Читать книгу Das glück ist nah - Валентина Гасс - Страница 5
Alkoholikerin
ОглавлениеLinda versuchte, ihre Gedanken zu sammeln, aber sie waren zu durcheinander.
“Wie gehen Menschen mit Dingen um” dachte sie. – “Was soll man sich zuerst schnappen? Wo man stochert – überall ein Keil!”
Sie erinnerte sich an den freundlichen alten Mann im Bus. Wie hieß er noch gleich? Mister Bayer? Linda hatte den Eindruck, dass dieser seltsame Mitreisende ein Bote aus einer anderen Welt war. Er stammt aus einem Paralleluniversum, das, obwohl es irgendwo in der Nähe existiert, sich in keiner Weise mit Lindas eigener Galaxie überschneidet.
Welchen Sinn hat es dann, diese Bekanntschaft fortzusetzen?
Sie vereinbarten, nächste Woche zu telefonieren. Der alte Mann habe versprochen, etwas Wichtiges zu besprechen, aber er wolle sie nicht vorzeitig beunruhigen. Was kann er also anbieten? Bestenfalls für seinen Sohn, den Unternehmer, zu arbeiten? Zweifelhafte Aussicht. Lindas jetziger Platz ist natürlich auch nicht der Hit, und der Chef schaut sie schief an – wahrscheinlich wird er sie bald schon darum bitten zu gehen. Aber trotz allem, wenigstens eine Stabilität.
Linda kehrte nach einer weiteren Schicht – Stapeln von Papierstücken – nach Hause zurück. Ihr Kopf schmerzte ein wenig und sie versuchte sich daran zu erinnern wo auf dem Weg eine Apotheke war: Es wäre nicht unangebracht, dort Tabletten zu holen.
Ihr Smartphone vibrierte, Linda zog es automatisch aus ihrer Handtasche und hielt es sich vors Gesicht. “Schwester” – erschien auf dem Bildschirm. Linda runzelte verärgert die Stirn – wie unpassend! Die Beziehungen zu seiner eigenen älteren Schwester waren sehr angespannt. Beziehungsweise standen sie in den letzten zwei Jahren in keiner Beziehung zueinander.
– “Lin, kannst du reden? fragte Irina. —
– “Kann ich”, Linda ärgerte sich über dich sich selbst. Was hinderte sie daran, nein zu sagen, sie könne nicht sprechen, weil sie in einem Auto auf einer Achterbahn im Park fuhr?.
– “Hallo… ich habe nachgedacht…” —
– “Hallo…”
“Ooooh sie hat nachgedacht…“, dachte Lina für sich.
– “Ich weiß, dass du du mich in letzter Zeit nicht wirklich brauchst, aber wir sind trotz allem Verwandte. So geht das nicht.”
– “Wie, so?”
– “Nun, so auseinander zu sein…”.
Ira wartete auf Lindas Bemerkung, aber sie schwieg. Dann lenkte die Ältere das Gespräch auf ein “säkulares” Thema:
– “Wie geht es Maya?” fragte sie.
– “Sie ist wahrscheinlich schon total die Braut?.. Kommuniziert sie mit Klaus?”
– “Hör zu, Ira, was willst du von mir? Woher kommen nun diese spontanen Verwandtschaftsgefühle? Wenn ich nicht mittellos gewesen wäre, hätte ich gedacht, Du rufst an, um dir Geld zu leihen. Wirklich! Du lebst ganz gut mit Mutter, entspannt, als seid ihr auf den Bahamas. Es ist warm, schön und es beißen keine Fliegen. Also lebe dein Leben. Wozu braucht ihr mich denn jetzt?”
– “Da sagst du aber falsche Dinge, Schwester.”
– “Ich habe doch immer die falschen Dinge gesagt und gedacht, erinnerst du dich? Bei uns war Ira mit ihrem Anstand immer ein Vorbild für alle. Und ich bin immer der Pechvogel gewesen.”
– “Warum bist du so böse?”
– “Nicht ich bin böse, sondern mein Leben ist böse! Ich denke darüber nach, wie ich ein Ende dieses Lebens an das andere Ende bringen kann, damit es mir für ein Brot reicht.”
– “Naja, wenn du in einer wirklich schlimmen Situation bist, dann…”
– “Ich bin in einer guten Situation. Und es wird noch besser, wenn du mich in Ruhe lässt!”.
– “Oh, Lin, Lin… So werden wir eines Tages wirklich einsam sterben.”
– “Man stirbt sowieso immer einsam. Ira… Was willst du?”
– “Nichts, ich habe nur beschlossen, einen geliebten Menschen anzurufen”.
– “Jetzt hast du angerufen, also tschüss. Wir haben sowieso nichts zu besprechen.“Linda legte auf.
Ihre Stimmung war nun komplett im Eimer. Linda musste ja auch genau in diesem Moment anrufen!
Es lief die größte und schwärzeste “Katze” zwischen den Schwestern vorbei, während der Scheidung von Linda und Klaus. Irina sprach sich kategorisch dagegen aus und darauf hin stritten sie sich ernsthaft über dieses Thema. Seitdem hat sich die Kluft zwischen den Schwestern nur noch vergrößert. Die Mutter stellte sich wie üblich auf die Seite der älteren Schwester. Laut Linda, lobte ihre Mutter Ira zu Unrecht. In den meisten Familien gilt das Hauptaugenmerk den Jüngsten, nicht jedoch in der Familie Barvin (diesen Mädchennamen trug Linda). In ihrer Familie galt Irina als Ideal und Maßstab zugleich. Und irgendwie haben sich alle nach und nach mit diesem Zustand abgefunden. Alle, außer Linda. Also passierte folgendes: Die Mutter und die ältere Schwester zogen unmerklich weg und beschränkten die Kontakte auf ein Minimum. Linda beschwerte sich jedoch nicht darüber. Nun, sie haben sich von ihr abgewandt und naja, sie werden auch so irgendwie leben.
Mit den Augen weiter nach einem Schild mit einem grünen Kreuz Ausschau haltend, stolperte Linda plötzlich über ein Schaufenster eines Spirituosenladens.
“Warum nicht?” dachte sie. “Das wird mir bestimmt besser als jede Pillen helfen!”
Ein paar Minuten später verließ sie den Laden bereits mit einer undurchsichtigen Türe, in der zwei Weinflaschen verheißungsvoll aneinander klirrten.
Der Rest der Fahrt nach Hause verging wie im Flug: Linda zwang sich, an einige völlig nebensächliche, unbedeutende Dinge zu denken – ab und zu gelang es ihr, so sehr von der unschönen Realität abzustrahieren – und die angenehme Schwere des Pakets versetzte sie in eine entspannte, melancholische Stimmung.
Linda ging in den Flur, holte die Post aus dem Briefkasten – ein paar Werbezeitungen und ein paar Briefe – und lief die Treppe hoch in ihre Etage.
Sie seufzte kurz und stellte sich vor, wie sie jetzt wieder mit ihrer Tochter streiten würde. Dann steckte sie den Schlüssel ins Schloss, doch Linda machte sich vergebens Sorgen.
Die Räume begrüßten sie mit einer widerhallenden Stille. Maya ist irgendwohin abgehauen. Linda zückte sofort ihr Smartphone, um sie anzurufen, bemerkte dabei aber eine verpasste Nachricht.
“Ma, ich komme gegen 21 Uhr, wir gehen mit den Mädels ins Kino, mein Akku ist leer.”
“Wie immer..”, seufzte Linda jedoch eher erleichtert – sie konnte wenigstens ein wenig allein sein, Zeit für sich haben. Sie konnte sozusagen mental mit sich selbst die jetzige Situation besprechen.
Linda ging in die Küche, machte einen einfachen Snack und brachte alles ins Wohnzimmer; Sie schob den Couchtisch näher zum Sofa, nahm ein bauchiges Weinglas aus dem Regal und goss ein Drittel der mitgebrachten Flasche hinein.
Dann kletterte sie mit den Beinen auf das Sofa, drückte die Fernbedienung des Fernsehers und trank im Geiste einen Toast aus, richtete ihn an die hübsche Ansagerin, die auf dem Bildschirm erschien, und nahm ein paar große Schlücke.
Wärme breitete sich direkt über ihre Brust aus. Linda aß ihr Butterbrot mit Genuss und zog den Stapel Briefe zu sich heran.
Der erste entpuppte sich als Erinnerung an eine überfällige Geldstrafe. Sie drohten, dass sie den Betrag vor Gericht eintreiben würden, wenn Linda die Schulden nicht zurückzahlen würde.
“Mist!” Linda warf den in gleichmäßigen Zeilen gedruckten Briefkopf weg. Der dort eingetragene Betrag sah nicht so katastrophal aus, dass man sich deswegen so fertig machen musste.
Der zweite geöffnete Brief war jedoch mit einer sehr unangenehmen Überraschung behaftet. Eine Firma bat Linda, die zuvor gekaufte Ware sofort zu bezahlen. Bei Nichtzahlung würden rechtliche Schritte eingeleitet werden, das kann man hier nicht einfach so abtun.
“Was bin ich doch für ein Idiot”, dachte Linda und las ängstlich die weiteren Zeilen des Briefes.
Diese Geschichte mit der Firma zieht sich schon über ein Jahr – dümmer kann man es sich nicht vorstellen.
Linda kaufte sich damals ein Sportgerät: ein Laufband. Sie kaufte ihn, weil sie ihn zu “luxuriösen” Konditionen bekommen hat – einer Stundung und sogar auf Raten. Aber sie selbst hat das Gerät nicht einmal ausprobiert, eine “Freundin” bat sie sehr darum, ihr das Sportgerät für eine Weile auszuleihen. Und Linda, wie immer bereit, allen und jedem zu helfen, erlag der Überredungskunst der Freundin und hab ihr das Laufband. Zumal wollte sich Linda sowieso erst in einem Monat um ihren Körper kümmern, also brauchte sie das Laufband zu diesem Zeitpunkt nicht. Allerdings bekam Linda das Laufband weder nach einem, noch nach zwei Monaten zurück. Außerdem haben sich Linda und diese “Freundin” so sehr gestritten, dass es ihr gar nicht mehr möglich war nach dem Gerät zu fragen – das hätte total beschissen ausgesehen. Ein paar Monate später vergaß Linda die “Freundin” und das Laufband völlig, denn es häuften sich wichtigere Dinge an. Aber natürlich haben die Verkäufer das Gerät nicht vergessen und, nachdem sie die ersten Raten für die gekauften Waren nicht erhalten hatten, diesen Warnbrief abgeschickt.
Linda wusste nicht, woher sie das Geld nehmen sollte, um das nie benutzte Laufband zu bezahlen. Sie hatte im Moment einfach nicht so viel Geld. Und erwartete dies auch nicht in naher Zukunft.
Der dritte Umschlag enthielt ein Werbeheft. Darin wurde Linda eingeladen, die glückliche Besitzerin eines brandneuen Mercedes zu werden. Auf einem Hochglanzfoto stand neben der neuen S-Klasse, der perfekte Mann. Er lächelte lässig, und seinem Gesicht, das von makellosen, brutalen Bartstoppeln hervorgehoben wurde, sah man an, dass er noch nie Laufbänder auf Raten gekauft hatte.
Linda nahm einen weiteren Schluck aus ihrem Glas und riss langsam und nachdenklich den perfekten Mann in zwei Teile, zusammen mit dem Werbeheft.
Nach dem vierten Glas Wein begann sich das Leben jedoch zu bessern. Linda brachte aus der Küche all die Schokolade, die es noch in der Wohnung gab und stopfte sich diese zusammen mit dem Wein rein und spürte dabei eine herbe Süße auf ihren Lippen.
Im Fernsehen lief ein lustiges Quiz für ambitionierte Hausfrauen. Linda starrte die dummen blonden Kandidaten eine Weile an, schnaubte bei ihren Antworten und deutete abfällig auf den Bildschirm. Aber es langweilte sie schnell. Sie schaltete den Fernseher aus und schaltete die Stereoanlage an. Sie drehte die Lautstärke auf und gab sich dem Charme rhythmischer Klänge hin. Sie erinnerte sich daran, dass unter diesen Kompositionen ihre unbeschwerte Jugend vergangen ist. “Oh, das waren Zeiten!” – sprach sie zu sich selbst. “Einmal sperrte mich meine Mutter in ein Zimmer ein, und ich haute ab, ich band die Laken zusammen und hängte sie aus dem Fenster – zum Glück waren wir nur in der zweiten Etage! Und wie ich die Sohle von Irkas Sandale mit einem Nagel auf den Boden genagelt habe! Was mir nicht schon alles passiert ist!”
Linda selbst bemerkte gar nicht, wie sie fast alles ausgetrunken hatte. In de zweiten Flasche war kaum noch was drin.
Durch die Musikgeräusche bemerkte Linda plötzlich Geräusche im Flur. Hastig senkte sie die Lautstärke und Maya stürmte ins Wohnzimmer.
– “Und ich frage mich, warum sucht Mutter noch gar nicht nach mir …“, sagte sie und warf einen Blick auf die Glas- und Schokoladenverpackungen, die auf dem Couchtisch verstreut waren.
– « Wie viel Uhr haben wir denn schon?” – fragte Linda und bekam plötzlich Schluckauf.
– “Was gibts zu feiern?” fragte Maya vom Flur aus: Sie hing, ihre Jacke auf und zog ihr Schuhe aus.
– “Ha… *hicks* … hast du deine Hausaufgaben gemacht?” – Linda versuchte heldenhaft, mit normaler Stimme zu sprechen, was bei betrunkenen Menschen zu genau dem gegenteiligen Effekt führt.
– “Geh ins Bett”, murmelte Maya. Sie kehrte zurück und sah ihre Mutter feindselig an, während sie ihre Schulter gegen den Türrahmen lehnte.
– “D-du hast mir nichts..nichts vorzuschreiben.… *hicks!*… ich weiß… selbst..was ich… tun muss..” Linda stand von der Couch auf, taumelte leicht und ging an ihrer Tochter vorbei ins Badezimmer.
– “Alkoholikerin”.
Maya sprach das Wort leise, aber nicht leise genug, so dass Linda es hören konnte. Es klang ziemlich klar und brannte wie ein heißer Schlag ins Gesicht.
“Ach, Mama Mia!” – Linda sah sich morgens im Spiegel an und versuchte, das in alle Richtungen abstehende Schlepptau zumindest ein wenig zu kämmen. Unter den Augen waren violette Augenringe, und ihr Gesicht sah so zerknittert aus, als hätte eine Kuh die ganze Nacht daran gekaut.
“Was für ein Anblick!” Linda machte sich weiterhin selbstkritisch Vorwürfe. “Vielleicht sollte ich mich für ein Casting für Horrorfilme bewerben?”.
Sie versuchte krampfhaft, sich irgendwie in Ordnung zu bringen. Zehn Minuten später gelang es ihr, allerdings mit halber Sünde. Aus dem Spiegelbild sah sie schließlich einen Menschen an, welcher jetzt wieder nach einer Frau aussah. Und nicht wie irgendeine metrosexuelle Vogelscheuche. Es gelang ihr aber noch nicht die Kopfschmerzen zu lindern – der Schädel platzte fast, so dass das gestrige Unwohlsein als reiner Unsinn angesehen werden konnte. Die Tabletten, die Linda nach dem Aufwachen einnahm, halfen entweder nicht oder hatten noch nicht zu wirken begonnen.
Der Gedanke, dass sie in einem solchen Zustand den ganzen Tag im Büro herumhängen müsste, versetzte sie in Entsetzen.
“Und was ist mit allem anderen?” – fragte sarkastisch ihre innere Stimme.
“Was ist mit den Schulden, dem Laufband und den anderen ebenso ‘angenehmen’ Dingen?”
Linda schloss für ein paar Sekunden die Augen. In der naiven Hoffnung, dass die Dunkelheit die unruhige Gedanken verbirgt. Sie hat sie nicht verborgen. Angst, die das gesamte Bewusstsein erfüllte, spaltete weiterhin das Gehirn von innen.
Dann ging Linda in die Küche, kramte im untersten Schrank hinter dem Mülleimer nach der nicht leeren Flasche von gestern, stand auf, hob sie in die Hand und betrachtete den Inhalt im Licht. Und dann warf sie den Kopf zurück, legte den Flaschenhals an die Lippen und begann zu trinken, bis die Flasche leer war.