möglicherweise. Das erklärt aber noch nicht, warum Orlog seinen Hut nicht auf dem Kopf trug, als er vom Stein erschlagen wurde. Denn wie ich hörte, war der Hut völlig ohne Schaden.«

Machuntze stand an seinem Schreibtisch, zur Salzsäule erstarrt. Nach ein paar Sekunden begannen die Spitzen seines Schnurrbarts zu wippen, offenkundig strengte das Nachdenken auch seine Gesichtsmuskeln an. Er seufzte. »Nu gut, ich werd das mit de Kollechen besprechen. Aber solange wir nüscht Genaues wissen, schreibn Se ooch nüscht!«

In der Redaktion der Leipziger Zeitung herrschte Hektik. Die Redakteure warfen einen letzten Blick auf ihre Texte, bevor sie in den Druck für die nachmittägliche Ausgabe gingen. Einige schritten dabei ungeduldig auf und ab. Andere eilten zwischen ihren Redaktionsstuben und den Büros vom Korrektorat hin und her.

Edgar Wank schlenderte gemütlich über den Gang, denn sein Text war längst gesetzt. Er lauerte dem Kulturredakteur auf. Er musste wohl noch einen Moment Geduld haben. Denn Bollmann eilte der Ruf voraus, stets als Allerletzter seine Artikel abzugeben. Tatsächlich bog Bollmann mit einem Stoß Papieren um die Ecke. Er rief Wank zu: »Der Herr Polizeireporter, sehr gut, sehr gut!« Mit riesigen Schritten hetzte der Kulturredakteur über den Gang. Unter seinem gewaltigen Bauch wirkten seine dünnen Beine wie zu kurz geratene Stelzen. »Ich habe gerade meine Texte abgeliefert und nur wenig Zeit, da ich gleich einen Termin im Neuen Theater habe.«

»Ich werde Ihre Zeit nicht über Gebühr in Anspruch nehmen«, versprach Wank.

»Sehr gut, sehr gut. Herr Doktor Richter hat mich bereits ins Bild gesetzt. Ich habe Ihnen auch alles vorbereitet.« Bollmann hob den Stapel Papiere in die Höhe. »Hier sind die Unterlagen, die ich in Vorbereitung auf den Fall Karl May habe zusammentragen lassen. Ich bin so froh, dass Sie die Sache übernehmen. So froh! Es handelt sich ja tatsächlich nicht um eine richtige Kulturangelegenheit.«

»Nicht?«

»Nein, nein, lieber Kollege, es geht nur um eine gemeine Rechtssache.« Bollmann hielt kurz inne und rümpfte die Nase. »Und um Karl May.«

Wank nahm den Stapel entgegen. Es handelte sich um handschriftliche Notizen sowie um Zeitungs- und Zeitschriftenausschnitte. »Da steht alles drin?«

»Jaja – viel mehr, als irgendwer über diese Sache wissen müsste. Sie bekommen das hin, Herr Kollege. Ich werde Ihren Artikel gern lesen. Fürs Erste Auf Wiedersehen! Auf Wiedersehen!« Bollmann deutete eine Verbeugung an und wandte sich zum Gehen.

»Einen Augenblick bitte noch, Herr Bollmann!« Wank trat einen Schritt beiseite, da eine der neuen Sekretärinnen, deren Namen er sich noch nicht gemerkt hatte, mit einem Stoß Manuskripten an ihm vorbeiflitzte. »Ich muss Ihnen eine Frage zum verstorbenen Herrn Orlog stellen.«

»Ich habe von der Tragödie gehört. Eine Tragödie. Der Mann war ja noch keine fünfzig. Was wollen Sie denn wissen?«, rief der Kulturredakteur und klang wenig begeistert. »Über den Herrn könnte ich ganze Dramen aufsagen. Aber gut, aber gut – wenn Sie nur eine Frage haben …«

Wank murmelte: »Eine oder zwei.«

Bollmann seufzte und zischte: »Bedenken Sie meinen Termin, bedenken Sie meinen Termin!«

»Gut, Herr Bollmann, gleich das Wichtigste: Hatte Herr Orlog Feinde?«

Bollmann wieherte wie ein Pferd. »Diese Frage ist völlig falsch gestellt, mein lieber Herr Polizeireporter. Wenn Sie sich nach jemanden erkundigt hätten, der Orlog hätte leiden können, dann müsste ich wohl nachdenken. Aber so lautet die Antwort ja – ja und nochmals ja.«

»Vielleicht können Sie mir noch diesen oder jenen Hinweis geben, Herr Kollege«, bat Wank und zückte sein Notizbuch. »Es muss ja nicht gleich eine vollständige Liste sein.«

»Nun gut, nun gut.« Bollmann trat ungeduldig von einem auf den anderen Fuß. »Vorab sollte ich Ihnen sagen, dass wir Kritiker es nicht leicht haben. Vor Orlogs kleinem Zeitschriftenhaus standen die Schriftsteller und Verleger Schlange, um ihn zu ein paar wohlwollenden Zeilen in seinem Blatt zu überreden. Doch den Mann interessierte das wenig. Wenn ich Sie wäre, würde ich die letzten Ausgaben der Bacchus-Blätter durchgehen. Sie werden jede Menge Opfer seiner spitzen Feder finden.« Der Kulturredakteur schaute sich in alle Richtungen um und beugte sich schließlich zu Wank. Beschwörend flüsterte er: »Orlog hat solch vernichtende Urteile gefällt, dass manch ein Dichter das Schreiben ganz aufgegeben hat. Unter uns gesagt, das war mitunter nicht zum Nachteil der Kunst. Dennoch schmerzt einen Dichter so etwas sicherlich tief im Herzen. Tief im Herzen.«

Wank tat so, als würde er etwas notieren. Er hatte das Gefühl, Bollmann müsse nicht zum Weiterreden gedrängelt werden.

Tatsächlich fuhr Bollmann fort, so leise, dass die Worte beinahe im Redaktionsgemurmel untergegangen wären: »Allerdings, allerdings … Mir ist letztens noch etwas anderes zu Ohren gekommen. Man munkelt in der Leipziger Literaturwelt, die Bacchus-Blätter seien finanziell etwas in Schwierigkeiten geraten. Nur das Wohlwollen der Bank habe ihr Erscheinen gesichert. Doch ich betone: Das sind Gerüchte. Gerüchte. Schwer zu belegen.«

Wank schrieb das Wort Bank auf und klappte sein Notizbüchlein zu. »Das ist ein wertvoller Hinweis. Dem kann ich nachgehen.« Er streckte dem Kollegen seine Hand entgegen. »Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit genommen haben! Vielleicht haben Sie ja in den nächsten Tagen noch einmal ein paar Minuten für mich. Bestimmt ergeben sich noch weitere Fragen. Doch jetzt will ich Sie nicht länger aufhalten, Herr Bollmann.«

»Fragen Sie nur, fragen Sie nur – später«, sagte der Kulturredakteur und verabschiedete sich.

Wank eilte ebenfalls von dannen. Für die Bearbeitung der Papiere zu Karl May blieb ihm nicht mehr viel Zeit.

Das Pflaster der Blumengasse lag zu Thomas Kutschers Füßen. Nicht einmal 24 Stunden hatte es gedauert, und der Schneematsch war vollständig verschwunden. Der Blutfleck am Fundort der Leiche hatte zwar deutlich an Kontur verloren, zeichnete sich aber immer noch auf den Steinen ab.

Kutscher blickte über die Fassade des Hauses vor ihm. Die Druckerei des Verlags Rollnik leuchtete rot. Der Klinkerbau mochte fünf bis sechs Jahre alt sein, höchstens zehn. Eigentlich sollte das Dach nach so kurzer Zeit noch intakt sein, und es dürften sich keine Ziegel lösen, überlegte er. Andererseits gingen Dinge manchmal vor ihrer Zeit kaputt. Doch das ließe sich leicht überprüfen. Er musste nur auf das Dach der Fabrik gelangen. Dort würde sich zeigen, ob ein Ziegel fehlte oder nicht.

Das Druckereigebäude zog sich über etwa zwanzig Meter an der Blumengasse entlang. Kutscher schlenderte über das Trottoir und blickte immer wieder an der Hauswand empor. Der Bau mochte so hoch sein wie ein zweigeschossiges Wohnhaus. Es drangen kaum Geräusche von den Maschinen nach draußen. Allenfalls leises Zischen und Klackern ließen ahnen, dass im Innern gearbeitet wurde. Vom Schornstein stieg eine graue Rauchwolke auf. Zart entschwand sie in den heiteren Winterhimmel, wie der Rauch aus einer zu groß geratenen Tabakpfeife. Nichts wirkte bedrohlich. Und doch beschlich Kutscher ein seltsames Gefühl. Wenn ein Ziegel vom Dach gefallen war, konnte sich dann nicht auch ein weiterer lösen? Vielleicht genau zu dem Zeitpunkt, an dem er über den Fußweg lief? Zwar erschien ihm das unwahrscheinlich, dennoch beschleunigte er seine Schritte.

Eine Hofeinfahrt trennte die Druckerei vom Verlagsgebäude. Neben der schmucklosen Werkhalle wirkte das Verlagshaus wie eine fürstliche Residenz: Freitreppe vor der tiefbraunen Flügeltür mit Klopfringen, Stuck an den Fenstersimsen, eine Engelsstatue mit einem Buch in der Hand an der Traufe der Dachrinne. Das Haus strahlte Noblesse aus – hier wurde gedacht, die niederen Arbeiten erfolgten im schlichten Nebengebäude.

Kutscher blickte in den Hof. Aus einer Mülltonne quoll Papier, unter einem Holzverschlag ruhte ein Kohlenhaufen. Kein Mensch war zu sehen. Kutscher schlich durch die Einfahrt und nahm die Rückseite des Druckereigebäudes in Augenschein. An der Rückwand der Halle führte eine eiserne Feuerleiter an einem Fenster vorbei nach oben. Von dort würde er auf das Dach gelangen, ohne die Werkhalle betreten zu müssen. Sollte er es wagen?

Um diese Uhrzeit arbeiteten sicher Dutzende Arbeiter in der Halle. Und im Verlagshaus weilten Lektoren und Buchhalter zuhauf, vermutlich auch Rollnik selbst. Wie sollte er seine Neugier erklären, wenn er zur Rede gestellt wurde? Bevor er das Für und Wider abwägen konnte, riss ihn eine Stimme aus seinen Gedanken.

»Herr Kutscher, Sie sind einen Tag zu früh.« Fräulein Helene Seidel stand in der Hintertür des Verlagsgebäudes und strahlte ihn an.

Er trat auf die Vorzimmerdame zu. »Es ist nur …« Vier, fünf Schritte blieben ihm noch, sich eine Antwort einfallen zu lassen … »Nun ja, eigentlich bin ich wegen des gestrigen tragischen Vorfalls noch einmal in die Blumengasse gekommen.«

»Sie wissen schon davon?«

»Ich selbst habe den armen Kerl gefunden.«

»Oh!« Das Lächeln wich aus Fräulein Seidels Antlitz. »Das war sicher schrecklich.«

»Herr Orlog sah wahrlich nicht gut aus«, bestätigte Kutscher. Er nahm ihre Hand und deutete einen Handkuss zur Begrüßung an.

Fräulein Seidel schlug die Augen nieder. Sie rang offensichtlich nach Worten, sodass Kutscher ihr am liebsten ein Stichwort gegeben hätte. Doch er schwieg, und die Zeit schien so langsam zu verrinnen wie ein zäher Lavafluss.

Schließlich sagte Fräulein Seidel leise: »Nicht einmal eine halbe Stunde, bevor Sie das Verlagshaus verließen, habe ich den Herrn noch verabschiedet.« Sie seufzte und fügte mit belegter Stimme hinzu: »Herr Orlog war, weiß Gott, nicht nur ein Freund des Verlags Rollnik. Dennoch, so ein Ende hat niemand verdient. Zumal er auch ein Kunde unserer Druckerei war und seine Zeitschrift bei uns herstellen ließ.«

Kutscher zog ein Taschentuch aus seinem Jackett und reichte es der Dame. Dabei sprach er immer noch kein Wort. Weinende Frauen verschlugen ihm stets die Sprache.

Fräulein Seidel schluchzte ein »Danke« und tupfte sich die Augen ab. »Wenn Sie mit der Polizei zu tun hatten, wissen Sie sicher auch um unsere missliche Situation.«

Kutscher schüttelte stumm den Kopf.

»Seit gestern Nachmittag kommen immer wieder Polizisten zu uns in den Verlag. Sie befragen die Angestellten und Arbeiter. Vor allem aber untersuchen sie unser Dach. Zeitweise mussten wir sogar die Druckmaschinen abstellen.« Fräulein Seidel gewann mit jedem Wort ein bisschen mehr die Fassung zurück. Schließlich klang ihre Stimme beinahe trotzig. »Ich möchte mir lieber nicht ausmalen, was es für unseren Verlag bedeutet, wenn die Beamten uns wegen des tödlichen Dachziegels eine Fahrlässigkeit attestieren würden.«

Kutscher schaute zur Werkhalle hinüber. Ob die Polizisten auch jetzt auf dem Dach Untersuchungen betrieben? Nicht auszudenken, wenn sie ihn beim Herumschnüffeln erwischt hätten! Er wandte sich wieder der Dame zu. »Bitte seien Sie sicher, dass meine Gedanken bei Ihnen sind. Ich werde Sie nicht weiter behelligen. Zumindest bis morgen.«

»Vielen Dank, Herr Kutscher.« Fräulein Seidel reichte ihm das Taschentuch zurück und verabschiedete sich.

»Das ist er«, flüsterte Edgar Wank und wies mit seinem Notizbuch in der Hand Richtung Tür.

Sein Freund Thomas Kutscher saß neben ihm im großen Saal des Reichsgerichts und murmelte: »Tatsächlich, der Schriftsteller Karl May.«

Ein Raunen ging durch die Reihen, als May den Gang entlangschritt. Er trug einen hochgeschlossenen schwarzen Anzug, im Kragen steckte ein sorgfältig gefaltetes Tuch. Den Hut hielt er in der Hand. Über seiner hohen Stirn fiel das Haar in grauen Strähnen bis über die Ohren. Obwohl er gebeugt ging, strahlte er eine enorme Autorität aus. Das lag aber vielleicht nur daran, dass ihm in gemessenem Abstand ein Anwalt in schwarzer Robe und weitere Gäste folgten.

Der Schriftsteller schaute sich im Saal um. Für einen Moment blickte er Wank an. Trotz der tiefen Tränensäcke sahen Mays Augen wie die eines viel jüngeren Mannes aus. Wank nickte dem Schriftsteller zu, und auch May bewegte den Kopf ein kleines bisschen. Dann ließ er seinen Blick wieder schweifen.

Der Anwalt berührte Mays Arm und wies ihm den Weg zur Bank, an der die Kläger ihren Platz hatten.

»Ich wünsche ihm so sehr, dass er gegenüber diesen Halsabschneidern sein Recht bekommt«, zischte Kutscher.

Es war nicht nötig, besonders leise zu sprechen. Denn immer noch strömten Menschen in den Gerichtssaal, und in den Rängen tuschelten die Zuhörer.

Auf der Anklagebank umringten mehrere Herren eine ältere Dame. Wank konnte sie kaum sehen, da die Männer ihm die Sicht versperrten. Es musste sich um Pauline Münchmeyer handeln, die Witwe des bereits vor fünfzehn Jahren verstorbenen Verlegers Heinrich Gotthold Münchmeyer.

Wank steckte das Notizbuch in die Tasche und öffnete die Akte, die Bollmann ihm gegeben hatte. Er überflog seine Stichpunkte an den Seitenrändern. May hatte im Laufe der 1880er-Jahre eine Reihe von Kolportageromanen unter einem Pseudonym verfasst und Honorare im Bereich von 35 bis 50 Mark pro Roman erhalten. Die Titel hatten sich hunderttausend- oder gar millionenfach verkauft. Wie hoch die Verkäufe genau gewesen waren, war unklar, denn May hatte keine Abrechnungen über sie erhalten. Und genau diese Abrechnungen klagte der Schriftsteller nun ein. Wenngleich er keinen schriftlichen Vertrag mit dem Verleger abgeschlossen hatte, so stehe ihm doch eine nicht näher bezifferte feine Gratifikation für Auflagen zu, die zwanzigtausend Exemplare überschritten. Dies sei mündlich vereinbart gewesen und zudem bis heute übliches Geschäftsgebaren. Tatsächlich hatte May in den Vorinstanzen recht bekommen.

Wank überflog das nächste Papier in seiner Akte. Mays rechtliche Situation wurde dadurch erschwert, dass Pauline Münchmeyer den Verlag schon vor fünfzehn Jahren an den Leipziger Verlagsbuchhändler Adalbert Fischer verkauft hatte. May hatte dem neuen Verleger ursprünglich die Nutzung seiner alten Werke untersagt, stand aber nun dem Vernehmen nach vor einem Vergleich. Doch darum ging es in diesem Prozess nicht.

Während noch immer Menschen in den Saal drängten, lehnte sich Wank zurück, legte die Akte auf seinen Schoß und wandte sich zu seinem Freund. »Du schließt doch hoffentlich schriftliche Verträge mit Rollnik?«

»Wir leben in einem neuen Jahrhundert, Edgar! Seit sieben Jahren haben wir ein deutschlandweit gültiges Bürgerliches Gesetzbuch. Heute brauche ich länger, um einen Vertrag abzuschließen, als für das Schreiben eines Romans.« Kutscher kicherte so laut, dass sich ein Herr in der Reihe vor ihnen umdrehte. Kutscher nahm das anscheinend nicht wahr, oder er ließ sich davon nicht beeindrucken. »Wie du anhand dieses Prozesses erkennen kannst, war Literatur auch schon im letzten Jahrhundert ein Geschäft. Und heute ist sie es mehr denn je.«

Wank warf entschuldigende Blicke zu den Gästen ringsherum.

Kutscher bemerkte das, beugte sich zu ihm und fügte im Flüsterton hinzu: »Ich weiß nicht, ob das in deinen Unterlagen steht, aber die Nachforderungen Mays belaufen sich auf bis zu dreihunderttausend Reichsmark.«

»Dreihunderttausend?« Nun war es Wank, dem es schwerfiel, leise zu sprechen. Um solch einen Betrag einzustreichen, musste er jahrzehntelang Polizeiberichte für die Leipziger Zeitung schreiben. Er musterte May eingehend. Der Schriftsteller strahlte zwar eine gewisse Erhabenheit aus, doch wie ein Millionär wirkte er nicht.

»Bei dieser Gattung ist die Schreiberei mehr Geschäft als Kunst«, sagte Kutscher. Obwohl er flüsterte, klang er so stolz, als würde er selbst hohe Honorare kassieren.

Wanks Gedanken lösten sich vom klagenden Abenteuerschriftsteller und schweiften zum Fall Orlog. Er zögerte einen Moment, bevor er sagte: »Vielleicht sollten wir uns auch über die finanziellen Befindlichkeiten des Herrn Orlog schlaumachen. Ich hörte, er habe da so seine Probleme gehabt. Mir war bis eben jedoch nicht klar, um welche Summen es da gehen kann.«

»Ja, wir sollten uns auf jeden Fall umhören«, entgegnete Kutscher. »Morgen gibt die Frau meines Verlegers einen Salon. Wie wäre es, wenn ich dir eine Einladung besorge?«

»Morgen, sagst du?« Wank sah aus dem Augenwinkel, wie der Richter den Saal betrat.

»Am Abend«, bestätigte Kutscher.

»Da bin ich eigentlich schon an Eleonore vergeben.« Der Richter schlug mit dem Hammer auf den Tisch und bat um Ruhe.

»Doch das werde ich regeln können«, flüsterte Wank seinem Freund zu und richtete den Blick auf den Richter, der das Verfahren eröffnete.

Thomas Kutscher brummte der Schädel. Er saß in seiner Wohnstube, vor ihm schimmerte das bleiche Papier im Glanz der Kerzen. Die Feder ruhte im Tintenfass wie ein letzter, vergessener Grashalm auf einer frischgemähten Wiese. Kutscher suchte nach Worten, doch er konnte keinen klaren Gedanken fassen.

Er sann über Karl May und dessen Sieg vor Gericht nach. Die ganze Zeit über hatte sich Kutscher im Gerichtssaal umgeschaut und sich gefragt, ob unter den Zuschauern wohl Orlogs Mörder sitzen könnte. Ihm waren ein paar bekannte Gesichter aufgefallen – Redakteure, Buchhändler, Angestellte von Verlagen. Doch er traute keinem einen Mord zu, sosehr er seine Fantasie auch bemühte. Immerhin hatte er nun Stoff für seinen nächsten Detektivroman. Dutzende Ideen waren ihm während der Verhandlung in den Sinn gekommen.

Zunächst musste er sich jedoch um dringendere Angelegenheiten kümmern und einen Brief an seinen Bruder verfassen, auch wenn ihm die Augen immer wieder zufielen. Die schwierige Aufgabe erlaubte keinen Aufschub mehr.

Kutscher öffnete die Schatulle, die seine Barschaft enthielt, und blickte auf die letzten Geldscheine und den kümmerlichen Haufen Münzen. Spätestens bis zur nächsten Mietzahlung musste das Kästchen aufgefüllt werden. Rollnik brauchte er in Geldsachen vorläufig nicht zu konsultieren. Gleich nach der Abgabe seines Detektivromans hatte Kutscher von Rollnik dafür einen Vorschuss erhalten. Der Rest desselben lag nun vor ihm. Sein Theaterstück war vom Aufführungsplan genommen worden. Selbst wenn er ein neues Stück schreiben würde, bekäme er dafür erst in Monaten Bares.

Die bittere Wahrheit lautete: Es blieb ihm nichts anderes übrig, als bei seiner Familie um Geld zu betteln. Deswegen saß er vor einem Bogen Briefpapier. Und deswegen brachte er kein Wort aufs Blatt.

Kutscher erhob sich und machte sich auf den Weg zur Küche. Dort wartete ein halbvoller Bierkrug auf dem Fensterbrett und gab der Winterkälte hinter der Scheibe einen Sinn.

Im Flur betrachtete er die Bilder an der Wand. Zeichnungen und Malereien in kleineren Formaten, Originale von Bekannten oder von Bekannten von Bekannten, die alle ein ungleich kargeres Leben bestritten als er. Wenn er solch ein Bild erwarb, tat er das freilich nicht nur aus Großherzigkeit dem armen Schlucker gegenüber. Nein, er betrachtete diese Passion auch ein wenig als ein Lotteriespiel. Es genügte, wenn einer der Maler zu Ruhm und Ehre käme. Schon würde sich sein kleiner Einsatz in einen riesigen Gewinn verwandeln. Doch derzeit lag die Aussicht auf Erlöse in weiter Ferne. Im Moment stand er eher vor der Frage, wohin er die Gemälde und Zeichnungen bringen sollte, wenn er sich die Wohnung nicht mehr leisten konnte.

Kutscher erreichte die Küche. Sämtliches Geschirr stand in der Spüle, Tisch und Backofen blitzten frisch geputzt. Vom Bier abgesehen, fand er in diesem Raum keine Ablenkung. Also füllte er sich etwas vom kalten Gerstensaft in einen Becher. Einen kleinen Schluck trank er sofort, dann machte er sich wieder auf den Weg in seine Schreibstube. Mit jedem Schritt wurde er langsamer, er schlurfte über den Boden und freute sich über das Geräusch, dass seine Hauslatschen verursachten.

Wieder am Schreibtisch, nahm er einen weiteren Schluck, griff zur Feder und begann zu schreiben: Lieber Hanno, mein Bruderherz … Die Feder in seiner Hand wurde immer schwerer. Kutscher malte sich aus, dass sein Bruder schon beim Lesen der ersten Worte ahnte, warum er ihn anschrieb. Vermutlich würde Hanno sein Ich-hab’s-doch-immer-gewusst-Grinsen schon aufsetzen, wenn er den Absender auf dem Briefumschlag las. Insgeheim verfluchte Kutscher seine Großmäuligkeit, mit der er nach dem Erhalt seines ersten Honorars für einen Detektivroman der Familie verkündet hatte, dass er nun auf eigenen Beinen stehe und Zuschüsse aus den Erlösen der väterlichen Chemiefabrik nicht mehr nötig habe. Denn seitdem musste er alle paar Monate einen Bettelbrief verfassen.

Er nahm noch einen Schluck Bier, um sich auf andere Gedanken zu bringen. Was für eine Wohltat! Wie leicht alles wurde! Die Worte schlichen durch seinen Kopf, auf leisen Pfoten, wie eine Katze zum Fressnapf. Da war es plötzlich – das Gedicht. Kutscher sprang auf und riss ein Blatt aus der Schublade. Hastig klierte er darauf die Worte:

Ein Handelsmann in Xanten

hatte gar schreckliche Tanten.

Nur Milch bekam er hier,

doch trank er heimlich Bier

und meuchelte seine Verwandten.

Kutscher steckte die Feder zurück ins Tintenfass. In einem Zug leerte er den Becher und ließ ihn auf den Tisch krachen. Vollbracht! Er pustete die Tinte auf dem Blatt Papier trocken und legte den Limerick in die Mappe zu den anderen Biergedichten.

Verblüfft stellte Kutscher fest, dass die Schwere aus seinem Kopf verschwunden war. Er warf einen Blick auf den Briefbogen. Nun erschien ihm die Sache gar nicht mehr so dringend. Denn das Postamt öffnete ohnehin erst am nächsten Morgen. Genau genommen war es gleich, ob er den Bettelbrief jetzt verfasste oder erst nach dem Aufstehen.

»Hast du schon etwas getrunken?«, fragte Edgar Wank.

»Ein Schlückchen mit den Kollegen«, antwortete Eleonore Rada. Sie stellte den Pelzkragen ihres Mantels auf, sodass ihr Gesicht beinahe in dem Fell verschwand. Nur ihre Nasenspitze lugte ins Freie wie eine vorwitzige Maus aus ihrem Loch.

Wank seufzte und führte sie weg vom Theater in die dunkle Nacht.

»Du hast mich warten lassen, mein Lieber.« Eleonore schmiegte sich an ihn. »Ich hatte gehofft, dass auch du mit mir noch einen Wein trinkst.« Sie kam noch etwas näher und flüsterte ihm ins Ohr: »Bei mir.«

»Es tut mir leid, dass ich mich verspätet habe. In der Redaktion ist gerade allerhand zu tun.« Wank führte Eleonore auf der Töpferstraße in Richtung Töpferplatz.

»Ich habe heute einen Gerichtsfall um den Schriftsteller Karl May verfolgt.«

»Karl May? Hat der etwas angestellt? Man hört da so einiges.«

»Nein, nein. Nun ja, doch, aber das ist schon lange her, und darum ging es heute nicht.« Wank dachte an seine Unterlagen und die Diebstähle, die May in jungen Jahren begangen hatte und über die einige Presseberichte herumgeisterten. Der Schriftsteller hatte deswegen sogar im Gefängnis gesessen. Seine Feinde nutzten dies aus und ritten auf der dunklen Vergangenheit des Schriftstellers herum. Doch das wollte Wank Eleonore jetzt nicht in aller Breite erklären, daher sagte er nur: »Vor dem Reichsgericht hat er recht in einer Verlagsangelegenheit bekommen. Herr May macht im Übrigen den Eindruck, als habe er es schon lange nicht mehr nötig, irgendwen zu bestehlen. Leider bin ich aber in den Rechtswissenschaften nicht sonderlich bewandert, sodass es mir nicht gerade leichtfällt, einen angemessenen Bericht zu verfassen.«

Eleonore gähnte.

»Mit einem richtigen Toten habe ich auch gerade zu tun. Ich bin sicher, es handelt sich um einen Mord.«

»Das schaffst du schon.« Sie schien keine Lust auf Schauergeschichten zu verspüren.

Von der Pleiße wehte eine Brise herüber. Es roch nicht so streng wie mitunter im Sommer, aber zusammen mit dem Qualm aus den Schornsteinen der Stadt erinnerte der Geruch ein wenig an Räucherfisch.

Einige Studenten krakeelten auf dem Fleischerplatz. Sie trugen die Scherpen einer Burschenschaft und lallten völlig betrunken ein Lied. Eleonore rückte so nah an Wank heran, dass er den Eindruck hatte, sie wolle unter seinen Mantel kriechen. Seltsamerweise fühlte er sich dadurch stärker. Vermutlich hätte er es voller Übermut sogar mit den besoffenen Burschen aufgenommen, wenn sie Ärger gemacht hätten, doch die nahmen keinerlei Notiz von ihnen. Sie schwankten Richtung Schulplatz von dannen, ihr Gebrüll ging nun im Plätschern der Pleiße unter.

Wank führte Eleonore eilig über den Thomasring zur Promenadenstraße. An dieser Stelle war von dem Fluss nichts mehr zu sehen oder zu riechen, denn die Pleiße floss hier seit ein paar Jahren unterirdisch. Die Laternen tauchten die Straße vor ihnen in fahles Licht, die Fassaden wirkten wie die Gemäuer eines Gespensterschlosses. Doch hier wohnten keine Bösewichter, sondern honorige Menschen wie Eleonore. Ihre Wohnung befand sich im zweiten Haus der Straße, im Parterre.

»Schnell, mir ist so kalt!« Eleonore ließ Wank los, öffnete die Haustür und eilte ins Treppenhaus. »Im Ofen liegen noch die Kohlen, die du aus dem Keller geholt hast.« Hurtig schloss sie die Wohnungstür auf und zog Wank hinein.

Jedes Mal, wenn Wank Eleonores Reich betrat, überkam ihn Wehmut. Der Flur führte in eine Stube, in eine Essküche und in ein Schlafzimmer. Die Wohnung hätte ohne Weiteres für sie beide gereicht. Vielleicht wäre sogar Platz für einen Sohn oder eine Tochter. Doch daran wagte Wank nur in seinen kühnsten Träumen zu denken. Seit Jahren traute er sich nicht, mit Eleonore über die gemeinsame Zukunft zu sprechen. Sie machte diesbezüglich auch keinerlei Andeutungen, und so wohnte er immer noch in seinem kargen Zimmer in der Karlstraße. Auch jetzt schien ihm nicht die rechte Zeit für dieses Thema zu sein. Er schritt in die Stube, ohne den Überzieher abzulegen, und entfachte das Feuer im Ofen.

»Ach, ist das herrlich!«, sagte Eleonore. »Allein das Flackern macht mich so froh.«

Wank zog seinen Überzieher aus und schob den Sessel vor den Ofen. »Komm«, sagte er, »hier ist es warm.«

»Warte noch einen Moment«, sagte Eleonore, zog ihren Mantel aus und setzte sich ans Klavier. Leise spielte sie eine Weise aus Millöckers Bettelstudent. Die ersten Zeilen summte sie nur, dann sang sie: Ach! Und wärst du arm, träfe dich Schmach/Wahre, inn’ge Liebe, sie fragt nicht danach/Nich lockt mich Reichtum, prunkender Schein/Ich will dein Herz nur allein!

Wank schaute zum Klavier. Die Noten standen aufgeschlagen im Ständer. War das ein Zufall? Oder wollte Eleonore ihm mit der Textstelle etwas sagen? Und wenn ja, was? Sicher, er verfügte nicht über den Reichtum, den sein Freund Kutscher durch das Unternehmen seiner Familie mitbrachte. Doch sein Einkommen bescherte ihm durchaus ein Leben ohne Sorgen.

»Du siehst so nachdenklich aus.« Eleonore erhob sich vom Klavierhocker und kam auf Wank zu. »Heute Abend sollten wir nicht mehr über die Arbeit sinnieren.« Sie streifte ihr Kleid von den Schultern und setzte sich auf Wanks Schoß.

Tödliche Zeilen

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