Читать книгу London? Paris! Oumps. - Valeska Indetzky - Страница 5

Kapitel 3

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Marc langweilte sich. Er war seit Menschengedenken nicht mehr allein in Urlaub gefahren. Wenn er es recht bedachte, war er überhaupt nur selten in seinem Leben allein gewesen. Und was ihm nach anfänglichem Zögern durchaus reizvoll und eine gute Idee erschienen war, stellte sich jetzt als eher strapaziös heraus. Mit seinen Überlegungen, wie das nun mit Marie und ihm weitergehen sollte, steckte er fest. Wenn er ehrlich war, verstand er Maries Problem nicht. Er fühlte sich wohl mit ihr, hatte nie den Wunsch gehabt, sich bei anderen Frauen beweisen zu müssen und war bis vor Kurzem noch davon ausgegangen, dass Marie und er in Ruhe zusammen alt werden würden.

Aber mit der Ruhe war es vorbei. Marie war dieses Sich-Zusammen-Wohlfühlen nicht genug, sie wollte ... ja, was genau sie eigentlich wollte, hatte Marc eben nicht begriffen. Marie war doch eine vernünftige Frau, sie konnte nicht ernstlich erwarten, dass es nach so vielen Jahren des Zusammenlebens knisterte und funkte wie am Anfang ihrer Liebe.

„Liebst du mich denn überhaupt noch?“ hatte sie ihn fast schüchtern gefragt.

„Natürlich liebe ich dich.“ Die Antwort war ganz automatisch gekommen.

Aber stimmte das wirklich? Und wenn ja, war das vermutlich nicht die Art von Liebe, die Marie erwartete. Frauen konnten wirklich kompliziert sein, und dabei hieß es doch, Männer hätten in diesem Alter große Probleme, sich in ihrem Leben zurechtzufinden und neigten dazu, alles hinzuschmeißen und noch einmal neu zu starten. Ach, verdammt, er hatte genug von dem Problemgewälze und griff zum Telefon.

„Nur mal hören, ob es ihr gut geht“, murmelte er, als er Maries Handynummer eingab. Eigentlich hatten sie eine Telefonpause verabredet, aber das war ihm im Moment egal. Maries Telefon war ausgeschaltet. „Na, dann werde ich mich mal ein bisschen bewegen, das bringt den Kreislauf in Schwung und mich auf andere Gedanken.“ Marc grinste ein bisschen, als er sich dabei ertappte, wie er mangels eines Partners mit sich selbst sprach. „Wirst eben alt, mein Guter.“

Marc wanderte eine Runde durch den Garten und versuchte, sich zu erinnern, was Hervé ihm über das Schwimmbecken erzählt hatte. Wann sollte er welche Produkte nachfüllen? Und wo waren sie noch? Vielleicht konnte Em ihm helfen, denn wenn er es richtig sah, schimmerte durch die Eichen, die die beiden Grundstücke voneinander trennte, ebenfalls das Weiß eines Schwimmbades. Allerdings war der Zaun so zugewachsen, dass ein ungehinderter Blick auf Nachbars Garten unmöglich war, und er weder Frau noch Hund entdecken konnte. Also vertagte er das Thema Schwimmbad auf später und machte sich auf, um im nahe gelegenen Supermarkt den Kühlschrank aufzufüllen.

* * *

Als Emma um die Hausecke bog, war Milou gerade dabei, die Reste seines Kauknochens unter dem Oleander zu vergraben. Das Loch hatte er schon gebuddelt, die Terrasse war übersät mit Steinen, Oleanderblüten, Blättern und rötlicher Erde. Rötlichbraune Fußtapsen zeugten vom eifrigen Hin- und Hergerenne des jungen Rüden. Als er Emma sah, ließ er seine Arbeit sofort im Stich und flitzte fröhlich und aufgeregt auf sie zu. Ein strenges „nicht springen“ hielt ihn zwar davon ab, sich seine Pfoten an ihrer hellen Hose abzuwischen, aber er hüpfte wie ein Gummiball um sie herum.

„Du bist schon ein niedlicher Bursche, fröhlich, lebenslustig, unbeschwert“, Emma hockte sich hin und versuchte, ihren Hund in den Arm zu nehmen. Milou liebte es, gestreichelt zu werden und revanchierte sich mit zärtlichen Stupsern seiner feuchten Nase. „Auch wenn du ständig Dummheiten machst, ich bin so froh, dass ich dich habe.“

„Ich muss Einkaufen fahren, mein Süßer“, sagte sie, und kraulte Milou abschließend hinter den Ohren. „Und was mache ich mit dir?“

Die Trainerin des Hundekurses hatte etwas spitz angemerkt, Emma rede zu viel mit ihrem Hund. Der verstünde davon nur blabla. Das war der Anfang einer innigen Abneigung zwischen den beiden Frauen. Wobei Dr. Blabla, wie Emma fortan die angebliche Tierverhaltensexpertin bei sich nannte, sehr ausgeprägte Vorurteile gegenüber Briards pflegte. Trotzdem war Emma hartnäckig bis zum letzten Treffen der Gruppe mit Milou zum Training gegangen, hatte sich aber nicht davon abhalten lassen, weiterhin mit ihrem Hund zu reden. Und Milou hörte ihr auch jetzt wie immer aufmerksam zu. Dabei legte den Kopf schief und sah sie erwartungsvoll an. Von wegen blabla.

„Ich trau mich nicht recht, dich allein zu lassen, mein Kleiner,“ sagte Emma und richtete sich auf. „Also kommst du mit.“ Das Anlegen des Halsbandes artete wie immer in eine Art Zweikampf aus, weil Milou vor Freude nicht stillstehen konnte. Schließlich waren Hund und Einkaufskorb im Wagen verstaut. Als sie am Nachbarhaus vorbeifuhren, riskierte Emma einen kurzen Blick, konnte aber auf die Schnelle nicht erkennen, ob Marc da war oder nicht.

Direkt an den Parkplatz des Supermarktes grenzte ein Stück noch unbebautes Land. Emma ließ Milou toben und nach Stöckchen laufen, dann fing sie ihn wieder ein und übte auf dem Weg zum Einkaufszentrum „bei Fuß-Gehen“. Milou im Auto zu lassen kam nicht in Frage, erstens war es zu heiß und zweitens hatte sie diesen Fehler bereits hinter sich.

„Milou, ich bin bald zurück. Du wartest brav. Hier hast du einen großen Keks und einen Knochen zum Knabbern.“

Emma stellte noch eine Schüssel mit Wasser in die Ecke des Kombis und schloss die Heckklappe. Eine Stunde später kam sie aus ihrer Besprechung mit ihrem neuen Auftraggeber und sah schon von weitem den Wuschelkopf ihres damals gerade drei Monate alten Vierbeiners, der es sich auf dem Fahrersitz bequem gemacht hatte. Emma beschleunigte ihre Schritte und fragte sich, wie der Hund es wohl geschafft hatte, am Trennnetz vorbei aus dem Heck des Wagens bis nach vorn zu kommen. Als sie die Fahrertür öffnete, stellte sich heraus, dass dieses Problem wohl ihr geringstes war. Während sie mit der Marketingleiterin der Firma über das Konzept einer neuen Kundenzeitung diskutiert hatte, war Milou in der Zwischenzeit ebenfalls nicht untätig gewesen. Fröhlich mit dem Schwanz auf den Sitz klopfend präsentierte er sein Werk: die Handbremse war zerbissen und der Steuerknüppel zerlegt. Nur noch der Metallstab ragte aus den traurigen Überresten von Schaumstoff und Bezug. Emma war so wütend, dass sie sämtliche Regeln der Hundeerziehung außer Acht ließ, den quiekenden Hund energisch am Kragen nahm und heftig durchschüttelte. Anschließend verstaute sie ihn wieder im Heck, wo die gut gemeinten Leckerlis noch völlig unberührt lagen. Dafür hatte Milou den Wassernapf umgestoßen bei seinem Weg auf die vorderen Plätze.

Als sie kurze Zeit später am „größten Autohaus Europas“ anhielt, um Ersatz für die zerkauten Teile zu besorgen, kochte sie immer noch. Milou, der die gereizte Stimmung spürte, war friedfertig wie ein Stofftier.

„Das ist aber niedlicher Hund. Und so gut erzogen.“

Die Mitarbeiterin am Empfang wunderte sich zwar über das brummige Geknurre, das sie als Antwort erhielt, wies der Kundin aber trotzdem freundlich den Weg zum Ersatzteilverkauf.

„Einen Steuerknüppel? Und eine Handbremse?“ Der Verkäufer konnte es offensichtlich nicht fassen. „Ich glaube nicht, dass wir die Teile im Lager haben. Wissen Sie, das sind Teile, die eigentlich nie ausgetauscht werden.“

„In meinem Auto schon.“ Emma zeigte auf Milou, der brav neben ihr hockte, und nur ein ganz klein wenig auf seiner Leine kaute. „Er hat sie nämlich gefressen, und nun brauche ich neue.“

„Na ja, Handbremse und Steuerknüppel sind ja auch aus Leder. Und dann riechen sie nach Ihnen ...“, der Mann am Computer war eindeutig auf Seiten des Hundes.

„Da kann ich ja froh sein, dass er sich nicht über das Lenkrad hergemacht hat.“

„Oder über die Verkleidung der Tür“, mischte sich ein anderer Kunde ein. „Ich hatte mal einen Hund, der hat mir drei Mal die Fahrertürverkleidung abgerissen und zerlegt.“

Emma war nicht in der Stimmung für derartige Leistungsvergleiche. Sie unterschrieb ihre Bestellung und ging.

* * *

Marie trank ihren Kaffee aus und hielt durch die Scheibe des kleinen Bistros Ausschau nach ihrer Schwester. Sie war in aller Frühe abgefahren und hatte deshalb Zeit gehabt, gemächlich über die kleinen Nebenstraßen zu bummeln.

In Dieppe hielt sie an und trank mit Blick auf den alten Fischereihafen einen Tee. Die Vorstellung, am Strand entlang zu laufen, war zu verlockend, und sie verbrachte eine wunderbare halbe Stunde damit, die feuchte, salzige Luft zu schnuppern und über die glitzernde Weite des Ärmelkanals zu schauen. In einem ihrer ersten Urlaube fuhren Marc und sie die amerikanische Atlantikküste entlang. Sie studierte damals in Baltimore, und Marc kam sie für herrliche, lange vier Wochen besuchen. In North Carolina entdeckten sie eine kleine Bucht, in der sie den feinen weißen Sandstrand und das klare Wasser ganz für sich allein hatten, abgesehen von den Möwen, die weiter draußen kreischend in die Wellen stießen und einer Schule Delphine, die vergnügt durch den Ozean pflügte. Marc, ganz männlicher Beschützer, war voran ins Wasser gelaufen.

„Hier kannst du reinkommen“, rief er über die Schulter zurück, „hier ist es ganz fla ... .“

Und damit war er weg, einfach von der Bildfläche verschwunden. Wenige Sekunden später tauchte er prustend wieder auf. Dieser verdutzte Ausdruck, der so gar nicht zu seinem männlichen Gehabe passen wollte! Marie lachte Tränen. Marc war buchstäblich über eine Kante auf dem Meeresboden gefallen, hinter der es viele Meter in die Tiefe ging. Immer wieder lachten sie über diese Szene, überhaupt, sie hatten oft zusammen gelacht. Bis dann irgendwann im Laufe ihres Lebens das Lachen verklungen war.

Marie atmete die würzige Seeluft so tief ein, dass ihr leicht schwindelig wurde. Etwas benommen, aber seltsam befreit, als hätte sie mit der Luft zugleich ihre Sorgen ausgeatmet, wanderte sie langsam zu ihrem Auto zurück. Um diese frühe Morgenstunde war sie noch allein. Die Tagestouristen aus England waren noch nicht eingetroffen, und die Feriengäste, die länger blieben, saßen beim Frühstück.

Marie fuhr mit geöffneten Fenstern, selbst als der Seewind Regenschleier ins Auto wehte, konnte sie sich nicht entschließen, die Scheiben hochzudrehen. Sie fühlte sich so ruhig und entspannt wie seit langer Zeit nicht. Sie dachte an Marc, an andere gemeinsame Reisen. Anfangs hatten sie sich lebhaft über alles ausgetauscht, was sie sahen, glücklich über den Gleichklang ihrer Empfindungen. Mit der gleichen Energie hatten sie auch diskutiert, aber nie gestritten. Später reichten ihnen kurze, verschwörerische Blicke, kleine Bemerkungen. Sie kannten einander so gut, fühlten sich auch ohne Worte miteinander wohl. Irgendwann aber wurde das Schweigen erst länger, dann immer schwerer zu durchbrechen. Auch die kleinen, vertrauten Gesten blieben aus, die kurzen, flüchtigen und doch intensiven Berührungen, der in den Nacken gehauchte Kuss. Zurück blieb ein gut aufeinander eingespieltes Team, in dem jeder aus Höflichkeit und Gewohnheit auf den anderen Rücksicht nahm. Warum hatten sie es soweit kommen lassen? Marie wünschte, sie könnte die Zeit zurückstellen. Sie würde anders mit ihrer Ehe umgehen, sensibler, bewusster. Sie würde die Liebe bewahren wie einen kostbaren Schatz. Sie liebte Marc, aber das reichte ihr nicht. Sie wollte spüren, dass sie wiedergeliebt wurde. Und jetzt brauchte sie dieses Gefühl dringender als jemals zuvor, denn sie hatte Angst. Angst vor den Untersuchungsergebnissen, Angst vor dem, was mit ihrem Leben geschehen würde, Angst, es nicht durchzustehen. Und sie hatte Angst, Marc zu verlieren.

Als sie in St. Valery ankam, goss es in Strömen. Sie fand einen Parkplatz neben der Kirche und hastete hinüber ins Bistro. Obwohl es nur ein paar Meter waren, war sie fast völlig durchnässt. Sie bestellte einen großen Kaffee mit viel heißer Milch und wärmte ihre Hände an der Tasse, bevor sie ihn in kleinen Schlucken trank. Sie wusste immer noch nicht, was sie ihrer Schwester erzählen sollte. Auch wenn sie sich nur in größeren Abständen sahen, verband sie mit Jeanne eine tiefe Beziehung. Jeanne war Maries engste Freundin. Sie konnte sie nicht anlügen, und sie wollte es auch nicht. Aber vielleicht gelang es ihr, sie ein paar Tage hinzuhalten, zumindest, bis die Untersuchungsergebnisse da waren.

Jetzt kam der Wagen von Jeanne in Sicht. Mit dem ihr eigenen Glück, das Jeanne als völlig selbstverständlich nahm, fand sie natürlich einen Parkplatz direkt gegenüber dem Bistro. Mit großen Schritten lief sie durch den Regen, bemüht, den zahlreichen Pfützen auszuweichen. Im Laufen spähte sie unter der Kapuze ihrer Regenjacke hervor, und als sie ihre Schwester entdeckt hatte, winkte sie fröhlich. Dabei rutschte ihr die Kapuze vom Kopf, und das dunkle Haar zeigte sich in einer neuen, modischen Kurzhaarfrisur.

Die Schwestern sahen sich ähnlich. Allerdings war Jeanne ein wenig kleiner als Marie und hatte zu ihrem Leidwesen die Figur ihrer Mutter geerbt mit den etwas breiteren Hüften und kräftigen Oberschenkeln. Marie war größer und schlank, mit den Kurven an genau den richtigen Stellen, wie Marc früher gesagte hatte. Insbesondere die Augenpartie verriet, dass Marie und Jeanne Schwestern waren. Und die Haare ... beide Frauen hatten dunkle Haare, und obwohl sie nie vorher darüber sprachen, trugen sie immer ähnliche Frisuren.

Eines Tages holte Marie ihre jüngste Nichte aus der Vorschule ab. Die Lehrerin hielt Elsa an der Tür auf. „Mit wem gehst du denn nach Hause, Elsa?“ „Mit meiner Tante!“ Erst jetzt bemerkte die Lehrerin Marie, die noch nach Elsas Jacke gesucht hatte. „Na, das ist nicht zu übersehen“, bemerkte sie fröhlich. „Sie sehen aus wie Elsas Mutter.“

Jeanne schloss Marie in die Arme und drückte sie heftig. „Wie schön, dich endlich mal wiederzusehen! Wann warst du beim Friseur?“

„Vor einer Woche“, Marie lachte.

„Dann trägst du meine Frisur“, versicherte Jeanne, „ich war nämlich vor dir da.“

„Komm, ich kenne hier ein nettes, kleines Restaurant. Lass uns etwas essen gehen und unser Wiedersehen feiern. Wir haben uns bestimmt jede Menge zu erzählen.“

Marie, die in ihrer Tasche gerade nach Geld für den Kaffee suchte, hielt erschrocken den Atem an. Aber da redete Jeanne bereits weiter.

„Zum Glück haben wir dafür ja ausreichend Zeit, wenn wir erst mal in St. Valery sind.“

* * *

Brot, Milch, Käse, Fleisch für Milou - Emma kurvte in Formel 1-Manier durch die Gänge des Supermarktes. Wunderbare Idee, ständig die Regale umzuräumen. Wo haben sie denn dieses Mal den Kaffee versteckt? Seit Milou in ihr Leben getapst war, hatte Emma es eilig. Nach menschlichem oder besser gesagt nach Emmas Ermessen war er zwar im Moment sicher aufgehoben, fest verbunden mit dem eisernen Fuß einer alten Straßenlaterne, die völlig sinn- und zweckfrei den Eingangsbereich des kleinen Einkaufszentrums dekorierte, das auch den Supermarkt beherbergte. Rund um die Laterne herum war auch nichts in Reichweite, was ein gelangweilter halbstarker Rüde fressen konnte, und Emma hatte vorsichtshalber – und zum Ergötzen anderer Kunden – an der Lampe gerüttelt, um sicher zu sein, dass Milou sie nicht wegziehen konnte.

Diese Vorsichtsmaßnahme war zu einem festen Ritual geworden, seitdem Milou einen schweren Fahrradständer hinter sich hergeschleppt hatte, an dem seine Leine befestigt war, weil Emma schnell in der Apotheke ein Rezept einlösen wollte. Verunsichert und verängstigt durch das laute Geklapper, mit dem der Fahrradständer umfiel, als er in die Leine sprang, hatte Milou die Flucht ergriffen und war mitten auf einer belebten Straße gelandet, wo ihn ein beherzter Mann von den vorbeirauschenden Autos abschirmte, bis Emma atemlos aus der Apotheke gesprintet war, aufgeschreckt durch den Lärm und das ängstliche Gebell ihres Hundes. Die Geschichte war zum Glück glimpflich ausgegangen, wenn sie davon absah, dass der Fahrradständer auf Milous Hinterpfoten gefallen war und ihm dort etliche Krallen abgerissen und eine Fleischwunde zugefügt hatte. Was die folgenden, notwendigen Tierarztbesuche etwas erschwerte war zum einen die Tatsache, dass es Wochenende war und zum anderen konnte Emma sich wegen einer Entzündung in ihrer Schulter kaum rühren.

Schon das Anziehen an jenem Morgen war eine Qual gewesen. An Kämmen und Schminken war gar nicht zu denken, und als Emma endlich in der Praxis des Sportmediziners angekommen war, war sie am Ende ihrer Kräfte.

„Schleimbeutelentzündung bedingt durch Arthrose und Überanstrengung“, lautete die Diagnose. „Tja, das sind zum Teil Alterserscheinungen. Aber wegen der Überanstrengung – treiben Sie Sport?“

Alterserscheinungen, vielen Dank. Das war ja heiter. Charmanter Mann. Sonst hatte Emma den Arzt immer sehr sympathisch gefunden. „Ich habe keine Zeit für Sport, ich habe einen Hund, einen jungen Briardrüden.“

„Na, da haben wir die Ursache. Der Hund ist viel zu groß und kräftig für Sie.“

„Und, was schlagen Sie vor? Soll ich ihn gegen einen Zwergpudel tauschen?“

„Bei der Größe eines Briards bekommen Sie dafür mindestens drei Miniausgaben“, lachte der Arzt. „Ich gebe Ihnen eine Spritze und Tabletten, dann schonen Sie sich mal ein paar Tage, und in einer Woche sollte ihre Schulter sich wieder viel besser anfühlen.“

Seitdem bemühte Emma sich, möglichst viele Dinge mit der linken Hand zu erledigen, um die rechte, vom Alter geschwächte Schulter zu entlasten. Manchmal haperte es dabei allerdings mit der Feinmotorik, so wie in diesem Moment, als sie den Einkaufswagen mit zu viel Schwung um die Ecke bugsierte und nicht mehr abbremsen konnte, um einen Zusammenstoß zu vermeiden. Sie hatte die Wahl: Entweder riss sie die Präsentation der Sonnenbrillen um, oder sie rammte den Wagen eines anderen Kunden. Im Bruchteil einer Sekunde entschied sie sich für den anderen Einkaufswagen.

„Oh, es tut mir so leid“, Emmas Entschuldigung kam fast zeitgleich mit dem Geschepper, mit dem sich beide Einkaufswagen ineinander verkeilten. Hektisch riss sie mit beiden Händen an ihrem Gefährt, ohne erkennbare positive Auswirkung.

„Lassen Sie mich mal versuchen“.

Die Stimme kam ihr vage bekannt vor. Emma löste den Blick von dem Einkaufswagenunfall, den sie verursacht hatte, nahm allen Mut zusammen und sah sich den dazugehörigen Kunden an. Kein Wunder, dass sie die Stimme wiedererkannt hatte, sie hatte ihr schon beim ersten Treffen ausnehmend gut gefallen. Sie gehörte zu Marc, ihrem derzeitigen Nachbarn. Auch das noch.

Mit erheblicher Kraftanstrengung gelang es Marc, aus dem Metallknäuel wieder zwei eigenständige Wagen zu machen.

„Zum Glück nur geringer Sachschaden“, verkündete er, nachdem er die Einkäufe inspiziert und zwei aufgeplatzte Joghurtbecher zur Seite geräumt hatte. Dann schaute er sie an.

„Oder sind Sie verletzt?“

„Nein, ich habe mir nur die Finger geklemmt, aber es geht schon,“ murmelte Emma, die an ihrem Zeigefinger lutschte.

„Was halten Sie von einem Kaffee auf den Schreck? Oder hätten Sie lieber etwas Stärkeres?“

„Vielen Dank, ein Kaffee wäre fein. Wollen wir uns dort drüben treffen?“ Emma zeigte auf ein kleine Bar am anderen Ende des Einkaufszentrums.

Wenig später sank sie in den weich gepolsterten Korbsessel. Ihr Hund lag friedlich auf der Seite und genoss sichtlich die Kühle der Steinfliesen. Marc hatte den Sessel ihr gegenüber gewählt. Während er Zucker in seine kleinen schwarzen Kaffee rührte, hatte Emma Gelegenheit, ihn etwas genauer zu betrachten. Der erste Eindruck hatte nicht getrogen, der Mann hatte sich gut gehalten. Schlank, nicht einmal der Ansatz eines Bauches zeichnete sich unter seinem Polohemd ab, ein nettes, offenes Gesicht, kurze, dunkel Haare, sein Alter irgendwo in der zweiten Hälfte der Vierziger. Jetzt hob er den Kopf und für einen kurzen Augenblick trafen sich ihre Augen. Dunkel wie Zartbitterschokolade. Meine Güte, ich glaube, ich habe eine Schokoladenneurose.

„Hoffentlich kommt Ihr Zeitplan nicht völlig durcheinander, weil Sie jetzt hier mit mir einen Kaffee trinken, Em.“ Sie schienen es beim Einkaufen ziemlich eilig zu haben.“ Marc konnte sein Grinsen nicht ganz unterdrücken.

„Wirklich, ich muss mich noch mal entschuldigen. Aber ich wollte nicht den Ständer mit den Sonnenbrillen auf dem Gewissen haben.“

„Dann schon lieber mich.“ Nun lachte Marc ganz offen.

Emma fing ebenfalls an zu kichern, als sie an den Zusammenprall dachte. „Da können Sie mal sehen, wie gefährlich Hausfrauen leben“, sagte sie, „besonders beim Einkaufen.“

„Und ich dachte, die meisten Unfälle passierten im Haushalt.“

„Na, irgendwie gehört der tägliche Supermarkt schon dazu, finden Sie nicht?“

„Übrigens“, fügte Emma übergangslos hinzu, „in ganzer Länge heiße ich Emma.“

„Wenn es Ihnen nicht zu privat erscheint, würde ich gern bei Em bleiben“, erwiderte Marc. „Das scheint mir gut zu der Geschwindigkeit zu passen, mit der Sie sich fortbewegen.“

„Eigentlich bin ich nur in Eile, wenn es um ihn geht“, Emma deutete auf Milou, der kurz den Kopf hob und sie aus seinen braunen Knopfaugen arglos ansah. „Also ... in letzter Zeit eigentlich immer.“ Sie seufzte.

„Ist Milou Ihr erster Hund?“

„Nein, seine Vorgängerin ist vor einem Jahr gestorben. Und ich fühlte mich so schrecklich, dass ich unbedingt einen neuen Hund haben wollte.“

Bei dem Gedanken an die letzten Tage mit ihrer geliebten Hündin stiegen Emma die Tränen in die Augen. Hastig wandte sie sich ihrem Milchkaffee zu und senkte den Blick. Die Versuche des Tierarztes, das Unvermeidliche abzuwenden, die Erkenntnis, dass das Leben ihres Hunde zu Ende war, die letzte Fahrt in die Praxis, ihre tiefe Niedergeschlagenheit. Und David, der sie in die Arme nahm und sagte:

„Du weißt, ich könnte gut ohne Hund leben, aber wenn du einen anderen Hund haben willst, bin ich einverstanden.“ Und, mit einem kleinen Lächeln: „Ich habe dich mit Hund genommen, ich werde dich auch mit einem neuen Hund behalten.“ Die Wartezeit auf den Neuen schien ihr endlos, ihr Tagesablauf war völlig aus den Fugen geraten. Elfeinhalb Jahre war sie jeden Morgen zu einem ausgedehnten Spaziergang aufgebrochen, um sich danach in die Arbeit zu stürzen. Diese Routine fehlte ihr. Endlich war die hundelose Zeit vorüber, und als sie mit dem acht Wochen alten Welpen in der Tür stand, konnte sie dabei zusehen, wie David sich auf den ersten Blick in den kleinen Burschen verliebte. Eine Zuneigung, die von Milou ebenso heftig erwidert wurde. Trotzdem waren die ersten Wochen alles andere als einfach gewesen.

Emma stellte die Tasse zurück auf den Tisch. „Ich muss jetzt los. Das Schwimmbecken dürfte trocken sein, dann kann nun endlich Wasser hinein. Badesaison ist ja längst.“

„Wo Sie gerade von Schwimmbecken reden“, fiel Marc ein, „Hervé, Sie kennen doch sicher Hervé Dutroux?“ Emma nickte. Natürlich kannte sie ihren Nachbarn Hervé und seine Frau Annabel. Beide hatten eine Firma irgendwo in der Nähe von Paris, waren ständig im Stress und liefen mit dem Leben um die Wette. Warum sie sich ein Haus in Südfrankreich gekauft hatten, wusste der Himmel. Ferien machten sie dort jedenfalls nie. Alle drei Wochenende fielen sie auf dem Grundstück ein, kümmerten sich um den Garten und die wichtigen Dinge am Haus, kamen zu einen Schwatz an den Zaun oder luden zu einem Apéritif auf ihre Terrasse, dann verschwanden sie wieder. Emma hat Annabel nur ein einziges Mal ruhig auf der Terrasse sitzen sehen, als sie sich das Bein gebrochen hatte und damit außer Gefecht gesetzt war. Allerdings nicht, was ihre Kommentare zu Hervés Bemühungen betraf, ein Loch in den Felsen zu schlagen, um einen Feigenbaum zu pflanzen. Auch diese Aktion blieb Emma ein Rätsel, denn die Feigen, die der Baum wohlwollend reifend ließ, brachten sie regelmäßig zu ihr herüber.

„Also, Hervé hat mich gebeten, mich um das Schwimmbecken zu kümmern, aber ich habe längst wieder vergessen, wie das im Einzelnen funktioniert. Würden Sie mir dabei helfen?“

„Das ist wohl das Mindeste, das ich tun kann, nachdem ich Sie vorhin überfahren habe“, antwortete Emma zerknirscht. „Soll ich heute Nachmittag zu Ihnen hinüberkommen? Dann kann ich Ihnen alles erklären. Ist übrigens nicht sehr kompliziert.“

„Das wäre nett“, sagte Marc und erhob sich ebenfalls. „Kommen Sie, wann es Ihnen passt, ich habe heute Nachmittag nichts weiter vor.“

London? Paris! Oumps.

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