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Kapitel 1 – Im Reich des Löwen

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Zwanzig Tage waren vergangen, seitdem Larkyen begonnen hatte, von Norden aus an der Grenze von Majunay entlang zu reiten. Die zerklüftete Berglandschaft grenzte zum Westen hin an das raue Land Kanochien, das sich über einen Teil des beinahe endlos erscheinenden Altoryagebirges hinweg erstreckte. Die felsigen Regionen boten nicht viel Raum für Zivilisation. Nur wenige Siedlungen, hatten die Kanochier inmitten eines von harten Wintern gepeinigten Hochlandes gründen können.

Der Pass nach Westen war ein gefahrvoller Weg, doch Larkyens kedanisches Pferd erwies sich als ausdauernd und zuverlässig. Und längst hatte er eine Art Zuneigung zu dem riesenhaften Ross entwickelt.

Er war stets wachsam, und seine Sinne so scharf wie die besten Klingen der Völker des Ostens. Immer wieder spähte er unter der Kapuze seines weiten Umhangs auf die umliegenden Felsgipfel.

Bei den wenigen Menschen, die ihm bisher begegnet waren, handelte es sich meist um zwielichtige Händler. Sie alle hatten Larkyen gemieden, denn auch wenn sein Leib wie der eines Menschen aussah, so war er doch keiner.

Schulterlange kastanienbraune Haare umrahmten sein kantiges Gesicht, das die Augen eines Raubtiers barg. Unter den dichten Brauen schimmerten sie auf fremdartige Weise in dunklem Grün. Seine Haut war glatt und frei von Makeln und erinnerte an das Antlitz einer marmornen Statue. Der Lederhandschuh an seiner Linken verbarg ein pechschwarzes Mal auf dem Handrücken, in Form einer lodernden Sonne – ein Zeugnis der Übermenschlichkeit.

Denn einst, vor über zwanzig Wintern, war Larkyen im Schein einer schwarzen Sonne geboren worden. Und wie alle, die in ihrer Finsternis zu atmen begonnen hatten, besaß auch er außergewöhnliche Gaben. Doch neben der gewaltigen Körperkraft, die seinen drahtigen Leib erfüllte, den Selbstheilungskräften und der ewigen Jugend, war die Gabe, die Kraft anderer Lebewesen aufzunehmen und sie als die eigenen zu gebrauchen, die unheimlichste seiner mannigfaltigen Fähigkeiten. Trotzdem konnte er nicht verleugnen, wie sehr er seine übernatürliche Macht genoss.


Das Ziel seiner Reise, war das Land Kentar. Die Heimat seiner Vorväter, gelegen im Westen der Welt. Der Weg dorthin war weit, aber Larkyen gelangte schneller voran, als es ein Mensch je hätte schaffen können. Längst verspürte er nicht mehr den Drang, essen, trinken oder schlafen zu müssen, denn der Leib eines Kindes der schwarzen Sonne benötigte nichts dergleichen. Eine Rast legte er nur ab und zu seinem Pferd zuliebe ein, und der kräftige Hengst benötigte davon nur wenig.

Schon zum nächsten Herbst hin, so hoffte Larkyen inständig, würde er endlich die Heimat seines Volkes mit eigenen Augen erblicken können. Oftmals versuchte er sich in Gedanken auszumalen, wie das kleine Land an den Ufern des grauen Meeres heute wohl aussah.

Wie tief mochten die Spuren sein, die der einst im Westen herrschende große Krieg hinterlassen hatte?

Vor wenigen Tagen hatte endlich das Tauwetter eingesetzt. Der Schnee schmolz vereinzelt und legte mit Felsgestein durchsetzte Wiesen frei. In großer Zahl plätscherten Bäche an den umliegenden Hängen hinab.

Am Rande eines lichten Waldstücks legte Larkyen die erste Rast in Kanochien ein. Und während das Pferd graste, wollte sich Larkyen wieder einmal in der Kampfkunst üben.

Er zog sein Schwert aus der Scheide. Die magische Klinge trug den Namen Kaerelys und glitzerte auf unnatürliche Weise in kühlem Blau. In Larkyens Händen war jene Waffe ein verheerendes Werkzeug der Massenvernichtung.

Während sich der Blick seiner Raubtieraugen auf dem makellosen Stahl widerspiegelte, hörte er im Geiste wieder die Todesschreie seiner Feinde. Mit dem Schwert in der Hand, vollführte er einen Tanz tödlicher Präzision. Dabei achtend auf Haltung, Angriff und Verteidigung. Seine Bewegungen verursachten nicht den geringsten Laut. Wäre er beobachtet worden, hätten die anderen lediglich einen rasenden Schatten inmitten der Wildnis erblickt und einen immer wieder durch die Luft fahrenden blauen Blitz.

Mit Ehrerbietung dachte er bei jeder seiner Übungen an seinen Lehrmeister Khorgo zurück, einen Veteranen der Reiterhorden Majunays. Vieles hatte Larkyen durch ihn in der Kampkunst erlernt. Und bereits als er das erste Mal ein Schwert in die Hand nahm, wusste er, dass er für den Kampf bestimmt war: Der Umgang mit der Waffe und das Töten des Feindes waren für ihn nichts, woran er sich erst hätte gewöhnen müssen.

Vielleicht lag ihm der Kampf tatsächlich im Blut, wie der Lehrmeister an jenem Tage gesagt hatte. Dennoch galt es für ihn, im Streben nach stetiger Verbesserung, die erlernte Kampfkunst auch weiterzuentwickeln.

Denn jene, die nicht strebten und sich jeglicher Entwicklung verschlossen, würden an ihrem eigenen Stillstand zugrunde gehen. – Eine Weisheit der Krieger.


Ein plötzliches Knacken im Unterholz ließ Larkyen innehalten. Sein grasendes Pferd wurde unruhig und schnaubte. Beinahe zeitgleich hatten sie etwas gewittert.

Das Knacken wurde lauter, kam näher und näher. Ein Bär, bei weitem größer als seine Artgenossen in den Wäldern der Täler, zeigte sich zwischen den Bäumen. Grauweiße Streifen, mit denen das braune Fell durchsetzt war, ließen ihn als einen der gefürchteten Gebirgsbären erkennen. Es gab Berichte, dass diese mächtigen Raubtiere nicht davor zurückschreckten, in ihrem Hunger nach Beute, sogar Handelskarawanen der Menschen anzugreifen.

Noch im selben Moment brach der Bär durch das Dickicht und sprintete auf das Pferd zu. Abwehrend bäumte sich der Hengst auf, trat mit den Vorderhufen. Getroffen wich das Raubtier zurück. Mit einer seiner furchteinflößenden Tatzen, holte es zum Schlag aus. Die Krallen würden dem kedanischen Hengst eine verheerende Wunde reißen, die früher oder später unweigerlich zum Tod führte.

Jetzt stellte sich Larkyen dem Raubtier in den Weg. Das Schwert würde er nicht brauchen. Er sah dem Bär nur in die Augen. Das Tier knurrte, senkte die Tatze wieder.

„Ruhig“, flüsterte Larkyen.

Vorsichtig bewegte er sich auf den Giganten zu, spürte dessen heftige Atmung im Gesicht. Das riesige Maul öffnete sich kurz. Lediglich ein Bissen von ihm würde genügen, um den Kopf eines Menschen zu verschlingen.

Doch längst hatte der Gebirgsbär in Larkyen ein übernatürliches Wesen erkannt. Tiere wussten instinktiv, wann sie sich einem überlegenen wie auch gleichartigen Geschöpf gegenübersahen.

Und so streckte der Unsterbliche seine Hand zu einer Berührung aus, die das eben noch so gefährliche Raubtier über sich ergehen ließ. Das Fell war dick und buschig, die Muskeln darunter hart. Larkyen fühlte den Herzschlag des Bären in seinen Fingerspitzen. Die Lebenskraft des Raubtiers war beeindruckend. Larkyen hätte sie in diesem Augenblick nehmen können, doch nur ungern wollte er einem Tier den Tod bringen.

Es waren die Tiere, die sich ihrer Natur anpassten, mit ihr im Einklang lebten und ihrer Bestimmung nachkamen. Larkyen bewunderte sie dafür, und darum verdienten sie das Leben mehr, als manche unter den Menschen.

Als er seine Hand zurücknahm, zuckte der Gebirgsbär für einen Moment zusammen. Noch einmal wandte er seinen rundlichen Kopf zu dem Pferd, das sich abermals aufbäumte, bevor er sich in den Wald zurückzog.

Larkyen sah der Größten aller Bärenarten noch lange nach.


Die Umgebung wurde mit dem Verlauf des weiteren Weges immer ebener. Die wenigen Wiesen waren hier zumeist von hüfthohen Steinmauern umgeben, um die Kühe und Schafe, denen sie als Weideland dienten, beisammen zu halten.

An einer der Mauern stand ein Hirte und winkte Larkyen zu. Der Mann schien von Alter und schwerer Arbeit gebeugt. Sein bis zum Kinn hochgezogener Wollumhang schützte ihn vor der Kälte und betonte seine hagere Gestalt. Auf einen langen Stab gestützt, sah er zu Larkyen auf.

„He, fremder Reiter!“ Beim Sprechen entblößte er lediglich einige Zahnstümpfe. „Es kommt nicht alle Tage vor, dass meine müden Augen einen wie dich aus dem Osten reiten sehen.“

„Was heißt einen wie mich, alter Mann?“

Der Hirte lächelte und sagte: „Einen, der wie du aus dem Westen stammt, einen weißen Mann. Du willst wohl zum großen Fest? Du kommst spät, drei Tage dauert es nun schon an.“

„Von was für einem Fest sprichst du?“

„Natürlich vom Löwenfest“, antwortete der Hirte. „Es ist wieder soweit. Immer wenn der Winter sein Ende nimmt, lädt unser König Elay, mögen die Götter stets mit ihm sein, die Völker der Welt zu einem Wettstreit ein. Da wir ein neutrales Land sind, werden alle Fehden und Kriege außerhalb der Landesgrenzen für kurze Zeit vergessen. “

„Ich habe von diesem Fest gehört“, sagte Larkyen. „Als Höhepunkt bekommen die Gäste die Gelegenheit, sich abseits blutiger Kriege miteinander zu messen. Der Gewinner kann für sich den Titel Löwe von Kanochien beanspruchen.“

„Hat dich die Kunde also auch erreicht“, sagte der Hirte und setzte ein breites Grinsen auf. Dann fuhr er fort: „Sei ehrlich, Fremder. Um die Ehre des Titels geht es doch den wenigsten, viel eher um den Preis. Gierst auch du nach den beiden Rubinen? Man nennt sie die Augen des Löwen. Unser König überreicht sie persönlich. Faustgroß sollen sie sein und so rot wie Blut.“

„Was scheren mich Rubine“, entgegnete Larkyen.

„Könntest ein reicher Mann werden. Hast doch nichts als ein Pferd.“

„Und das ist alles was ich derzeit brauche.“

„Unsinn“, krächzte der Hirte höhnisch. „Sprichst fast wie einer dieser dreckigen Nomaden aus Majunay. Ich kann dir viel von ihnen erzählen. Denn in jungen Jahren, da zog es mich einmal in ihre Stadt Dakkai. Doch diese rothäutigen Schlitzaugen sind keine guten Gastgeber, wenn es um Menschen geht, die nicht ihrem Volk entstammen. Sie halten sich für was Besseres.“

Larkyen schüttelte nur spöttisch den Kopf und ritt weiter.

„Wenn du beim Fest bist, gib acht. Es sind auch viele Schlitzaugen dort.“

Unfreiwillig musste Larkyen an die Berichte seines Adoptivvaters Godan denken, der immer wieder erzählt hatte, wie viel Skepsis die Angehörigen vieler Völker den Majunay gegenüber zeigten. Denn das Majunayvolk, das über eine enorme Begabung für die Kunst des Schmiedens und Kämpfens verfügte, teilte dieses Wissen nicht mit anderen Völkern und pflegte auch seine Traditionen. Seit jeher legten die Steppenbewohner Wert darauf, ihr Blut nicht mit dem anderer Völker zu vermischen.

Larkyen war einer der wenigen Fremdstämmigen gewesen, denen einst die Vermählung mit einem Weib vom Blut der Majunay gestattet wurde.


Schon bald erblickte Larkyen ein großes Lager aus Zelten. Der Rauch vieler Kochfeuer stieg auf und wehte den Duft von gebratenem Fleisch und würziger Suppen heran. Gelächter erklang, vermischt mit tosendem Beifall und dem Rufen vieler Stimmen in vielen Sprachen.

Beim Näherkommen sah er hölzerne Stände und Tische, an denen Händler ihre Waren feil boten. Ihr Angebot reichte von Kräutern über Felle und Teppiche bis hin zu Kleidern und Tieren.

Viele Menschen der unterschiedlichsten Völker tummelten sich in einer dichten Traube.

Muskulöse Kedanier, deren Haut so weiß wie der Schnee ihrer Heimat im Norden war, schlitzäugige Majunay, dunkelhäutige Zhymaraner aus dem Süden. Vereinzelt waren auch die Menschen des Westens vertreten, die sich in ihrem Auftreten ähnelten. Ihre Haut war weiß, ihre Haare blond bis braun und ihre Augen waren von der blauen Farbe des Himmels oder dem Grün der Wälder.

Die einheimischen Kanochier machten den Großteil der Festbesucher aus. Die Männer aus ihrem Volk waren stämmig, mit weißer Haut und starker Körperbehaarung, die Frauen zierlich, mit vollen Gesichtern und geflochtenem Haar. Die Farbe ihres Haares war durchweg schwarz, ihre Augen bernsteinfarben, gleich denen der Majunay.

Die Kanochier galten als freundlich und zuvorkommend gegenüber Fremden. Wenig war über Kriegshandlungen ihrerseits bekannt.


Auf einem hohen Holzpodest war ein ausgestopfter Löwe zur Schau gestellt, der soeben zum Sprung ansetzte. Während das Maul des Tieres zu einem Brüllen geöffnet war, starrte es bedrohlich auf eine mit Blutflecken übersäte Strohmatte herab.

Ein bärtiger Kanochier betrat die Matte und rief: „Hört nun zu, die letzte Runde der Kämpfe um den Titel des Löwen von Kanochien kann beginnen!“

Die Menschen strömten herbei und versammelten sich in einem weiten Kreis um die Kampfesstätte.

Auf dem Rücken seines riesigen kedanischen Pferdes konnte Larkyen den bevorstehenden Kampf gut überblicken.

Der Kanochier hob seine rechte Hand und rief den Zuschauern zu: „Der erfolgreichste Kämpfer des diesjährigen Festes stammt aus dem Nachbarland Majunay: Yenovar, vom Stamm der Oyenki. Ist jemand mutig genug, gegen Yenovar anzutreten?“

Ein Raunen ging durch die Zuschauer.

Ein kräftig gebauter Zhymaraner mit kahlem Schädel trat auf die Strohmatte und ließ sich von der Zuschauerschar bejubeln. Trotz des kalten Windes entblößte er seinen Oberkörper, spannte die Muskeln an und rief der Menge Worte in einer fremden Sprache zu.

Der Kanochier zeigte sich begeistert. „Hier haben wir einen weiteren tapferen Kämpfer: Ahmarzan aus Zhymara nimmt es mit Yenovar auf.“

Dem Zhymaraner trat nun ein Majunay gegenüber, der vor der hünenhaften Gestalt des Südländers eher klein und schmal wirkte. Er war älter als der Dunkelhäutige, sein kurzes Haar bereits mit grauen Strähnen durchsetzt. Auch der Majunay entledigte sich seiner Oberkörperbekleidung und offenbarte sehnige Muskeln.

Ehe er die Strohmatte wieder verließ, deutete der Kanochier auf den Majunay und rief: „Yenovar!“

Der bevorstehende Kampf erinnerte Larkyen nur zu gut an alte Fehden zwischen den beiden Völkern. Und ein jeder der Kämpfer ließ sein Gegenüber all die empfundene Verachtung füreinander spüren.

Larkyen unterbrach seinen Ritt, um sich den Kampf anzusehen.

Der Zhymaraner stampfte brüllend auf den Majunay zu, um ihn mit seinen großen Händen zu erfassen. Der Majunay jedoch war flink und konnte der Attacke ausweichen. Dann ging er selbst zum Angriff über.

In den Manövern des Majunays erkannte Larkyen die Schläge und Griffe wieder, die er bei seiner Ausbildung zum Krieger selbst hatte erlernen müssen. Ihm drängte sich der Verdacht auf, dass jener Kämpfer einst Soldat gewesen war. Zu präzise und gekonnt verlief jegliche Bewegung.

Tatsächlich dauerte es nicht lange, und der Majunay beförderte den Zhymaraner mit einem gezielten Tritt gegen die Schläfe in tiefe Bewusstlosigkeit.

Aus den Reihen der Zuschauer erntete er sowohl Jubel als auch Schreie der Verärgerung. Ein unzufriedener Zhymaraner stürmte aus der Menge hervor, um den Majunay zu attackieren. Eine Kombination aus Schlägen und Tritten hagelte auf den neuen Kämpfer ein, und ehe er sich versah, fand er sich neben seinem Volksgenossen am Boden der Strohmatte wieder.

Die Zuschauer lachten. Nur die Zhymaraner unter ihnen nahmen den Sieg des Majunay verärgert zur Kenntnis.

Der Kanochier betrat erneut die Matte.

„Gibt es weitere tapfere Männer, die es mit diesem Majunay aufnehmen wollen? Wer will der dreißigste Gegner für diesen Kämpfer sein?“

Als kein weiterer Mann die Matte betrat, rief der Kanochier: „Dann haben wir hier und heute einen Sieger: Yenovar vom Stamm der Oyenki, aus dem Volk der Majunay. Der neue Löwe von Kanochien!“

Die Zuschauer applaudierten und johlten.

Larkyen wollte gerade weiter reiten, als ihm auffiel, dass mehrere Majunay unter den Zuschauern ihn anstarrten. Zwei von ihnen unterhielten sich und gestikulierten. Trotz des Stimmengewirrs entging es Larkyens übermenschlichen Sinnen nicht, dass das Gespräch von ihm handelte. Sie nannten ihn den Gott der Rache.

Ein Majunay im Knabenalter, dessen Gesicht jugendliche Unerfahrenheit widerspiegelte, trat auf Larkyen zu. Seine bernsteinfarbenen Augen wirkten ernst.

Er drängte er sich an das kedanische Riesenpferd und streichelte mit seinen Fingern über den muskulösen Hals des Tieres.

„Ein prächtiges Pferd“, sagte der Knabe. Als der Hengst laut schnaubte, zog der Knabe erschrocken die Hand zurück.

„Sei lieber vorsichtig“, sagte Larkyen, „Mein Tier ist schnell erzürnt und es gibt keine kräftigere Rasse unter den Pferden.“

„Der Hengst stammt aus Kedanien, nicht wahr?“ fragte der Knabe. „Ich habe ein solches Tier noch nie aus der Nähe gesehen.“

„Sei froh“, gab Larkyen zurück, „denn für gewöhnlich sitzen Kedanier darauf, und für einen Jungen wie dich können die Nordmänner den Tod bedeuten.“

Der junge Majunay begann Larkyen zu mustern.

„Verzeih, Herr!“ Der Junge mied es, ihm direkt in die Augen zu blicken. „Aber du bist Larkyen, der Beschützer Majunays, nicht wahr? Ich bin Arnyan.“

Ein älterer Majunay zog den Knaben zurück und sagte: „Herr! Der Junge wollte dich nicht belästigen. Wir haben dich erkannt und wissen, wer du bist. Der Junge hat zu viele Geschichten über dich gehört. Sei dir gewiss, dass uns die Begegnung mit dir eine hohe Ehre ist.“

Lange verbeugte sich der alte Mann, und der Knabe tat es ihm gleich.

„Bitte erhebt euch“, bat Larkyen.

„Pah“, schnaubte plötzlich eine tiefe Männerstimme. Ein hochgewachsener Kedanier mit langem blondem Haar schob den alten Mann beiseite. Der Nordmann war noch jung, doch die Narben in seinem bartlosen Gesicht zeugten von vielen Kämpfen. Auf seiner Stirn prangte eine rote Rune in Form eines Blitzes. Er ballte die rechte Hand zur Faust und schlug sich auf die Lederrüstung über seiner Brust.

„Eine Ehre ist es euch Schlitzaugen also?“ höhnte er. „Nun, auch mir wäre es eine Ehre, dir den Kopf abzuschlagen, Larkyen.“

„Was glaubst du, wer du bist?“, rief der alte Majunay aufgebracht, „Das ist kein einfacher Mensch, es ist ein Gott!“

Längst war die Aufmerksamkeit der Menge geweckt, und hunderte Augenpaare richteten sich nun auf Larkyen und den Kedanier.

„Ein Gott?“, rief der Kedanier. „Gott – so werden all jene genannt, die nicht sterblich sind und mächtigste Gaben besitzen. Ich bin Kverian, und ich sehe keinen Gott vor mir, sondern einen einfachen sterblichen Menschen, der sich mit fremdem Ruhm zu schmücken versucht. Kämpfe gegen mich, Larkyen, du Freund der elenden Schlitzaugen.“

Larkyen, der sich seiner Überlegenheit bewusst war, erwiderte beschwichtigend: „Ich bin nicht dein Feind, Kverian von den Kedaniern. Noch gelüstet mir danach, gegen dich zu kämpfen.“

„Feigling!“ brüllte der Kedanier und winkte weitere Nordmänner heran. Einer von ihnen packte den Knaben Arnyan und legte ihm die Hand um die Kehle.

Eine Majunayfrau drängte auf den Knaben zu und kreischte: „Lasst meinen Sohn!“

Ein bärtiger Nordmann stieß sie lachend zurück.

„Lasst ihn gehen“, bettelte der alte Majunay. „Er ist nur ein Junge. Er ist kein Gegner für euch.“

„Kämpfe“, forderte Kverian von Larkyen, „Kämpfe gegen mich, oder bei Nordar, der Hals dieses Jungen wird brechen wie ein Zweig. Und wenn dir das noch immer nicht reicht, so schwöre ich dir, dass ich mit meinen Männern die Gäste dieses Festes abschlachten werde wie Vieh.“

Der junge Arnyan war außerstande, sich aus dem festen Griff der großen Kedanierhände zu befreien. Hektisch rang er nach Luft, und in seinem Gesicht zeichnete sich Todesangst ab.

Larkyen hatte keine andere Wahl. Und der kedanische Hochmut hatte längst seinen Zorn geweckt.

Er stieg vom Pferd.

„Keine Klingen, keine Beile“, befahl er, „Ich will dich nicht töten. Nach dem Kampf lasst ihr den Jungen gehen und verschwindet von hier.“

Kverian grinste und nickte zufrieden, bevor er auf die Strohmatte zuging.

Larkyen legte Umhang und Schwert ab und folgte dem Kedanier.

Sie standen sich standen nun auf der Matte gegenüber. Auch der Kedanier entledigte sich der Lederrüstung. Die Muskeln auf seinem von Narben übersäten Körper waren gewaltig – nicht umsonst galten die Kedanier als das stärkste Volk der Welt.

Larkyen streifte sich das weiße Wollhemd ab und entblößte ebenfalls seinen Körper. Jeder Muskel war aufs äußerste gespannt und zeichnete sich unter seiner Haut ab. Auch wenn er bereits gegen Hunderte von Feinden gekämpft hatte, waren ihm dennoch keinerlei Narben geblieben, denn jede seiner Wunden heilte augenblicklich. Es sollte nicht lange dauern, bis sein Gegner begriff, dass er sich einem der gefährlichsten Geschöpfte der Welt gegenüberstehen sah.

Larkyen sprang mit einem weiten Satz auf Kverian zu und schleuderte den Hünen mit einer beinahe spielerischen Bewegung an den Rand der Matte.

In den Gesichtern der Zuschauer zeichnete sich blanke Fassungslosigkeit ab.

Kverian rappelte sich sofort wieder hoch. Er war ziemlich weit entfernt von seinem Gegner gelandet, doch schon stand Larkyen wieder bei ihm.

Der Unsterbliche packte Kverian mit beiden Händen an der Kehle und zerrte ihn auf die Beine. Larkyens Griff war von solcher Kraft, dass der Kedanier endlich die Überlegenheit seines Kontrahenten anerkannte. In der Natur gibt es immer jemanden, der stärker ist.

„Befiehl deinen Leuten, den Jungen sofort frei zu lassen“, knurrte Larkyen.

Larkyen lockerte seinen Griff, um dem Nordmann die nötige Luft zum Sprechen zu gewähren.

„Lasst ihn frei“, keuchte Kverian.


Der Knabe rannte zurück zu den Majunay und wurde von seiner Mutter mit einer Umarmung empfangen.

Larkyen ließ von Kverian ab.

Der Nordmann sank röchelnd auf die Knie. Erst jetzt bemerkte Larkyen, dass es seinem Gegner während des Kampfes gelungen war, ihm den Lederhandschuh abzustreifen. Nun starrte Kverian auf Larkyens Handrücken. Das Mal der schwarzen Sonne war entblößt und für alle ersichtlich.

„Dann bist du also wirklich der, von dem im Norden und Osten die Kunde geht“, keuchte Kverian. „Der Bezwinger von Boldar der Bestie, der einsame Vernichter einer Siedlung von großen Kriegern. Du bist kein Mensch, doch verehren will ich dich nicht. In manchen Teilen der Welt mag deine Rache gerecht sein, nicht aber in meiner Heimat.“

Nur unter Mühen gelang es Kverian, sich von der Matte zu erheben. In seinem Gesicht spiegelte sich Verachtung wider.

Es war der Knabe, der Larkyen Umhang und Schwert reichte. Erneut haftete der Blick des jungen Majunay an der in eine Lederscheide gehüllten Waffe. Die energievolle Präsenz des Schwertes Kaerelys ließ die Luft geradezu knistern.

Kverians Augen weiteten sich.

„Du trägst das Schwert Nordars“, stellte der Nordmann fest. „Der Kriegsgott schmiedete einst diese machtvolle Waffe für Boldar. Hältst du dich für würdig sie zu führen?“

„Du weißt viel, Kverian von den Kedaniern“, knurrte Larkyen, „Doch erkenne die Vorausbestimmung an, dass ich nun der Herr dieses Schwertes bin.“

„Solange, bis auch du vernichtet wirst“, zischte Kverian.

Der Kedanier kehrte Larkyen den Rücken und verschwand mit seinen Landsleuten in der Menschenmenge. Larkyen sah ihnen misstrauisch nach.


„Verfluchte Barbaren“, grummelte Yenovar, der sich um den Titel des Löwen von Kanochien verdient gemacht hatte.

„Herr, erlaube mir, dass ich mich dir nun vorstelle“, sprach der Majunay und seine Stimme bebte. „Ich bin Yenovar vom Stamm der Oyenki. Veteran der Reiter des schwarzen Drachen.“

Daraufhin verbeugte sich Yenovar tief vor Larkyen. Auch der Unsterbliche kam dem Brauch des Ostens nach.

„Herr, es wäre uns eine Ehre, wenn du uns in unser Lager begleiten würdest“, bat Yenovar und winkte einladend in Richtung einer Reihe von Jurten. „Es war immerhin der Sohn des Häuptlings, für den du diesen Kampf ausgetragen hast. Du sollst unser Gast sein.“

Larkyen konnte nicht ablehnen, allein schon weil er darauf brannte, Neuigkeiten aus dem Steppenland zu erfahren.

Er nahm sein Pferd an den Zügeln und folgte dem Majunay.

Schnatternde Rufe von Zhymaranern verfolgten sie, und Larkyen konnte nur erahnen, welche Flüche sie bargen. Doch war er sich auch gewiss, dass zumindest im Moment keine Gefahr mehr drohte.

Im Lager der Majunay sorgte Larkyens Besuch für große Aufregung. Schnell hatte sich herumgesprochen, wer ihr Gast war.

Larkyen war verwundert, einen ganzen Nomadenstamm abseits der Steppen Majunays vorzufinden. Selbst ihr Schamane kam aus seinem Zelt hervor und nickte dem Unsterblichen zu. Was mochte die Männer, Frauen und Kinder, die ihr ganzes Leben in der Steppe zugebracht hatten, dazu bewegt haben, bis nach Kanochien zu reisen?

Der Gewinn zweier großer Rubine, konnte kein Grund sein, denn die Nomaden machten sich nichts aus derartigen Besitztümern. In diesem Punkt aber sollte sich Larkyen irren.

Ein Mann im mittleren Alter, der ein prächtiges Bärenfell über seinen Trachten trug, trat Larkyen entgegen.

Yenovar stellte ihn als den Häuptling Beonay vor. Das Gesicht des Stammesoberhauptes war ernst, seine Stirn von vielen Sorgenfalten zerfurcht.

„Danke“, war das erste, was der Häuptling zu Larkyen sagte. „Danke, dass du meinen Sohn Arnyan vor den Nordmännern gerettet hast.“

„Ich helfe, wann immer ich helfen kann.“

„In Zeiten wie diesen kommst du also zu uns. Der Schamane hat dein Kommen bereits vorhergesehen.“

Während Larkyens Pferd versorgt wurde, setzte er sich zusammen mit Angehörigen des Stammes um ein Lagerfeuer.

„Diese Zeit ist von einem großen Wandel geprägt“, fuhr der Häuptling fort, „Das Jahr des Drachen ist zu Ende, und das Jahr des Wolfes hat begonnen. Es wird ein schweres Jahr für den Stamm der Oyenki und auch für viele andere Stämme werden. Seitdem du, Larkyen, die nordischen Horden zurückgeschlagen hast und Majunay den Frieden wiederbrachtest, hofften wir alle auf eine bessere Zukunft. Doch wir sollten uns irren. Unsere Heimat ist im Begriff, sich zu verändern. General Sandokar hat sich selbst zum Großfürsten des Landes ernannt und lässt seine Truppen aufstocken. Der Großfürst will ein starkes Majunay, zu dessen Sicherheit und Wehrhaftigkeit jeder seinen Beitrag leisten soll. Er hat eine Wehrpflicht eingeführt, die jeden Mann im Alter von fünfzehn bis fünfunddreißig auferlegt, seinem Land als Soldat zu dienen.

Es gibt jedoch die Möglichkeit, sich von dieser Pflicht freizukaufen. Deshalb ist der Stamm der Oyenki nach Kanochien gekommen. Wir ließen Yenovar, der vor langer Zeit zu Sandokars Reitern gehörte, am Wettstreit um den Löwen von Kanochien teilnehmen. Morgen früh wird Yenovar seinen Preis, die Augen des Löwen, in Empfang nehmen. Dann können wir mit den beiden Rubinen zurück in unsere Heimat und unseren gesamten Stamm über Generationen hinweg vor der Wehrpflicht bewahren.“

Larkyen konnte kaum glauben, was er da hörte. Seit jeher war Majunay die Heimat der Nomadenstämme gewesen, die in Freiheit und Frieden durch die fast endlosen Weiten der Steppe zogen. Doch die Weisungen aus Dakkai, der einzigen Großstadt des Landes, würden das Gesicht dieser außergewöhnlichen Kultur verändern.

Ein Teil von Larkyen würde diesen Wandel bedauern, ein anderer Teil von ihm jedoch begrüßte die wachsende Wehrhaftigkeit des Landes. Mit Völkern verhielt es sich wie mit den Lebewesen in der Natur – jedes von ihnen wurde mit einem Überlebenstrieb geboren, und zu diesem Trieb gehörte auch die Fähigkeit, sich härteren Zeiten anzupassen.

„Yenovar!“ rief es plötzlich aus der Ferne. Ein Majunay in einem weißgrauen Schafsfellmantel kam zum Feuer gerannt. In seinem Gesicht zeichnete sich Besorgnis ab. Außer Atem stützte er die Hände auf seine Knie.

Yenovar erhob sich vom Feuer und legte dem Neuankömmling beruhigend eine Hand auf die Schulter.

„Was ist geschehen?“ fragte er.

„Yenovar“, keuchte der Majunay, „wie du es mir aufgetragen hast, beobachtete ich das Lager der Zhymaraner. Sieben von ihnen sind zum Lager der Kedanier aufgebrochen und wurden von Kverian empfangen. Ich bin ihnen unauffällig gefolgt. Ich glaube sie führen etwas im Schilde.“

„Einer Zusammenkunft von Kedaniern und Zhymaranern haftet stets etwas Unheilvolles an“, sagte der Häuptling der Oyenki. „Doch wir sollten keine voreiligen Schlüsse ziehen.“

„Trotzdem bin ich in Sorge, mein Häuptling“, sagte Yenovar, „Denn noch immer hassen sie unser Volk. Noch immer streben sie nach einem Krieg gegen jeden einzelnen Majunay. Früher oder später werden sie uns angreifen.“

Im faltigen Gesicht des Häuptlings spiegelte sich Skepsis wieder. „Sie mögen kriegerisch sein, doch Kanochien ist neutraler Boden. Und die Zhymaraner hingegen wurden das erste Mal zum Fest geladen. Denkst du nicht auch, dass sie den Frieden wahren?“

„Die Fehden zwischen unseren Völkern sind schon zu alt und die Narben zu tief, als das es noch möglich wäre, Frieden zu schließen. Völlig egal, wer unseren Stamm angreift, wir haben ihnen nichts entgegenzusetzen. Ich bin der Einzige unter den Oyenki, der zum Kampf ausgebildet wurde, und ich kann nicht einen ganzen Stamm beschützen.“

„Sie werden euch nicht angreifen, solange ich in eurer Nähe bin“, sagte Larkyen. „Morgen, nach der Übergabe der Augen des Löwen, reist ihr zurück in eure Heimat. Ich begleite euch bis an die Grenzen Majunays, und sie werden es nicht wagen, die Grenze eurer Heimat zu passieren. Doch für die Zukunft rate ich euch: Erlernt den Umgang mit der Waffe. Seid fähig, für euch zu kämpfen und zu töten.“

„Wir Nomaden sind keine Krieger“, seufzte der Häuptling.

„Dennoch könnt ihr nicht Zeit eures Lebens auf die Hilfe der Götter vertrauen. Denn auch die Götter sind Fleisch und Blut und können nicht an jedem Ort der Welt zugleich sein. Darum beschwöre ich euch: Lernt euch zu verteidigen, oder ihr werdet untergehen. Diese Zeit duldet keine Schwachen.“

Larkyens Worte klangen hart, aber wahr. Er wünschte dem Stamm der Oyenki, dass seine Männer, Frauen und Kinder von der Erfahrung verschont blieben, die Larkyen machen musste, ehe er als Unsterblicher vom Tode auferstanden war.

„Da ist noch etwas Merkwürdiges“, sagte Yenovar und zog sämtliche Blicke auf sich. „Die rote Blitzrune auf Kverians Stirn weist ihn als einen Kriegsschamanen aus. So nennt man jene Kedanier, die den Pfad des Kriegers und des Schamanen in sich vereinen. Dennoch, im Zweikampf hätte ein Mann wie er selbst jemanden mit deiner Macht bis zu seinem eigenen Tod bekämpft. Und dass er sich nach einer öffentlichen Niederlage einfach so zurückzieht, sieht ihm nicht ähnlich.“

Nun erhob sich Larkyen vom Feuer und verkündete: „Wenn die Nacht hereinbricht, werde ich herausfinden, was im Lager der Kedanier geschieht und ob euch Gefahr droht.“

Keiner vom Stamm der Oyenki wagte es, Larkyens Plan als leichtsinnig oder gar größenwahnsinnig zu bezeichnen. Für sie war er ein Gott. Die Krieger des Nordens würden seine Anwesenheit gar nicht bemerken, denn ihre Sinne waren die von Menschen.

Der Gott des Krieges

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