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Rob Faesen SJ | Leuven (BEL)

geb. 1958, Dr. theol., Professor für Kirchen- und Theologiegeschichte an der KU Leuven

robertus.faesen@kuleuven.be

Leben in Gott

Beatrix von Nazareth (1200–1268)

Das Fürstbistum Lüttich zählte im 12. und 13. Jahrhundert zu jenen Landstrichen, die – gemessen an schriftlichen Zeugnissen – einen besonderen spirituellen Reichtum hervorbrachten. Beatrix von Nazareth ist zusammen mit Hadewijch die erste niederländische mystische Autorin, die wir namentlich kennen. Sie steht daher am Anfang der mittelniederländischen mystischen Literatur. Es ist auch heute noch ungemein lohnend, sich in ihr Leben und Werk zu vertiefen. Der folgende Beitrag will einen kleinen Vorgeschmack geben, indem wir zunächst kurz auf Beatrix’ Leben und den spirituellen Kontext, in dem sie lebte, eingehen. Anschließend blicken wir auf ihr Werk Die sieben Arten der Minne.

Leben in Brabant

Beatrix wurde 1200 in Tienen geboren. Ihr Vater Bartholomäus war ein reicher Bürger, ein zutiefst gläubiger und religiöser Mann. Seine Frau Geertrui wird in der Vita ebenfalls als sehr religiös bezeichnet. Es war eine glückliche Familie mit sechs Kindern, wobei Beatrix die jüngste war. Der älteste Sohn wurde Prämonstratenser in Averbode. Beatrix war ein begabtes Kind, das von ihrer Mutter schon in jungen Jahren Lesen und Schreiben gelernt hatte. Geertrui starb jedoch, als die kleine Beatrix erst sechs Jahre alt war. Um die Erziehung so gut wie möglich fortzusetzen, brachte ihr Vater sie in die Beginengemeinde Zoutleeuw, fünfzehn Kilometer von Tienen entfernt. Sie lebte ein Jahr bei den Beginen und konnte am Schulunterricht in Zoutleeuw teilnehmen. Später ging Beatrix in der Benediktinerabtei (nachmalig Zisterzienserinnen) von Bloemendaal (lat. Florival) in Eerken (Archennes) bei Waver zur Schule. Ihr Vater war dort „Finanzmanager“. Hier erhielt die junge Beatrix eine intellekuelle und religiöse Ausbildung. Als sie fünfzehn Jahre alt war, bat sie um Aufnahme in den Orden. Nach ihrer Zulassung legte Beatrix am 16. April 1216 ihre Gelübde ab.

In Bloemendaal hatte man längst ihre Begabungen erkannt. Sie wurde für ein Jahr in die Abtei von Rameia (La Ramée) in Jauchelette, südlich von Jodoigne, geschickt, um das Schreiben und Illuminieren von Manuskripten zu lernen. Beatrix konnte während ihrer Ausbildung nicht nur ihre künstlerischen Fähigkeiten entwickeln, sondern sich dabei intensiv mit dem Evangelium, der Liturgie und bedeutenden Texten der geistlichen Tradition der Kirche auseinandersetzen. In dieser Zeit freundete sie sich mit Ida von Nijvel (1190–1231) an. Ida war nur zehn Jahre älter als Beatrix, aber Beatrix betrachtete sie stets als ihre geistige Mutter.

Als Beatrix nach ihrem Aufenthalt in La Ramée nach Bloemendaal zurückkehrte, hatten sich ihr Vater und ihr Bruder Wicbert als Laienbrüder sowie zwei ihrer Schwestern, Christina und Sybille, der Abtei angeschlossen. 1221 wurde von Bloemendaal in Oplinter (nördlich von Tienen) Maagdendaal gegründet. Beatrix wurde zusammen mit ihrem Vater, ihren Geschwistern und einigen anderen Mitgliedern der Bloemendaal-Gemeinschaft dorthin geschickt, wo sie um 1225 vom Bischof die Jungfrauenweihe erhielt. Doch damit war das Wanderleben von Beatrix noch nicht beendet. Wieder war es eine Neugründung, die für sie bestimmt war, in der Nähe von Lier. Beatrix wurde 1237 zur Priorin gewählt und blieb dies bis zu ihrem Tod. Das neue Kloster war „Unserer Lieben Frau von Nazareth“ gewidmet – bezogen auf das verborgene Leben Jesu in Nazareth, auf jene Zeit, da Jesu göttliche Identität nur Maria und Joseph bekannt war. Über die Zeit danach ist wenig bekannt. Beatrix erkrankte zu Weihnachten 1267 und starb am 29. August 1268.

Das Milieu der Beginen

Beatrix gehört neben Hadewijch zu den ersten, die in Europa Mystik in ihrer Volkssprache schreiben. Leider ist nur ihr Werk Sieben Arten der Minne (Seven manieren van minne) erhalten. Diese mystische Literatur in Mittelniederländisch entstand nicht aus dem Nichts. Ihr Nährboden war eine ältere spirituelle Bewegung, mit dem Fürstbistum Lüttich als Kerngebiet. Ein kurzes Zitat aus einem um 1175 (also 25 Jahre vor Beatrix’ Geburt) geschriebenen Brief des Lütticher Priesters Lambert (1131–1177) – mit dem Zunamen „li Bègue“ – an Papst Callixtus III. vermittelt einen ungefähren Eindruck. Lambert war nicht „Gründer“ der Beginen, spielte aber sicher eine bedeutende Rolle in dieser spirituellen Bewegung im Fürstbistum Lüttich. Der Brief handelt über das religiöse Leben einer großen Gruppe von Laiengläubigen aus Lüttich: „Ich sah, wie sie sich fleißig und oft in der Kirche versammelten, mit größerer Hingabe beteten als ich, sich sehr würdig und ehrfurchtsvoll verhielten und bestrebt waren, das Wort Gottes zu hören und es so gut wie möglich zu halten. Sie waren betroffen, als der Körper und das Blut des Herrn auf dem Altar dargebracht wurden, nämlich als der Herr des Universums erneut für sie litt. Ihre Tränen und Seufzer zeigten ihre Emotionen an – so sehr, dass es manchmal vorkam, dass ich, als ich mit einem Herz aus Stein am Altar stand und die offensichtlichen Zeichen von so viel Zuneigung und Hingabe sah, fühlte wie mein Herz schmolz, als mein Geliebter auch durch sie zu mir sprach. Was soll ich über die von Herzen kommende Reue des Herzens, die Fülle der Tränen, die Ehrfurcht und den Respekt sagen, mit der sie normalerweise den Körper und das Blut unseres Herrn empfangen haben, ohne den Aufruhr und die Verwirrung der Menschen?“

Ganz offensichtlich: Lambert ist fasziniert. Die Intensität und Ernsthaftigkeit, mit der diese Menschen ihren Glauben leben, ihr Gebetsleben und ihre Ehrfurcht vor der Eucharistie bewegt ihn. Er selbst als Priester stand mit einem steinernen Herzen (vgl. Ez 36,26) am Altar. Er sah ihre Hingabe und fühlte, wie dabei sein Herz schmolz (vgl. Hld 5,6 Vulg.). Sein Geliebter – das ist Gott – sprach durch diese Gläubigen zu ihm. Sie hatten somit eine vermittelnde Rolle zwischen Gott und ihm. Das ist überraschend: Würden wir nicht das Gegenteil erwarten?

Dieser Text ist aufschlussreich hinsichtlich der spirituellen Bewegung im Fürstbistum Lüttich. In dieser Umgebung lebten Beatrix und ihre Familie. Es handelt sich um eine Laienbewegung, die anfangs sowohl Männer als auch Frauen umfasste. Einige Jahrzehnte später teilen Vater Bartholomäus und zwei seiner Söhne die gleiche spirituelle Inspiration wie Beatrix, Christina und Sybille – Männer wie Frauen. Im Zentrum dieser Bewegung stand die gelebte Beziehung zu Gott, insbesondere die Eucharistie, der „Treffpunkt“ von Gott und Mensch schlechthin. Trotz des eucharistischen Fokus spielten die Ordinierten darin in gewisser Hinsicht eine untergeordnete Rolle. Mehr oder weniger im gleichen Zeitraum entstanden ähnlich unorganisierte, spirituell und radikale Gruppierungen in Umbrien.

„Sieben Arten der Minne“

Beatrix’ Traktat ist genial. Der Text zählt nicht, wie man vermuten könnte, sieben aufeinanderfolgende Stufen des spirituellen Lebens auf, bei denen der jeweils vorherige im nächsten Schritt hinter sich gelassen wird. Die Struktur des Textes besteht aus drei Diptychen, denen eine Einführung vorausgeht. Die Einführung ist die „erste Weise“. Die folgenden sechs Weisen bestehen aus drei paarweise angeordneten Textteilen, die jeweils dieselbe Realität aus zwei verschiedenen Perspektiven der Erfahrung in den Blick nehmen.

Nach Gottes Bild und Ähnlichkeit

Die „erste Weise“ beschreibt, worum es im gesamten Traktat geht: um das dem Menschen eingeschriebene Verlangen, nach dem Bild und der Ähnlichkeit dessen zu leben, für den die Seele geschaffen wurde. Dieses Verlangen entspringt der Liebe und ist auf die Würde, auf die Reinheit und auf die Freiheit des Menschen bezogen. Damit gibt Beatrix einen wichtigen Interpretationsschlüssel. Der Hinweis auf „Bild“ und „Gleichnis“ von Gen 1,26 hatte eine sehr spezifische Bedeutung für ihre Zeitgenossen – oder zumindest für diejenigen, die eine spirituelle Ausbildung erhalten hatten. Beginnend mit Origenes und Irenäus wird angenommen, dass der Mensch selbst kein Bild Gottes ist, sondern dass der Mensch „nach“ – das heißt „entsprechend“ – Gottes Bild geschaffen wurde. Das wahre Bild Gottes ist Jesus Christus. Nach dieser Auffassung wurde der Mensch bei der Schöpfung „nach dem Bild Gottes, das Christus ist“ mit der Absicht geformt, dass der Mensch diesem Bild ähnlich werden sollte. Beatrix geht es somit um den Ausgangspunkt und um das letzte Ziel des Menschen: als Person zu leben und zu lieben. Dieses zeigt sich in ihrem Kern als Sehnsucht nach wahrer Gemeinschaft mit Christus. Aber was bedeutet das? Davon handeln die folgenden „Weisen“.

Lieben ohne Maß und ohne Lohn

Die „zweite Weise“ besteht darin, ohne Maß und ohne Lohn zu lieben, jenseits jeglicher menschlicher Berechnung. Hier liegt Beatrix ganz auf der Linie eines Bernhard von Clairvaux. Wahre Liebe zu Gott basiert nicht auf Ökonomie. Sie ist reine, unentgeltliche Liebe. Die „dritte Weise“ ist dann sozusagen Kehrseite dieses Wunsches. Denn dem Menschen wird bald klar, dass es jenseits seiner Fähigkeiten liegt, Gott auf diese Art zu lieben. Der Mensch kann nicht so frei und maßlos lieben, wie er es gerne möchte und auch sollte. Sein diesbezügliches Versagen ist unvermeidlich. Dennoch: Der Wunsch besteht weiterhin. Wer einmal etwas von dem Wunsch nach echter Liebe erfahren hat, kann sich nicht mit einem Weniger zufriedengeben.

Gottes Initiative

Die „vierte Weise“ beschreibt nun die unerwartete mystische Erfahrung. Während im zweiten und dritten Weg der Schwerpunkt auf dem lag, was der Mensch von sich aus in Liebe tut und tun will, beschreibt Beatrix jetzt, wie Gott die Initiative ergreift. Der Mensch erlebt unerwartet, ohne etwas getan zu haben, eine große Nähe zu Gott. Gott selbst lässt den Menschen unerwartet seine Nähe fühlen, obwohl der Mensch dies in keiner Weise selbst erreichen konnte. Deshalb hat er es nicht erwartet.

Die „fünfte Weise“ ist jetzt die Kehrseite dieser Erfahrung. Die Erfahrung der Gegenwart Gottes erzeugt in der Seele eine stürmische Sehnsucht. Der Mensch hat eine Liebe verkostet, die er nicht für möglich hielt und die im Gegenzug ein unersättliches Verlangen nach Liebe hervorruft. Die Intensität des Verlangens ist Reflex auf das vorangehende Eintauchen in die Liebe Gottes, das in der mystischen Erfahrung zuteil wurde.

Die „sechste Weise“ beschreibt die Erfahrung, vollständig in Gottes Leben aufgenommen zu sein, und die Erkenntnis, dass allein Gottes Liebe am Werk ist. Hier entdeckt der Mensch seinen innersten Adel: die Freiheit der Liebe, wie sie in Gottes Leben erfahren wird. Die „siebte Weise“ ist wiederum die Kehrseite ein und derselben Realität. Es ist der grenzenlose Wunsch, definitiv mit Christus zusammen zu sein und in vollem Umfang an seinem göttlichen Leben teilhaben zu können. Die Beziehung zwischen Gott-Vater und Gott-Sohn besteht darin, sich ständig gegenseitig und gänzlich zu geben. Wenn der Mensch daran teilhaben darf – und damit erlebt, „Sohn im Sohn“ zu sein –, dann wünscht er sich nichts weiter, als sich so vollständig wie Christus als Sohn dem Vater geben zu können. Das ist allerdings kein Endpunkt, an dem alles zum Stillstand kommt, im Gegenteil: Gottes Leben und des Menschen Teilhabe daran sind das Leben schlechthin.

„Minne“

Die Bedeutung dieses Wortes ist in den letzten Jahrzehnten breit debattiert worden, insbesondere im Zusammenhang mit Hadewijchs Werk. Aus dem oben Gesagten können wir einige Antwortelemente zusammenführen. Zunächst bezieht sich das Wort minne bei Beatrix und Hadewijch auf die Liebe zwischen Gott und dem Menschen. Zwischenmenschliche Liebe kann natürlich auch im Mittelniederländischen mit diesem Wort bezeichnet werden – denken wir etwa an die profane „Liebesdichtung“ –, aber unser Text beschäftigt sich mit der Liebe zwischen Gott und Mensch. Dies bedeutet nicht, dass die zwischenmenschliche Liebe zum Nächsten ausgeschlossen oder nicht in der minne enthalten wäre. Es bedeutet nur, dass das Wort in erster Linie eine sehr explizite religiöse Bedeutung hat, wie im ersten Satz von Beatrix’ Traktat klar angegeben. Und mit „religiös“ meinen wir das, was mit der Beziehung zwischen Gott und Mensch zusammenhängt. Kurz: Minne ist ein Beziehungsbegriff, in dem sowohl Verweise auf die Erfahrung als auch Einsichten in diese Erfahrung möglich sind.

Diese Liebeserfahrung beinhaltet einige Aspekte, die eng miteinander verbunden sind. Zunächst geht es um alles, was ein Mensch aktiv aus Liebe zu Gott unternimmt, also sozusagen die „aktive“ Liebeserfahrung. In ihr kommt der Mensch zur Erkenntnis, dass noch etwas fehlt. In der Folge hat minne auch einen passiven Aspekt: Der Mensch erfährt, dass Gott selbst tatsächlich die Initiative zur Liebe ergreift. Dabei erlebt der Mensch eine Liebe, die bedingungslos ist und tiefer geht als alles, was er von sich aus unternehmen kann. Minne findet also nicht nur im Tun und Nicht-Tun, im Denken und Wollen statt, sondern auch auf einer fundamentalen Ebene, nämlich im „Wesen“ (wesen) des Menschen. Hier wächst durch Gottes Initiative der Wunsch des Menschen, vollständig Gott zu gehören.

Schließlich gibt es noch einen dritten Aspekt. Der Mensch erfährt, dass in minne ein abgründiges, transzendentes Leben stattfindet, in Form der Teilhabe am göttlichen Liebesaustausch von Vater und Sohn. Menschen sind „Sohn im Sohn“. Jan van Ruusbroec nennt das „Überwesen“ (overwesen), d.h. das innertrinitarische Leben der göttlichen Personen und ihrer Liebeseinheit, an der der Mensch teilnimmt. Hier erkennt der Mensch: Minne ist nicht so sehr „etwas“ als „jemand“. Letzteres erklärt das subtile Bedeutungsspiel, das in vielen Passagen der mittelniederländischen mystischen Literatur zu finden ist: Minne bedeutet dann nicht nur die (komplexe) Liebeserfahrung zwischen Gott und Mensch, sondern auch der göttliche Geliebte selbst. Minne wird zugleich ein Eigenname. Wir finden dieses Bedeutungsspiel hauptsächlich in den Texten von Hadewijch; bei Beatrix ist diese Sicht weniger präsent.

Sich Gott in Liebe verschenken

Zwei kurze Passagen des Textes mögen schließlich einen Eindruck vermitteln, wie Beatrix über die göttliche Minne schreibt. Der erste Abschnitt (vierte Weise) veranschaulicht, wie der Mensch manchmal unerwartet die Gegenwart Gottes fühlt – Gott, der Liebe ist. Beatrix sagt: „Manchmal kommt es vor, dass minne (Liebe) auf süße Weise in der Seele gezeugt wird, sich freudig erhebt und beginnt, im Herzen zu leben, ohne dass menschliche Aktivitäten etwas bewirken. Das Herz wird dann so zärtlich von minne berührt und so eifrig in minne hineingezogen und so leidenschaftlich von minne ergriffen und so heftig von minne überwältigt und so süß in minne umarmt, dass die Seele vollständig erobert wird von minne. In diesem Zustand erlebt sie eine große Nähe zu Gott, eine aufschlussreiche Klarheit und eine wunderbare Fülle, eine edle Freiheit, eine opulente Süße, eine intensive Umarmung der mächtigen minne und eine reichliche Fülle großer Freude. Sie erlebt, dass alle ihre Sinne in minne vereint sind und dass ihr eigener Wille zu minne geworden ist und dass sie so tief in den Abgrund der minne vertieft und versunken ist und selbst vollständig minne geworden ist.“

Wir finden hier eine eine präzise analysierende, man möchte sagen: phänomenologische Beschreibung mystischer Erfahrung. Beatrix ist klar: Die Initiative liegt bei Gott. Der Mensch fühlt sich berührt, angezogen und überwältigt von diesem wunderbaren Geheimnis der Liebe und gibt sich ihm schließlich vollständig hin. Beatrix sieht eine dynamische Bewegung: zuerst berührt, dann hingeführt, bald überwältigt – und schließlich ergibt sich der Mensch dem Anderen. Diese Hingabe an die Liebe, die Gott ist, bedeutet, dass der Mensch dem göttlichen Gegenüber mehr gehört als sich selbst. Es ist eine Form des Selbstverlustes. Aber dieser Verlust des Selbst ist gleichzeitig ein sehr großes Glück, eine tiefe Freude und – noch mehr – eine große Freiheit, sagt Beatrix. Letzteres ist bemerkenswert, wenn wir sehen, wie viele Diskussionen und im Laufe der Jahrhunderte über diesen „Verlust des Selbst“ geführt wurden. Außenstehende dachten, dass dies zu einer Reduktion des Menschseins führen würde. Dies spiegelt immer noch die Debatte über den Quietismus des 17. Jahrhunderts wider. Beatrix gibt jedoch eine klare und direkte Antwort: Sich in Liebe zu Gott zu verschenken, ist edle Freiheit.

Ein zweites Zitat – es stammt aus dem letzten Teil von Beatrix’ Traktat – gibt weiteren Aufschluss über ihre Sicht der minne: „Die Seele hat eine noch höhere Lebensweise der minne, die ihr nicht wenig innere Arbeit gibt. Es besteht darin, in minne hineingezogen zu werden, über menschliches Maß und Vernunft, vor allem in die aktive Tätigkeit unseres Herzens, über die Menschheit, nur mit ewiger minne in die Ewigkeit der minne hineingezogen, in unverständliche Weisheit, und die stille Höhe und im Abgrund der Gottheit – die alles in allem ist und vor allem schwer fassbar bleibt, unveränderlich, allsüchtig, allumfassend und allmächtig.“

Dieses zweite Zitat gibt den Höhepunkt und das Ziel einer Begegnung an. Es geht nicht um das Leben nach dem Tod, sondern um das Leben des Menschen hier und jetzt in Zeit und Raum, das zugleich ein Leben in der Ewigkeit ist, nämlich in der Ewigkeit der minne. Der Mensch lebt in sich selbst (in Zeit und Raum) und lebt gleichermaßen in Gott selbst, dem transzendenten Gott, der ein Abgrund der Liebe ist. Diesen Glauben finden wir bei Beatrix, aber er wird von der gesamten spirituellen Tradition, in der sie steht, geteilt. Der Mensch ist und bleibt vollständig Mensch, und gleichzeitig wird der Mensch über sich hinaus in die Ewigkeit der göttlichen Liebe aufgenommen. Wir finden diese Grundüberzeugung in zahlreichen Miniaturen oder Gemälden des 12. und 13. Jahrhunderts, in denen die menschlichen Figuren von einem goldenen Schimmer umgeben sind – der Farbe von minne, wie Ruusbroec sagt. Das will sagen: Der Mensch ist von einem unglaublichen Geheimnis der göttlichen Liebe umgeben und umarmt. Die minne ist immer schon da und somit grundlegender als das, was der Mensch von sich aus tun oder ausführen kann, viel tiefer als das, was der Mensch erlebt oder nicht erlebt.

Was Beatrix hier beschreibt – das „Leben in Gott“ – gibt uns einen Interpretationsschlüssel an die Hand für viele Meisterwerke religiöser Kunst aus dieser Zeit, für die spirituelle Bewegung, in der sie aufgewachsen ist, sowie für die Armutsbewegungen ihrer Zeit, wie jene des Franziskus von Assisi und seiner Gefährten, gleichermaßen für die frühen Zisterzienser oder Norbertiner. Der Kern ist ein und derselbe: Der Mensch ist von göttlicher Liebe umarmt und umgeben. Er lebt vollständig im göttlichen Gegenüber.

Mit Beatrix von Nazareth stehen wir am Anfang der niederländischen mystischen Literatur. Dieser Anfang stellt sich keineswegs primitiv dar, vielmehr außergewöhnlich fein, theologisch gut durchdacht und präzise die geistliche Erfahrung beschreibend. Beatrix gibt Einblick in eine faszinierende Zeit: in das 12. und 13. Jahrhundert und die dichte spirituelle Atmosphäre im Fürstbistum Lüttich. Es muss eine Erfahrung gewesen sein, in der die Menschen das große Glück, Gott zu begegnen und die Tiefe dieser Liebe gekannt haben mussten. Obwohl der Kern dieser Begegnung in den Raum der Intimität von Gott und Mensch gehört, wurde diese Erfahrung über die Grenzen dieser Region hinaus bekannt, nicht zuletzt durch schriftliche Zeugnisse wie den Minne-Traktat Beatrix’. Die kurze Abhandlung von Beatrix ist vielleicht deshalb so faszinierend, weil sie so grundlegend christlich ist: Beatrix erkundet mutig die wahre Begegnung von Gott und Mensch – zwischen dem Menschen als Mensch und Gott als Gott. Genau das ist das Leben der Christ(inn)en.

Geist & Leben 1/2021

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