Читать книгу Das Neue Land - Verena Pausder - Страница 6
ОглавлениеGuten Morgen,
mein Name ist Verena Pausder.
Ich bin 41 Jahre alt.
Ich gehöre zu einer Generation, die keinen eigenen Buchstaben hat.
Vielleicht ein bisschen Y, sicher nicht X, und Z auch nicht wirklich.
Wir sind nicht mehr jung, wir sind aber auch noch nicht alt.
Wir stehen mitten im Leben – und haben seit Jahren eine Idee davon,
wie dieses Land zukunftsfähiger werden kann,
wie wir innovativer,
wie wir menschlich und verantwortungsvoll handeln wollen.
Wir haben geträumt,
wie wir die Gesellschaft,
wie wir Wirtschaft und Politik,
wie wir Bildung und Wissenschaft
modernisieren könnten –
wie sie aussehen könnte, diese Welt von morgen.
Jetzt hören wir auf zu träumen.
Jetzt fangen wir mit diesem Morgen an.
Jetzt beginnt das Leben in einem Neuen Land.
In diesem Buch will ich darüber sprechen,
wie dieses Neue Land aussehen soll.
Ja, sprechen.
Das Buch ist eine Rede,
eine leidenschaftliche Rede.
Das ist sicher ungewohnt.
Aber das gesprochene Wort
hat mich schon immer fasziniert.
Immer, wenn es wichtig wird,
greife ich zu Papier und Stift
und schreibe eine Rede.
Um durch Worte meine Gedanken und Gefühle auszudrücken.
Um das zu sagen, was mir wirklich wichtig ist.
Deshalb habe ich dieses Buch als eine große Rede geschrieben.
Denn das bin ich.
Das macht mich aus.
So kann ich mich am besten ausdrücken.
Vor allem, wenn ich die Landkarte eines Neuen Landes entwerfe.
Vor allem, wenn ich in Worte fassen will,
was meine Generation und mich bewegt.
Genau genommen sind es viele einzelne Reden.
Jede Rede für sich ist wichtig.
Es gibt die Bildungsrede,
die Politikrede oder die Digitalisierungsrede.
Reden zu Themen, die mich bewegen.
Themen, zu denen ich etwas zu sagen habe.
Und:
Ideen und Impulse für ein Neues Land.
Dieses Buch ist aber auch eine Rede
während einer globalen Krise.
Denn Corona ist ein Einschnitt in unser Leben.
Das wird keiner je vergessen.
Im Zeitraffer scheint sich aufzulösen, was bisher war.
Gewohnheiten, Gewissheiten, Überzeugungen – alles auf dem Prüfstand.
Gestoppt wurde ein Leben, wie wir es kannten –
und das so schnell,
so unwirklich
und so tiefgreifend,
wie es die Welt in den letzten Jahrzehnten nicht erlebt hatte.
In den vergangenen Jahren haben wir – auch ich –
viel und wohl etwas arglos von Disruption gesprochen,
dass sich Unternehmen,
dass sich das politische und wirtschaftliche Leben radikal ändern müsse,
damit wir zukunftsfähig bleiben.
Jetzt haben wir gesehen,
wie unbarmherzig Disruption ist – wenn nichts mehr ist, wie es gestern war,
und was »radikal« in Wirklichkeit bedeutet.
Aber,
wir haben trotz dieser Eruption auch erkannt,
wie gut wir sein können.
Und »gut« nicht nur im Sinne von fleißig, hartnäckig, zielstrebig.
Sondern »gut« in einem sehr menschlichen Sinne.
Wir steckten eigene Bedürfnisse zurück.
Nachbar*innen halfen und helfen sich gegenseitig.
Das Klagelied von anonymisierten Nachbarschaften
wurde ins menschliche Gegenteil umgekehrt.
Wir erleben Wertschätzung, ja Dankbarkeit für Menschen,
die dieses Land tatsächlich zusammenhalten,
und vor allem haben wir gelernt,
was Gemeinwohl tatsächlich bedeutet.
Gemeinwohl ist der Zustand, bei dem es nicht nur uns selbst, sondern auch anderen gut gehen muss.
Und es war bei vielen, bei sehr vielen der Wille zu spüren,
ihre Kraft,
ihre Energie,
ihre Talente in dieses Gemeinwohl einzubringen.
Bei mir war es die Entwicklung einer Homeschooling-Website.
Weil die meisten Schulen die Krise unvorbereitet getroffen hat,
weil Eltern und Lehrer*innen mit Homeschooling überfordert waren,
weil sie nicht wirklich wussten,
wie sie Schüler*innen unterrichten sollten, die nicht in der Schule sitzen,
habe ich homeschooling-corona.com ins Netz gestellt.
Seit Jahren beschäftige ich mich mit digitaler Bildung,
habe digitale Lernwerkstätten und Anwendungen entwickelt,
habe viel von meiner Energie in eine neue,
bisher wenig beachtete Form der Bildung
gesteckt.
Meine Homeschooling-Webseite wurde während der Krisenmonate
hunderttausendfach aufgerufen und geteilt.
Es meldeten sich Lehrer*innen, Schulleiter*innen und Politiker*innen aus ganz Deutschland,
und ergänzten, welche Lösungen es noch gibt,
um einen digitalen Unterricht zu gestalten.
Eine enorme Energie wurde freigesetzt,
Ideen sprühten,
die Veränderungsbereitschaft war immens.
Für mich eine absolut positive Erfahrung,
wie sich in der Krise zeigt,
was wirklich richtig und wichtig ist.
Und dass intensiv am Neuen gebaut werden kann,
ja, gebaut werden muss,
damit ein Neues Land entsteht.
Mir geht es nicht darum, in die Zukunft zu blicken,
und Vorhersagen zu machen.
Mir und meiner Generation geht es darum,
jetzt Verantwortung zu übernehmen.
Denn:
Das Neue Land ist da.
Es ist schon lange da.
Es ist digital, es ist weltoffen, es ist vernetzt,
es schätzt Familie und Beziehungen,
es ist kooperativ und innovativ,
es ist mobil und umweltbewusst,
es kennt die Bildung von morgen,
es riskiert etwas, es ist anständig, es ist politisch.
Man hat dieses Neue Land lange höflich behandelt.
Man hat sich mit dem Neuen Land geschmückt,
es als sympathische Ergänzung gesehen,
gerade das »Digitale« war eine hübsche Zierde für den Industriestandort,
aber:
Man hat es nie ernst genommen.
Nie wirklich ernst genommen.
Bis jetzt.
Corona hat, bei aller Menschlichkeit, Solidarität und Wertschätzung,
vor allem Versäumnisse offenbart.
In den vergangenen Monaten haben viele gesagt, was sich ändern muss.
Und doch sind es oft genau diejenigen,
die schnell in alte Verhaltensweisen zurückfallen.
Denn:
Warum sollte jemand, der sich vor der Krise gegen Veränderung,
gegen den Wandel gesträubt hat,
warum sollten diejenigen
plötzlich zu Gestaltern des Neuen werden?
In der Coronakrise offenbart sich vor allem unser Digitaldefizit.
Das Neue Land sprach schon lange
von Breitbandausbau,
von schnellem Internet,
von Künstlicher Intelligenz,
von Telemedizin und Onlinesprechstunden,
von digitaler Bildung,
von E-Government-Lösungen für
Arbeitsämter, Gesundheitsämter, Bürgerämter,
doch das verfing nicht, wie so vieles.
Bis jetzt.
Die Zahl der Versäumnisse ist hoch,
wie auch die Zahl der Beteuerungen, es von nun an anders zu machen.
In den vergangenen Monaten haben wir sehr oft,
vielleicht etwas zu oft, gehört,
was sich alles ändern wird,
wie sich die Welt,
wie sich das digitale Miteinander,
wie sich globale Lieferketten,
wie sich unser Konsum,
wie sich das Reisen,
wie sich die Zusammenarbeit verändern wird.
Dabei wächst mit jedem Tag,
in dem das Leben wieder »normal« wird,
immer auch die Gefahr, in alte Verhaltensmuster zurückfallen.
Weil es doch VOR der Krise gut war.
Weil diese nostalgische Sehnsucht nach dem »guten Früher« so stark ist.
Für mich dagegen ist die Sehnsucht nach einem guten Morgen viel stärker.
Das oberste Ziel eines guten Morgen ist,
einen Plan für die Zukunft zu schaffen,
eine Vision für das Land zu entwickeln.
Und gemeinsam das Neue Land zu bauen!
Es ist ein Leichtes, auf »die« Politik zu schimpfen,
ein Leichtes, alles besser zu wissen,
auf Twitter großspurig zu erklären, was jetzt wirklich getan werden muss.
Doch das wird nicht mehr reichen.
Aus meiner Sicht müssen wir neue Wege finden,
wie wir unsere Erfahrung
und auch unsere Umsetzungsstärke einbringen können –
und zwar jetzt, genau jetzt.
Jetzt beginnt die Zukunft.
Wer Kinder hat wie ich,
wer dieses Land liebt,
wer die Menschen dieses Landes liebt,
wer in diesem Land etwas bewegen will,
für den ist Zukunft nicht nur ein gesichertes Auskommen,
nicht nur persönlicher Wohlstand,
nicht nur Egoismus und Gleichgültigkeit.
Für den besteht das Morgen in einem positiven Zukunftsbild.
Die Frage ist doch:
Haben wir eine Zukunftsvision, die nicht abstrakt ist?
Kann es eine Zukunftsvision geben, die konkret ist?
Meine Vision ist das Neue Land.
In diesem Neuen Land zeigt sich Handlungsfähigkeit nicht nur in offensichtlichen Krisen –
sondern auch in den vermeintlich unscheinbaren,
aber gleichermaßen wichtigen Herausforderungen – und zwar,
wenn es um die Erneuerung des Industriestandorts Deutschlands geht,
wenn es um das Wegbrechen einstiger Wirtschaftszweige geht,
wenn es um Bildung, Nachhaltigkeit, Fortschritt und Zukunft geht.
Im Neuen Land klingen die Dinge nicht nur gut,
im Neuen Land werden keine »Pakete« geschnürt,
sondern Zukunftsbilder entwickelt.
Klare, nachvollziehbare Zukunftsbilder.
Der Drang, es gut klingen zu lassen, ist in der Politik
häufig stärker als die Aufgabe,
ein klares Ziel zu definieren,
und zu sagen, wohin wir wollen.
Das Ziel zu erreichen bedarf vieler, kleiner iterativer Schritte,
vieler Meilensteine und überschaubarer Arbeitspakete.
Einfach mal anfangen, statt zu lange darüber zu sprechen.
Das ist die neue Haltung.
Wir machen uns besser Schritt für Schritt an die Umsetzung –
als dass wir gewaltige Aufgaben, wie Klimaschutz oder Künstliche Intelligenz,
vor uns herschieben – weil wir auf die perfekte Lösung warten,
statt einfach anzufangen.
Weil es noch nicht diese eine,
die perfekte,
die mit allen abgestimmte,
von allen befürwortete Lösung ist.
Weil das Alte Land noch immer den Takt vorgibt.
Weil wir uns noch viel zu sehr auf der Leistung vergangener Tage ausruhen.
Viel zu sehr auf dem, was uns groß gemacht hat.
Aber, wie viele der derzeit im DAX vertretenen Unternehmen sind in den letzten 25 Jahren gegründet worden?
Sind die Taktgeber im DAX nicht immer noch die Siemens’ und Daimlers,
deren Geschichte weit in das 19. Jahrhundert reicht?
Hier ist kein Apple, kein Tencent, kein Alphabet.
Und wenn wir auf das Rückgrat der deutschen Wirtschaft schauen,
den Mittelstand, auch da die Frage:
Wie viele Familienunternehmen, die heute einen Umsatz von mehr als einer Milliarde aufweisen oder mehr als 1000 Mitarbeiter*innen beschäftigen,
sind in den vergangenen 25 Jahren gegründet worden?
Wie viele Familienunternehmen
sind nicht bereits in der zweiten, dritten oder gar zehnten Generation tätig?
Antwort: Es sind nicht viele.
Es sind drei.
Drei der 500 größten Familienunternehmen Deutschlands wurden in den letzten 30 Jahren gegründet.
Das ist das Dilemma:
Wir verklären die Vergangenheit, verklären das, was uns groß gemacht hat.
Dabei lassen wir außer Acht,
welche enorme Leistungsbereitschaft,
welchen Einsatz,
welchen Mut,
welche Kraft es die Menschen schon damals gekostet hat,
Wohlstand aufzubauen,
wie sehr es schon damals auf Unternehmertum, auf unerschrockenes Handeln, und ja, auch auf das »ins Risiko gehen« angekommen ist.
Und vor allem lassen wir außer Acht,
wie viel Leistungsbereitschaft, Einsatz, Mut und Kreativität uns auch heute auszeichnet –
wie viel Leistungsbereitschaft, Einsatz, Mut und Kreativität im Neuen Land vorhanden ist.
Deshalb würde ich vorschlagen:
Kommen wir in der Gegenwart an.
Und Gegenwart heißt:
Wir fangen einfach an,
wir dürfen Fehler machen,
wir dürfen etwas riskieren,
wir dürfen uns gestatten,
die Komplexität nicht zu jedem Zeitpunkt zu beherrschen,
aber wir dürfen nicht im Besitzstand ersticken.
Wir müssen Neues wagen.
Ich weiß, ich habe es oft gehört:
Nicht so schnell, liebe Verena,
wir sollten uns nicht zu weit herauswagen,
auch nicht zu sehr auffallen.
Nicht zu sehr auf die Pauke hauen.
Bescheidenheit ist der Maßstab.
Und der Konsens. Und der Kompromiss.
Und ist eine neue Idee auch noch so gut
– sie muss demütig und bescheiden daherkommen.
Ich habe eine Reihe von Politiker*innen erlebt,
die eigentlich auch dem Neuen Land angehören,
die veränderungsbereit und mutig sind,
aber
ich habe erlebt, wie sie sich verändern, wenn aus ihnen die Partei spricht,
wie schnell sie umschwenken
und oft wider besseres Wissen Dinge sagen,
die man als Vertreter*in der Partei eben zu sagen hat.
Doch: Menschen wählen Menschen,
glaubwürdige Menschen.
Und glaubwürdig ist, wer sich erklärt.
Und sich treu bleibt.
Das ist ein Wesenszug des Neuen Landes.
Man will wissen:
Was denkst DU? Warum machst DU es?
Warum stehst DU für diese Sache?
Und warum nicht?
Die jüngere Generation ist ohnehin ungeduldig,
das zeigen nicht zuletzt die Klimaproteste.
Ich zähle nicht mehr wirklich zu dieser jungen Generation –
auch wenn ich in altehrwürdigen Industrierunden immer noch als die junge Start-up-Expertin begrüßt werde.
Aber die Ungeduld kann ich nachvollziehen.
Es braucht heute klare Antworten, und noch wichtiger:
Es braucht Handlungen.
Und echte Menschen, die sie umsetzen.
Der Wandel hat längst begonnen,
und es ist unredlich, so zu tun,
als könne man diesen irgendwie aussitzen.
Ich komme aus einer Unternehmerfamilie
mit einer fast 300-jährigen Tradition
im wahrlich disruptiven Textilgewerbe,
und weiß:
Wandel ist schmerzhaft. Wandel bedeutet tiefe Einschnitte.
Ein Wandel kann alles auf den Kopf stellen.
Aber: Ein Wandel ist nicht das Ende.
Wandel kann man aktiv gestalten.
Heute erleben wir den Übergang vom Industrie- zum Digitalkapitalismus.
Und wie bei den industriellen Revolutionen zuvor
denken wir wieder alle:
Es wird schlimmer.
Es wird aber nicht schlimmer.
Durch die jeweiligen industriellen Revolutionen hat sich
die Lebensqualität der Menschen verbessert.
Die Arbeitsbelastung ist geringer geworden.
Die Zahl der Arbeitsplätze hat zugenommen.
Mir ist bewusst: In einer Zeit, in der krisenbedingt viele Arbeitsplätze verloren gehen,
kann der Glaube an eine neue Arbeitswelt verloren gehen,
auch wenn die Anzeichen bereits vor der Krise sichtbar waren.
Ich bin überzeugt,
dass wir noch nicht einmal ahnen,
wie viele Arbeitsplätze wir mit dem digitalen Wandel schaffen,
wie viel Arbeitsplätze im Neuen Land geschaffen werden.
Denn das, was vor uns liegt, hat eine Bedeutung,
die wir erst beginnen zu überblicken.
Wir erleben die Auswirkungen einer weltweiten Pandemie.
Menschen haben ihr Leben verloren.
Unternehmen haben harte Zeiten vor sich.
Arbeitsplätze gehen verloren, Träume zerplatzen,
Entwürfe und Konzepte haben sich erledigt.
Aber:
Es geht weiter.
Und wir haben nun zwei Möglichkeiten:
Erstens:
Wir können den Wandel tragisch und dramatisch finden,
und alle diejenigen, denen etwas weggebrochen ist,
irgendwie trösten und
so lange wie möglich notwendige Maßnahmen hinauszögern.
Oder zweitens:
Wir können etwas machen.
Wir können Chancen eröffnen.
Wir können den Menschen zeigen, was vor ihnen liegen könnte,
und gemeinsam mit ihnen ein positives Bild der Zukunft entwickeln.
Darin sehe ich die Aufgabe von Politik:
Wir brauchen politische Führung, die Chancen sieht,
und nicht nur in Krisen handlungsfähig ist –
sondern auch in »normalen« Zeiten.
Wir brauchen Menschen, die Verantwortung für die Zukunft übernehmen.
Wir brauchen mehr Engagement, mehr Fantasie, mehr Wille –
und vor allem einen Glauben daran,
mit verändern zu können.
Deshalb engagiere ich mich für das Neue Land!
Und auch, weil es langsam Zeit ist.
Einmal, 2003 mit Mitte 20, wollte ich mich bereits politisch einbringen.
Es hatte sich damals der Bürgerkonvent auf Initiative des Sozialwissenschaftlers Meinhard Miegel gebildet.
Menschen aus der Mitte der Gesellschaft wollten
etwas gegen die »Lähmung« tun.
Sie wollten Deutschland besser machen.
Es gab den Appell, dass Deutschland »eine Schippe drauflegen« müsse.
Und diese Menschen fühlten sich diesem Appell verpflichtet.
Eine Partei war es noch nicht, eher eine Bürgerbewegung, der Beginn einer Bewegung.
In jeder großen Stadt bildeten sich Stammtische.
Man traf dort Ärzt*innen, Steuerberater*innen, Beamt*innen, Lehrer*innen, Menschen aus der Mitte der Gesellschaft,
Leistungsträger*innen.
Ich steckte gerade in meinem ersten Job bei der Münchener Rück.
Der Zusammenbruch der New Economy lag hinter uns,
und Deutschland erholte sich langsam von der Rezession.
Mir ging das alles nicht schnell genug.
Ich hatte das Gefühl, die Menschen – und gerade auch die Politik – waren viel zu träge, das alte Land wiederaufzubauen.
Deshalb war ich so angetan von dieser Bürgerbewegung.
Sie stellte die Schaffenskraft nach dem Zweiten Weltkrieg der Trägheit und »Sattheit« im Jahr 2003 gegenüber.
Allein die Videos der Initiative sprachen mich so sehr an.
Und die Sprache euphorisierte mich:
»Deutschland ist besser als jetzt!«
»Krempeln wir unsere Ärmel hoch, sind wir uns für nichts zu schade, packen wir es an!«
Da wollte ich auf jeden Fall dabei sein!
Also ging ich zum ersten Treffen in einem Münchener Lokal am Englischen Garten,
es war eine klassische bayerische Wirtsstube.
Die Decken niedrig, die Luft etwas stickig, schwere, dunkle Holzmöbel.
Im Raum vielleicht hundert Menschen, viele Männer, kaum Frauen –
und alle älter als ich.
Aber wie die anderen war ich begeistert.
Endlich!
Endlich kommt Bewegung in unser Land!
Endlich, der berühmte Ruck! Da ist er!
Beim ersten Mal saßen alle an Tischen und auf Stühlen kreuz und quer verteilt im Raum,
alle dicht gedrängt, alles leicht chaotisch.
Viel Energie und Aufbruch lagen in der Luft –
aber noch wenig Struktur.
Man sollte sich melden, wurde vom Organisator aufgerufen.
Dann sollte man sagen, warum man da sei
und was die Motivation sei, beim Bürgerkonvent mitzumachen.
Ich meldete mich als Zweite – und hob zu einem leidenschaftlichen Vortrag an:
Dass ich Anfang 20 sei, noch lange in Deutschland leben würde und meinen Beitrag leisten wollte, dass Deutschland zukunftsfähig bliebe.
Ich kam richtig in Fahrt.
Ich rief in den Raum, dass wir mehr Chancen als Risiken sehen,
nicht so viele Bedenken haben sollten,
uns einfach mal trauen sollten.
Das kam an.
Es gab viel Applaus, die Leute schienen begeistert,
dass sich eine junge Frau wie ich so für die Belange des Landes interessierte.
Beim zweiten Treffen ging es schon wesentlich gesitteter zu.
Es war derselbe Raum.
Aber es waren weniger Leute gekommen.
Vorne war ein Tisch aufgebaut, an dem vier Männer saßen,
jeder hatte ein Namensschild vor sich.
Wer die Männer ausgewählt hatte, war nicht klar und
warum sie da saßen,
welche Funktion sie hatten,
auch nicht.
Bei Wortmeldungen musste man nun sagen, wer man sei, wie alt,
welchen Beruf, Ausbildung
und
in welchem Bereich man sich ganz konkret engagieren wolle.
Zur Auswahl standen: Arbeitsmarkt, Soziales, Wirtschaft, Bildung.
Das hatte zur Folge, dass jeder, der sich meldete,
erst mal ausführlich seinen eigenen Lebenslauf referierte und
sich selbst im besten Licht darstellte.
Die Aufgerufenen erzählten,
was er oder sie schon Tolles gemacht hatten,
um schließlich vertiefend zu erläutern,
worin ihre Kompetenz im jeweiligen Bereich bestand.
Hinzu kam, dass weit mehr über die Politik geschimpft wurde,
als dass neue Lösungen oder Ideen vorgebracht wurden.
Am Ende wurde man einer Arbeitsgruppe zugeteilt.
Beim dritten Mal wurde dann endgültig begonnen,
»Strukturen« zu schaffen.
Ein Schatzmeister wurde ernannt.
Fast der ganze Abend bestand darin, Posten und Aufgaben zu besprechen,
festzulegen, wer was macht,
und wer welches Amt bekommt.
Plötzlich war da eine Lähmung.
Der verbindende Geist hatte sich verflüchtigt.
Man dachte nur noch in Zuständigkeiten,
in regionalen Verbänden und Ausschüssen.
Ich konnte zuschauen, wie der Mehltau sich auf das senkte,
was sich immer noch euphemistisch »Bewegung« nannte.
Nur bewegen wollte sich keiner mehr.
Für mich eine betrübliche, aber rückblickend
auch eine erhellende Erfahrung.
Heute weiß ich:
Wir brauchen ein Neues Land.
Und wir dürfen nicht lockerlassen.
Wir werden es in Bewegung bringen.
Vielleicht sehe ich vieles zu »unternehmerisch«.
Vielleicht habe ich zu lange in einem Klima gelebt,
in dem man Dinge anpackt,
indem man nicht lange zögert, wenn man von etwas überzeugt ist.
Wer zwei Unternehmer als Eltern hat, kann sich dem kaum entziehen.
Beim Mittagessen musst du still sein, weil im Radio die Börsenkurse genannt werden und gesagt wird,
wo der Goldpreis gerade steht.
Beim Abendessen geht es um die Firma,
und am Wochenende wird der Tisch frei geräumt,
weil Rechnungen gestapelt und abgearbeitet werden.
Das kann man blöd finden, weil man oft zu kurz kommt.
Weil man naturgemäß wenig von der Schule erzählen kann,
wenn im Radio Kurse verlesen werden.
Aber es kann einen mitreißen, es kann einen begeistern.
Denn Unternehmertum heißt immer auch:
Nichts ist wie gestern. Jeder Tag ist neu.
Es gibt keine Routine. Kein Tag ist egal.
Positiv wie negativ.
Du bist always-on.
Du musst immer alles geben.
Und immer gilt das Mantra:
»Das Glück ist mit den Tüchtigen!«
»Von nichts kommt nichts!«
»Mut wird belohnt!«
Alles Sätze, die mich geprägt haben.
Ja, das ist meine Sozialisation.
Mich hat es nicht genug abgeschreckt.
Ich habe es sogar richtig gemocht.
Deshalb bin ich selbst Unternehmerin geworden.
Weil ich es verinnerlicht habe,
das Gefühl,
sich etwas zu trauen,
etwas auszuprobieren,
einfach loszulaufen – auch wenn man nicht genau weiß, wohin es einen führt.
Ich habe die Erfahrung gemacht,
man läuft meist weiter, als man denkt,
man steigt oft höher als gedacht.
Damit das passiert, brauchen wir ein Ziel,
eine gemeinsame Richtung, in die wir laufen.
Gute Politik soll große Visionen entwickeln und große Wetten eingehen – aber:
der Weg dahin wird in kleine, messbare, schnelle Schritte zerlegt.
Keine*r im Neuen Land wartet auf den Riesenwurf.
Jede*r im Neuen Land weiß aber:
Wir brauchen ein Zielbild.
Nehmen wir es also in die Hand und modernisieren das Land.
Oder mit anderen Worten gesagt:
Das 21. Jahrhundert hat noch einmal begonnen.
Und es wäre schön, wenn viele mitmachen würden.
Denn:
Wir sind auf dem besten Weg, ein Naherholungsgebiet für China zu werden.
Diese Gefahr ist durch Corona nicht geringer geworden –
ganz im Gegenteil.
Wir sind fast selbstverständlich dabei,
Know-how, ganze Firmen, Patente nach Fernost zu veräußern –
und darauf zu vertrauen,
dass wir irgendwo immer noch Weltmarktführer sind.
Warum sind wir so?
Weil wir im Kopf noch zwischen 1983 und 1997 feststecken,
weil wir in Autos und Maschinen denken,
weil uns der Gedanke an die Zukunft verloren gegangen ist.
Doch ich bin mir sicher, meine Generation, und vor allem auch die Jüngeren, die wollen nicht verwalten,
sondern mitgestalten, wohin sich die Welt entwickelt.
Das ist der Kern des Neuen Landes:
Man wagt etwas, bevor man urteilt.
Man probiert etwas aus, bevor man es schlecht redet.
Wir haben alle wenig Ahnung,
wie die Technologie unser Leben noch umkrempeln wird.
Trotzdem halten wir an alten Statussymbolen fest,
an alten Industrien,
an einer veralteten Schulbildung,
an einem überholten Verständnis von Arbeit und Produktion.
Wir brauchen nicht nur neue Statussymbole.
Nicht nur ein neues Bewusstsein für Familie und Beruf,
für die Umwelt, Mobilität und Ernährung.
Wir brauchen ein Neues Land.
Jetzt ist die Zeit, etwas anders zu machen.
Jetzt ist die beste Zeit für ein Neues Land.
Warum?
Weil wir gezeigt haben, was in uns steckt,
zu was wir alles in der Lage sind,
und wozu uns zuvor die Fantasie,
die Ideen,
der Wille,
der Mut gefehlt haben.
Jetzt sind wir mutig. Jetzt fangen wir an!