Читать книгу Lebendige Seelsorge 3/2019 - Verlag Echter - Страница 6
ОглавлениеDie zentrale Erkenntnis aus den Geschichten Betroffener
Die Replik von Doris Reisinger auf Hans-Joachim Sander
Wer sich in einer Krise befindet, neigt zur Blickfeldverengung. Die Gedanken und Diskussionen drehen sich im Kreis um die eigene Misere. Das ist nicht nur zermürbend, sondern auch fruchtlos. Von daher ist es ebenso erfrischend wie erhellend, die sich im Grunde seit Jahrzehnten kontinuierlich zuspitzende Kirchenkrise in große geschichtliche Kontexte zu stellen. Wenn man sie parallel zu Entwicklungen sieht, die ähnlich aufgebaute Institutionen und Gemeinschaften in der Moderne erleben, dann sieht man, dass wir in Teilen der katholischen Kirche eine religiöse Radikalisierungsbewegung erleben, die es in den vergangenen Jahrzehnten bis heute so ähnlich auch in protestantischen Konfessionen, im Islam und im orthodoxen Judentum gibt, und die im Kern aus einer Abgrenzung anfangs kleiner fanatischer Splittergruppen von Liberalisierungsbewegungen innerhalb der jeweiligen Religionsgemeinschaft bestehen. Diese Parallele nimmt der von Sander zitierte französische Soziologe Gilles Kepel in den Blick.
Oder man sieht, dass diese moderne Entwicklung, die religiöse Extremisten so sehr beunruhigt – gerade auch im Katholizismus –, die aber der überwiegende Teil der Gläubigen mit großer Selbstverständlichkeit und Überzeugung vollzieht, schlicht ein in der Aufklärung grundgelegter und im besten Sinne vernünftiger Wandel weg von einem heteronomen hin zu einem autonomen Denken ist, wie ihn der Philosoph Roger Lenaers beschreibt.
Nicht zuletzt treten politische Parallelen hervor, wenn man die katholische Kirche mit anderen absolutistischen Herrschaftssystemen vergleicht, die in Europa vor nicht allzu langer Zeit existiert haben, die aber parlamentarischen, demokratischen Systemen weichen mussten. Diese Parallele zieht der amerikanische Kirchenrechtler und Whistleblower der ersten Stunde, Tom Doyle, in einem Interview in dem sehr sehenswerten Film „Verteidiger des Glaubens“.
Man könnte diesen letzten Gedanken noch weiterspinnen und eine weitere Parallele ziehen, nämlich die zu der in jüngster Zeit lauter werdenden Weltsicht, die gemeinhin als Rechtspopulismus oder Nationalismus bezeichnet wird. Diese Strömungen sind auf ihre Weise Abgrenzungen von Liberalisierungsentwicklungen der Mehrheitsgesellschaften und eine Rückkehr zu heteronomen, absolutistischen Denkmustern, die einer Logik von Über- und Unterordnung und vom Recht des Stärkeren huldigen. Ihr paradigmatisches Gesicht ist das des US-amerikanischen Präsidenten. Unter seinen Verehrern finden sich auch Mitglieder eines fundamentalistischen Katholizismus, deren Anteil unter den katholischen Gläubigen in den USA mittlerweile im Übrigen deutlich über dem Promillebereich liegen dürfte.
Wenn man, wie Hans-Joachim Sander, diesen Schritt zurückgeht und das große Bild in den Blick nimmt, wird zweierlei deutlich, was ich hier schlicht nochmals bekräftigen und unterstreichen möchte. Erstens spricht das Hoffen auf den Papst als Reformer gegen die überwältigende Evidenz, die sich nicht nur aus historischen Vergleichen und anderen Parallelen, sondern längst auch aus der Bilanz seiner bisherigen Amtsführung ergibt. Absolutistische Systeme wurden und werden aller Erfahrung nach nicht durch den Monarchen an der Spitze reformiert, gleich wie menschennah und liberal er sich auch inszenieren mag. Zweitens tritt klar zutage, dass es in der aktuellen Kirchenkrise nicht bloß um eine Nachjustierung einzelner sexualmoralischer oder verfassungsrechtlicher Bestimmungen geht, nicht um rein moralische oder kirchenpolitische Diskurse, also „nicht bloß darum, wie Kirche gestaltet werden muss, sondern ob sie erhalten werden kann.“
In der aktuellen Kirchenkrise geht es nicht bloß um eine Nachjustierung einzelner Bestimmungen.
Dabei ist durch den Missbrauchsskandal eines endgültig klar geworden: Die Macht des Stärkeren, der Versuch, vermeintliche Wahrheit mit Gewalt durchzusetzen, das starrsinnige Ignorieren wissenschaftlicher Erkenntnisse und die beharrliche Abwertung moderner freiheitlicher Denkweisen und Lebensvollzüge, ist moralisch auf voller Linie gescheitert. Durch diese Politik ist die Kirche nicht gestärkt, sondern massiv geschwächt worden.
Um nun angesichts der dramatischen Befunde dem Dilemma zwischen Tatenlosigkeit und Ohnmacht auf der einen und einem einfallslosen „Ich hab es doch immer schon gesagt“ auf der anderen Seite zu entkommen, nehmen Katholiken und Katholikinnen bisweilen Zuflucht zu Betroffenen, von denen sie sich Einsichten und Weisheiten erhoffen. Nicht selten werden Betroffene sogar als moralische Instanzen verehrt, wenn ihnen nicht – aus Befremdung oder Überforderung – der Rücken gekehrt wird. Von daher stimmt es, dass die Begegnungen zwischen Betroffenen und Nicht-Betroffenen oft strange sind.
Allein, das ist ein Armutszeugnis, denn von ihrem Wesen her müssen und dürften sie gerade keine strange encounters sein. Betroffene sind wirklich keine aliens. Sie sind weder besonders zerbrechlich, noch besonders anrüchig, noch besonders heilig, noch besonders weise. Sie sind auch keine extremen Einzelfälle, sondern es gibt sie in jeder Pfarrei und in jedem kirchlichen Verband. Sie sind Menschen wie andere auch, untereinander sehr verschieden und sehr „normal“. Nicht einmal ihre Erfahrung sexueller Gewalt und ihre Traumata unterscheidet sie so stark von anderen Menschen in der Kirche, wie manche zu glauben scheinen. Denn Opfer von Gewalt gibt es viele in dieser Kirche, in deren Verfassungsstruktur der Missbrauch von Macht tendenziell grundgelegt ist, weil sie keine demokratische Kontrolle, keine Gewaltenteilung, kein wirklich unabhängiges Denken und keine unabhängige Aufarbeitung ihrer eigenen Verbrechen kennt.
Die Geschichten der Betroffenen veranschaulichen das Scheitern eines komplexitätsreduzierten idealisierten Kirchen-, Wahrheits- und Gottesglaubens.
Betroffene werden die Kirche nicht retten. Sie müssen es auch nicht. Sie müssen es am wenigsten von allen. Sie werden die widersprüchlichen und bisweilen überhöhten Erwart ungen, die an sie gestellt werden, nicht erfüllen können, und brauchen das auch nicht. Es gibt nur Eines, genau Eines, was Betroffene zur Bewältigung der aktuellen Krise beitragen: Ihre Geschichten veranschaulichen das Scheitern eines komplexitätsreduzierten idealisierten Kirchen-, Wahrheits- und Gottesglaubens, wie kein abstrakter theologischer Diskurs das jemals fertigbringen würde. Diese Geschichten zeigen, wohin das beharrliche Festklammern an einer vermeintlich heilen Kirchenwelt im Extremfall führt. Die politischen, verfassungsrechtlichen und theologischen Konsequenzen aus dieser Erkenntnis haben andere zu ziehen. Solange sie nicht handeln, werden die Geschichten der Opfer als unüberhörbare Anklage im Raum stehen bleiben.
LITERATUR
Kepel, Gilles, Die Rache Gottes – La revanche de Dieu. Radikale Moslems, Christen und Juden auf dem Vormarsch, München 2001.
Lenaers, Roger, Der Traum des Königs Nebukadnezar. Das Ende einer mittelalterlichen Kirche, Kleve 2005.
Verteidiger des Glaubens. Christoph Röhl. D 2019. Christoph Röhls Film „Verteidiger des Glaubens“ kommt im Herbst in die deutschen Kinos.