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Kapitel 1

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Das Wasser fühlte sich warm an. Ich saß auf der Badeplattform und bewegte die Füße hin und her im Seewasser. Da schwammen winzige schlanke Fische unten herum. Der Grund schimmerte grünlich. Ich sah vom Anker nichts als die Leine. Dass ich mir ein T‑Shirt überziehen soll, hatte Mama schon zweimal gerufen. Wenn ich mir schon keine Sonnencreme auf die Schultern schmieren wolle. Die spülte ja gleich wieder weg, wenn ich hineinspringe, um mich abzukühlen, sagte ich mir. Eine Sauhitze war auf dem Boot. Ich bekam langsam schlechte Laune. Der Schnitt in der Fußsohle und so. Im rechten Fuß klopfte es.

»Zuerst der Schnitt im Fuß und dann noch zu viel Sonne!«, rief Mama aus der Kajüte und zog sich die Kopfhörer aus den Haaren. Sie hörte wohl gerade ein Stück von diesem Bedrich. Friedrich. Eigentlich Fritz – wie ich. Nach dem hatte sie mich benannt. Wie konnte sie nur, denn Fritz hieß doch heute kein Mensch mehr, nur ich. Um nicht zu sagen Friedrich. Ich überlegte mir einmal mehr, wie ich mich selber umbenennen könnte. Da sah ich wieder sie im lila Bikini am Steg drüben. Jedesmal tauchte sie unerwartet aus den Fluten auf direkt bei der Treppe und stieg die Stufen hinauf und schüttelte den Kopf, sodass die Tropfen glitzernd um sie herumflogen. Dann zupfte sie ein bisschen an ihrem Oberteil herum und legte sich auf den Steg.

Vor einer Stunde war ich ganz in der Nähe ans Ufer gewatet, und da im Schlick lag eine Glasscherbe und ritzte mir den Fuß auf. Scheißscherbe. Als ich an Bord zurück war und auf Adrians weißem Deck herumrutschte, rief Adrian: »Da ist ja Blut!« Und ob ich die Haifische anlocken wolle. Dabei rauchte er weiter seine feine Zigarre, warf einen nassen Lappen zu mir hinüber (zum Aufputzen) und Mama kramte in der Apotheke, rollte drei Meter Gaze ab, und in wenigen Augenblicken war ein Verband errichtet. Die Kopfhörer waren wie eine Halskrause unter dem Kinn meiner Mutter – Luise – und ich hörte Bedrich darin weiterdudeln. Sie summte leise mit. Zu Hause sang sie manchmal mit starker Stimme ein Operettenlied, aber dann saß sie an ihrem Schreibtisch und notierte irgendwelche Dinge auf Zettel und in Notizbücher und auf die vollgekritzelte Schreibunterlage. Auf dem Boot war sie leise und hantierte geschickt mit Gläsern, Flaschen, Snacks, Frottiertüchern und dem Weltatlas, auf dem sie mit dem Zeigefinger herumfuhr auf Seite 46.

»Ich bringe dir zu trinken.« Sie tauchte in die Kajüte. Ich ließ mich auf die Polsterbank sinken und hielt kurz Adrians Zigarre, damit er die Metalldose aufwuchten konnte, in die er die Asche abstreifte. Er hatte Schweißtröpfchen über der Sonnenbrille. Niemals warf er etwas in den See, das sei unseemännisch, keine Olivenkerne, keine Kleiderfusseln, nicht einmal eine flaumige Schwanenfeder, die angesegelt kam und auf seinem Badetuch hängenblieb. Er pflückte sie ab und setzte sie »seiner Nixe« im grünen Badekleid (aber mit Beinen) auf die Stirnlocken. Sie kniff ihn zum Dank leicht in den Arm und gab mir ein Glas Cola in die Hand. (Was ich lieber hatte als Orangensaft mit Fusseln drin, also Fruchtmark oder wie die hießen.)

»Danke, danke.«

Wir tranken alles Mögliche auf Adrians Boot. Wenn sie nicht genau hinsahen, nahm ich Mamas Löffel aus ihrem blauen Drink, tauchte ihn dreimal in Adrians Whisky und schöpfte ein wenig ab, um mein Cola zu verschärfen.

Nicht, dass es so sehr schmeckte.

Auf dem Steg drüben waren zwei Füße zu sehen, die in der Luft pendelten. Lila – ich sagte innerlich Lila – lag bäuchlings dort, wippte mit den Füßen und las ein Buch.

*****

Es war so warm, dass die Markise auch nicht viel nützte. Michael schritt einmal um den Wohnwagen herum, schaute kurz in die Ferne (Gewitter im Anzug?) und fragte sich dann, ob das Stützrad nicht etwas wenig Luft hatte. Na ja, er war ein Anfänger beim Campen, er könnte doch kurz auf ein Bier zur Anmeldung hinübergehen, da war vielleicht Reto, mit dem er sich während einer Woche angefreundet hatte. Der wusste alles. Alles über Technik, Aufbau, Raffinesse, neuste Gags eines Wohnwagens und er kannte die schönsten Campingplätze ganz gleich in welcher Gegend. Sie hatten gestern darüber geredet, wie sie überhaupt mit Camping angefangen hatten. Reto war Schreiner und fand es wunderbar, einen abklappbaren Tisch zu erfinden, den er völlig unsichtbar an seine Küchenzeile montiert hatte mit sieben verschiedenen Schrauben. Und er hasste Hotels.

»Ich hasse Hotels nicht, im Gegenteil«, hatte Michael erwidert. »Das Wahnsinnige ist, dass ich mehrere Lieblingshotels habe. Jetzt werde ich aber wohl nie mehr eines von innen sehen. Weil…«

Da war Mark, sein älterer Sohn. Er war im Frühling mit hängendem Kopf bei seinem Vater erschienen und hatte gesagt: »Da ist noch der scheiß Wohnwagen. Ich kann doch nicht allein reisen damit. Willst du ihn? Er ist in bestem Zustand. Frisch vorgeführt.«

Er hatte sich von seiner Freundin getrennt. Wer sollte die Wohnung behalten, wer nahm das Auto (Sie: Ich, wieso ich?! – Er: Ich habe beruflich gerade verdammten Stress. Und wer nimmt den verdammten Wohnwagen?)

Deshalb stand der Wagen jetzt hier im Allgäu und nicht in Kroatien, wo Mark hatte hinfahren wollen mit seiner Ex. Er machte jetzt Ferien im Schwimmbad zu Hause. Duschte sich den Staub von seiner Straßenbaustelle dort ab.

Im Innern des Wagens klapperte es. Was machte sie da bloß? Michael wusste, sie machte alles richtig, sie liebte Hausarbeit und hatte sich beschwert, dass es keinen Backofen gab im Wohnwagen.

Jetzt erschien Moni an der schmalen Tür und schob das Fliegengitter auf. Die linke Hand steckte in einer Kristallvase, von der Wasser tropfte, ihr Gesicht war ziemlich rot und ihr Strandkleid verrutscht.

»Sieh doch, wie dumm – meine Hand. Ich bekomme die Hand nicht mehr heraus. Was soll ich jetzt machen. Ich wollte die Vase ganz sauberwischen.«

Ach, das sah nach Mühe und Arbeit aus. Die Vase stammte von Monis Mutter und durfte nicht zertrümmert werden. So ein gutes Stück, das einen ewig an die Kindheit erinnerte. An den Sonntagsstrauß.

Moni hatte den Wohnwagen mit Begeisterung eingerichtet. Es fehlte an nichts, von den Doppelwandkaffeegläsern bis zur Salatschleuder.

Wenn es nicht brütend warm gewesen wäre, hätten sie in Kürze einiges Publikum gehabt, alle Nachbarn, die ganz selbstverständlich ihre Hilfe angeboten hätten. Aber die ruhten nun am Waldrand und beim Schwimmsee. Bei Meiers drüben hing die Hängematte bewegungslos da, obwohl sie gefüllt war.

Moni winselte ein wenig. »Soo dumm…«

»Komm, wir gehen zu Retos.«

»Ich so dumm mit der Vase da?«

»Ja, leg das Küchentuch darüber zur Tarnung.«

Michael holte seinen Geldbeutel und eine Kappe und verriegelte die Tür. Sie gingen quer über die Wiese. Retos Wagen stand genau am anderen Ende der großen Campinganlage.

»Was sollen sie denn machen? Wollt ihr zu dritt daran ziehen? So dumm, wie ich daherlatsche mit dem Tuch auf der Riesenfaust. Also wirklich, wie konnte ich.«

»Nicht so schlimm. Wir werden es hinkriegen. Hast du denn keinen Flaschenputzer dabei? Das würde mich wundern. Du hast doch für alles Bürsten und Besen und –«

»Hab ich ja auch. Zwei Größen Flaschenputzer. Aber diese Vase habe ich immer mit der Hand bis zum Grund gefegt. Ich bin dicker geworden, überall, an den Händen, an den Füßen. Der Granatring passt nicht mehr gut. Die Schuhe drücken.«

Michael lief hinter ihr her und betrachtete bei ihren Worten ihr Hinterteil. Er war noch nicht sehr lange mit ihr zusammen. Es hatte sich spontan ergeben, beim Zigarettenkaufen am Kiosk, wo sie seit Jahren die Stellung hielt. Er hatte sie gar nie besonders beachtet, bis Luise ihre Sachen gepackt hatte und zu Adrian gezogen war an den Hügel hinauf in die weiß leuchtende Schuhschachtel. Wie eine Tiefgarage mit Panoramafenstern, hatte Mark gespottet.

Und Fritz, siebzehn, zog jetzt hin und her, hatte zwei Betten, eins hier und eins dort. Er hatte es ungefähr gleich weit bis zum Gymnasium. Es war nicht festzustellen, wo er lieber war, und jedenfalls war er gut organisiert. Ließ nie etwas liegen.

Dieser Sommerurlaub war eine peinliche Entscheidung gewesen. Wo würde Fritz diese Wochen verbringen? Auf der Jacht? Mit Michael im Allgäu? Es ist ja nicht so weit, falls du von Langenargen hier heraufkommen willst. Und Fritz hatte genickt. Es war nicht so, dass er die Lebensumstände bei Adrian geil fand oder dass er Adrian sehr schätzte. Das wusste Michael.

Hallo, Susanne, hallo, Reto, hallo, hallo. Was hast du da Spannendes unter dem Tuch?

»Ärger, Notfall, Scheibenhonig!« Moni nahm das Küchentuch weg, das Kristall blitzte in der Sonne. Susanne und Reto sprangen von ihren Liegen auf und lachten. Aber Moni, so was. Eingeklemmt? Vielleicht etwas Öl. Alle vier standen dicht um die gläserne Hand herum und kicherten. Genau hineingepasst, aber nicht mehr herauszubringen. Susanne holte ihr Salatöl, träufelte etwas in die Vase, Michael zog die Vase mit beiden Händen weg, Moni schnaufte. Gerettet. Ihr Gesicht war noch röter geworden. Reto zwirbelte ihre kurzen blonden Haare. Als jung war Moni bestimmt süß gewesen.

»Danke, Gott, bin ich froh. Und die Vase ist nicht kaputtgegangen.«

Alle saßen am schattigen Tisch, und Susanne ließ die Ölflasche verschwinden und holte noch mehr Gläser und Wasser und Wein.

»Dass du so eine Vase mitschleppst, Moni, sagenhaft. Stilvoll.«

*****

Heute war der Himmel bedeckt, die Jacht dümpelte sachte. Das Wasser schien trübe. Ich sah nichts vom Anker, dafür umso mehr auf dem Bildschirm. Wenn die Sonne pausenlos herunterknallte, hätte man sich wohl ein bisschen Schatten in diesem sonnigen Urlaub gewünscht. Aber so ging es ja noch.

Ich machte mir ziemlich Gedanken über Mathe, obwohl jetzt Schulferien waren, die matheresistente Zeit des Jahres. Du bist eben sprachlich begabt, sagte Mama immer wieder. Als wäre das mit den Mathenoten völlig gleich. Wenn es so weiterging, brauchte ich wohl Nachhilfe, das nahm immer so viel Zeit weg, so Sonderzüglein. Ex­traunterricht, Mist. Ich hatte einen Berufswunsch, das war das Problem, und zwar seit ich ein fast meterbreites, in der Höhe aber normales Buch geschenkt bekommen hatte zum vierzehnten Geburtstag.

Brücken. Lange, hohe, prachtvolle, geschwungene, aufgehängte, eiserne, betonierte und waghalsige Brücken zogen sich über die langen Buchseiten. Dieses Buch verschwand nie in meinem Regal. Schon weil es nicht wirklich hineinpasste. Es lehnte aufrecht neben meinem Bett (in Vaters Haus). Wenn ich am Hügel oben übernachtete, dann nicht etwa, weil ich hier eingezogen wäre. Ich wollte nur wissen, was Mama so machte, wenn sie hier an ihrem Schreibtisch hockte und las und Wörter hinschrieb und oft den Kopfhörer trug. Unterdessen, in zwei Jahren, hatten sich meine Kleider und meine Bücher und die Sportsachen an beiden Orten verteilt. Es gab zwei Orte. Meine Adresse war Papas Adresse. In letzter Zeit hätte ich mich wohl neutraler gefühlt, wenn ich vielleicht … bei Mark hätte wohnen können. Zu wem gehörte ich eigentlich? Allein konnte ich ja schlecht wohnen. Dazu musste ich erst einmal Brücken­ingenieur werden. Eben das war mein Berufswunsch. Wenn jemand fragte, was ich werden wolle, sagte ich bloß: Inschinör.

»Ah, jetzt ist ein schönes Licht, gut zum Fotografieren. Wollen wir uns nicht etwas verschieben?«

Das fragte Mama. Sie hatte gerade eine Ladung Frühstücksgeschirr abgewaschen in der engen Küche der Jacht. Im Übrigen konnte man sich nicht gerade beklagen hier. Rundecke, verstellbarer Tisch in Höhe, Breite und Länge, bequeme Betten. Bullaugen mit Ausblick, so weit das Auge reichte. Die Bodenseeferien waren ganz mein Fall, auch mit all den schönen Städten am deutschen Ufer. Ich hatte nicht groß Verlangen gehabt, ins Allgäu mitzugehen. Es gab hier auch verschiedenste Bootsstege, Schiffsanlegestellen, die mich irgendwie interessierten. Warum blieben die Stege so felsenfest im Schlick stehen? Schwammen nicht davon? Ich war da am Ufer bei einem naturgeschützten Gebiet bis an die Hüften im Sumpf eingesunken. Bis wohin sollten die Pfeiler reichen, dass sie Halt fanden? Durch Rechnen findet sich alles, behauptete Adrian. Er musste es wissen bei all den Tiefgaragen, die er fortwährend bauen ließ.

»Gut, wir machen eine Runde«, sagte er nun und war ohnehin mit seiner kleinen Frühstückszigarre fertig. »Dann packt alles weg, dass nichts herunterfliegt.«

Ich hinkte hin und her. Der Fuß tat nicht mehr besonders weh nach drei Tagen. So lange hatte ich Lila nicht am Steg gesehen. Wir brummten dann los – wir hatten hier den volltönendsten Motor, V8, hört ihr das, schwärmte Adrian, während ich auf die lustig knatternden Fahnen sah. Das Schweizerkreuz. Überall waren hier am deutschen Ufer ebenso viele Schweizer wie deutsche Fahnen zu sehen und einige österreichische.

Mama wollte wieder einmal das Schloss Montfort fotografieren. Den verrückten Schießschartenturm, die Arabesken überall, die Veranden – aus jedem Winkel wollte Mama das Schloss dokumentieren. Sie hatte Schönheitssinn. Der Grund, warum sie am besten abgeschnitten hatte beim »Casting«, als sie von dem Anwalt eingestellt wurde, dem sie nun seit Jahren den Schreibkram machte. Der Anwalt ließ sich oft ihre Fotos zeigen und wusste über alle Teile von Bauten ein Fachwort, das nicht selten lateinisch klang.

»Kannst du noch etwas weiter heranfahren, zuerst noch etwas geradeaus – Fritz, halt bitte meinen Hut, ja, gut, gut.« Knips. Drei-, vier-, fünfmal. Dann hörten wir es alle deutlich: Anhalten! Wir sollten in Richtung eines großen blauen, etwas steif wirkenden Schiffs heranfahren und anlegen dort. Die Seepolizei. Drei Uniformierte standen hoch oben an der Reling, winkten und riefen. Es war ein rechter Zirkus, bis die Fender seitlich heruntergeschubst waren, damit das Polizeiboot und unsere »Nauta« nicht aufeinanderknallten.

»Sie haben eine Parallelfahrt gemacht. Sie sind eine ganze Weile dem Ufer nach gefahren«, stellten die Seepolizisten kühl fest. Sie wollten es den Schweizer Kollegen melden.

»Stimmt«, nickte Adrian säuerlich. »Wir haben nicht darauf geachtet.«

»Ich habe Fotos gemacht, wir können nie genug von Montfort kriegen«, sagte Mama zerknirscht. Die drei oben lächelten und wollten noch alle Ausweise sehen, die alle in Ordnung waren.

Die meiste Zeit lächelten sie nun meine Mutter an, die unter ihrem großen Sonnenhut einen romantischen Anblick bot. Die Sonne hatte den letzten Dunst durchdrungen und lächelte auch. Das gab dann wegen des Strohhuts dieses Sprenkelmuster auf Mamas Gesicht und ihren makellosen Hals, der nicht faltig war wie bei anderen Müttern.

Luise.

Sie würde am liebsten hier wohnen, sagte sie oft. Nicht zuletzt auf diesem maurischen Schloss, das so weit im Wasser draußen saß und wundervoll von den Wellen umtost wurde, wenn so richtig Föhn war. Und das als eine Art Neo-Luise. Hier hatte nämlich vor etlichen Jahren die Großherzogin von Baden Urlaub gemacht. Luise von Preußen. Die Tante von Max von Baden, verwandt mit all den Friedrichen.

Also wirklich, gehts noch, warum heißen wir nach diesen Herrschern, reklamierte ich, während wir nach dem Abschied von der Polizei weiter in den See hinaustuckerten, um irgendwo für die Fortsetzung des Tages Anker zu werfen.

»Ich heiße schon nach der Luise«, beharrte Mama. »Meine Tante hieß nach ihr, und meine Großmutter hieß auch nach ihr. Nach Luise von Preußen, der Tante von Max von Baden, die dann Großherzogin von Baden wurde. Das war halt so Mode. Oder hätte ich vielleicht nach Hedwig Tell benannt werden sollen?«

»Warum nicht?«, fragte Adrian. »Was habt ihr Schaffhauser denn mit den Saupreußen und den Schwaben zu tun? Was hast du damit zu tun?«

Meine Mutter Luise verstaute sorgfältig ihre Kamera, nahm ihren Romantikhut ab, begann Drinks anzurühren mit Früchten drin, schnell und geübt, während Adrian sie schief anguckte, nicht wegen ihrer berühmten Drinks, sondern weil er Thurgauer war seit tausend Jahren. Deshalb wohnte er in Kreuzlingen und wir mit ihm. (Und nicht in Langenargen.)

»Ganz einfach. Wir haben mit den Badenern direkt zu tun. Also ich als Schaffhauserin. Die Deutsche Bahn durchquert den ganzen Kanton und ihre Bahnhöfe sind mit Badische Bahn angeschrieben. Ich machte als Kind in unserem Wald einen Schritt nach links und stand in Baden. Nach rechts, und ich stand in Schaffhausen. Wir fanden das immer lustig, mein Großvater und ich. Er hob mich auf und stellte mich auf einen großen viereckigen Grenzstein. Jetzt, sagte er, bist du in der Mitte von zwei Ländern mitten in Europa.«

Ich schaute nach dem Ufer hinüber, wo sich das »Ferienhaus« Montfort wie ein fein geschnitzter Würfel aus dem Wasser reckte. Rotbraun und ocker, davor der blaue Bodensee. Luisen darin in langen Röcken und mit Annettevondrostehülshoffzapfenzieherlocken? Mama hatte als Kind noch Röcke und Schürzen getragen. So hatte sie früher erzählt. Eine Schürze sei gar nicht so dumm gewesen, da sie Taschen hatte, wo alles Platz fand, auch wenn es nass oder erdig war. Haselnüsse, Schneckenhäuser, angeknabberte Bleistifte, gebügelte Taschentücher, verlorene Schrauben, abgerissene Knöpfe. Luischen sammelte gern die verschiedensten Dinge und verlor selten etwas. Irgendwann war alles wieder zu gebrauchen.

*****

Die Buchen schlagen aus. Durch die Baumwipfel leuchtet ein blauer Himmel. Der Waldweg ist mit trockenen Tannennadeln gepolstert. Der Hund springt voran, Luis­chen hintennach.

»Luisli!«, rufen die Großeltern. »Nid so schnäll, susch gheisch no um!« Die Großeltern bleiben hier und dort stehen, heften ihre Blicke auf bestimmte Bäume von bestimmter Dicke und beraten miteinander, welche sie fällen wollen. Im Winter zieht der Großvater immer seinen schweren Militärmantel aus dem Ersten Weltkrieg über und stapft durch den Schnee zu seinen Bäumen.

Großvater verkauft die Stämme einzeln ans Sägewerk. Dabei muss er achtgeben, dass er seine Bäume auch wirklich alle kennt mit Namen und Nationalität. Einen Schritt zur Seite und er könnte sich irren und einen Baum des Landes Baden fällen. Nicht dass gerade der Geist von Max von Baden oder eines der vielen Friedriche oder gar Max’ Tante Luise von Preußen (die auch Wie-du-willst-Luise genannt wurde) aus den Büschen aufgetaucht und den Großvater getadelt hätte auf vornehme großherzogliche Weise. Nein, aber es wäre trotzdem peinlich. Nicht zu wissen, wo die Grenzen sind! Obwohl, vor den beiden Kriegen ist man fröhlich hin- und hergegangen, hat den Badenern beim Holzen geholfen und sie den Schaffhausern bei der Weizenernte. Mäderinnen sind mit ihren Sicheln herübergekommen. Man hat zusammen gearbeitet, gesungen, gefestet und hin und her geheiratet.

Der Großvater ruft: »Komm, Luise, sieh den grauen Stein.«

Luise ruft dem Hund, und alle stehen um den eckigen Stein herum. Auf den Seiten sind Buchstaben in den Stein gemeißelt: GB und CS. Die Großmutter lacht Luise an. »Schaffhausen, das bedeutet dieses CS. Canton Schaffhausen.«

Luisli kann es bereits buchstabieren: »Cee-Äss.«

Die Großmutter deutet um die Ecke des Steins. »Und jetzt lies weiter, hier um die Ecke, GB, Gee-Bee, wie Großbritannien. Wir sind hier schon in England, da hinten beginnt das Meer, in dieser Richtung.«

Der Großvater brummt, gib dem Kind keinen Blödsinn an. »Das hier, Luise, heißt GB wie Großherzogtum Baden. Baden, das sind unsere Nachbarn. Baden liegt auch am Rhein wie wir. Nicht am Meer. Komm, ich hebe dich auf den Stein. Jetzt stehst du genau zwischen zwei Ländern. Mitten in Europa.«

Zur Großmutter sagt er: »Deine Großmutter ist eingewandert aus Königschaffhausen am Kaiserstuhl in Baden. Königschaffhausen, Kaiserstuhl. Ist das nicht witzig genug?«

Der Großvater weiß viel aus der Geschichte zu erzählen. Er liest Chroniken. Er hat bei der Waldarbeit persönlich gehört, wie Hitler ins Mikrofon schrie. Aus den deutschen Dörfern wurde das Geschrei mit dem Wind bis in seinen Wald hereingeweht.

*****

Auf dem Campingplatz hatten sich Michael und Reto mit ihren Damen in bester Art zusammengefunden. Es war schön, zu viert in den Tag hineinzuleben, ins grünblaue Allgäu hineinzuträumen, die kleinen Probleme im Tagesablauf miteinander zu be­heben. Das war das Lohnende am Campen, diese alltäglichen kleinen Aufgaben zu lösen, das Stützrad aufzupumpen, sich Butter und Eier zu spendieren über die Hecke hinüber, fremden Menschen verbindlich zuzuwinken, wenn sie freundlich aus ihren Klappfenstern herausspitzten.

Michael war Treuhänder. Er setzte sich zu Hause in Kreuzlingen täglich morgens um acht Uhr ins Auto, fuhr zwei Minuten bis in sein Büro und dort blieb er den ganzen Tag, schrieb, rechnete, empfing Kunden und trank Kaffee. Bis es Abend war. Im Sommer bei offenem Fenster. Aber das konnte es doch nicht gewesen sein?

Hier auf dem tief grünen Wiesland – das Allgäu war von einem berauschenden Grün – fühlte er sich wie in der Kindheit, kichernd mit den drei andern, die sich auch in die Kindheit versetzt fühlten. Sie saßen in der Dämmerung und flüsterten und lachten sich kaputt. Moni überbot Susanne noch mit ihren Anekdoten. Vielmehr waren es boshafte kleine Geschichten mit Zielgruppen. Sie habe lange Zeit eine Liste geführt, ein Notizbuch mit dem Titel »Q«. Das Buch enthielt die Namen der Frauen und Weiber, die Moni nicht mochte nach dem Motto: »Dumme Q…«

Susanne lachte schallend. Sie hatte Monis Stil gleich von Anfang an unwiderstehlich gefunden.

Es war schon wieder bald Mitternacht und es wurde ruhig auf dem Platz. Kein Kindergebrüll mehr. Man ging hinein in die vier Wände, damit man weiterplauschen und weiterschwatzen konnte und die Schläfer rundherum nicht störte. Will jemand noch gern Kuchen?

Es war vollkommen hier, dachte Michael. Und so aufgeräumt. Er versuchte sich zu erinnern, was Luise immer notiert hatte auf ihren Zetteln an ihrem Schreibtisch mit Dutzenden kleiner Schubladen. Ehrlich gesagt, er wusste es überhaupt nicht. Sie hatte hinter ihrem Schreibtisch einen Wall von Papieren, Büchern und Zeitungen gehabt, der sich stets vergrößert hatte. Wenn Luise etwas darin gesucht hatte, hatte sie es auch gefunden. Außer es gab einmal einen Erdrutsch. Dann hatte sie gejammert und ernstlich an ein effizientes Regal gedacht. Ob sie das immer noch so handhabte mit den Haufen hinter dem Schreibtisch?

Was sie jetzt wohl tat auf der Jacht? Was wohl Fritz tat? Konnte er schlafen bei dem Geschwanke des Boots? Er schlief doch manchmal schlecht. Angenommen, er wäre jetzt hier. Da, wo sich Susanne und Moni im Moment kringelten, da hätte er in wenigen Minuten einen gemütlichen Schlafplatz für Fritz eingerichtet.

Moni begann, an ihm herumzunesteln. »Hast du gehört, Reto und Susanne hoffen, dass wir sie einmal besuchen in Tettnang im Herbst.«

Der Herbst, das konnte sich jetzt noch niemand vorstellen. Die Sterne glitzerten, der Bach murmelte. Der Mond erschien über dem First des Sanitärgebäudes. Alle saßen halb nackt da.

»Wir waschen erst morgen ab.«

In der Kristallvase standen wieder frische Blumen, besorgt von Reto bei der Bäuerin nebenan.

»Wenn das Mutter sähe. Wenn sie das hier erlebt hätte«, sagte Moni auf einmal.

Monis Mutter war einen Tag vor ihrem neunzigsten Geburtstag gestorben. Eine Tragödie war es gewesen.

Michaels Mutter war mit sechzig Jahren gestorben. Jetzt war er selbst bald so alt.

*****

Was das alles für Schneeberge waren da drüben, also auf »unserer Seite«, das war mir immer ein Rätsel gewesen. Obwohl man auf jeder Schulreise vor so ein Panoramablech geführt wurde, seit ich mich erinnern konnte. Darauf stachen ein paar Berge hervor. Stieg man aber wieder ins Bähnchen und fuhr ein paar Minuten, veränderten sich die wichtigen Berge zu kleinen Haufen, während die flachen Winzlinge auf dem Blech jetzt wuchtig und unüberwindlich waren. Aufs Blech schaffte es also nur der, der hoch erschien und der zufällig vom Gipfel mit dem Blech aus gut sichtbar war.

»Fritz, zähl einmal die paar höchsten Gipfel der Alpen auf, zunächst nur die der Schweizer Alpen.«

Wobei Herr Huber genau wusste, dass der Alpenbogen quer über Europa lag wie eine riesige Banane und im Wienerwald endete als östlicher Ausläufer, und schon im Vorarlberg hatten wir keine Ahnung mehr von höchsten Gipfeln, weil die nicht in der Portion Alpen in unserer Geografielektion enthalten waren. Die Alpen waren mir immer höchst gleichgültig gewesen. Sie waren im Weg, solange man zurückdenken konnte. Siehe Gotthard. Das Wasser, das die Erde unwegsam machte, hatte mich hingegen immer interessiert. Du stehst plötzlich vor einem Bach, der vielleicht nur zwei Meter breit ist. Was machst du dann? Zum Beispiel als alte Frau? Obwohl, deren Wander­stöcke haben ja eigene Gummistiefelchen an. Irgendwie würde das schon gehen. Aber vielleicht ist das Wasser tiefer, als du denkst.

Das Wasser. Es war heute kobalttürkis hell. Mit glitzernden Brillanten.

Ich holte Mamas Atlas, den sie gerade nicht als Serviertablett für ihr Weinglas brauchte (sie döste wie immer am frühen Nachmittag im Schatten und Adrian war in der Kabine verschwunden), und blätterte vor bis nach Norwegen. Fjorde, lang und breit und mit Brücke. Ich notierte mir ein paar Zahlen über die Spannweite der Brücken, die Mama auf einer Reise in Norwegen fotografiert hatte. Die wahrscheinliche Spannweite. Ich wollte das dann im Web noch nachschauen, um meinen Verdacht zu erhärten: Die Norweger leisteten sich megalange Brücken über die Fjorde, wo die Schweizer und die Badener nicht im Traum daran dachten, eine kräftige Brücke von Gaienhofen nach Steckborn zu bauen. Ich dachte ernstlich daran, einige Skizzen zu machen und sogar ein Modell aus Karton zu bauen. Eines, Tages, eines Tages dann …

»Hallo! Hallo!«

Direkt vor meinen Füßen tauchte ein lila Fleck im Wasser auf. Ein Kopf, der sich schüttelte, gehörte zu dem Lila. Es war Lila. Ich fuhr zusammen. Der Atlas fiel nach hinten auf Adrians reinweiße Spielwiese und mein Parker-Roller fiel ins Wasser. O Gott, es war Lila, und mein schöner neuer Roller … Fast im gleichen Augenblick begann mein Fuß wieder zu schmerzen. Nicht zu glauben.

»O sorry, o nein, ich hole ihn dir gleich.« Lila holte Luft, machte eine schnelle Be­wegung, kopfunter, und ich sah das schönste Hinterteil, das ich je sah, bezogen mit der lila Nixenhose.

Sie war in drei Sekunden wieder hier.

»Ich habe ihn!« Sie wischte mit langen feinen Fingern den Schlick vom Parker weg.

»Ein Parker, wie peinlich. Ich wollte dich nur überraschen, weil euer Boot heute genau auf meiner Tauchstrecke liegt. Hoffentlich trocknet er gut.«

Ich sah in die schönsten Augen, die ich je gesehen hatte von Nahem. Hellbraun leuchteten sie und bewegten sich aufmerksam vom Wasser aufs Boot, auf meine Füße, meine Knie, mein Gesicht. Ihre Augenbrauen waren zart und streng.

»Komm doch herauf.«

»Aber nein, deine Eltern würden das nicht schätzen. Ich habe überall Schlamm da. Und das Boot ist so weiß.«

»Du hast es erfasst. Die weißen Lederliegen da wären für ein chlorreiches Schwimmbad ideal. Aber ich komme runter.«

Wir schwammen ans Ufer zwischen Schloss Montfort und dem Steg. Die Wellen rollten über Sand, endeten aber auf großen Steinbrocken.

»Hier, hier ist eine gute Stelle, wo man gut hinein- und hinauskommt. Pass auf deine Füße auf.«

»Nicht nötig, schon verletzt vor ein paar Tagen.«

»Ja, zeig das einmal. Glasscherbe? Ich zeige dir meine Narbe vom letzten Jahr. Hier ist alles voll von Scherben.«

Wir saßen jetzt auf dem Steg und setzten unsere Wunden und Narben ins beste Licht mit dem glänzenden See als Hintergrund. Sie gab mir ein Frottiertuch und für sich rollte sie ein zweites Tuch auf, in dem ein Buch eingewickelt war.

»Historie?«

»Ja. Mathe oder so würde mich weniger interessieren. Ich studiere seit einem Jahr Geschichte.«

»Mathe ist auch nichts für mich. Aber ich brauche sie. Ich will nicht Geschichte oder sowas studieren.«

»Aber?« Ihre Augen wanderten schnell über meine Schulter an meiner Seite herab bis zu der Badehose mit dem seeblauen Streifen (meine Lieblingsbadehose zum Glück) und den Beinen (jetzt schon gebräunt zum Glück). Sie sah mir wieder ins Gesicht.

»Intscheniör.«

»Aha. Gut ja. Und für was? Maschinen? Heizung? Auto? Roboter? Luftschiffe?«

»Ähm, nein. – Brücken.«

Lila lachte. »Ich weiß nicht, an Brücken denke ich ganz selten. Sie sind einfach da.«

»Wie Roboter, was? Wie, denkst du, fährt man von Konstanz nach Kreuzlingen? Spart viel Umweg.«

»Zugegeben. Spart auch Boote. Superboot, eure ›Nauta‹. Ist es nach den römischen Seeleuten benannt?«

»Adrian sagt, es bedeute Schiffsherr.«

»Wo doch Schiffe weiblich sind.«

»So ist er eben.«

»Ich heiße übrigens Lea. Und du?«

»Fffrizzz…«

»Friedrich oder Frizzante?«

»Ähm. Bedrich…«

»Also sind deine Eltern wohl Smetana-Fans und nicht auf den Spuren der vielen alten Fritzen. So wie ich.«

»O Gott. Ich sag dir jetzt aber nicht, dass meine Mutter Luise heißt. Nach den Luisen. Sie hört übrigens nicht nur die Moldau plätschern. Sie hört sich alles an von Smetana.«

Lea lachte wieder mit wunderbaren Zähnen, nicht zu groß, nicht zu klein. Sie rollte ihr Buch wieder ein ins Tuch und bettete ihren Kopf darauf.

»Dafür dient Geschichte auch. Als Ruhekissen.« Sie hatte einen scherzhaften Ton drin, aber ich sah da etwas Melancholisches, das mich überraschte. War ihr das Studium zu schwer?

Dem Inschinör ist nichts zu schw…

Ich dachte aber gar nicht mehr an mich. Weder an meinen Fuß noch an meinen glühenden Kopf. Oder dass ich sehr Durst hatte. Ich dachte an sie. Alles war ausgefüllt von ihr. Von ihren geschlossenen Augen, ihren Augenbrauen, die in der Mitte zugespitzt waren. Der kleinen Zornesfalte auf der Stirn, der geraden Nase und von ihren entschlossenen Lippen.

Sie öffnete die Augen, legte ihre Hand kurz auf meine und sagte: »Ich habe etwas entdeckt. Etwas Furchtbares. Vielleicht erzähle ich es dir, wenn ich dich besser kenne.«

Etwas Furchtbares. Ich setzte mich im Schneidersitz hin, besah meine Fußwunde, ein dünner roter Strich, und dachte: Es ist nichts, das sie hier in Langenargen entdeckt hat heute. Eher etwas, das gestern geschah. Sie muss es erst geschichtlich untersuchen. Sonst würde sie es mir jetzt sicher zeigen an Ort und Stelle, so wie sie mir ihre Scherbennarbe ohne Umstände zeigt und ihr Geschichtsbuch und ihren Mund – so nahe. So nahe. Ich sprang ins Wasser.

*****

Mark verlor allmählich die Freude an diesem Sommer, so schön das Wetter auch sein mochte. Er fand es ziemlich beschissen, sich vorzustellen, wo er jetzt gerade sein würde, wenn ihn Tina nicht verlassen hätte. Er wäre jetzt unterwegs in den Süden, wo es garantiert nicht regnete wie hier in Kreuzlingen. Ein normaler kurzer Sommerregen war das. Auf seiner Baustelle ging alles genau nach Plan. Das Straßenstück würde fertig werden im Herbst. Er war Polier und konnte manchmal fast nicht anders, als schnell vorbeizuschauen in der Dämmerung, ob sein Ferienstellvertreter auch das machte, was er selber so bewerkstelligt hätte.

Er saß tatenlos in seiner Küche um sieben Uhr abends. Wenigstens hatte er keinen Umzugsstress, weil er Tina kurzerhand hinausbefördert hatte. Du warst es, die sich einen neuen Kerl angelacht hat. Es ist mir egal, ob er noch bei seinen Alten wohnt, und das mit siebenundzwanzig Jahren. Sie waren alle gleich alt, er, Tina und der Kerl (genau zehn Jahre älter als Fritz). Der Kerl bilde sich weiter und seine Eltern hätten ihm angeboten …

Schon gut, Tina, raus hier, dein Schicksal steht mir bis zum Hals. Die Möbel bleiben hier. Und so weiter.

Tina hatte sich damals gemütlich bei ihm niedergelassen und einen kleinen Job gemacht in einem Laden, um ihr Schminkzeug und ihre Siebenhundertfrankenjacken zu bezahlen, aber sonst war da nichts zu spüren von einem zweiten Einkommen. Er war froh, die Kuh loszusein. Wer weiß, ob sie mehr als ihre Fingernägel auf Hochglanz gebracht hätte auf dem Campingplatz, zum Beispiel die Küche und die winzige Nasszelle. Dass sein Vater jetzt mit der naiven Moni im Allgäu Ferien machte mit dem Wohnwagen, fand er irgendwie befriedigend. Wahrscheinlich passte das. Sie konnten ausprobieren, ob es passte und ob Moni dann einziehen würde bei Vater. Das Brüderchen würde sich wohl nicht ärgern über Moni. Sie brachte einem den Kaffee ans Sofa, sie kochte prima, sie maulte nie. Sie dachte nicht an andere Kerle.

Er selber konnte jetzt so richtig neu anfangen. Er konnte sich vorstellen, anstatt eines Wohnwagens ein Reisemobil anzuschaffen. Allein mit einem Haus am Haken unterwegs zu sein, war irgendwie lächerlich. Mit einem Wohnmobil hingegen könnte er sich das vorstellen, einfach abzudüsen, allein. Er hatte im Schwimmbad tagelang nicht eine einzige Frau gesehen, die ihm gefallen hätte. Mist. Der Kühlschrank sah auch leer aus.

*****

Es nieselte heute und dadurch schien das Allgäu so grün wie noch nie. Ein Fußball­rasengrün war das. Mit verwundert wirkenden Kühen darauf. Sie schienen sich zu freuen, dass das Gras noch saftiger war und die Sonne nicht auf sie niederbrannte.

Michael stand unter der Tür, schaute durch all die Wagen und Zelte hindurch ins Weite, rauchte und fühlte sich sehr gut. Er hatte kaum zehn Seiten gelesen in den Krimis, die er im Gepäck hatte. Er brauchte das überhaupt nicht. Im ganzen Leben hatte er sich noch nicht so entspannt gefühlt. Er vermisste nichts, und das erstaunte ihn. Normalerweise machte er stets Pläne, überprüfte seine Erfolge, fühlte ein Getriebe in seinem Kopf, das ihn vorwärtsschob. Jetzt stand das still, schon fast zwei Wochen waren herum und er empfand keinen Ehrgeiz. Ihm schien, er habe nur ein Stützrad aufgepumpt in dieser Zeit und auch das nicht allein, sondern mit kundiger Hilfe von Reto und zwei benachbarten Caravanspezialisten. Er schaute auch selten sein Smartphone an.

Moni wischte und schrubbte nach Herzenslust. Die Fenster rundherum waren immer blitzblank wie alles Übrige auch. Nie stand benutztes Geschirr herum. Moni hatte für alles Tricks und ließ Dinge verschwinden, wo sie störten, um sie später im richtigen Augenblick wieder auf den Plan treten zu lassen. Sie war hier wie in einem eigenen Kiosk. Die Auslagen konnten nach ihren Wünschen gebunkert und ausgestellt werden. Allein die niedliche Wäscheleine! Moni liebte es, daran ihre farbigen, strassverzierten Longshirts, ihre Bikinis und ihre neonfarbenen Tangas aufzuhängen wie als Augenweide für jedermann.

Manchmal entdeckte sie neue Fächer und unerwarteten Stauraum im Wohnwagen. »Wie praktisch!«, rief sie oder auch Michael dann aus. An allen Ecken und Enden konnte man Sachen schlagsicher aufbewahren. Moni legte Wert auf Porzellan in jeder Lebenslage. Es gab Leute hier, die stellten triumphierend ihre Errungenschaften vor, Zubehör aus bestem Kunststoff in edlem Design aus dem Campingshop. Es gab zum Beispiel riesige Klammern mit Loch, die man an Tischchen heften konnte als Glashalter. Platzsparend. Haha.

Moni hatte eine Vorliebe für elektrische Haushalthilfen. Das erste tiefschürfende Thema zwischen ihr und Michael war ihre heißgeliebte Moulinex gewesen, die urplötzlich nach vielen Jahren mit einem kurzen Röcheln ihren Dienst quittiert hatte. Unersetzlich. Als sich Moni erholt hatte von diesem Verlust, stellte sie fest, dass es jede Menge Ersatz gab. Moni machte alles elektrisch, vom Entsaften über das Kaffeemahlen bis zum Schnetzeln des Gemüses. Ließ es elektrisch machen. Auch das Büchsenöffnen. Ausnahme war das Staubsaugen mit dem akkubetriebenen Sauger, der sie ganz schön ins Schwitzen brachte in den raffinierten Ecken des Wagens. Sie stellte das ätzende Summen ab und richtete sich auf. Da war wieder ein unbekanntes Fach, eingelassen in die Wand. Es enthielt sogar Dinge, die nicht ihr gehörten.

»Michael, was ist Tina für ein Typ? Sie lässt ihre Sachen einfach zurück.«

Moni hatte Tina nicht mehr richtig kennen gelernt. Sie wusste vor allem, dass sie auch gern strassbesetzte Pullover trug und bei Mark rasenden Ärger hinterlassen hatte. Und jetzt lagen noch Haarspangen und Creme für die Augenpartie da hinten im Fach sowie ein leeres Nagellackfläschchen und ein silbernes Notizbuch mit Bleistift in einer Lasche.

Es war eine Agenda. Coiffeurtermine, Nailstylistintermine, Bikinienthaarung, Gesichtsmaske, Aerobic, Brauen- und Wimpernfärben (weil sie sichs wert ist). Umzugswagen trifft ein um 8.30 Uhr. Irgendwelche Abkürzungen, die für Moni keinen Sinn ergaben. Vermisste Tina ihre Agenda nicht? An Ostern und an Pfingsten waren sie und Mark noch auf Ausflügen gewesen mit dem Wohnwagen. Tatsächlich, an Pfingsten hörten die Einträge auf. Nur ein paar Striche oder Kreuze kennzeichneten die Tage im laufenden Jahr, an denen möglicherweise etwas vorgesehen war. Es gab auch einige Notizen im hinteren Teil des Büchleins vom Typ »Highheels zum Schumi bringen« oder »Pralinen für Oma besorgen«.

Michael drückte seine Zigarette aus und stieg auf den Einstiegsschemel, um Monis Stichwörtern zuzuhören. »Weißt du was, Moni, ich habe wirklich vor ein paar Tagen einen Anruf bekommen, den ich nicht beachtet habe. Ich schaue mal nach, wer das hätte gewesen sein können.«

Er tippte auf seinem Smartphone herum. Ein paar Anrufe waren registriert. Verschiedene Nummern. »Ja, es war unter anderem Tina gewesen. Vielleicht wollte sie ja genau nach ihren vergessenen Sachen fragen?«

»Jetzt hör zu, da staunst du!«, brüllte Moni, »ich fass es nicht! Weißt du, was sie da notiert hat? ›Schwa’test positiv, scheiße‹.« Moni schnappte nach Luft, das silberne Buch fiel ihr aus der Hand.

»So stehts da. Was ist ein Schwa’test? Kennst du eine solche Krankheit, Schwa…? Also ich nicht. Du wirst Großvater, Michael!«

»Nun, es kann doch sein, dass ›der Kerl‹ Vater wird, oder? Und ein anderer wird Großvater? Meine Güte, Moni, da hast du aber Staub aufgewirbelt.«

»Staub? Jetzt hör aber auf. Ich habe welchen weggesaugt, nicht aufgewirbelt. Also wirklich, Michael.«

Er fragte sich etwas unbehaglich, ob das nun ein ungewohnter Scherz von Moni war oder wie üblich ihr voller Ernst.

Großvater.

*****

Mark stellte sich an die Kaffeemaschine und wählte eine Kapsel aus. Hinter der Maschine stand ein weißer Becher mit Silberrand, Silberhenkel und silberner Aufschrift »Kiss me!«, vorne, auf der Hinterseite und sogar innen. Das hatte sie natürlich vergessen mitzunehmen, das Kitschding, typisch. Sogar das Waschmittel hatte sie eingepackt und alle Zahnpastatuben. Dann aber silbergesäumte Becher zurücklassen. Mark warf die gebrauchte Kapsel hinein und setzte sich mit seiner – gläsernen – Tasse an den Küchentisch.

Es durfte doch wohl nicht wahr sein, dass er sich nach seiner Baustelle sehnte. Was sollte er noch in diese Ferienzeit hineinwünschen? Das Wetter war passabel. Er hatte dieses Jahr mehr Ferien als sonst abzusitzen, weil er so viel Zeit auf dem zu verbreiternden Straßenabschnitt verbracht hatte. Es gab mehr zu messen und einzuplanen und auch anzuweisen, weil unter anderem ein scheiß Mäuerchen mit Fingerspitzen­gefühl zu behandeln war. Privat. Hinter der Mauer linste gelegentlich eine ältere Dame über ihren speerbesetzten historischen Eisenzaun herunter und machte Bemerkungen: Was gedenken Sie zu unternehmen gegen die Risse, die in der Mauer entstanden sind??

Die Alte hatte einen Anwalt, den sie erwähnte in Nebensätzen, aber den hatte sie so oder so, weil sie prozessierte wegen ihrer vierten oder fünften Säule – Altersversicherungsbegriff, nicht etwa Säulenportikus an ihrer Villa. Sie hatte das erwähnt. Die Villa war in einen mittelgroßen Park eingebettet. Die Alte war regelmäßig mit Gartenschere und Rechen bewaffnet in ihrem Gesträuch zu sehen. Mit Sonnenhut und glitzernder Brille. Einen großen Teil ihres Gartens überließ sie den Vögeln, allerhand Beeren­büsche und Kirschbäume und Pflaumenbäume. Sie hatte Treibhäuser und an ihren Hauswänden Birnen-, Aprikosen- und Kiwispaliere und hatte den zwei bosnischen Lehrlingen auf der Baustelle bei glühendem Wetter schon oft zielsicher Früchte über die Mauer zugeworfen. Die Jungen waren begeistert gewesen. Danke, liebe Frau!, hatten sie hinaufgerufen. Und: Sie sind aber torgefährlich! (Dieses Jahr war wieder mal Weltmeisterschaft. Der Kummer in der Schweiz war groß, als die Nationalmannschaft zwei zu eins gegen Argentinien verloren hatte.)

Sie hatten sich jeweils gleich in die Baugrube gesetzt, um die Früchte zu verzehren. Sorry, Capo!, hatte der ältere der Lehrlinge zu Mark hinaufgerufen, wir müssen Pause machen. Es ist wie bei unserer Großmutter in Mostar. Immer saftige Aprikosen und Pflaumen für uns.

Mark dachte auch jetzt in seiner kühlen Küche an die Mauer. Er klappte sein Notebook auf und tippte ein paar Notizen ein. Es war sehr wohl möglich, dass diese Mauer sogar vollständig erneuert werden musste. Er würde wohl gelegentlich einen Fahrmischer voll Beton bestellen müssen und die hohe Mauer ganz neu hinspritzen lassen …

Jetzt schweifte er aber ab. Er klickte seine heimlichen Entwürfe eines eigenen Hauses an. Daran bastelte er manchmal herum. Was er auf dem Bildschirm entworfen hatte, gefiel ihm. Es war schlicht, und die Proportionen stimmten. Auf seinen Reisen in den Süden hatte er sich immer inspirieren lassen. Wenn er etwas nicht leiden konnte, waren es große Fenster. Er stellte sich einen turmähnlichen Bau vor mit kleinen Fenstern wie ein Bergfried, wo einen nicht die ganze Nachbarschaft mit ihrer Neugier belästigen konnte und sogar mitfernsehen musste, weil die Fernseher ja bald so groß waren wie die Fenster, die auch noch ständig weiterwuchsen. Oben stellte er sich dann hingegen eine Loggia vor, die rundherum Ausguck hatte. Ein flaches Zeltdach über dem Ganzen. Mark grübelte wieder einmal darüber nach, welchen Baustoff er optimal fände, ob Sichtbeton, Backstein, Fertigelemente …

Es klingelte. Wo versteckte sich sein Smartphone? Ach ja, bei den Küchentüchern, die er von der Leine genommen und gestapelt hatte vor einer Stunde. Gerade hatte er an Fritz gedacht.

»Tina.«

»Na?«

»Hier Tina, hallo. Also ich …«

»So, bringts der Kerl nicht so ganz? Oder hat dich die Schwiegermutter gemobbt? Gratuliere.«

»Mark, ich –«

»Und deinen dämlichen Verpiss-dich-Kaffeebecher hättest du mitnehmen können. Für die Schwiegermutter. Er versperrt mir hier den Platz.«

»Wenn du noch Sachen von mir findest –«

»Allerdings, blauer Nagellack ist am Start. Zudem sitzt da noch ein Plüschhase.«

»Oh, aber den habe ich dir doch einmal geschenkt.«

»Äh, ja, und warum rufst du an?«

»Mark, ich versuche, Michael und Moni zu erreichen, aber sie rufen nicht zurück, und ich habe noch ein paar Sachen im Wohnwagen vergessen …«

»Nagellack?«

»Ja, schon, aber nicht nur, und ich –«

»Vermiss-mich-Tassen und lebenswichtige Tagebücher? Schnee von gestern?«

»Es ist etwas Wichtiges. Ich will nicht, dass sich Klatsch verbreitet.«

Mark war so ausgelaugt, dass er sich fragte, ob er koffeinfreien Kaffee erwischt hatte.

»Was spiele ich für eine Rolle? Soll ich dir die Kastanien aus dem Feuer holen? Wie gern ich das doch täte für dich.«

»Danke. Falls du sie erreichst: Sie sollen alles in eine Plastiktasche tun und dann bei ihrer Rückkehr – vielleicht bei dir oder bei Fritz oder ich kann die Tasche abholen.«

»Verstanden. Tschau.«

Klatsch. Über ein Fläschchen Nagellack? Über Nasenspitzenbalsam?

*****

Ich war noch ganz wacklig auf den Füßen, als ich auf der Jacht zum Tisch ging, den Mama wie meist schön gedeckt hatte. Da waren Hummer aus Holz, die sich um die Servietten schlangen, sodass nichts unseemännisch ins Wasser flog.

»Cordon bleu gibts.«

»Super. Und ich bin mega durstig.«

»Alles da. Wie gehts mit dem Fuß?«

»Fast nicht mehr zu merken.« Wacklig war ich nicht darum, sondern, sondern…

»Ich gebe dir einen Löffel Reis.« Adrian hob eine Schöpfkelle vor mir in den Sonnen­untergang. – Es war Lea. Sie war überall. Sie war nicht mehr wegzudenken. Sie machte mir weiche Knie. Ich wusste gar nicht, wo ich hinschauen sollte. Sie wich nicht von meiner Seite, obwohl wir uns vor dem Steg verabschiedet hatten. Wir hatten uns die Hand gegeben. Ich betrachtete meine Hand.

»Hast du etwas an deiner Hand?«

»Nein, Mütterchen, mach dir keine Sorgen.«

Ich schnitt ein großes Stück von dem Pracht-Cordon-bleu ab. Wo hatten sie den frischen Salat her? Egal. Sie waren an Land gewesen.

»Fritz, ich wäre halt froh, wenn du einen Zettel hinlegen könntest, wenn du von Bord gehst. Man weiß ja nicht, was dir passiert ist, wenn du drei Stunden wegbleibst. Nicht wahr?«

»Ja, entschuldige. Es hat sich so ergeben. Aber drei Stunden? Ich – ich war nur auf dem Steg. Da war die Taucherin, die hier immer trainiert.«

»Ah, die mit dem lila Bikini, die oft zu uns herüberschaut. Ich weiß welche.« Mama nickte.

Adrian murmelte: »Ist die von hier? Oder auch Feriengast? Was tut sie?«

»Ja, von hier. Sie wohnt hier und sie studiert in Konstanz. Ihr Vater hat bis vor Kurzem in Zürich gearbeitet. Aber jetzt nicht mehr. Er hat das Deutschenbashing nicht mehr ausgehalten, hat sie mir erzählt.«

Ich schaute eindringlich auf Adrians Sonnenbrille. Der hatte aber Besseres zu tun, als Zwischentöne zu hören. Der fummelte das Holzstäbchen aus seinem Cordon bleu heraus und lobte Mamas Salatsauce.

»Den Salat hat uns eine Frau geschenkt, als wir vom Einkaufen zurückkamen. Sie stand gerade in ihrem Garten und schnitt uns den größten Kopfsalat ab, nur weil wir da zufällig an ihrem Zaun vorbeigingen.« Mamas Augen leuchteten. Sie wiederholte, dass sie hier sofort wohnen würde. Auch wenn es nicht gerade auf Schloss Montfort wäre.

»Wieso Bashing?«, fragte Adrian jetzt mit Verzögerung – gereizt. »Was sollen ihm die Zürcher getan haben?«

»Nichts getan. Nicht die Zürcher. Einfach die Schweizer, die dumme Sprüche fallen lassen über die ›aus dem großen Kanton‹. Nicht alle Schweizer, aber immer wieder einige.«

»Es ist einfach peinlich«, sagte Mutter und schenkte Wein nach, Wein aus Meersburg. »Müller-Thurgau übrigens«, stichelte sie. Und direkt zu Adrian: »Wie viele Deutsche arbeiten jetzt genau in eurem Geschäft? Mehr als die Hälfte, wenn ich richtig orientiert bin. Weil sie dir genügend qualifiziert erschienen. Bashen sie auch den ganzen Tag an den Schweizern herum?«

*****

Michael und Moni hatten diesen »Bescheid« aus der silbernen Agenda nicht lange für sich behalten können. Moni hatte zu ihrem fünfzigsten Geburtstag vor Kurzem von einer Kollegin vier Biergläser geschenkt bekommen, auf denen vertikal BEER zu lesen war. Prädestiniert, um Bier daraus zu trinken. »Für deine Campingferien«, hatte die Kollegin gesagt, »da lädt man doch oft die Nachbarn zu einem Glas ein.« So war es auch.

BEER hatte schon einige Male auf dem Tisch draußen gestanden. Sie hatten ja auch gewusst, dass sie nicht zuletzt hier Oberschwabens berühmtes Bier probieren würden. Das hatte nun Reto so richtig in Fahrt gebracht und er machte immer weitere Vorschläge, welches Bier sie auch unbedingt kennen lernen sollten. Jetzt saßen sie und prosteten sich zu, während wieder ein unbeschreiblicher Sonnenuntergang die grünen Weiden wie von innen leuchten ließ. Susanne hatte etwas in der Pfanne gebacken, das Moni an Yorkshirepudding erinnerte. Köstlich, genau wie sie es auch einmal hingekriegt hatte in jüngeren Jahren, gelernt von einer Britin, lange nicht mehr gemacht. Hier hieß es Pfitzauf.

Bei fortgeschrittenem Abend hatte Reto eine Mundharmonika aus seiner Hosentasche gezogen, Moni zugezwinkert und »Der Junge mit der Mundharmonikaaa…« zu spielen begonnen. Nur kurz. Danach sagte er über den Tisch hinweg zu Moni: »Jetzt spiel ich etwas Richtiges für dich. Es passt nicht ins Allgäu. Du musst dir den Süden vorstellen, das Meer – die Adria.«

Er spielte versonnen.

»Italienisch heißt es ›O pescator dell’onda, Fidelin‹.« Er spielte noch eine Strophe.

»Wie schön. Als Kind hatten wir sicher alle eine kleine Mundharmonika, aber spielen konnten wir nicht richtig darauf. Nur etwas lärmen. Ihr auch?«

Susanne und Moni nickten Michael bestätigend zu. »Genau so war es. Wir konnten nur rufen damit. Und wie heißt der Text deutsch?«, fragte Moni schnell.

Reto begann zu deklamieren, in der Hand die Mundharmonika hin- und herbewegend. »Oh, lenke durch die Welle, Fidelin, den Kahn an diese Stelle, Fidelin.«

Moni spürte plötzlich etwas in ihrem Herz. Das Wellenlied machte sie fast etwas verrückt. Das war vielleicht das Bier. Oder war es die Poesie? Jedenfalls platzte sie heraus damit, was sie beschäftigte. Dass sie in einer gewissen Agenda den »scheiß Test positiv« gelesen hatte, in seiner vollen Bedeutung, obwohl sie nur kurz hineingeguckt hatte, um zu sehen, wem das Buch gehörte.

Jetzt redeten alle vier durcheinander und vermuteten, dass Mark wohl keinen blassen Schimmer davon hatte. Dass es seins sein könnte.

»Was tun?«

Susanne: Der Q gleich telefonieren und sie zur Rede stellen.

Reto: Abwarten, Bier trinken.

Michael: Alles in eine Tüte stecken und bei Tina ohne Kommentar abgeben.

»Aber!«, rief Moni, »wenn diese Schwiegereltern nun ihre Nase in die Agenda stecken und von dem Test erfahren und Tina hat vielleicht abgetrieben …«

Also an diesem herrlichen Abend war das nicht mehr zu lösen, dieses Verwandtschaftsdebakel. Überhaupt, in welchem Grad war das verwandt, dieses Problem? Wer hatte eigentlich Anspruch auf dieses Problem?

»Ich vielleicht«, meinte Michael und angelte eine Zigarette hervor. »Möglicherweise.«

Das silberne Buch konnte auch vor dem Abgeben mit breitem Klebeband umwickelt werden. Das würde die Schwiegermutter vom Schnüffeln abhalten. Und es würde somit sprechen zu Tina!

*****

Luise fuhr mit dem Finger gerne Routen ab zu Wasser und zu Lande in ihrem Atlas. Natürlich hatte sie eine große Mappe voll Bücher aufs Boot mitgeschleppt, aber sie las gar nicht so viel, weil es immer wieder etwas zu sehen gab auf dem See, ohne dass man es suchte. Wenn das Boot sich langsam um den Anker herum bewegte, sah man immer einen anderen Ausschnitt der Landschaft. Also häkelte Luise oft an einer Decke und konnte dabei auf den See hinausblinzeln. Sie hatte klein angefangen, in der Mitte ein Post-it-Zettel-großes Quadrat gehäkelt, das jetzt immer größer wurde. (Apropos Post-it, heute hatte Fritz ein Zettelchen an den Kühlschrank geklebt: »Bin dann mal weg – Jakob«.) Immer längere Runden gab es abzuarbeiten. Zu Hause hätte sie diese Häkelarbeit niemals angefangen, viel zu langweilig. Sie bastelte lieber etwas mit Klebstoff – ein Wandbild aus Teebeutelanhängern, die sie als Mosaik anordnete. Aus dem Muster war ein Segelboot zu erkennen. Hier aber, mit all den Szenen auf und am See, war Häkeln genau die richtige Beschäftigung. Statt gar nichts zu tun. Wenn Luise etwas einfiel, was beim nächsten Landgang in Langenargen eingekauft werden sollte, schrieb sie es auf einen Block. Es machte Spaß, zu wissen, dass nie etwas vergessen ging. Das ging nun einfach nicht gut, spontan irgendwelche Dinge einzukaufen und dann abends spät zu entdecken auf dem Wasser, au Shit, es ist kein Brot mehr da, kein Krümel, oder wir haben Tomatensauce aufgetaut für heute Abend, und jetzt ist kein Stängelchen Spaghetti mehr da, nicht ein Schatten davon. Dabei hatte man so viel gebunkert am Anfang. Ob man nun die rote Sauce über den Blumenkohl gießen sollte?

Nein, Luise notierte sich lieber alles. Keiner merkte das im Allgemeinen, dass Luise immer die Heinzelmännchen ausschickte, die sie zu Dutzenden züchtete in ihrem Kopf. Ein Mädchen muss an alles denken, was im Alltag gebraucht wird, hatte es in ihrer Jugend geheißen. Dein Mann wird es dir danken, Luisli.

Ja, so war es herausgekommen. Nur, was hatte das mit Mädchenleben zu tun? Warum konnten die Jungen nicht ebenso »alltäglich« handeln und es sich danken lassen von den Mädchen? Sie fragte sich, was Michael gerade tat im Allgäu. Der hatte ja wohl nichts zu tun und nichts zu melden in Monis Fünfsternehaushalt. Durfte er wohl das mikroskopisch kleine Waschbecken putzen oder den Abfall zur Tonne tragen? Wohl kaum. Machte er seine chronische Behauptung wahr, im Urlaub sollte man malen? Das konnte ihr ganz gleich sein, und doch dachte sie manchmal daran. Sie hatte ihm einmal ein Köfferchen mit Farben geschenkt, aber das war hundert Jahre her und sicher für die Füchse gewesen. Luise hasste es, wenn sich die Vergangenheit von Zeit zu Zeit vor ihr auftürmte wie ein Amboß am wolkigen Himmel.

Mit energischen Gedanken riss sie sich in die Gegenwart zurück. Sie wurde gleichzeitig durch ein Johlen aufgeschreckt. Adrian döste in der Kabine. Fritz hatte sich wohl Münzen in die Badehose gestopft und war zum Steg geschwommen und gewatet, um mit Lea ein Eis essen zu gehen. Lea zeigte ihm alles in Ufernähe. (Luise fühlte etwas wie Neid.)

Das Johlen wiederholte sich. Es tönte hektisch, nicht nach Vergnügen und nicht nach Streit. Sie legte die Häkelarbeit hin und erhob sich. Noch vor einer Minute hatte sie doch ein Tretboot da draußen fahren sehen mit einer Art Gartenbänkchen hintendrauf. Wo war das nun? Tretboote konnten doch nicht sinken, nicht davonrasen und nicht kentern …

O doch, genau das war passiert. Das Bänkchen war verschwunden – das Boot schwamm kopfunter. Durchgekentert war es. Die vier Jungen standen bis zum Hals im Wasser, wie Luise durch das Fernglas beobachten konnte. Sie versuchten nach Kräften, das Tretboot wieder umzukehren, aber dieses bewies nun, wie träg und stabil es war – es kenterte nicht zurück. Es schien noch weiter seeeinwärts zu schwimmen. So kamen die ja nie ans Ufer. Luise schaute noch eine Weile zu. Die Jungen schienen zu verzweifeln. Schließlich musste das Tretboot pünktlich zurückgebracht werden.

»Adrian, komm doch mal her. Da ist etwas los.«

Adrian stieg widerwillig an Deck. »Ach, die Kerle haben es geschafft. Ich habe sie noch schaukeln gesehen. Wir müssen wohl hinüberfahren und sie abschleppen. Hilfe auf dem See ist obligatorisch. Sicherst du die Weingläser?«

»Schon gemacht. Ich lichte den Anker.«

Adrian setzte sich ans Steuer. Los gings in geringem Tempo, um große Wellen zu vermeiden.

»Hallo, ihr Matrosen, ihr schafft es niemals, es umzudrehen. Sollen wir euch abschleppen?« Luise beugte sich hinunter.

»Au ja, gerne. Eine große Welle kam und …«

»Ja sicher.« Luise lächelte und nahm den Strohhut ab. Sie stieg ins Wasser. Alle waren etwa zwölf- und dreizehnjährig und hatten runde blaue Augen und nasse Stehhaare.

»Ihr müsst noch eure Badetücher auffischen.«

»Au Mann, ja.« Es war ein rotes, ein gelbes, ein violett und weiß gestreiftes und dann noch ein gräuliches, das fast nicht zu sehen war auf dem Seegrund. Weit weg schwamm ein bunter Wasserball.

»Gehört der auch euch? Einer holt den Ball!«, befahl Luise. »Und jetzt suchen wir eine Stelle, wo wir euren Kahn anbinden können mit unserer Leine.«

»Kahn, Mann! Es ist bloß ein Tretboot. Schöne Jacht haben Sie da!«

»Ja und gut zum Havaristen-Abschleppen.«

»Hava…«

»So, dann geb ich dem Käpten das Zeichen, sobald wir alle auf den Abschleppkahn umgestiegen sind. Bis wir beim Steg sind, könnt ihr eure Tücher auswringen.«

Luise hob die Hand und winkte Adrian.

»Alle Mann an Bord. – Oh, lenke durch die Welle, Fidelin! Den Kahn auf diese Stelle, Fidelin!«

»So rief die Römerin. – Okay.«

Am Steg hängten sie das Tretboot ab, zogen ihre Leine ein, und die Jungen hielten sich alle fest an ihrem umgedrehten …

»Costa Concordia«, schlug Adrian vor.

»Genau«, sagte Luise, »und einer von euch muss jetzt den Vermieter holen, damit er euch das Schiff wieder umdreht. Weilt Havarist Kapitän Schettino unter euch oder ist er schon …«

»Nein, nein, nein«, sagte der Älteste von allen, »sagen Sie nichts von Schettino.« Er war ganz bleich. »Mein Vater ist Steuermann auf der Elbe. Er darf nie erfahren, was hier passiert ist. Nie.«

»Ist er in der Nähe?«

»Nein, das sind meine Cousins und das da mein Bruder. Unser Vater ist gerade auf der Elbe und wir sind bei Onkel Karl und Tante Irmgard hier im Urlaub.«

»O gut, also Schwamm drüber, wir vergessen das. Wir haben nie ein gestrandetes Kreuzfahrtschiff gesehen und abgeschleppt.«

Die Jungen waren erleichtert. Der Jüngste sagte mit zitternder Stimme. »Und wir werfen nie Abfall ins Wasser und wir saufen auch nicht.«

*****

Es wehte nicht ein bißchen Wind, die Wetterlage war stabil. Das größte Problem auf der Jacht war jetzt, Schatten und Kühlung zu erzeugen. Es konnte vorkommen, dass man einen Landgang unternahm, ohne dass dringend etwas gebunkert werden musste. Einfach, um unter schattigen Bäumen zu sitzen oder unter ausladenden Sonnenschirmen beim Schloss Montfort, wo es köstliche geräucherte Forellenfilets gab. Fertig auf dem Teller. Wenn Luise etwas gemeinsam hatte mit Adrian, dann die unausgesprochene Abmachung, dass nicht geangelt werde.

»Pescator gehört für mich ins Literaturfach«, sagte Mama gerade.

»Die Berufsfischer hier sollen das fangen, was es hat, und uns frisch auf den Tisch bringen«, sagte Adrian. »Mal Felchen, mal Egli.«

Und ich, der Fritz, hatte gar nichts gegen Fischstäbchen.

»Mama, ich habe einen Wunsch.« Ich schaufelte mir mit einer übertriebenen Bewegung den Schweiß von der Stirn. »Wäre es in Ordnung, wenn ich für zwei, drei Tage oder so meinen Arsch auswassern würde? Kurz an den Schatten ginge, vielleicht ins Allgäu?«

»Wie willst du dorthin kommen? Per Taxi? Per Autostopp jedenfalls nicht!«

»Nein, sicher nicht. Rat mal, was mir Mark geschrieben hat. Ja, rate zuerst. Er hat sich etwas angeschafft.«

»Ein Wohnmobil?«, rief Adrian herüber und schnitt sich eine Zigarre an mit seiner goldenen Zigarrenschere. (Er hatte sogar einen Humidor an Bord, um die armen Zigarren vor der Hitze zu schützen.)

»Nein, aber fast erraten. Er hat sich einen neuen 4er-BMW gekauft! Rot! Er möchte ihn uns zeigen.«

»Aha, der Herr vermag es«, staunte Adrian. »Gekauft oder geleast?«

»Gekauft!« Ich wusste auch das.

»Also gut«, sagte Mama, »obwohl ich es noch so gern ausnützen würde, dir so viel wie möglich zu verbieten, bis du in kurzer Zeit volljährig bist.«

»Danke, Mama. Er könnte mit der Fähre antanzen morgen Mittag. Und dann kommt auch –«

»Lea mit?«

»Erraten. Die muss ja nicht mehr Mama fragen.«

Mama ließ ihre Häkelnadel fast fallen, fing sie aber auf und steckte sie energisch in ihr Kuchenstück, das sie noch nicht angerührt hatte. »Aber sie lebt doch noch?«

»Aber Mütterchen, klar, sie ist jünger als du. Dafür ist Lea älter als ich. Vollstens volljährig. Die beiden leben, als wären sie Schwestern. Nichts ist vorgeschrieben. Alles läuft automatisch. Und Lea wohnt in einem Studentenwohnheim in Konstanz. Kocht und wischt sich selber hinterher.«

Ich war stolz, das Ganze in einem einzigen Schwung herausgebracht zu haben. Ich hatte ein gutes Gefühl. Ich wusste von Schulkollegen, dass ältere Brüder für vieles gut waren. Sie hatten vorgespurt, die Mütter nervten sich nur noch halb, wenn es um die Jüngeren ging. So war es nun genau.

»Fritz, du musst aber alles im Griff haben. Die Kleider, die du einpackst, und die Zahnseide. Und Wanderschuhe hast du ja nun nicht gerade dabei.«

»Wir wandern doch nicht. Wir zelten. Mark hat dann ein Viermannzelt dabei, größer als der Wohnwagen, sagt er.«

»In Ordnung. Ihr ruft aber zweimal im Tag an. Ich weiß nicht, ob Mark eine väterliche Seite hat. Er hat doch fast nichts als Baupläne im Kopf.«

»Ich bin umzingelt von lauter Volljährigen, Mama. Und du weißt, dass ich brav bin, ich saufe nicht, und überhaupt.«

»Ja, Fritz, ja, ich bin froh darüber, und es schadet nicht, wenn du bei Papa vorbeischaust. Er ist vielleicht ein wenig beleidigt, wenn du die ganzen langen Ferien bei mir sitzt. Dann packe ich euch noch etwas zu essen ein.«

»Leas Mütterchen hat das auch im Sinn. Aber ich muss noch meine Räppler zählen, wenn du weißt, was ich meine.«

»Sehr wohl. Cents meinst du.« Mutter zog die Häkelnadel aus dem Kuchenstück und steckte sie wie eine Zigarette in den Mund. »Dann wäre alles geklärt.«

Leas Mutter lebte noch, ja, das schon. Unterdessen hatte mir Lea aber erzählt, was sie Furchtbares entdeckt hatte. Sie hatte geforscht. Und sie hatte genug gefunden. Nicht am See, nicht im Schilf.

Das Furchtbare fand sich in einer Fotoschatulle und im Web.

*****

Auf dem Bett lag ein kleiner Reisekoffer aufgeklappt da, und Mark überlegte, was für Kleider wohl angenehm waren, wenn er dann im Zelt am Boden hockte. Er war sicher, dass außer dem Zelt selber nur drei Schlafmatten und drei Sommerdecken nötig waren. Vater und Moni kamen bestimmt gleich angerannt mit Faltstühlen, von denen im Wohnwagen ein halbes Dutzend im Keller lag. Er erinnerte sich wehmütig daran, wie auf jedem Campingplatz der Welt sofort die Nachbarn über den Rasen angerückt kamen, sich vorstellten und mit Kabeln und Keilen und Tipps aushalfen. Er warf einen Blick aus dem Fenster und lief fast über vor Freude über das, was er da draußen sah. Das neue rote Coupé. Ein Vierer, ich glaubs nicht. Meiner.

Er wollte Adrian etwas um die Nase fahren damit, so hoffte er. Diesem Stenz konnte man nur mit Autos, V8 und Weibern imponieren. Sobald das Gespräch auf Beton kam, fühlte man sich bei diesem Typ wie ein Grüner, der Rücksicht auf Mensch, Tier, Mäuerchen und Liegenschaften nahm, wo bei Adrian alles im Boden stattfand und ihm offenbar egal war. Boden – tief – Garage, das wars dann. Nicht vergessen, einen Lift einzubauen, dass man aus dem Bunker wieder ans Tageslicht (mit den Panoramafenstern) kam. Mark hatte den Eindruck, dass Adrian kaum wusste, was Beton war. Er residierte in seinem Chromstahl-Leder-Palisanderholz-Büro und erteilte Aufträge und stiefelte nicht auf Baustellen herum. Komisch. Wahrscheinlich kannte er keinen einzigen seiner Arbeiter. Von der Sonne stechen ließ er sich auf seiner Jacht.

Was wäre noch nützlich mitzunehmen? Es war ein guter Gedanke, ein paar Familienmitglieder zu sehen. Das Alleinsein machte Mark verrückt. In kurzer Zeit hatte sich alles geändert. Zuerst die feinen Risse in der elterlichen Ehe, dann das Auseinanderbrechen. Fritz, der jetzt zwischen den Eltern-»Teilen« umherirrte. Später die Risse in seiner eigenen Beziehung, das Herausbrechen von Mauerstücken.

Mark nahm den Silberrandbecher »Kiss me« in die Hand. War da nicht ein Riss, der dem Henkelansatz entlanglief? Sollte da eines schönen Tages der Kübel abbrechen in vollem heißem Zustand – und mir vor die Füße knallen? Kiss me. Fuck you. Mark ließ den Becher zu Boden fallen. Er zersprang in fünf Teile. Aha, dachte Mark. Was soll nun das wieder bedeuten. Das wären dann wohl Vater, Mutter, Fritz, Tina und ich. Obwohl das Bullshit war. Welcher Teil wäre Fritz? Der Henkel? Etwas, das man hart anfasste und wieder sein ließ. Dann wieder zum Herumschieben brauchte. Unglaublich, dass der kleine Bruder in wenigen Monaten auch schon volljährig wurde. Gut so.

Mark freute sich auf Fritz. Wenn wir harmonieren beim Camping, könnte ich ihm anbieten, bei mir zu wohnen. Ich wohne näher bei Bus und Bahn als unsere Alten. In einem Jahr wird er ja bald mit seinem Brückenstudium beginnen …

Beinahe hätte er eine Kleinigkeit vergessen. Ohne Eiswürfel ging gar nichts bei diesem Wetter. Originelle Eiswürfel waren immer eine Überraschung. Mark griff ins Eisfach und holte sorgfältig heraus, was er sich ausgedacht hatte, versenkte es in die fertig gepackte Kühltruhe. Jetzt hatte er alles vorbereitet. Er klappte den Koffer zu. Ein Köfferchen wie gemacht für das Coupé. Fritz hatte wohl nur seine übliche bewegliche Reisetasche, die überall hineinpasste. Und das Gepäck dieser Lea? Er war überzeugt, dass es niemanden gab, der Tinas Koffergröße schlagen konnte.

Hoffentlich hockte Tina da und brütete. Es wäre ihr von Herzen zu gönnen. Und dass der neue Kerl sich weigerte, Nagellack und Spezialrasierdouchecreme ins weiterbildungsgeschmälerte Budget aufzunehmen für die dumme Kuh.

*****

Schon beim Frühstück saßen sie nun zusammen. Susanne liebte es, Brötchen und Croissants kunstvoll in einem Korb aufzubauen und ihre selber fabrizierten Marmeladen anzubieten. Wenn alle vier bei Michaels saßen, machte sich Moni einen Sport daraus, jeden einzeln zu fragen, wie das Ei sein solle. Sie hatte einen elektrischen Eierkocher. Es war immer sehr spät, elf Uhr frühestens. Noch nie hatte eine Gruppe so ähn­liche Aufsteh-und-zu-Bett-gehen-Zeiten gehabt. Alles passte. Niemand tigerte schon um acht Uhr herum, hungerte und ärgerte sich, dass die anderen sich noch im Bett befanden.

Moni hatte das Polster von einer Sitzbank im Wohnwagen genommen und in der truhenförmigen Bank gewühlt.

»Hier müssten große Teller mit grünem Rand drin sein. Teller aus Melamin. Wir könnten den vielen Käse darauf anrichten und hinüberbringen. Ah, ich hab sie.«

Michael ging vor dem Wohnwagen auf und ab, rauchte und schaute zu, wie ein Nachbar wegzufahren im Begriff war.

»Komm, Moni, winken. Gerbers fahren jetzt.«

»Unter den Tellern ist ein Köfferchen. Ist da Werkzeug drin? Oder wichtige Unterlagen?«

»Nein, Farben. Nimm es bitte gleich mal heraus.«

Moni tauchte in der Tür auf, noch etwas zerzaust, und sie winkten kräftig, als Gerbers langsam anfuhren mit ihrem gewaltigen Caravan.

Jetzt war da eine Lücke, die das Auge mit noch mehr nahem und fernem Grün füllte. Michael lächelte versonnen.

»Ich könnte heute versuchen, ein Bild von den Hügeln zu malen. Alles grün, grün, grün. Keine Kunst. Einfach ein bisschen in den Farben planschen.«

Moni wunderte sich. Sie öffnete das Holzköfferchen und gleich rollten drei Pinsel heraus.

»Hast du jemals gemalt? Wusste ich ja gar nicht.«

»Nein, das kann man nicht behaupten. Aber in manchen Therapien wird doch empfohlen, mit Malen zu beginnen. Bevor ich eine Therapie nötig hatte, erschien da ein Farbkasten. Eines Tages beim Frühstück war der Farbkasten mit allen Schikanen aufgetaucht. Samt Staffelei, siehst du? Angedockt. Klein, aber fein. Kreiden, Tuben, Farbstifte, Deckweiß.«

»Aha, Luise wollte etwa machen aus dir.« Moni legte die Stirn in Falten, was wirklich selten war. »Und du solltest deinen Zustand verbessern mit Malen. Aber dann kam ich. Und mit Malen wurde nichts? Stimmts? Habe ich das durchschaut?«

»So ähnlich. Nur dass ich den Farbkoffer gleich am ersten Tag hinter den Schreibtisch gestellt und vollkommen vergessen hatte. So schauts aus.«

»Vier verschiedene Grün in dem Koffer«, meinte Moni. »Ich fass es nicht. So viel Grün gibts doch nicht in Wald und Feld.«

»Da wirst du dann noch staunen«, lachte Michael und rollte einen Ärmel auf. Die Sonne brannte schon auf seine Arme und besonders auf den Kopf. »Ich versuche es einfach. Du bekommst heute Abend ein Bild voller Grün. Mit Kühen darauf. Nein, zuerst ohne Kühe. Sie sind so schwierig in der Form. Ich möchte nur Flächen malen. Wellige Hügel. Ein weiter Himmel darüber. Mit viel Wasser. Siehst du, hier ist ein aufklapp­barer Becher. Sonst praktisch flach, jetzt aufgepoppt. Ich freue mich richtig darauf. Jetzt ist der richtige Zeitpunkt da.«

Moni hatte allen Käse auf den Teller ausgebreitet und dekorierte eifrig mit Radieschen und Nüssen.

»Etwas Grünes fehlt noch auf der Käseplatte«, bemerkte Michael fast etwas verärgert.

Eine Stunde später lehnten sich Susanne, Reto, Moni und Michael zurück in ihren Lehnstühlen und lobten den Käse von hier, das feine Brot, das es hier zu bestellen gab bei der Anmeldung und das dann jeden Morgen abgeholt werden konnte, und den Filterkaffee, den Susanne gebrüht hatte. Sie brachte ihren Kaffee gemahlen mit auf den Platz und mahlte ihn nicht von Mal zu Mal elektrisch wie Moni. Nun wurde seit geraumer Zeit über Kaffeekapselsysteme geredet. Was für eine Dummheit, dass es inkompatible Kapseln und Maschinen gab, genau derselbe Spaß wie mit den Ladekabeln, seit es Mobiltelefone gab.

Luise, dachte Michael, hat aus den überzähligen Ladekabeln der kaputten Handys (alle Jahre wieder ging eines bis zwei von selbst kaputt oder fiel ins Abwaschwasser oder zerschellte auf dem Vorplatz) Halsketten gebastelt.

Es klingelte – prompt. Michael schreckte auf.

»Deines«, sagte Susanne freundlich. Sie räumte den Tisch ab. Zusammen mit Moni warf sie wieder und wieder Blicke zu der Holländerin hinüber, die seit Stunden emsig strickte unter einer orangefarbenen Markise, die alles darunter in ein erfrischendes Licht tauchte. So als badete die Holländerin in kühlem Orangensaft. Beide Frauen gaben zu, dass sie es völlig verpasst hatten, ein paar Garnknäuel einzupacken für lange Stunden des Halbruhens.

»Besorgt euch doch Nadeln und Garn, wenn wir morgen einkaufen.« Reto tat so, als stricke er mit Messer und Kaffeelöffel.

Michael hatte die ganze Zeit in sein Smartphone hineingehorcht und kurze Worte hineingeantwortet. Nun schaute er in die Runde und verkündete: »Stellt euch vor, Mark und Fritz kommen zu Besuch samt Zelt und Sack und Pack. – Also, Mark, wir freuen uns sehr, dass ihr kommt. Bis dann. – Alles klar. Wir fragen schon mal wegen eines Platzes. Tschüß.«

Risse

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