Читать книгу Chaosköniginnen - Valentina Brüning - Страница 10
ABSERVIERT
ОглавлениеSo schnell sie ihre Füße tragen, hastet Fritzi das Treppenhaus hinunter und auf den Hof. Endlich draußen schnappt sie nach Luft. In dieser Klasse bleibt sie keinen Tag länger! Keine Schulstunde länger! Vor lauter Empörung quellen heiße Tränen aus ihren Augen und laufen ihr über die Wangen. In ihrem Kopf herrscht das reinste Chaos. Ohne genau zu wissen, warum, wird sie von ihren Füßen zum Haupthaus getragen. Auf der Wiese neben dem Eingang sitzt Herr Renneberg mit seiner Französischklasse im gemütlichen Kreis. Sie sprechen erste französische Worte im Chor: »Bon-jour.«
Fritzi fängt Lous Blick auf, die schaut peinlich berührt in die andere Richtung. Eine beste Freundin wäre jetzt herbeigeeilt, oder nicht? Fritzi wischt sich die Tränen von den Wangen und schlüpft durch die schwere Tür des Haupthauses.
Ihre Füße haben es so eilig, sie kommt selbst kaum mit, bis sie endlich vor dem Büro der Schulleiterin haltmachen. Ohne zu klopfen, geschweige denn auf ein »Herein« zu warten, stürmt Fritzi völlig außer Atem das Büro von Frau Doktor Fleck. Die Schulleiterin setzt ihre Lesebrille ab und schaut Fritzi besorgt an.
Wenig später hält Fritzi eine dampfende Tasse Tee in der Hand und erzählt: »Aber als ich in der Aula heute Morgen nicht aufgerufen wurde, hab ich mich gewundert. War ja nur noch die Lateinklasse übrig, dabei hab ich doch Französisch gewählt, verstehen Sie? Spanisch wäre auch okay für mich, aber Latein geht gar nicht.«
Frau Doktor Fleck verzieht keine Miene. Ihre grauen Haare passen perfekt zu ihrem maßgeschneiderten hellgrauen Tweed-Kostüm. Sie hört aufmerksam zu, dann greift sie zum Telefonhörer. »Frau Ritter-Kurzberger, würden Sie mir bitte den Fremdsprachen-Wahlzettel von Fritzi Winter rübermailen? Ja, danke.«
Fritzi schluckt. Diesen blöden Wahlzettel hat sie total vergessen. Wer ahnt denn, dass die Schule so was aufhebt?!
»Also ich habe hier nur einen Zettel, auf dem du Latein angekreuzt hast«, stellt Frau Doktor Fleck mit Bedauern fest.
»Das muss der erste Zettel sein, ich hatte ja zuerst Latein gewählt, und dann hat meine Mutter noch mal Bescheid gesagt, dass ich doch Französisch nehmen will.«
»Hm«, die Direktorin klickt sich durch Dateien auf ihrem Computer und wendet sich dann wieder Fritzi zu: »Über einen zweiten Zettel kann ich hier nichts finden. War das in den Ferien?«
»Nein.« Fritzi versagt fast die Stimme beim Lügen. »Ein paar Tage vor den Ferien«, flüstert sie.
Frau Doktor Fleck schaut nochmals auf ihren Computer, bevor sie antwortet: »Tut mir leid, Fritzi, ich finde hier keinen Vermerk. So kann ich keine Ausnahme machen. Es sei denn …«, sie zögert.
»Es sei denn – was?«
»Die anderen Klassen sind voll. Wenn du allerdings einen Schüler oder eine Schülerin zum Tauschen findest, könntest du wechseln.«
»Na klasse.«
»Wie bitte?«
»Sie meinen, wenn ich jemanden finde, der jetzt noch in die Lateinklasse wechseln will, können wir tauschen?«
Die Direktorin nickt.
»Aber das ist doch aussichtslos.«
Frau Doktor Fleck zuckt bedauernd mit den Schultern. »Mir sind hier die Hände gebunden.«
Fritzi setzt zu einem letzten Versuch an. »Bitte, stecken Sie mich in eine andere Klasse, völlig egal, welche. Niemand wird merken, dass ich da bin. Bitte!«
»Tut mir leid, Fritzi.«
Fritzi schlurft die Treppe hinunter und hat es plötzlich gar nicht mehr eilig. Hätte Frau Doktor Fleck nicht einfach mal ein Auge zudrücken können? Sie späht durch die Glastür des Hauptgebäudes hinaus auf den Hof und hat wenig Lust, erneut an Lou und ihrer Französischklasse vorbeizulaufen. Also wartet sie, dass es zur großen Pause klingelt, und beobachtet so lange alles aus der Ferne. Herr Renneberg ist schon seit Jahren ihr Lieblingslehrer, er unterrichtet auch Sport, Fritzis bestes Fach. Klar, in Kunst und Englisch ist sie auch gut, aber Sport ist einfach das Beste! Ob sie auch weiterhin Sport bei ihm hat?
Mit dem Klingeln füllt sich der ganze Hof mit Schülern. Fritzi verlässt das Gebäude. Lou steht gerade aus dem Gras auf. Ob sie zu ihr hinübergehen soll? Sie hat so viele Fragen, will wissen, was eigentlich passiert ist. Vielleicht ist jetzt der richtige Moment für ein bisschen Klartext. Sie nimmt all ihren Mut zusammen und steuert direkt auf die Wiese neben dem Haupthaus zu. Sie steht schon direkt hinter Lou und will sich gerade räuspern, als sie ein paar Gesprächsfetzen auffängt. »Hey, Emmi, kommst du dann nach der Schule mit zu mir?«
»Klar! Sollen wir Doro und Mandy auch fragen?«
Lou nickt und wendet sich ab. Fritzi duckt sich weg und taucht in einer Schülertraube unter, ehe Lou oder eine der anderen sie bemerkt. Neben dem Kioskbüdchen setzt sie sich allein auf ihr Longboard. Man hat hier einen guten Blick über den ganzen Hof. Fritzis Gedanken kreisen um Lou. Lou, die jetzt nicht an ihrem Stammplatz neben ihr sitzt. Die heute auch bestimmt nicht zum Mittagessen mit in die Grüne Gans kommt, wie an fast jedem anderen Schultag ihres Lebens bisher. Heute also keine gemeinsamen Hausaufgaben und erst recht kein gemeinsames Longboarden. Diese Lou, am gegenüberliegenden Ende des Hofes, lädt nicht nur Emma, sondern sogar auch Doro und Mandy zu sich nach Hause ein. Die beiden sind der anorektische Untergang ihres Jahrgangs, nennen sich ironischerweise die Eiscafé-Tussis, leben mehr auf ihren Insta-Accounts als in der echten Welt. Über Magersucht macht man keine Scherze, aber die beiden sind auch kein Scherz. Nichts an all dem hier ist ein Scherz.
Fritzi versucht, einen schrecklichen Gedanken immer wieder zu verdrängen, schafft es aber nicht. Eine quälende Frage brennt ihr unter den Nägeln: Ist Lou seit Neuestem etwa eine Eiscafé-Tussi?
Sie trägt ein kurzes Blümchenkleid, unter dem andauernd ihre Unterhose hervorblitzt, und ihre wilden Locken werden von unzähligen Spängchen verziert. Spängchen!? So was hat ihre Lou noch nicht einmal besessen. Der Gong markiert das Ende der großen Pause, ohne dass Fritzi auch nur den Hauch einer Chance gewittert hätte, für drei Sekunden allein mit Lou zu sprechen. Sie lauert ihr in der kleinen Pause auf und wartet nach dem Unterricht vor dem Französischtrakt. Aber Lou bewegt sich nur noch im Schwarm ihrer neuen Freundinnen.
Also steigt Fritzi nach der letzten Stunde auf ihr Longboard und rollt allein die Adenauerallee entlang. Was war das bloß für ein grässlicher erster Schultag? Lou hat sie hängen lassen, richtig abserviert sogar. Bei dieser Erkenntnis versetzt es Fritzis Herz einen Stich.
Sie zieht ihr Handy hervor und scrollt durch alte Nachrichten von Lou, die sie sich über den Sommer geschickt haben. Fotos vom Strand, Küsse und Grüße. Einmal kam eine lange Nachricht von Lou. Klar, es war weniger, als sie sich sonst in den Ferien geschrieben haben, aber Fritzi hat sich nicht viel dabei gedacht. War das ein Fehler?
Der ganze Nachrichtenverlauf bietet keinen Anhaltspunkt, warum Lou sauer auf Fritzi sein könnte. Es muss doch eine logische Erklärung für alles geben. Sie sind beste Freundinnen seit dem Kindergarten. So was ändert sich doch nicht von heute auf morgen, oder? Ist Lou überhaupt noch ihre Freundin?
Zu Hause in der Grünen Gans wartet schon ihre Mutter Ulla mit dem Mittagessen. »Hallo, mein Herz.«
»Hallo, Mama.« Fritzi lässt Longboard und Rucksack an der Garderobe fallen.
Ulla trägt ihren »Kreativ-Anzug«, wie sie ihn nennt. Ein in die Jahre gekommener, zu großer Blaumann, mit hoch gekrempelten Ärmeln und Beinen, den sie zum Schreinern, Basteln und Malen anzieht. Sie baut leidenschaftlich gern Möbel. Jedes Zimmer der Grünen Gans hat sie selbst gestaltet, mit eigenen Möbeln und Ideen. Bloß Zimmer Nummer neun ist nicht zu empfehlen. Sven sagt, hier habe sie sich ein wenig »verkünstelt«. Von ihr hat Fritzi die grünen Augen, die schnittlauchartigen, hellbraunen Haare und ihre unzähligen Sommersprossen geerbt.
»Na, wie war der erste Tag? Bist du allein?« Ulla will ihr einen Kuss auf die Stirn geben, aber Fritzi rauscht förmlich an ihr vorbei in die Küche.
»Siehst du noch jemanden außer mir?!«, gibt sie pampig zurück und bereut es im gleichen Augenblick. Fritzis Blick fällt auf den Tisch. Ihre Mutter hat für vier gedeckt.
Ulla lüpft die Brauen. »Na holla, welche Laus ist dir denn über die Leber gelaufen?«
In diesem Moment kommt Marlene in die Wohnküche gestürmt. »Warum hast du nicht auf mich gewartet?«, beschwert sie sich.
»Vergessen.«
»Du hast mich vergessen?« Marlene gibt sich keine Mühe, den vorwurfsvollen Unterton aus ihrer Stimme zu verbannen.
»Entschuldige, es war einfach …« Sie zögert.
»Es war was?!«
»Ein richtiger Scheißtag!« Fritzi lässt sich bedröppelt auf einen Stuhl fallen.
»Was ist denn passiert?«, fragt Marlene etwas besänftigt. »Und wo ist Lou?«
»Habt ihr euch gestritten?«, will Ulla wissen.
»Ich weiß es nicht.«
»Du weißt nicht, wo sie ist, oder du weißt nicht, ob ihr euch gestritten habt?«, hakt Marlene nach.
»Beides.«
Ulla stellt eine dampfende Auflaufform mit Lasagne auf den Tisch. »Wie beides? Wie geht das denn?«
Fritzi zuckt mit den Schultern. »Ich weiß es einfach nicht.«
Marlene setzt sich auf ihre eine und Ulla auf ihre andere Seite. Fritzi erzählt von der Klassenaufteilung, von ihrem neuen Blödmann von Lehrer, von Lou und von Emma.
Als sie sich alles von der Seele geredet hat, ist Marlene fuchsteufelswild. »Soll ich dir mal was sagen?«, sie wartet Fritzis Antwort nicht ab. »Lou ist für mich gestorben!« Sie haut mit der Faust auf den Tisch, Gläser und Geschirr scheppern. Fritzi sucht den Blick ihrer Mutter. Die sitzt mit nachdenklicher Miene vor ihr. Ihre verspannte Stirn wirft eine Falte. Marlene gibt ein heftiges Schnauben von sich. »So eine Verräterin!« Dankbar für die Loyalitätsbekundung ihrer kleinen Schwester lächelt Fritzi und Marlene legt ihr den Arm um die Schultern. »Das hast du nicht verdient, Streit hin oder her!«
»Das würde ich aber auch mal sagen!«, klinkt sich Ulla ein. »Schließlich war die ganze Latein-Sache doch ihre Idee, oder?«
Fritzi nickt.
»Dass sie so eine Nummer abzieht. Kaum zu fassen.«
In diesem Augenblick kommt Sven in die Küche, die Hände voll mit Tüten aus dem Großmarkt. »Hab ich was verpasst?«
»Lou hat Fritzi verraten!«, tönt Marlene.
»Wie?« Sven sieht Fritzi entrüstet an.
»Sie ist jetzt doch in Französisch«, murmelt Fritzi kleinlaut.
»Und du?«, fragt Sven.
»Allein in Latein.«
»Diese Mistbiene!«, schimpft er. »Lässt dich einfach allein?«
»Leider nicht ganz allein. Torben, Yessin und Bo sind mit mir in der Klasse gelandet.«
»Das wird ja immer besser!«, stöhnt Ulla.
»Lou hat dich einfach richtig abserviert!«, führt Marlene etwas zu dramatisch aus.
Ulla legt ihr beschwichtigend die Hand aufs Knie. »Ist gut, Lene, ich glaube, wir haben es alle verstanden und es ist auch so schon schwer genug für deine Schwester.«
»Vielleicht ist es ja auch meine eigene Schuld.«
»Wie bitte sollst du daran schuld sein, dass Lou dir keinen reinen Wein einschenkt?« Ullas Stimme bebt sachte, wie sie es immer tut, wenn sie wahrhaft aufgebracht ist.
»Aber was soll ich denn jetzt machen?«
»Na wir gehen zur Schulleitung und sagen, dass du nicht in der Lateinklasse bleiben willst, ist doch völlig klar!«, antwortet Sven prompt.
»Das hab ich schon versucht.«
»Dann wechselst du die Schule!«
»Och nööö!«, protestiert Marlene.
»Du willst, dass ich auf diese private Spießerschule gehe?«
»Wieso nicht?«
»Wir können uns das nicht leisten, Sven. Was willst du denn, Fritzi?«
Sie zuckt mit den Schultern. Eigentlich will sie einfach nur, dass alles wieder so ist wie immer.
»Aber wenn du doch dahin willst«, wendet sich Sven an Fritzi, »dann kriegen wir das Finanzielle irgendwie hin!«
»Sven!«
»Es geht hier um unsere Tochter, Ulla.«
»Trotzdem will ich nicht, dass du versprichst, was du nicht halten kannst.«
»Nicht streiten! Ich will da sowieso nicht hin.«
»Ein Glück!«, stößt Marlene erleichtert aus.
Für einen Moment, der so zäh ist wie Kaugummi, sagt niemand ein Wort.
»Gib dir selbst und deiner neuen Klasse einfach ein bisschen Zeit. Ich bin sicher, du findest Freundinnen und wenn es nur eine ist«, versucht Ulla, ihr Mut zu machen.
»Und wenn es keine ist, hast du ja immer noch mich!«, gibt Marlene zu bedenken und zwinkert ihr zu.
»Ein Glück!«, antwortet Fritzi halb im Ernst, halb ironisch.
»Oh manno, du bist so fies. Wozu hat man denn eine Schwester, wenn man nicht mit ihr befreundet sein darf?«
Fritzi nimmt Marlene in den Arm und kitzelt sie ein bisschen. »Wir sind Schwestern, das ist tausendmal mehr als beste Freunde, du Gurke.«
»So gefällst du mir schon viel besser!«, sagt ihre Mutter und räumt den Tisch ab. »Spür mal in dich rein, was du heute noch brauchst, um morgen gestärkt zur Schule zu gehen, ja?«
Fritzi nickt.
»Genau, spür mal in dich rein«, feixt Marlene. »Wie wäre das zum Beispiel?« Sie fängt an Fritzi wild zu kitzeln, aber die lacht kaum. Marlene lässt entsetzt von ihr ab. »Mama, es steht wirklich schlecht um Fritzi!«
»Den Eindruck habe ich auch!«, gibt Ulla besorgt zu. »Soll ich dich zur Baracke fahren? Dann könntest du eine Runde longboarden?«
Fritzi schluckt. Wenn Mama das freiwillig anbietet, muss sie wirklich elend aussehen. Aber bei dem Gedanken an die neue Strecke zieht sich ihr Herz zusammen wie eine kleine, schrumpelige Rosine. »Mir ist heute gar nicht nach boarden.«
Ihre Eltern tauschen einen besorgten Blick.
»Lass uns wissen, was du brauchst, ja?«
Fritzi nickt und verlässt die Küche.
»Morgen sieht die Welt bestimmt ganz anders aus!«, ruft Sven hinter ihr her.
»Hoffentlich«, murmelt Fritzi und verschwindet in ihr Zimmer.