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Von der Selbsthilfeseite zum misogynen Terror: Eine kurze Geschichte der Incel-Bewegung
ОглавлениеEs ist eine bittere Ironie der Geschichte, dass der Begriff »Incel« von einer queeren Frau eingeführt wurde. Auch wenn das erste Forum für Menschen mit Schwierigkeiten bei der Partner*innensuche die bereits 1988 entwickelte Newsgroup alt.support.shyness war, etablierte Alana, die ihren Nachnamen lieber anonym belassen möchte, den Begriff in einer 1993 gegründeten Mailingliste, die später zu der Webseite Alana’s Involuntary Celibacy Network wurde. Solche frühen Incel-Foren wie Alanas Projekt oder alt.support.shyness stehen in starkem Kontrast zu dem, was sich heute als Incel-Community bezeichnet. Alana gründete die Seite, nachdem sie ihre erste Partnerin gefunden hatte, um einen Ort des Austauschs und der Reflexion zu schaffen und anderen, die sich in einer ähnlichen Situation befanden, eine Perspektive zu geben. Der »Involuntary Celibate«-Zustand wurde in diesem Kontext nicht als etwas die Identität vollständig Konstituierendes und Unabänderliches verstanden, sondern als etwas Temporäres, das überwunden werden kann. Eines ihrer Postings lautete: »Mein schwierigster Kampf war es, die Wahrheit darüber zu erkennen, was ich wahrnehme und was ich fühle. Ich konnte nicht mit Dating beginnen, bevor ich mir nicht selbst die Wahrheit vor Augen hielt: dass ich eine Partnerin wollte und dass ich eine liebenswerte und attraktive Person war. Dann musste ich das Risiko auf mich nehmen und anderen die Wahrheit erzählen: dass ich mich zu ihnen hingezogen fühlte. Jetzt, da ich meine Gefühle wahrnehmen und anderen darüber berichten kann, habe ich wesentlich mehr Kontrolle über mein Leben und meine Zukunft. Falls Du denkst, dass Du niemals eine*n Partner*in haben wirst, obwohl Du eine*n möchtest – ich hoffe, meine Geschichte hat gezeigt, dass es möglich ist. Und andererseits: vielleicht hast auch Du Schwierigkeiten überwunden, Beziehungen zu beginnen. Je mehr wir miteinander teilen, desto besser können wir einander helfen!«14 Dies ist meilenweit entfernt von dem weinerlichen und anklagenden Tenor, der heutzutage auf Incel-Foren herrscht.
Der Begriff des »Invcels«, der kurze Zeit später zu »Incel« wurde, sollte ursprünglich vorurteilsbelastete und mit dem Bild des »Losers, der im Keller seiner Mutter wohnt«, assoziierte Vorstellungen des Wortes »Jungfrau« vermeiden, wie Alana in einem sehr hörenswerten Interview mit dem Podcast Gimlet ausführt.15 Auf ihrer Mailingliste waren insgesamt ungefähr 100 Männer und Frauen unterschiedlicher sexueller Orientierungen vertreten. Die Seite war auf solidarischen Austausch und Selbstreflexion angelegt und verwies auf professionelle Hilfsangebote für Menschen mit Depressionen und Sozialängsten. Alana spricht in dem Podcast davon, dass es zwar »viel Empathie, aber wenig Lösungsansätze« gab, wie man das Problem, keine Beziehungen führen zu können, adäquat angehen konnte. Alana verließ die Gruppe 1997, da die Mitglieder weniger Interesse daran hatten, ihre Position durch (Selbst-)Reflexion zu überwinden, als vielmehr in Alana eine Therapeutin suchten – eine Aufgabe, der sie sich nicht gewachsen fühlte.
Anders als die Incel-Szene in ihrer aktuellen Form stellten frühere Seiten tatsächlich Selbsthilfegruppen dar. Vor allem auf der Seite IncelSupport, die 2004 zu IncelSite umbenannt wurde, war die Analyse des Incel-Zustandes wesentlich differenzierter als das heute vorherrschende »Ich bin hässlich und habe deswegen keinen Sex«. »Incel« beschrieb hier keine unausweichliche Identität, sondern einen temporären Zustand – auch Personen, die sich in einer sexlosen Ehe befinden, könnten sich laut der Seite als »Incels« bezeichnen; statt von einem objektiv unansehnlichen Äußeren wurde von einer negativen Selbstwahrnehmung gesprochen. Generell war die Herangehensweise an den Incel-Status eine eher analytische, die sowohl äußere Umstände (Umzug in eine andere Stadt, finanzielle Probleme) als auch persönliche Erfahrungen (toxische Familienbeziehungen und daraus resultierende Bindungsängste, schlechte Erfahrungen in vorherigen Beziehungen, Angst vor Dating) als mögliche Gründe für das Incel-Dasein benannte. Die Seite IncelSupport fokussierte sich darauf, Mittel und Wege aufzuzeigen, dem Incel-Dasein durch – manchmal etwas neoliberal anmutende – Selbstoptimierung zu entkommen.
Die User*innen sollten erlernen, wie man andere Menschen ansprechen und kennenlernen kann, ohne in die toxischen Aufreiß-Mechanismen von Pick-up-Artists zu verfallen. Im Gegenteil, es wurde explizit erwähnt, dass es wichtig ist, die Grenzen anderer Personen zu respektieren. Es fanden sich dort zahlreiche profeministische und patriarchatskritische Analysen sowie Verweise auf Therapiestellen. Gleichzeitig war IncelSite ein Ort, an dem man von eigenen Erfahrungen sprechen konnte. Er bot auch zahlreichen frustrierten Durchschnittsmännern Raum, allerdings wurde zum Beispiel User*innen auch empfohlen, ihrer Unsicherheit durch einen Besuch im Stripclub Herr zu werden. Es steht außer Frage, dass eine Objektivierung von Frauen kein adäquater Weg ist, im Umgang mit ihnen selbstsicherer zu werden und sie als Subjekte wahrzunehmen.
Viele der Probleme, sich auf zwischenmenschliche Beziehungen einlassen zu können, wurden als in früheren Erfahrungen begründet erkannt. IncelSupport postulierte zudem »Sieben Todsünden«, denen die User*innen sich verweigern sollten, um ihr unfreiwilliges Zölibat überwinden zu können: Apathie, Ausflüchte und Rechtfertigungen, Überanalysierungen des eigenen Elends, Naivität, Angst, Wut und Scham. Eine Umfrage auf der Seite, wieso man Incel sei, verorteten die Ursache hier in äußeren Umständen wie »Stress« oder »soziale Isolation«, und noch nicht in der eigenen Unattraktivität und weiblicher Oberflächlichkeit.16
Umfrage der Seite IncelSupport, wieso man Incel sei.
Wenn sexuell frustrierte Männer über ihre sexuelle Frustration sprechen, ist Misogynie jedoch nie weit. Es ist Teil einer patriarchalen Sozialisation, vermittelt zu bekommen, man hätte ein irgendwie geartetes Recht auf weibliche Aufmerksamkeit. Und es ist wesentlich einfacher, dem Feindbild Frau die Schuld für die eigene Sexlosigkeit in die Schuhe zu schieben, anstatt hegemoniale Geschlechtervorstellungen oder die eigene Persönlichkeit zu hinterfragen. User, denen die Moderation auf IncelSupport zu viel Wert auf respektvollen Umgang und antisexistisches Verhalten legte, emigrierten auf die 2003 gegründete Seite love-shy.org. Die Seite, die wie alle frühen Incel-Seiten im Vergleich zu den heutigen relativ harmlos erscheint, wurde nach einigen Jahren von einem User namens »Rammspieler« übernommen. Auf einem noch bei IncelSupport veröffentlichten Posting artikulierte er seine Begeisterung für den frauenfeindlichen Mörder George Sodini und die beiden Schützen des Columbine-Massakers und bezog sich, ebenfalls positiv, auf den kroatischen Blogger Marjan Siklic, der, lange bevor der Incel-Begriff »government-assigned girlfriend« an Bekanntheit gewann, verlangte, dass die Regierung allen Männern Partnerinnen zur Verfügung stellt.17
Diese Ideologie sollte den Tenor von Love-shy vorgeben. Ein anderer Einfluss kam aus dem inzwischen zur Brutstätte der Alt-Right-Bewegung verkommenen Imageboard 4chan, vor allem von dem 4chan-Board /r9k/, kurz für »Robot 9001«, auf dem User sich über ihr mangelndes Sozialverhalten austauschten und gehässige Kommentare über das Sexleben anderer verfassten. Während die Incel-Szene zu Beginn nicht inhärent toxisch war, basierten später viele der chan-Boards auf emotionaler Kälte, Zynismus, vermeintlich ironisch zelebrierter Menschenfeindlichkeit und infantilem Provokationsgehabe. Laut dem Kulturwissenschaftler Tim Squirrell entwickelte sich 4chan zu »einer Community, in der die extremsten Dinge gesagt wurden, um mit der eigenen Traurigkeit umzugehen. Und weil sie nie gelernt haben, die eigenen Emotionen rational zu verarbeiten [...], externalisieren sie die Schuld auf alle, außer sich selbst [...]. Sie sagen Dinge, die so extrem sind, dass man sie extrem schwer zurücknehmen oder sich davon distanzieren kann.«18 Eine auf YouTube verfügbare Dokumentation namens Shy Boys der Regisseurin Sarah Gardephe folgt unter anderem einer Gruppe Love-shy-Mitglieder, zu denen auch ein Pickup-Artist zählt, der sich vorgenommen hat, den anderen Mitgliedern der Gruppe beizubringen, wie man »Frauen rumkriegt«. Den Pick-up-Artist zu beobachten verursacht fast physische Schmerzen, aber die Dokumentation ist sehr interessant.
Auf Love-shy wurde erstmals die Idee postuliert, das eigene Aussehen determiniere für immer den Dating-Erfolg – oder dessen Ausbleiben. Selbst einem Frauenfeind wie »Rammspieler« wurde es bei Love-shy gegen Ende zu toxisch, als populäre User begannen, sich offen für Vergewaltigung auszusprechen.19
Nicht wenige Nutzer, die auf Love-shy verkehrten, fanden sich früher oder später auf den Seminaren von sich als »Verführungskünstler« labelnden Tätern wieder, um zu erlernen, wie man denn Frauen für sich begeistern könnte. Der Erfolg blieb aus. Dies ist nicht verwunderlich, wenn man sich die Techniken der sogenannten Pick-up-Artists näher anschaut: Hinter dem schöngeistigen Begriff des »Verführungskünstlers« oder im Englischen »Pickup-Artist« (PUA) steckt die frauenfeindliche »Redpill«-Ideologie, nach der Frauen nichts anderes als Sexobjekte seien, die einem Untertan gemacht werden müssten. Diese Ideologie, der Pick-up-Artists anhängen, popularisierte sich Anfang der 2010er Jahre, das Subreddit r/Redpill wurde 2012 gegründet.
Redpiller, zu denen neben Pick-up-Artists auch andere Männerrechtsaktivisten zählen, hängen dem Irrglauben an, Männer seien gesellschaftlich unterdrückt und abgehängt. Frauen würden Männer mittels Schwangerschaften oder falscher Vergewaltigungsanschuldigungen kontrollieren, weswegen Männer ihr Dasein in permanenter Angst vor dieser gefährlichen weiblichen Sexualität fristen würden. Sie seien gezwungen, in einer Welt zu leben, in der man Frauen nicht einmal mehr Komplimente machen könne, ohne direkt eine Anzeige wegen Vergewaltigung am Hals zu haben (dass nur ein Bruchteil angezeigter Vergewaltigungen überhaupt verurteilt wird und viele Opfer sexueller Gewalt aufgrund von Stigmatisierung, unsensibler Polizeibeamter oder Angst vor dem Täter gar nicht erst anzeigen, wird natürlich ignoriert). Während Frauen dank überall drohender Paritäts- und Quotenregelungen Karriere machen, werde der Mann zunehmend verschwult und verweichlicht, ja, seiner Männlichkeit geradezu beraubt. »Redpiller« haben daher beschlossen, diese Entwicklung der Welt zu bekämpfen, ungeachtet der Tatsache, dass es sich dabei um ein projektiv aufgeladenes Hirngespinst handelt. Sie treffen sich im Internet und auf überteuerten Seminaren, um eine »ursprüngliche Männlichkeit« wiederzuentdecken, oder versuchen, Frauen zum Sex zu nötigen.
Wie eine Sekte haben auch die sogenannten »Verführungskünstler« ihren eigenen Jargon: der Umgang mit Frauen ist demnach ein »Game«, das es zu gewinnen gilt; Frauen werden auf einer Nummernskala von eins bis zehn angeordnet, attraktive Frauen bezeichnet man als »Hot Babes«. Man manipuliert Frauen mit Techniken wie dem »Push and Pull« und »Negging«, deren Prinzip darin besteht, eine Frau durch Abwertung zu verunsichern und anschließend durch ein Kompliment wieder an sich zu ziehen. Ein Beispiel hierfür wäre: »Du wirkst so kühl und selbstsicher. Andere Männer kannst Du sicher damit täuschen, aber ich sehe sofort, dass Du dich eigentlich nach Sicherheit und einer Schulter zum Anlehnen sehnst« oder »Ich mag deine blonden Haare – zu schade, dass sie offensichtlich gefärbt sind«.
Man(n) soll sich unnahbar und unbeeindruckt geben, »die richtigen Knöpfe drücken«, und schon hätte man eine Frau in der Tasche. Diese Vorstellung basiert auf der reaktionären Geschlechtervorstellung, dass Frauen eigentlich gar nichts anderes wollen, als von dominanten Männern gebrochen zu werden, lediglich der lästige Feminismus hätte ihnen den Floh ins Ohr gesetzt, als Subjekt respektiert werden zu wollen. Doch zum Glück wissen es die Pick-up-Artists besser und teilen bereitwillig ihre Weisheit! Nach Absolvierung des Seminares zieht man dann im Rudel los, um die erlernten Fähigkeiten in der Öffentlichkeit zu erproben. Für jene Frauen, die das Pech haben, sich zum selben Zeitpunkt wie die Brigade angehender Sexgötter in der Innenstadt aufzuhalten, bedeutet dies: sexuelle Belästigung, dumme Sprüche, Bedrängung. Anstatt zu dem naheliegenden Schluss zu kommen, dass diese aufdringliche und sexistische Masche nicht dazu geeignet ist, die Herzen der Damenwelt zu erobern, glauben die liebesschüchternen jungen Männer, sie seien schlicht zu hässlich, um von Frauen begehrt werden zu können – und Frauen seien ohnehin alle oberflächliche Schlampen. Dieses Denken bildet den Grundstein der »Blackpill«-Ideologie, und damit jener Überzeugung, der Incels anhängen: Frauen sei es unmöglich, einen unattraktiven Mann zu begehren. Unsere Gesellschaft sei oberflächlich und sexbesessen, und Glück und Erfolg messen sich nur daran, das »Game« zu gewinnen, was Incels aufgrund ihrer Unattraktivität und der daraus folgenden Sexlosigkeit für immer verwehrt bliebe. Sie hatten diese Gedanken schon auf 4chan und Love-shy gelesen, nun hatten sie ihre unzweifelhafte Richtigkeit am eigenen Leib erfahren. Enttäuscht fanden sie sich auf dem Anfang der 2010er Jahre aktiven Forum PUAHate zusammen, um ihrem Hass auf Frauen Ausdruck zu verleihen. Der Frauenhass zeigt sich in Postings wie dem Folgenden: »Ich möchte jeden auf PUAHate ermutigen, Dating-Profile von richtig fetten/hässlichen/deformierten/geistig behinderten Weibern anzulegen und sich so selbst zu beweisen, dass alles, was eine Frau braucht, um qualitativ höchstwertige Männer anzuziehen, ein paar Titten und eine Fotze sind«20. Andere User fragen, ob Frauen nicht per Gesetz daran gehindert werden sollten, das Haus zu verlassen, wenn sie nicht den »richtigen« Body-Mass-Index vorweisen könnten.21 2013 registrierte sich Elliot Rodger auf der Seite PUAHate, die später übrigens in Sluthate umbenannt wurde. Inzwischen ist das Forum geschlossen, was vor allem der medialen Aufmerksamkeit zu verdanken ist, die es nach Rodgers Anschlag erhielt.
Zu einem ähnlichen Zeitpunkt – Ende der nuller Jahre – begannen die antifeministischen YouTuber William Greathouse, Dwayne Holloway und Steve Hoca das Konzept der »Erzwungenen Einsamkeit« zu vertreten und weitere Grundsteine für die moderne Incel-Subkultur zu legen. Eine der von ihnen ins Internet geseierten Verschwörungstheorien behauptete, der Feminismus sei der Grund, warum Männer in Sachen Liebe und Sex so wenig Erfolg hätten. Holloway stellte die immer noch von selbsterklärten »Nice Guys« vertretene Behauptung auf, Männer hätten Sex verdient, nachdem sie sich dazu herabgelassen hätten, nett zu einer Frau zu sein. Hoca klagte darüber, dass »diese Weiber« einfach zu anspruchsvoll seien. »Diese Kombination aus Opferkomplexen, Anspruchsdenken und Antifeminismus ist charakteristisch für den Großteil zeitgenössischer Incel-Communities«, so Tim Squirrell. Zeitgleich begannen sich über Meme-Seiten wie ifunny oder 9Gag zunehmend junge Männer über die himmelschreiende Ungerechtigkeit der sogenannten »Friendzone« zu empören. Der Begriff der »Friendzone« beschreibt den tragischen Umstand, dass man Zeit und Energie in die Freundschaft zu einer Frau investiert hat, aber dieses Miststück zum Austausch nicht einmal mit einem schlafen will! Frauen werden in dieser Vorstellung als Automat wahrgenommen, der Freundlichkeit gegen sexuelle Gefälligkeiten eintauschen soll. Nimmt eine Frau einen Freund als das wahr, was er für sie ist – ein platonischer Freund –, ist dies eine vernichtende Kränkung. Für Männer, die über die »Friendzone« jammern, ist eine aufrichtige Freundschaft zu einer Frau lediglich der Weg zu einer Beziehung; Frauen werden von ihnen nicht als Subjekte wahrgenommen, sondern auch hier wieder als bloße Projektionsfläche für ihre Fantasie einer idealen Partnerin. Auch wenn die vom Internet als »Nice Guys« betitelten Männer, die sich auf erwähnten Meme-Seiten darüber beklagen, dass ein netter Kerl wie sie keine Weiber abbekommt und lediglich als Schulter zum Ausheulen dient, da Frauen nur auf Arschlöcher stehen, noch nicht bei den misogynen Vernichtungsfantasien eines Incels angekommen sind, ist hier das patriarchale Anspruchsdenken bereits angelegt.
Der Weg vom gekränkten »Nice Guy« über den Pick-up-Artist zum Incel ist ein Weg, den viele Männer beschritten haben. Incels verbleiben mitnichten im Internet, sondern tragen ihren Frauenhass mit erschreckender Regelmäßigkeit auf die Straße. Die radikalste Form dessen ist der frauenfeindliche Terroranschlag. Hier eine (unvollständige) Auswahl:
1989 ermordete Marc Lépine 14 Studentinnen des Polytechnischen Instituts von Montreal in einem explizit antifeministischen Angriff. Er drang bewaffnet in einen Seminarraum ein und forderte die männlichen Studierenden auf, den Raum zu verlassen – sie taten es. Die Studentinnen wurden erschossen. Er hinterließ einen Brief, in dem er behauptete, Feministinnen hätten sein Leben ruiniert, und forderte, dass seine Tat als politischer Akt begriffen werden müsse.
Im April 2007 ließ Seung-Hui Cho der Frustration über seine Sexlosigkeit freien Lauf, indem er 32 seiner Kommiliton*innen des Virginia Polytechnic Institute erschoss. Er hatte zuvor mehrere Kommilitoninnen belästigt, zwei von ihnen meldeten Cho bei der Polizei. In einem Dokument, das Cho hinterließ, geißelte er Dekadenz und Hedonismus und artikulierte seine Bewunderung für die Attentäter von Columbine, die im April 1999 bewaffnet in ihre High School eindrangen und 15 Menschen ermordeten. Erst Jahre später wurde thematisiert, dass sie faschistischem und rassistischem Gedankengut anhingen.
2009 ermordete George Sodini, der in Incel-Kreisen als Vorläufer von Elliot Rodger verehrt wird, drei Frauen in einem Yoga-Studio in Pittsburgh. Einige Monate zuvor hatte er sich auf seinem Blog darüber beklagt, dass Frauen ihn nicht begehrenswert finden würden. Auch Tim Kretschmer, der Amokläufer von Winnenden, attackierte gezielt Schülerinnen und weibliche Lehrkräfte.
Im Mai 2014 erlangten Incels durch den in der Community als »Heiligen« und »Helden« verehrten Elliot Rodger größere Bekanntheit: das Ausleben seiner Rachefantasien kostete sechs Menschen das Leben, er verletzte 14 weitere. Ich werde Rodger noch einer ausführlichen Analyse unterziehen.
Chris Harper-Mercer ermordete 2015 neun Menschen in einer Schießerei an einem Community College in Oregon und publizierte ein Manifest, in dem er darüber klagte, keine Freundin zu haben, und in dem er explizit auf Rodger Bezug nahm, den er geradezu vergötterte.22
Im Dezember 2017 erschoss William Atchison zwei Schüler*innen seiner ehemaligen High School in New Mexico. Sein Online-Username lautete »Elliot Rodger«, Atchison bezeichnete sich selbst als »Supreme Gentleman«.23
Im Februar 2018 ermordete Nikolas Cruz 17 Mitschüler*innen seiner High School in Parkland, Florida, nachdem seine Ex-Freundin begann, mit einem anderen Jungen auszugehen, außerdem vertrat er rechtsextreme Ansichten. Auf YouTube schrieb er: »Elliot Rodger wird nicht vergessen werden«.24
Im April 2018 raste der Kanadier Alek Minassian mit einem Auto in eine Menschenmenge und tötete 10 Menschen; zuvor postete er auf Facebook: »The Incel Rebellion has begun. We will overthrow all the Chads and Stacys. All hail the Supreme Gentleman Elliot Rodger.«25
Neun Monate später drang Scott P. Beierle in ein Yoga-Studio in Florida ein, erschoss zwei Frauen und anschließend sich selbst; auch Beierle suchte regelmäßig misogyne Online-Foren auf und ließ seinem Frauenhass auf Social Media freien Lauf.
Auch der Mörder der Influencerin Bianca Devins, der die junge Frau im Sommer 2019 aus Eifersucht und Anspruchsdenken ermordete und Bilder ihrer Leiche auf Instagram postete, verortete sich in Incel- und chan-Board-Kreisen.
Der Neonazi, der an Jom Kippur 2019 versuchte, in die Synagoge von Halle einzudringen und – nachdem er daran scheiterte – Jana L. und Kevin S. erschoss, war zwar nicht explizit Incel, aber auch er verortete sich auf Imageboards wie 4chan, und die in dem Livestream immer wieder geäußerten Selbstgeißelungen lassen darauf schließen, dass er der Incel-Ideologie zumindest ideell nahe stand.
Im Februar 2020 stach ein gerade erst 17 Jahre alter Incel auf die Sexarbeiterin Ashley Noelle Arzaga ein, die in einem erotischen Massagesalon in Toronto arbeitete. Arzaga erlag ihren Wunden, eine weitere Frau und ein Mann wurden verletzt.
Im Mai 2020 plante ein junger Mann im US-Bundesstaat Virginia, eine Bombe in einem Einkaufszentrum zu legen, um sich an den »heißen Cheerleaderinnen« zu rächen, die ihm den Sex verweigert hätten. Das Attentat schlug fehl: die Bombe explodierte bei ihm zuhause, der Täter verstümmelte sich selbst die Hand.
Incels stehen Attentaten, die nicht explizit aus ihrer Community stammen, auch selten ablehnend gegenüber: Schießereien wie jene in Las Vegas 2017, Poway 2018, El Paso 2019 oder Christchurch 2019 werden entweder glorifiziert – die Täter seien »Supreme Gentlemen« –, entschuldigt – die Täter konnten angesichts der männerfeindlichen, »verjudeten« und antirassistischen Gesellschaft gar nicht anders handeln – oder man bezieht die Attentate auf sich, um ein bisschen den eigenen Opferstatus zu perpetuieren – man sorgt sich, dass Medien und Behörden Attentäter mit der Incel-Community in Verbindung bringen, auf dass diese dann politisch verfolgt wird. Gedenken an die Opfer hingegen sucht man vergeblich.
Wären Incels primär selbstzerstörerische Opfer einer auf Schönheit fixierten Gesellschaft, könnte man Mitleid mit ihnen aufbringen. Allerdings sind zahlreiche Incels entweder auf dem besten Weg, Soldaten in einem Krieg gegen Frauen zu werden, oder sie haben ihr Leben bereits diesem Krieg verschrieben. Insgesamt sind in den USA und Kanada über 50 Menschen durch Incel-Attentate ums Leben gekommen.26 Inzwischen werden Incels in Nordamerika als Gefahr für die innere Sicherheit anerkannt und dementsprechend behandelt. In Deutschland, einem Land, das erst 2017 sexuelle Belästigung als Straftat anerkannt hat und in dem Femizide immer noch als »Familiendrama« gelabelt werden, ist man davon leider noch weit entfernt. Daher ist es kein Wunder, dass der durchschnittliche Polizist keinen blassen Schimmer davon hat, was ein Imageboard ist – es sei denn, er zählt zu jenen rechtsradikalen Polizisten, die besagte Imageboards aufsuchen.
Alana betreibt übrigens seit 2018 die Seite Love, not Anger, auf der sie ehemaligen Incels hilft, ihre toxische Weltsicht zu überwinden.