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1. KAPITEL

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Bridget - Sommer in Broadstairs


No more mermaids but stranded and abandoned,

no more prince and no golden rings

no more devote if even remote love affair that

made ya´ fly and broke ya´ wings

no more twin to find, no more thoughts to share,

no more life to live, not a day to care

just leaving behind what´s not worth to remain

just wipe out what´s nothing but a ridiculous stain

just go home, my dear, leave behind all fear----

no more

.

There will come a time when you find the rhyme

to those words now still so false

there will be a dawn on this not far morn

when ya´ understand, that no one else

can take that pain away, can close ya´ eyes and say,

farewell, my dear, you´ve played it cool---

but you.

Go back where you felt home before all feeling´s gone

and don´t tell anyone, before it´s done

put your arms around ya´; no one else will do

dry your tears, my dear, no one else will do

no more crying soul, no more suffering

no more torture play, no more iron ring

killing you -----

but I loved you.

Never no more no mores.

1976 machte ich mein Abitur und kaum legte ich das Zeugnis auf seinen Schreibtisch, begann mein alter Herr skeptisch meine schlechte Englischnote zu bemängeln. „Das reicht nicht,“ sagte er, „nicht für den Betrieb, mein Junge, wenn du bei deinem alten Herrn einsteigen willst. Und fürs Studium erst recht nicht.“

Ich verkniff mir den Hinweis, dass er mich in ein altphilologisches Gymnasium gesteckt und vor meiner pragmatischen Mutter, die stattdessen für ein Wirtschaftsgymnasium plädierte, die Ideale der Antike hervorgehoben hatte. Nun konnte ich halt in Latein und Altgriechisch deklamieren ---- aber ein derart ironischer Hinweis meinerseits wäre so oder so in diesem Moment wirkungslos verpufft und hätte die etwas gereizte Stimmung noch mehr angeheizt. Also schwieg ich vornehm, während mein Vater seinen besten Freund anrief und ihn fragte, wo in England denn eigentlich dessen Tochter im letzten Jahr ihr Englisch aufgebessert hätte.

Ich wusste genau, was das bedeutete. Nichts würde aus der Wochen zuvor geplanten Sommertour nach Frankreich, die ich mir voller Vorfreude für die Monate nach dem Abitur vorgenommen hatte! Meine drei besten Kumpels aus der Schule würden ohne mich mit dem alten R4 und den frisch erworbenen Führerscheinen in die Normandie fahren müssen. Mich würde stattdessen ein langweiliger Aufenthalt in einem kleinen englischen Nest erwarten --- mit Sommercamp und Vormittagsunterricht an einer ferienbedingt leerstehenden, hochherrschaftlichen alten Schule inmitten lieblich-langweiliger grün-englischer Landschaften!

„Reizend,“ sagte meine Mutter, als ich gerade meine Sachen in meine zwei Reisetaschen und einen Seesack stopfte, mit denen ich drei Monate in Broadstairs auskommen wollte. Sie saß auf meinem alten Schreibtisch, baumelte mit den Beinen wie ein junges Mädchen und durchblätterte den farbenprächtigen Sommerkurs-Katalog einer wohlrenommierten Sprachenschule. „Ihr wohnt in englischen Familien, jede Gastfamilie ist vom Alter und sozialen Status auf ihren Gast abgestimmt! Du wirst bei einer Mrs. Walker und ihrer Tochter wohnen! Es ist ein zauberhaftes kleines Haus, schau nur!“

Ja wirklich, ganz zauberhaft! Undefinierbare Teerosen in einem Miniaturgarten rund um ein kleines weißes Häuschen herum, wie sie an den Küsten Südenglands zuhauf zu finden sind. Mein Sommerhaus hingegen hatte ein schon etwas verblichenes altes Metzlerzelt sein sollen, und wenn´s abends mal sehr spät geworden wäre, hätten wir eben einfach im Auto gepennt. In den Dünen am Atlantik oder, bei unserem auf jeden Fall eingeplanten Aufenthalt in Paris, eben auch mal ein paar Nächte in einer billigen Pension.

„Das reicht dir nie,“ sagte meine Mutter, und zerrte alle von mir soeben verpackten Kleidungsstücke wieder aus meinen Reisetaschen heraus. „Ich mache das hier schon für dich,“ fuhr sie sanftmütig fort, „sonst gibst du zu viel Geld aus, weil du dir alles in Broadstairs neu kaufen musst.“ Wo sie Recht hatte, hatte sie Recht. Ich vertrödelte den letzten Abend vor meiner Abreise missgelaunt mit meinen Kumpels. Wir trösteten uns mit so vielen Pils, dass ich die erste Hälfte der mehrstündigen Busfahrt nach Calais am nächsten Morgen bierselig verschlief.

Auf der Fähre nach Dover wehte mir frischer Wind um die Nase. Einen Augenblick lang hatte ich in Calais gezögert. Ich hätte einfach meine zwei Reisetaschen aus dem Reisebus verlangen und mich aus dem Staub machen können, meine Freunde anrufen und ihnen sagen, dass ich bereits in Frankreich auf sie wartete... Aber dann entschied ich mich, ein wohlerzogener Sohn zu sein und ergab mich in das Schicksal eines klassischen Schülersommers in Broadstairs.

*

Toll war´s wirklich nicht. Meine Englischgruppe bestand nicht nur aus Schülern meines Alters. Mein Vater hatte mich für einen gemischten Kurs aller Altersklassen angemeldet, der insbesondere einen Schwerpunkt auf Wirtschaftsenglisch setzte. Endlich der Schule entronnen --- und nun saß ich schon wieder in einer. Noch dazu im ersten Sommer meines Lebens, in dem ich unabhängig und frei von allen Verpflichtungen hatte dem Nichtstun frönen wollen!

Am Nachmittag setzte mich der Busfahrer nach einem ermüdenden Programm zwischen Teetrinken, Stundenplänen und einem ersten Spaziergang durch Broadstairs an der Ecke der kleinen Sheffield Lane in einem Dorf unweit von Broadstairs ab. Hier wohnte meine Gastfamilie, die mich jetzt erwartete, nur zwei Busstationen von der Schule entfernt. Ich lief direkt aufs Meer zu und nahm mir vor, noch am selben Abend hinunter an den Strand und zwischen den Felsen spazieren zu gehen.

Sie standen am Gartentor und erwarteten mich. Sie standen neben ihren wohlgepflegten Rosensträuchern, irgendwie würdevoll und wie ich es von einem bürgerlich ländlichen Abbild der königlichen Familie in den 1970-zigern halt nicht anders hätte erwarten können. Ein schafsähnliches Wollknäuel, das mir sogleich voller Stolz als der hauseigene Hund Jimmy vorgestellt wurde, warf mich beim Ansprung fast um und kläffte vor lauter Freude ganz ohrenbetäubend dabei.

Aber etwas anderes brachte mich noch viel mehr aus dem Gleichgewicht. Ihre Augen waren beunruhigend schwarz, ihr Blick so unergründlich wie ihr Lächeln, als sie mir zur Begrüßung die Hand reichte. Sie war die jüngste Tochter meiner Landlady. Sie hieß Bridget, und sie sah aus wie eine junge Elizabeth Taylor mit schwarzen Augen und weißer Haut. Vielleicht duftet alles in England irgendwie nach Lavendel, wenn man sich nur lange genug viktorianische Literatur reinzieht.

Vielleicht hatten sie auch tatsächlich irgendwo Lavendel im Garten, und in den Handtuchregalen ihres altmodischen Bades lag er ohnehin in kleinen Säckchen verschnürt zwischen Stapeln sauberen weißen Frottees. Aber wenn Bridget nahe an mir vorbeiging, wenn wir uns auf der halsbrecherischen kleinen Treppe, die zum Dachgeschoss führte, aneinander vorbei drängeln mussten oder sie mir morgens auf einem Tablett meine Tee ans Bett brachte, obwohl ich das hasste --- dann dachte ich, ich stünde in der Provence, tauchte ein in ein blühendes Lavendelfeld in einem heißen Sommer und fühlte, wie mir langsam schwindlig wurde und kleine Irrlichter vor meinen Augen tanzten.

*

Es wurde ein wundervoller Sommer! Die Hälfte der Schulzeit schwänzte ich und stromerte stattdessen mit Bridget und ihrem alten Austin über die Landstraßen Englands zwischen eben all diesen lieblich grünen Hügeln hindurch, die gar nicht mehr so langweilig waren. Wie lange muss man neben einer englischen Prinzessin in einem englischen Auto durch englische Landschaften fahren, ehe man glaubt, man lebe seit König Arthurs Zeiten in diesem Land und müsse nur noch eine seiner wundervollen Urahninnen heiraten, um selbst ein echter König zu sein?

Natürlich war mir aufgefallen, dass Mutter Walker nicht ganz einverstanden mit dem Verhalten ihrer Tochter war. Oft, wenn ich schon ungeduldig draußen am Wagen auf Bridget wartete, bemerkte ich, wie die beiden Frauen aufgeregt mit einander zischelten. Sahen sie dann, dass ich ihren Zwist mitbekam, nahmen sie sich zurück und Bridget löste sich trotzig von der Bedrängnis durch ihre Mutter.

Ich liebte Bridget abends am Strand und im Austin und in welcher kleinen Frühstückspension auch immer wir das Wochenende miteinander verbrachten. Sie kam heimlich nachts in mein Zimmer, wenn ihre Mutter fest schlief und blieb bis zum Morgengrauen. Ich war 19 und zuhause in Deutschland war ich nichts als ein Kleinstadt-Pennäler mit gelegentlichen Schnellschussaffären nach samstäglichen Parties. Eine erste Jugendliebe hatte ich verlassen, als ich 17 war. Die Treulose hatte sich mit einem Nachbarn verlobt.

Jetzt war ich fast 19 und erwachsen und fest entschlossen, meine englische Prinzessin nie wieder los zulassen. Ich brannte lichterloh für sie und wenn ich ihren Kopf an meine nackte Schulter zog und mit meinen Händen ihre schwarzen Haare zerzauste, beschrieb sie mir, wie stark sie mein Herz schlagen hörte.

Etwas warnte mich stärker von Tag zu Tag, riet mir, ihr Fragen zu stellen, ihr meine Pläne mitzuteilen, aber alles schien so schwerelos und leicht, dieses einfach „mit ihr in den Tag hinein zu leben“, dass ich die mahnende innere Stimme immer wieder zurück in mein Unterbewusstsein verbannte.

Bridgets Mutter hatte resigniert. Sie behandelte mich englisch höflich, aber kühl, schließlich wurde mein dreimonatiger Logierbesuch in ihrem Haus ja auch gut bezahlt. Außerdem führte ich mich als angehender Schwiegersohn auf. Ich half beim Wäscheaufhängen, trug Einkäufe in die Küche, übernahm so unschönen Dinge wie das Kloputzen beim wöchentlichen Saubermachen und schaute nach dem Austin, wenn er muckte.

Mein Leben schien perfekt. Meine Zukunft klar. Ich würde Bridget heiraten. Ich würde in London oder in Oxford studieren, nicht auf irgendeiner piefigen deutschen Wirtschafts-Uni. Meine Zukunft lag in England. Ich musste es Bridget nur noch sagen.

*

An einem heißen Augustwochenende brachen wir zu ihrer Großmutter nach Ingleton auf. An diesem Wochenende wollte ich mit Bridget über eine gemeinsame Zukunft reden. Ich saß neben ihr auf dem Beifahrersitz, meine Hand auf der nackten Haut ihres Oberschenkels immer halb unter ihrem Rocksaum, und beobachtete ihr Profil, während sie aufmerksam und dennoch gelassen ihren alten Austin steuerte.

Bridgets Großmutter wohnte in einem kleinen Landhaus mit französischen Fenstern, die in einen romantischen und sehr gepflegten Garten hinausführten. Ich erhielt als Ehrengast ein altmodisches Zimmer mit Kamin und bestand bei Einbruch der Dämmerung darauf, diesen trotz abendlicher Hitze auch wirklich anzuzünden. Bridget lachte über mich, half mir jedoch, das Holz aufzustapeln. „Willst du mich heiraten?“ fragte ich sie, als sie neben mir vor dem Kamin hockte und mich zum wiederholten Male an diesem Tag unbändige Lust überkam, sie vor dem brennenden Feuer zu lieben. „Dummkopf,“ antwortete sie zärtlich, und in unserem Schäkern und Herumalbern ging meine Frage schließlich völlig unter.

Am späten Abend saßen wir mit zwei Nachbarinnen und Bridgets Großmutter am Tisch im Wohnzimmer zusammen. Die drei alten Damen tranken einen ziemlich strammen Brandy, der mir nicht schmeckte. Bridget hatte mir eine Dose Bier aus dem Kühlschrank geholt. Gemeinsam sahen wir den endlosen Patiencen zu, die sich vor Bridget und mir auf dem Mahagonitisch unter den flinken Händen der alten Damen aufblätterten. Insgeheim hoffte ich darauf, endlich in mein romantisches Kaminzimmer zu Bett gehen und Bridgets nächtlichen Besuch erwarten zu dürfen.

Doch die alten Damen wollten den Abend noch nicht beenden. Nein, keine weiteren Patiencen mehr, nun wollten sie aus den Karten die Zukunft lesen. Bridget brachte einen schweren Kerzenleuchter herbei und stellte ihn in die Mitte des Tisches. Ihre Großmutter zog ein zierliches kleines Kartenspiel aus einer Schublade hervor, von dem Bridget mir erklärte, es seien Wahrsagekarten.

Ich holte mir ein zweites Bier aus dem Kühlschrank und schaute mit angespannter Höflichkeit dem Treiben zu. Nicht alles verstand ich, was die alten Damen in ihrem ländlichen englischen Dialekt miteinander sprachen, und es interessierte mich auch nicht besonders. Aber als Bridget und ich dran waren, trieb mich doch die Neugier.

„Was wird aus Bridget und mir?“ fragte ich ihre Großmutter. Bridget trat mir unter dem Tisch kräftig auf den Fuß. Irritiert schaute ich sie kurz von der Seite an und sah am Funkeln ihrer Augen, dass ich einen Fauxpas begangen hatte. Ihre Großmutter jedoch schien meine Frage völlig überhört zu haben.

Sie prophezeite, dass ich beruflich erfolgreich sein würde, aber dabei meine Mutter nicht betrüben solle, dass ich Geschwister gehabt hätte, mindestens eins, es sei aber gestorben. Das war nicht lustig, mir wurde etwas seltsam bei dieser Aussage, denn meine kleine Schwester war im Alter von 11 bei einem Badeunfall ertrunken. „Und die Liebe?“, fragte ich so lässig wie möglich.

Bridgets Großmutter fuhr fort, „eine lange Reise liegt vor dir, weit übers Wasser.“ Ich verkniff mir zu kommentieren, dass ich in drei Wochen zurück nach Deutschland aufbrechen müsse --- das hatte ich ihr ja selbst vor wenigen Stunden erzählt. „Eine falsche Dame macht dir Kummer und geht fort aus deinem Leben.“

Noch einmal mischte sie die verbliebenen Karten und zog eine weitere. Doch sie sagte nichts mehr dazu, schob stattdessen schnell alles zusammen. Wenig spannend, dachte ich, aber ich befand mich insgesamt in einer solchen Hochstimmung, dass mich nichts hätte aus meiner guten Laune reißen konnte.

Kaum eine halbe Stunde später lag ich auf meinem Bett vor dem ausglühenden Kaminfeuer und träumte in die Nacht hinaus. Ich hatte die Fenster offenstehen lassen und wartete auf Bridget. Dabei schlief ich ein. Als ich im Morgengrauen aufwachte, weil mir kalt wurde, staunte ich, dass Bridget mich in dieser Nacht nicht besucht hatte.

*

Alles lief seinen gewohnten Gang. Drei Tage nach unserem Besuch bei Bridgets Großmutter kam ich mittags mit dem Bus heim in die Sheffield Lane. Ich machte Pläne für den Nachmittag, wollte mit Bridget nun endlich ernsthaft über die Zukunft reden.

Der Termin meiner Rückkehr nach Deutschland nahte. Natürlich war mein Englisch immer noch zu schlecht, um den Vorlesungen an einer englischen Universität zu folgen. Ich plante, mit meinem Vater zu sprechen, mir einen Praktikanten-Job in London zu suchen, so dass es mir in einem Jahr von der sprachlichen Seite her leichter fallen würde, ein Studium in England zu beginnen.

Immer war Bridget mir ausgewichen, wenn ich sie auf eine gemeinsame Zukunft angesprochen hatte. Fast erschien es mir, als sei sie zu schüchtern oder auch zu damenhaft, um sich auf ein derartiges Gespräch einzulassen. Aber andererseits war sie ja auch nicht zu damenhaft, um...

Ich dachte an den Blick ihrer Augen unter den langen schwarzen Wimpern, wenn sie mich schweigend und mit einem Lächeln betrachtete, so dass ich alles andere vergaß. Ich war so verliebt in sie. Dabei wusste ich so wenig aus ihrem Leben, obwohl sie mir so nah war und mein Herz aufwühlte. Aber war denn das nicht die Liebe, die nichts fragt, alles gibt und ohne zu zögern auch alles nimmt...?

Bridget war nicht im Haus, als ich durch das Gartentor trat, ihre Mutter machte sich an einem Gemüsebeet zu schaffen. Ich fragte sie, wo Bridget sei. Mrs. Walker richtete sich zu ihrer vollen Größe auf und bat mich sehr höflich um eine Unterredung drinnen im Haus.

Eine seltsame Angst beschlich mich. War Bridget etwas passiert? Aber dann würde ihre Mutter doch nicht seelenruhig im Garten Unkraut jäten? Mrs. Walker schenkte mir Tee ein, den ich nicht wollte, und setze sich mir gegenüber. „Bridget kommt nicht wieder,“ sagte sie. „Und vielleicht ist es besser, wenn Sie den Rest Ihres Aufenthaltes in einer Pension direkt in Broadstairs verbringen. Selbstverständlich komme ich dafür auf.“

Ich verstand gar nichts. Mir wurde klar, wie sehr ich mich schon an Bridgets ureigenste Sprache gewöhnt hatte, aber dass es mir immer noch schwer fiel, das Englisch anderer Menschen mühelos und auf Anhieb zu verstehen.

Aber sie wiederholte das Gesagte noch mehrmals, bis ich wütend wurde, von meinem Stuhl aufsprang und Mrs. Walker eindringlich bat, mir zu sagen, was denn passiert sei. Ich lief in Bridgets Schlafzimmer, eine Art Kinderzimmer, aus dem eine junge Frau von 22 Jahren längst herausgewachsen war. Nie hatte ich mir etwas dabei gedacht, denn schließlich nutzte Bridget ja gemeinsam mit ihrer Mutter alle Räume des Hauses.

„Wo ist Bridget?“ fragte ich noch einmal und fühlte mich kaum in der Lage, freundlich zu bleiben. „Ich will sie heiraten, auch wenn ich vielleicht sehr jung erscheine, Mrs. Walker, und noch kein eigenes Einkommen habe. Aber ich werde zurück nach England kommen und hier studieren und mit Bridget in London leben!“ Hatte ich Bridget jemals gefragt, wie sie eigentlich ihr Geld verdiente? Was tat Bridget?! Ich konnte mich an gar nichts erinnern, in meinem Kopf war Leere.

„Bridget ist verheiratet,“ sagte Mrs. Walker, „seit zwei Jahren. Ihr Mann ist bei der Marine, und um den Sommer über nicht allein in ihrem Haus zu verbringen, hat sie mich während seiner Abwesenheit besucht und bei mir gewohnt. Wir haben jedes Jahr Englischschüler aufgenommen, schon seit Bridgets Kindheit, sie fand das immer sehr lustig. Heute kommt ihr Mann heim und sie ist nach dem Frühstück in ihr eigenes Haus gefahren, um die Wohnung in Ordnung zu bringen. Sie war auch zwischendurch immer einmal vormittags dort, während Sie Ihre Kurse besuchten.“

Eine Faust presste sich in meinem Magen und ich konnte nicht gleich antworten. „Ich muss Bridget sehen,“ sagte ich mehrere Male, „ich muss!“ „Bitte nicht,“ antwortete Mrs. Walker. „Ich habe meiner Tochter immer wieder ins Gewissen geredet, aber sie war absolut besessen von Ihnen. Es hilft jedoch nichts, sie ist nun einmal verheiratet und wie soll ihr Mann sich fühlen, wenn er nach über vier Monaten von See zurückkehrt und seine Frau ihn wegen eines Schuljungen aus Deutschland verlassen hat?“

Ich packte meine Sachen in weniger als einer halben Stunde zusammen. Mrs. Walker begleitete mich zur Bushaltestelle, Jimmy trottete brav neben uns her und kläffte den Bus an, als er hielt. Wir verabschiedeten uns per Handschlag. „Bitte suchen Sie nicht nach ihr,“ sagte Mrs. Walker. „Ich bedaure sehr, dass meine Tochter Sie so verletzt hat. Aber meine Einwände waren wohl nicht stark genug. Meine Tochter ist ein sehr eigenwilliger Mensch.“ Ich glaube, für eine englische Mutter aus der Kleinstadt lag in diesen Worten schon überschwängliche und bemerkenswerte Herzlichkeit.

Als ich mich bei der Abfahrt des Busses nach Mrs. Walker und ihrem Hund umsah, merkte ich, dass ich weinte.

*

Drei Tage suchte ich ganz Broadstairs nach Bridget ab. Ich lief die Straßen entlang und suchte ihren Austin. Ich fragte in jedem Laden nach ihr, aber ich wusste ja nicht mal ihren richtigen Nachnamen. Man sollte meinen, in einem kleinen verschlafenen Städtchen wie Broadstairs wäre eine Frau wie Bridget innerhalb von drei Tagen ausfindig zu machen. Vielleicht hätte ich mehr Glück gehabt, wenn ich länger geblieben und geduldig gewesen wäre oder mich vor Mrs. Walkers Haus positioniert hätte. Aber ich hielt es nicht mehr aus.

Am dritten Morgen löste ich eine Zugkarte nach Dover. Ich rief meine Freunde an, die --- gerade zurückgekehrt aus Frankreich, versprachen, irgendwann am Abend oder in der Nacht in Calais einzutreffen und mich dort abzuholen.

Auf der Überfahrt kotzte ich mir die Seele aus dem Leib. Ich hatte fast zwei Tage gar nichts mehr gegessen, aber ich erbrach und war mir nicht sicher, ob es von der Seekrankheit oder vom Liebeskummer herrührte.

Drei Tage ließen meine verlässlichen Kumpels und ich uns Zeit für die Rückkehr nach Deutschland. Meine Freunde hatten mich vor fast drei Monaten noch halb betrunken nach durchzechter Nacht zum Bus gebracht. Nun kutschierten sie mich in dem alten R4 durch die Gegend, in dem ich auf der Rückbank vor mich hin starrte und schon zum ersten Frühstücksgang eine billige Flasche Rotwein durch meine Kehle laufen ließ. So überlebte ich die ersten Tage und schlief die Nächte durch. Meistens auf einer Luftmatratze neben dem R4 in einem Wald oder an einem Feldrand, nur einmal forderte uns die französische Polizei zum Abbruch unseres improvisierten Nachtlagers auf.

*

Im darauffolgenden Herbst nahm ich ein Betriebswirtschaftstudium in Hamburg auf. Ich verdrängte den Sommer mit Bridget, Broadstairs, England. Ich mied England wie die Pest und heiratete später meine heutige Frau.

Vor zweieinhalb Jahren erhielt ich einen Brief von der guten alten Mrs. Walker. Im Alter von nur 42 Jahren war Bridget wenige Wochen zuvor an den Folgen eines Verkehrsunfalls gestorben. Sie hinterließ drei Kinder aus zweiter Ehe. Denn die mit ihrem Marinesoldaten war bereits vier Monate nach unserem gemeinsamen Sommer in Broadstairs in die Brüche gegangen.

Neben Bridgets Todesanzeige fand ich einen Brief, den sie mir am Tage meines Fortgangs aus der Sheffield Lane in den frühen Morgenstunden geschrieben und ihrer Mutter für mich gegeben hatte. Mrs. Walker hatte dann wohlweislich darauf verzichtet, ihn mir auszuhändigen.

Bridgets Brief lautete:

Lieber Thomas,

ich hätte dir längst etwas sagen müssen. Ich bin verheiratet, nicht glücklich, nicht unglücklich, aber ich kann meinem Mann, der Marinesoldat ist und heute von einem längeren Asienaufenthalt zurückkehrt, nicht einfach brüskieren und ihn damit konfrontieren, dass ich mich in einen 19-jährigen Englischschüler aus Deutschland verliebt habe!

Du willst mich heiraten, was Blödsinn ist, aber vielleicht kannst du mir mein kleines Geheimnis vergeben und wir können weitersehen, wenn du im Herbst wirklich wie geplant nach England zurückkehrst? Du musst doch auch erst mit deinem Vater sprechen und dann wird sich schon alles finden!

Wenn du es jetzt immer noch willst, können wir nächste Woche noch einmal etwas gemeinsam unternehmen, denn dann ist mein Mann bei seiner Familie in Glasgow, ich werde aber nicht mitfahren. Und dann sprechen wir in Ruhe über alles und vielleicht kann ich dich ja auch bald mal in Deutschland besuchen?

Überleg es dir, verzeih mir und erlaube mir Küsse...

Ich werde dich so vermissen!

Von ganzem Herzen, Bridget

Ich habe die alte Mrs. Walker nicht zur Rede gestellt. Mir war klar, dass sie nichts anderes versucht hatte, als die junge Ehe ihrer Tochter zu retten, indem sie mir Bridgets Abschiedsbrief vorenthielt. Und Bridget hatte sie aus dem gleichen Grund erzählt, ich sei wutentbrannt abgereist und wolle nichts mehr mit ihr zu tun haben.

Manchmal trinke ich in einer kleinen Teestube bei uns um die Ecke ein Glas Darjeeling, den ich bis heute nicht mag. Und wenn meine Frau sich im Fernsehen sonntagabends englische Schmonzetten anschaut, könnte ich wahnsinnig werden.

Venus in Krebs

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