Читать книгу Franz Fühmann. Wandlung ohne Ende - Uwe Wittstock - Страница 6
ОглавлениеFranz Fühmann ist im Märchen aufgewachsen. Sein böhmischer Geburtsort Rochlitz, heute Rokytnice nad Jizerou, liegt an einem schmalen Nebenfluss der Iser unweit der damals tschechisch-deutschen, jetzt tschechisch-polnischen Grenze. Schon in seinen Kindertagen war das in eine Talnische des Riesengebirges gedrängte Städtchen keine ländliche, weltentrückte Idylle mehr: Es gab eine kleine Textilfabrik, schäbige Mietshäuser für die Arbeiter und auf den Straßen verkehrten die ersten Autos. Dennoch verschmolzen – wie seine autobiographischen Erzählungen bezeugen – der Ort und die Landschaft für den jungen Franz Fühmann mit dem Reich der Sagen und Legenden zu einem unteilbaren Ganzen. Er lebte nicht nur mit den Märchen, er lebte in ihnen.
Die Geschichten, die ihm zugetragen wurden, die er spielend selbst erfand oder die er verschlang, sobald er lesen konnte, überlagerten seine Wahrnehmungen. Begabt mit einer regen Einbildungskraft, verwandelte sich für ihn die Landschaft Böhmens mit ihren dichten Wäldern und versteckten kleinen Seen, mit ihren unzugänglichen Bergwiesen und abgelegenen Lichtungen in ein geheimnisvolles Land voller phantastischer Geschehnisse: „Ich komme ja aus einer Landschaft her“, erinnerte er sich einmal, „wo die Märchen einfach zu Hause sind. Das ist in so einem Gebirgstal im Riesengebirge, wo man jeden Winter einschneite, wo man sich in jedem Winter aus den Schneemassen herausgraben musste, und wo es Felshöhlen gab und Schluchten und Quellen und Grotten, und da lebte eben Rübezahl, und da gab es eben Gnome und Feen und Gespenster so wie Bäume und Steine. Mit den Märchen bin ich aufgewachsen, mit Grimm und Bechstein und Andersen. Das waren für mich ganz selbstverständliche Realitäten gewesen, ganz unmittelbarer Alltag […].“1
Als der erwachsene Fühmann nach über zwei Jahrzehnten Abwesenheit zum ersten Mal wagte, den Ort Rochlitz und seine Umgebung wieder zu besuchen, holte den inzwischen gut vierzigjährigen Schriftsteller die Erinnerung an jene Märchenwelt seiner Kindheit mit Macht ein: „Auf einem Hügelchen unten im Tal ein winziges Wäldchen wie ein verirrter Igel: Der Märchenurwald meiner Kindheit. Dort die tapferste Tat meines Lebens: Allein abends am Hexenhaus vorbei“, notierte er während seiner Stippvisite in der eigenen Vergangenheit. „Der schmutzig-weiße Fabrikleib rechts mit dem schmutzig-roten Helm und der gedrungene schmutzig-weiße Leib der Kirche links mit dem spitzen schmutzig-grauen Dach […] und darüber der Hexenwald und darüber das Grillengeschrei: Genau das ist das Dorf meiner Kindheit […]. Es gab als gesicherten geographischen Besitz nur das alltäglich begangene Tal mit dem Bach und der Straße […] und fern am Horizont die beiden Koppen des beginnenden sagenhaften Rübezahlreiches, alles andere war schwarzer, finsterer, unbetretbarer, grauenvoller Wald, dem ununterscheidbare, hundertfach ineinandergeschachtelte Hänge und Halden entstürzten, Wesen, ungreifbarer als Wassermänner […].“2
Mit den letzten Sätzen klingt allerdings auch an, dass es in Fühmanns Kinderreich keineswegs so friedlich und heiter zuging, wie es der Begriff Märchen zunächst anzudeuten scheint. Die Geschichten, die das Bewusstsein des Jungen damals prägten, waren bevölkert von Zwergen und Zauberern, Räubern und Kobolden, Geistern und Dämonen. Nicht so sehr das Happy-End der Märchen mit der am Schluss wieder hergestellten Harmonie der heilen Welt hielt seine Imagination gefangen, sondern die zuvor ausgebreiteten Bilder der Schrecken und der Untaten wirkten nach. Die Natur erschien beseelt, und nur die wenigsten dieser überall versteckten Geschöpfe waren ihm freundlich gesonnen. Er fühlte sich umgeben von den seltsamsten Gefahren, die er wiederum nur durch die seltsamsten Gegenmittel abwehren konnte. So erzählte Fühmann einmal von seinen „grauendurchzuckten, wahnsinnigen Fluchten vor Kreuzottern“. Als Kind glaubte er sich oft von den Schlangen verfolgt und versuchte ihnen in „Zickzacksprüngen“ zu entkommen – „denen konnten sie nämlich nicht folgen, da sie sich ja in den eigenen Schwanz bissen und also gleich Reifen die Hänge herunterrollen ließen“.3
Nach einer heiteren, unbeschwerten Jugend klingt das nicht. Bezeichnenderweise spricht Fühmann gegen Ende jener Notizen über seine ebenso späte wie kurze Rückkehr nach Rochlitz von einem „siedenden Ausbruch der Angst deiner Kindertage“.4 Ein auf den ersten Blick überraschendes Eingeständnis, wenn man bedenkt, dass Fühmann als der älteste Spross einer wohlhabenden Familie keineswegs in materiell bedrängten Verhältnissen heranwuchs. Vielmehr lebten die Eltern in einem der stattlichsten Häuser des Ortes und pflegten einen gutbürgerlichen Lebensstil: der Vater, Apotheker und Inhaber einer kleinen pharmazeutischen Fabrik, zählte zu den respektierten Honoratioren, er unternahm – zu einer Zeit, als das noch nicht allgemein üblich war – mit Frau und Kindern Urlaubsreisen an den Königssee, nach Salzburg oder an die Adria und konnte es sich leisten, den einzigen Sohn auf das kostspielige Jesuitenkonvikt Kalksburg bei Wien, eine traditionsreiche österreichische Eliteschule, zu schicken.
Doch die Ursachen für Fühmanns Kindheitsängste werden, betrachtet man seine autobiographischen Aufzeichnungen genauer, rasch verständlicher. Es ist kaum zu übersehen, dass die Familie das Bild eines harmonischen Zusammenlebens nur notdürftig und der kleinstädtischen Umwelt zuliebe aufrecht erhielt. Hinter dieser Fassade verbargen sich verheerende Spannungen. Die Eltern hatten sich offenbar weitgehend auseinandergelebt und scheuten nicht davor zurück, in ihrem täglichen Kleinkrieg den Sohn und die jüngere Tochter als Druckmittel zu missbrauchen. Sie bereiteten Fühmann so, wie er einmal mit einem Abstand von rund fünf Jahrzehnten feststellte, eine „Kindheit in der Hölle, über die Vater und Mutter herrschten, unablässig einander zerfleischend, unablässig einander Schmerzen auspressend, unablässig uns Kinder als Schild vor sich tragend“.5
Vor allem der Vater erscheint in Fühmanns Erzählungen über die eigene Jugend (oder die eines Alter Ego) fast immer als ein unerreichbar ferner, egozentrischer und gefühlskalter Mann, der an die Leistungen seines Sohnes die höchsten Ansprüche stellt. Auch die Mutter tritt nicht als zärtliche Beschützerin oder auch nur Vertraute des Kindes auf, sondern als ein streitsüchtiger, bigotter Hausdrachen. Nie ist in diesen Geschichten von Geborgenheit oder selbstverständlicher familiärer Zusammengehörigkeit die Rede. Keiner der Erwachsenen nimmt Rücksicht auf die Gefühle des Jungen, niemand geht auf ihn ein oder beschäftigt sich länger mit ihm, als dies für zwei, drei Befehlssätze notwendig ist. Fühmanns kindlicher Held macht daher oft einen einsamen, isolierten Eindruck: Er spielt allein, hat offenbar kaum Freunde und lebt umstellt von Anweisungen oder Verboten, die mit drakonischen Strafen durchgesetzt werden. Die Anerkennung seiner Eltern muss er sich durch Willfährigkeit und schulische Erfolge regelrecht erkämpfen. Er lernt auf diese Weise frühzeitig, die eigenen Bedürfnisse und Neigungen zu unterdrücken, sich selbst – oder zumindest das Bild, das er von sich erweckt – nach den Ansprüchen der Außenwelt zu formen. Gefragt ist, darüber wird sich der Junge bald schon klar, ein starker, mutiger, kluger Sohn, der allerdings die Meinungen von Vater oder Mutter jederzeit kritiklos übernehmen und der ihren Wünschen ohne Widerspruch folgen soll. Jeder Einspruch oder gar Widerstand gegen die Entscheidungen einer Autoritätsperson wird nicht als Ausdruck der kindlichen Individualität, sondern als der Beleg für einen bedenklichen Charakterfehler betrachtet und wie ein Vergehen geahndet.
Welche Konsequenzen diese Jugend für den späteren politischen Werdegang Fühmanns zeitigte, ist nur zu offensichtlich. Die Erziehung, die er durchlebt hatte, zielte nicht darauf, seine Persönlichkeit zur Selbstständigkeit zu formen, sondern sie gefügig zu machen. Und er brauchte lange, um die Spuren, die jene Zeit in seinem Verhalten hinterlassen hatte, auch nur zu erkennen, geschweige denn zu überwinden: Während der nationalsozialistischen Herrschaft und ebenso während der ersten Jahre in der DDR erwies er sich geradezu als Paradebeispiel einer autoritären Persönlichkeit. Er war allzu rasch bereit, Meinungen zu übernehmen, sich den Ansprüchen der Außenwelt zu fügen und seine eigenen Empfindungen oder Wünsche beiseitezuschieben. Wie er es in seiner Kindheit gelernt hatte, versuchte er Anerkennung durch Verzicht auf die eigenen Bedürfnisse, durch Unterwürfigkeit und Gehorsam zu erwerben. Zweifel an staatlichen Autoritäten offen zu äußern war seine Sache nicht. Immer wieder stellte er sich bis an die Grenze der Selbstverleugnung in den Dienst der jeweiligen öffentlichen Sache, über deren Wert oder Unwert er freilich nicht zu urteilen, ja noch nicht einmal gründlich nachzudenken wagte.
So detailliert und anschaulich Fühmann diesen Prozess der Zurichtung eines Kindes zum Untertanen auch schildert – seine Erzählungen bleiben dennoch erstaunlich zurückhaltend. Die Leidensgeschichte des Jungen wird distanziert wie hinter einer Glasscheibe vorgeführt. Man beobachtet ein brillant kalkuliertes Lehrstück: Ganz selten nur werden der kindlichen Hauptfigur aufwühlende Worte des Schmerzes oder der Sehnsucht gestattet. Wie sehr sie unter dem Mangel an Zuneigung und Anteilnahme leidet, bleibt fast unausgesprochen, denn was sie niemals kennenlernte, kann sie naturgemäß auch nur schwer benennen. Geborgenheit und Elternliebe bilden mithin so etwas wie schmale, aber abgründige Leerstellen in diesen Erzählungen. Der Autor appelliert an den Verstand des Lesers und nicht allein an dessen Mitgefühl. Er will erklären und nicht sich beklagen. Seine Geschichten ähneln eher einer Analyse als der Abrechnung mit einer verpfuschten Kindheit.
Mehr noch: Fühmann spricht sein Alter Ego – ohne Rücksicht auf dessen Alter – keineswegs von jeder aktiven Beteiligung am eigenen Schicksal frei. Er drängt den Knaben nicht in die Rolle eines willenlosen Opfers. Seine distanzierende Erzählweise hebt vielmehr die indirekte Mitwirkung des Kindes hervor. Die Verantwortung für seine Entwicklung und seinen späteren Lebensweg wird somit nicht ganz und gar auf die Eltern mit ihren brachialen Erziehungsmethoden abgeschoben. Selbstmitleid, und sei es nur in schüchternen Ansätzen, war Fühmann verhasst. Im Zweifelsfall ist er mit sich lieber zu streng als zu sanftmütig ins Gericht gegangen, auch wenn er auf diese Weise viel von den psychischen Nöten seiner Jugend verschwiegen oder bagatellisiert hat. In dieser Härte, mit der sich Fühmann zeitlebens selbst behandelte, machen sich wohl noch die Spätfolgen jenes Drills bemerkbar, dem er in seinen frühen Jahren ausgesetzt war.
Wie es um das Seelenleben des Kindes wirklich bestellt war, lässt sich vielleicht an einer scheinbar objektiven, unpersönlichen Bemerkung Fühmanns ablesen: „Immer / hat der Held Angst“,6 heißt es in einem seiner Gedichte, das vorgibt, von der Weisheit der Märchen zu handeln. Die Zeile ist verräterisch. Denn die wahren Märchenhelden sind in der Regel alles andere als furchtsam. Fühmann hat hier ganz offenbar unbewusst die eigenen Empfindungen auf jene sagenhaften Gestalten projiziert, die ihn in seiner Kindheit so treulich begleiteten. Jahre später hat er diesen psychischen Mechanismus selbst beschrieben: „Es ist höchste Zeit, daß ich einen Satz berichtige: ‚Immer hat der Held Angst‘. Er steht in einem meiner Märchengedichte, und ich habe hier einen Zug eines rumänischen Drachenkampfmärchens unzulässig verallgemeinert … Dieser Zug hatte mich überwältigt; er war eben das, was ich im Märchen suchte, und ich habe, ihn aufgreifend, gehofft, daß er sich in andern Märchen bestätigen würde. Er konnte es nicht; im Märchen haben die Helden sonst eben nie Angst […]“.7
Diese allgegenwärtige Angst, dieses Gefühl, ungeschützt und bedroht zu sein, dürfte Fühmanns anerzogenen Mangel an innerer Unabhängigkeit verstärkt haben. Immer wieder suchte er Zuflucht und Orientierung bei den anerkannten gesellschaftlichen Autoritäten. Die erste Station auf jenem langen Weg der Unselbstständigkeit war die Kirche. Aufgewachsen unter dem Einfluss der Mutter, einer inbrünstigen Katholikin, entwickelte er eine einfältige, kindliche Gläubigkeit, die jenen „frommen Legenden“ entsprach, „wie sie mir meine Mutter erzählt, Legenden, die Ur-Vertrautes sagten, das mit dem Wahren zusammenfiel: Geborgensein in Sinn und Ordnung, Gerechtigkeit von Lohn und Strafe, das Vernünftig-Schöne des Guten und die Abscheulichkeit des Bösen, das immer von irgendwo außen kam“.8
Kein Wunder also, dass er es schließlich als Auszeichnung empfand, nach der Grundschulzeit von dem Kalksburger Jesuitenkonvikt aufgenommen zu werden. Die vier Jahre, die er dort verbrachte, sind nicht ohne Folgen für sein Denken und seine literarische Arbeit geblieben, wie sich an seinen Nacherzählungen alttestamentarischer Mythen und auch an seinem Essay über Meine Bibel ablesen lässt. Doch das strenge Reglement des Internats zeitigte bei dem Zögling Franz ganz andere als die erwünschten Folgen: „Als naiv-frommes, tiefreligiöses, gottesfürchtiges Kind bin ich da hineingegangen, und als überzeugter Atheist bin ich nach vier Jahren von dort weggelaufen.“9
Diese Erinnerung Fühmanns ist durch die historisch überprüfbaren Fakten nicht ganz gedeckt. Nach den Unterlagen des Konvikts kehrte er „nach Weihnachten 1935 nicht mehr zurück“ in das Internat, wie sein Biograf Gunnar Decker feststellte.10 Vermutlich wurde er vom Vater aus finanziellen Gründen abgemeldet, ist also nicht aus der Schule geflohen, sondern von den Eltern auf ein anderes Internat in Reichenberg, heute Liberec, geschickt worden.
Zurückgekehrt in seine Heimat, schloss sich Fühmann – sicherlich mit dem Beifall seines Vaters – einer Jugendorganisation der faschistischen Sudetendeutschen Partei an, die den harmlos klingenden Namen Deutscher Turnverein trug. Später dann, nach der Besetzung des Sudetenlandes durch das Deutsche Reich 1938, trat er mit nur 16 Jahren in den Reitersturm der SA ein und besuchte das Gymnasium fortan in „Stiefeln und Braunhemd“.11 Die Eile, mit der er das christliche Weltbild gegen das nationalsozialistische eintauschte, lässt erkennen, wie schwer es ihm damals gefallen sein muss, ohne einen straff geordneten Orientierungsrahmen, ohne eine ideologische Führerfigur auszukommen. Während er zu dieser Zeit – wie mitunter in den Kindheitsgeschichten anklingt – beträchtliche soziale oder sogar rassische Arroganz an den Tag legte, war und blieb es um sein persönliches Selbstbewusstsein schlecht bestellt. Erst die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, einer Glaubensgemeinschaft, verlieh ihm das notwendige Maß psychischer Sicherheit – eine Anhängigkeit, die ihn zum Opfer politischer Demagogen prädestinierte.
Doch der wichtigste Fluchtort, an dem er während seiner Jugend Schutz fand, blieb die Literatur. Waren es zu Anfang die Märchen, in die er sich rettete und die seinen noch unbegriffenen Ängsten zumindest Namen und Gestalt gaben, so versank er später mit Vorliebe in biblischen, genauer: alttestamentarischen Geschichten. Vor allem die mit Holzschnitten ausgestattete Bilderbibel des Julius Schnorr von Carolsfeld hatte es ihm angetan. Angesichts dieser Illustrationen und den mit ihnen verbundenen Geschichten verschwammen für den jungen Fühmann wieder die Grenzen zwischen Phantasie und Realität: „Es war ein wunderliches Bild: Das Feld, das sich den Hang hinanhob, lag doch in meinem Heimatdorf, die reife Gerste kornblumendurchwachsen, leuchtender Mohn, grüne Ackerwinde, und auch die junge Frau am Wegrand, hochaufgerichtet, Ähren in Händen, war irgendeine der Bauernmädchen, die mir alltäglich begegneten, in Sandalen und Rock und geraffter Schürze, und hier mit einem Trachtenhut auf dem Haar; die beiden Burschen, die müde ins Feld hinein mähten, waren meine Schulgefährten, und tief im Hintergrund sah ich mich selbst, ins langsam sinkende Abendrot weisend: Dort, hinterm Hang, nah den beiden Linden, hatte ich unlängst ein Schlangennest entdeckt.“12
Offenbar hatten die Märchen für den inzwischen älter gewordenen Jungen ihre entlastende, angstableitende Wirkung allmählich eingebüßt. Einen Ersatz zu finden, war nicht leicht: die Kulissen der antiken Mythen, die Fühmann in den Nacherzählungen Gustav Schwabs kennenlernte, blieben ihm zu fremd, als dass er sie mit seiner Umwelt hätte vereinigen können. Die biblischen Szenen dagegen waren seiner ländlich-böhmischen Wirklichkeit näher und konnten ihm deshalb noch einmal jene imaginative Freistatt sein, die er so dringend brauchte: „Sie brachten ein erregend Neues: das Geheimnis, das aus dem Alltag wuchs. Es war, bei all seiner Süße, phantastischer als jedes Phantasiereich, dahin mich Schwab und Grimm entführten –: die ährenlesende Ruth etwa, was geschah, da sie im reifen Korn stand, die junge Frau vor dem jungen Mann? – Bei Grimm war solch ein Zusammentreffen stets die Begegnung von Alltags- und Märchengestalt, hier waren sie nichts als ein junger Mann, der einer jungen Frau begegnet, und doch fabelhafter als Aschenputtel und König, und zauberischer als Köhlerknabe und Elfe […]. Wenn Herakles mit dem Löwen rang, spielte dies in einer fernen Landschaft und einer entschwundenen Epoche, die beide zwar in mein Träumen einzogen, doch nie in meine äußere Welt; das Ringen Simsons mit dem Löwen hingegen hätte ich nicht nur lokalisieren können (dahin, wo es zwischen Gärtnerei und Kirche den Hang der ‚Sommerseite‘ hinaufging, auch wenn dort keine Buchen aus dem Felsboden ragten und kein Raubtier brüllend den Bach entlangstrich); es war ein Kampf, der auch mir einst bevorstand –: Herakles oder Theseus spielte ich; Simson, das wußte ich, würde ich sein, und zwar in ganz wortwörtlicher Weise: Ein Löwe kommt aus dem Zirkus frei und lauert blutrünstig hinter den Häusern, und ich würde den Kampf bestehn.“13
Bemerkenswert ist hier nicht so sehr, dass der Junge – wie schon in seiner Märchenwelt – stets in die Rolle des Helden schlüpft, denn in Tagträumen sehen sich Kinder wohl üblicherweise gern als strahlenden Sieger. Aufschlussreich erscheint vielmehr, mit welcher Selbstverständlichkeit er auch die absurdesten Gefahren, von denen er hört oder liest, sogleich in seine unmittelbare Umgebung verlegt. Immerzu herrscht eine kriegerische Atmosphäre in seinem Phantasiereich, werden dort blutige Duelle oder ganze Schlachten ausgetragen. So ist es vielleicht kein Zufall, dass er auch in der Bibel zuerst die Apokalypse des Johannes las, und dass die vier apokalyptischen Reiter für ihn zu Nothelfern wurden, die er anrief wie andere Gläubige die Schutzheiligen, um „ein Unrecht zu tilgen, dem ich erlag: sie würden meine Ohnmacht rächen.“14
Da Fühmann vor den Nöten seiner Jugend immer wieder in literarische Gefilde auswich, in die Märchen, Sagen und Legenden, überraschte es eigentlich kaum noch, dass er auch schon in frühester Jugend eigene Texte zu Papier brachte: Bereits als Sechsjähriger – so erinnerte er sich in einem Interview –, also gleich nachdem er das Alphabet erlernt hatte, begann er Gedichte zu schreiben. In diesem Alter sprudelte die lyrische Quelle verständlicherweise vollkommen unkontrolliert und naiv. An Veröffentlichung dachte er nicht und maß sich zunächst wohl auch nie an irgendwelchen poetischen Vorbildern. Seine Produktivität dürfte sich eher aus dem Bedürfnis nach einem Ausdruckmittel für seine seelischen Bedrängnisse gespeist haben. Poesie als Selbsttherapie – das blieb noch lange der bestimmende, aber unreflektierte Antrieb für seine literarische Arbeit: Selbst im sowjetischen Kriegsgefangenlager, als er nicht einmal die Möglichkeit hatte, die auf einer Schindel eingeritzten Verse aufzubewahren, schrieb er tagtäglich und löschte seine Zeilen am nächsten Morgen wieder aus, um sie durch neue ersetzen zu können. „Vor 1945 habe ich ununterbrochen geschrieben“, bekannte er später, „ich habe, jeden Tag, ganz wahllos geschrieben, es war für mich eine Existenzfunktion, wie das vielberufene Zwitschern des Vogels in den Zweigen. Ich hätte nicht leben können, ohne zu schreiben, schrieb auch nach den ärgsten Strapazen […].“15 Der Vater war es schließlich, der die Gedichte seines Sohnes Zeitungen und Verlagen zur Publikation anbot. Einige wenige wurden gedruckt – unter anderem während des Zweiten Weltkriegs in der nationalsozialistischen Wochenzeitung Das Reich –, fast alle anderen gingen verloren.
Fühmann sagte sehr viel später einmal, man könne seinen Werdegang „natürlich auch – das auch möchte ich unterstreichen – eine Kette von Fluchten“16 nennen. Die Geborgenheit und innere Ruhe, die ihm in seiner Kindheit vorenthalten blieben, fehlten ihm zeitlebens. Er wurde umhergetrieben auf der Suche nach jener Heimat, in der, wie Ernst Bloch schrieb, noch niemand war, die aber allen in der Kindheit scheine. Auch Fühmann muss in frühester Jugend etwas von ihr geahnt haben, doch fühlte er sich allzu bald schmerzhaft aus ihrer Nähe vertrieben. An den Anfang und den Schluss seines Prosabandes Das Judenauto (1962), in dem er das erste Mal die eigene Biographie mit literarischen Mitteln durchforschte, stellte er eine vage, aber unabweisbare Erinnerung: „Ein warmes Grün, das ist in meinem Gedächtnis wohl das früheste Bild: das Grün eines Kachelofens, um dessen oberes Bord sich das Relief eines Zigeunerlagers gezogen haben soll, doch das weiß ich nur noch aus den Erzählungen meiner Mutter, keine Anstrengung des Hirns bringt mir dies Bild zurück. Das Grün aber habe ich behalten: ein warmes Weinflaschengrün mit stumpfem Glanz […].“17
Dieses anheimelnde Grün, dass er als „zweijähriger Knirps“ vor dem Ofen wahrnahm, wurde für Fühmann zum Symbol eines glücklichen, angstfreien Lebens in einer noch unversehrten Kinderwelt. Die Erfahrung jenes Augenblicks hatte sich in sein Bewusstsein eingeprägt und ließ ihn – auch in seinen Büchern – nicht mehr los: „[…] vielleicht ist es so, daß der Mensch sein Leben lang auf dem Weg zu dem Wesen ist, das er sein könnte, und das er vielleicht zum ersten Mal mit den staunenden Augen des Kinds im spiegelnden Grün des Kachelofens gesehen“.18