Читать книгу Der meinen Namen trägt - Veronika Stöhr - Страница 5

1. Teil

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Samstag, 24. November, London

„Und ich habe Ja gesagt!“

Als ich das hörte, fiel mir fast der Tennisschläger aus der Hand. Überrascht starrte ich meine Freundin Mia an. Normalerweise waren wir montags zum Tennisspielen verabredet, aber da sie mir etwas mitteilen musste, das nicht bis übermorgen warten konnte, hatten wir die Tennispartie verschoben.

„Aber … wolltest du nicht mindestens fünf Jahre an der Universität bleiben, bevor du über Familienplanung nachdenkst?“, wandte ich vorsichtig ein. Vor noch nicht allzu langer Zeit hatte Mia mir mal erzählt, dass sie erst heiraten würde, wenn sie Kinder bekommen sollte – und jetzt, da sie sich als Post Doc endlich ihrer Genetik-Forschung widmen konnte, wollte sie damit beginnen? „Du bist aber noch nicht schwanger, oder?“

Mia ließ den Tennisschläger sinken. Das war nicht die Reaktion, mit der sie gerechnet hatte, doch ich konnte nicht aus meiner Haut. „Nein, bin ich nicht. Aber hoffentlich bald. Und wenn ich Mutter werde, steige ich fürs Erste aus der Forschung aus“, erklärte sie mir resolut.

Ich hatte Mühe, mir meine Verwunderung nicht anmerken zu lassen, und überlegte, was mich am meisten irritierte. Die Tatsache, dass sie schon darüber nachdachte, Kinder zu bekommen, während ich nicht einmal genau wusste, wann ich meine letzte richtige Beziehung geführt hatte? Ihre Unbekümmertheit, wenn es darum ging, die Arbeit hinten anzustellen oder sogar aufzugeben? Was es auch war, es führte dazu, dass ich nicht lockerlassen konnte. „Du wärst wirklich bereit, an diesem Punkt deiner Karriere auszusteigen?“

Mia zuckte mit den Schultern und kam zum Netz. „Oscar und ich wollen eine Familie gründen, und jetzt ist die richtige Zeit, um den ersten Schritt zu machen.“

Ich schüttelte nur den Kopf, in mir kam ein Gefühl von Enttäuschung hoch, das ich mir nicht recht erklären konnte. Mia war noch keine dreißig, warum wollte sie jetzt schon heiraten und Kinder haben, wenn sie selbst noch so viel vorgehabt hatte?

„Anabel, auch du wirst irgendwann jemanden finden, für den du bereit bist, dein Leben zu ändern“, redete sie weiter, während sie den Schläger zwischen die Beine klemmte, um ihre Haare zu richten.

„Wenn du meinst.“ Ich hatte mir angewöhnt, bei diesem Thema vor anderen Leuten ein Schild aufzubauen, um mich gegen jegliche Art von Beziehungsfragen zu schützen. Auf die hatte ich nämlich keine Antwort – außer die, dass in meinen Jahren als erwachsene Frau noch nie jemand das Gefühl von Liebe in mir entfacht hatte und ich mich deshalb lieber auf meine Arbeit konzentrierte. Aber das musste ich nicht jedem auf die Nase binden.

Mia seufzte. „Ich habe es dir schon oft gesagt und kann mich nur wiederholen: Ich denke nicht, dass du glücklich mit deinem Job bist. Die Arbeit beim Sender macht dich … kalt.“

Ich kannte ihre Meinung. Seit einigen Jahren arbeitete ich als Moderatorin beim Fernsehsender Cartano Media Studios. Es war perfekt, denn dabei konnte ich in Arbeit versinken, wann immer ich wollte, und mich deshalb wie ein Aal aus allen sozialen Verpflichtungen herauswinden. Doch Mia dachte anders darüber.

„Nur weil mir mein Job wichtig ist, bin ich kalt? Wenn das jeder so entspannt sehen würde wie du, würde hier das Chaos ausbrechen“, gab ich zurück, um meine Ehre zu verteidigen. Ich folgte Mia zu der Bank, auf der unsere Taschen lagen, und packte den Tennisschläger ein.

Mia tat es mir gleich. „Nein, aber ich denke, dass sich die meisten Menschen über die Hochzeit einer Freundin freuen würden und sich nicht selbst seit Ewigkeiten gegen jede Form einer Beziehung wehren.“ Sie sah mich ernst an. „Wenn es nur Leute wie dich gegeben hätte, wäre unsere Spezies schon vor tausend Jahren ausgestorben, Anabel.“

Darauf fiel mir nichts ein, deshalb schulterte ich meine Trainingstasche und machte mich auf in Richtung Ausgang.

Mia wird heiraten. Großartig. Vermutlich durfte ich mir ab jetzt jede Woche Hochzeitsneuigkeiten und Ehedramen anhören.

Mia hinter mir fiel in einen Laufschritt, um mich einzuholen. „Weißt du, ich verstehe, dass es heutzutage Modewörter wie Karrierefrau gibt, aber meiner Meinung nach ist es das Mittelmaß aus Familie und Beruf, das wir brauchen“, fuhr sie fort.

Ich seufzte, hielt an und drehte mich um. „Ich bin zufrieden mit meinem Leben, Mia. Und wenn du es mit deinem auch bist, dann umso besser.“

Mia zuckte mit den Schultern. „Wie du meinst. Aber zur Hochzeit kommst du trotzdem, oder?“

Ich rang mit mir. Hochzeiten waren nicht mein Fall. Wenn ich in den Jahren zuvor von Arbeitskollegen zu einer Heirat eingeladen worden war, was selten genug vorkam, hatte ich meistens nach einer Ausrede gesucht, um nicht dabei sein zu müssen. Der Kitsch, das Drama … darauf konnte ich verzichten. Aber Mia war nicht meine Arbeitskollegin und ihre Feier zu verpassen, würde mir im Herzen wehtun. Zumindest bei der Trauung würde ich dabei sein, beschloss ich.

„Ja, ich werde kommen.“

Mia lächelte. „Weißt du, ich habe mit dem Gedanken gespielt, dich zu fragen, ob du meine Trauzeugin sein willst“, erzählte sie mir. Inzwischen waren wir an der Ausgangstür angelangt. „Aber dann habe ich an unsere Diskussion letztens gedacht und mir überlegt, dass du vielleicht nicht die Idealbesetzung für diese Aufgabe bist“, fügte sie zwinkernd hinzu.

Ich konnte mich ebenfalls an das Gespräch erinnern, da hatte ich Mia gesagt, dass ich nicht viel vom Konzept Ehe hielt, obwohl ich da noch gar nichts von Mias Plänen gewusst hatte. Ich hatte sie dabei mit der Frage konfrontiert, warum eine Partnerschaft mit einem Ring und einem Gelübde besiegelt werden musste, um bestehen zu können. Nach einigem Hin und Her waren wir zu der Erkenntnis gekommen, dass wir uns bei diesem Thema nicht einig werden würden. Für sie war die Ehe ein Versprechen, das sie ihrem Partner geben wollte, für mich ein gesellschaftliches Konstrukt, das für eine funktionierende Beziehung in meinen Augen nicht notwendig war.

Insofern war ich froh, dass Mia mich nicht bat, ihren Junggesellinnenabschied zu planen, bei ihrem Ehegelübde hinter ihr am Altar zu stehen und mich sonstigen Pflichten einer Trauzeugin zu widmen.

„Wir sind zwar nicht einer Meinung, aber ich werde trotzdem bei deiner Hochzeit dabei sein, ich verspreche es.“

Sobald wir bei meinem Auto angekommen waren, setzte ich mich hinters Lenkrad, und Mia nahm neben mir Platz. „Es wird ein tolles Fest, wir haben schon die Musik und das Essen gebucht“, berichtete sie weiter.

Ich fuhr vom Parkplatz des Tenniscenters auf die Straße Richtung Clerkenwell, wo Mia wohnte. Während der Fahrt übernahm sie das Gespräch, indem sie mir noch einmal genau vom Antrag ihres Verlobten Oscars berichtete und dann die Reaktionen ihrer Familie auf die Neuigkeit schilderte. Als wir vor ihrer Haustür ankamen, drehte ich mich zu ihr. „Wirst du das wirklich durchziehen?“

Mia hob erstaunt die Augenbrauen. „Und ob! Oscar ist der Richtige, das spüre ich.“ Sie unterbrach sich, dann schlug sie einen lockeren Ton an. „Wir haben uns schon überlegt, wo wir unsere Flitterwochen verbringen werden.“ Erwartungsvoll sah sie zu mir.

Ich hob die Augenbrauen. „Also, wohin fahrt ihr?“

Mia strahlte. „Nach Italien! Da wollte ich mich mit dir zusammensetzen. Kannst du uns irgendwelche Hotels in der Nähe von Neapel empfehlen?“, erkundigte sie sich, und ich sah förmlich, wie sie innerlich Stift und Block zückte.

Ich seufzte. Mir war klar, warum sie ausgerechnet mich das fragte, denn ich war dort aufgewachsen. Rein theoretisch konnte ich ihr helfen. Aber wollte ich mich mit romantischen Hotels in meiner früheren Heimat beschäftigen, während ich mich die ganze Zeit fragte, warum ich nicht einmal selbst so verliebt war? Nein, das wollte ich definitiv nicht. Und ich wollte auf keinen Fall, dass daraus eine Konversation über meine Kindheit und Jugend im Generellen entstand, denn darüber sprach ich mit niemandem mehr.

Ich suchte nach einem Themenwechsel, und da mir nichts einfiel, sah ich wenig originell zu der Uhr auf meinem Armaturenbrett. „Uff, es ist schon spät“, zitierte ich die Nummer eins aller Ausreden und konnte es dabei nicht einmal annähernd so aussehen lassen, als ob es keine Ausrede wäre. Mias kühler Blick, den ich daraufhin kassierte, ließ mich meine Antwort überdenken. „Ich schreibe dir ein paar Hoteladressen auf, in Ordnung?“

Mia, stets bemüht um Harmonie und Frieden, nickte besänftigt und machte sich daran, aus dem Auto zu steigen. „Alles Gute für deine Show am Freitag!“, sagte sie, dann schlug sie die Tür zu.

Von Mias Wohnung in Clerkenwell über die Euston Road zu meiner Unterkunft in Baywater fuhr ich etwa eine halbe Stunde. Sobald ich in meine Straße einbog, sah ich schon das weiße, elegant gestaltete Haus. Um das Areal herum war ein Zaun gezogen worden, der in Form einer Schranke über die Zufahrtsstraße reichte. Der Pförtner erkannte mich und ließ die Schranke nach oben, sodass ich problemlos auf meinen Parkplatz in der Tiefgarage rollen konnte. Die Anlage war so gebaut worden, dass der städtische Verkehr fast nicht zu hören war. Das empfand ich als Segen, denn nach einem langen Arbeitstag hatte Stille für mich vitalisierende Kräfte.

Als ich die Tür zu meiner Wohnung aufschloss, saß meine Katze Phoibe bereits auf der Fußmatte und sah mich mit ihren großen Augen erwartungsvoll an. Ich stellte die Tasche ab und nahm sie auf den Arm. Das Zusammenleben mit einer Katze war so eine Sache, vor allem, wenn man Single war und extra betonte, dass das Tier kein Ersatz für einen Partner oder Kinder war. Der Blick, den ich normalerweise auf solch eine Aussage hin von anderen Leuten erntete, lag irgendwo zwischen Mitleid und Verständnis. Wenn ich ehrlich war, wusste ich nicht, ob Phoibe für mich nicht doch einen Menschen kompensierte. Wie dem auch sei, ich hatte mir viel Mühe mit ihr gegeben. Immer wieder hatte ich Tierheime besucht, bis mir die kleine grauweiße Katze ins Auge gestochen war. Ihren Namen hatte Phoibe meinem Interesse für griechische Mythologie zu verdanken, sie teilte ihn mit der Göttin des Mondes. Ich hatte bestimmt drei Monate über diesen Namen nachgedacht, und sie hatte es mir damit gedankt, dass sie ungefähr fünf Mal so lang gebraucht hatte, bis sie zumindest vorgab, gelegentlich darauf zu hören.

Das Katzenfutter kaufte ich in einem Fachmarkt für Tiernahrung, sodass es frisch und gesund war. Phoibe verlor dafür kein einziges Haar und war auch in jeder anderen Hinsicht eine angenehme Mitbewohnerin.

„Sieh mal, ich habe dir etwas mitgebracht“, sagte ich zu ihr und zog eine Dose Leckerlis aus der Tasche, die ich gekauft hatte, bevor ich zum Tennisspielen gefahren war. Phoibe spitzte die Ohren und folgte mir auf leisen Pfoten. Sie wusste genau, dass ich es nicht leiden konnte, wenn sie in der Küche auf die Schränke sprang, weswegen sie sich das für die Momente aufhob, in denen ich hektisch war und sie sich von mir gestört fühlte. Aber heute blieb sie brav am Boden sitzen und beobachtete mich von dort.

Ich bereitete ihr das Futter zu und stellte ihr dann den Napf vor die Nase, bevor ich die Küche verließ und beschloss, den Abend gemütlich im Wohnzimmer zu verbringen. Dort stand ein Sofa in der Mitte des Zimmers, gegenüber des Fernsehers und vor der Balkontür, die von Vorhängen verdeckt war. Drei Stufen führten weiter zu einem Esstisch, den ich so gut wie nie benutzte.

Normalerweise genoss ich die Stille in meiner Wohnung, doch heute war sie mir unheimlich. Deshalb nahm ich die Fernbedienung und suchte nach einem Kanal, der keine kitschige Liebeskomödie zeigte. Ich blieb bei einer Dokumentation über Sibirische Tiger hängen und überlegte, was ich an diesem Abend trinken sollte, um nicht zu viel an Mias Offenbarung zu denken. Schließlich griff ich zu neuseeländischem Wein, den ich seit fünf Jahren bunkerte.

Eigentlich trank ich nicht, doch heute war eine Ausnahme. Ich hatte in der Tat einiges zu verdauen, angefangen mit der Frage, wieso mich Mias Hochzeit so mitnahm.

Als ich mit dem Weinglas in der Hand vor dem Fernseher Platz nahm, sah ich eine Ankündigung für meine Show am Freitag. Die Werbung dauerte nicht lange, bloß ein paar Sekunden, und trotzdem hatte es etwas Beruhigendes, das Studio zu sehen, das für mich auf merkwürdige Weise manchmal mehr Zuhause war als meine Wohnung.

Etwas später kam Phoibe aus der Küche und rollte sich neben mir zusammen. Zwei Wochen im Jahr, immer dann, wenn ich Urlaub hatte, brachte ich sie zu meinen Nachbarn, die sie liebten und gerne bei sich aufnahmen. Auch Phoibe schien sie zu mögen, denn manchmal sah ich, wie sie auf den Nachbarbalkon kletterte und das ältere Ehepaar begrüßte, das sich so rührend um sie kümmerte. Anderen Menschen traute sie nicht, fremden Katzen wich sie nach Möglichkeit aus. Sie war eine Einzelgängerin wie ich, und das faszinierte mich an dem Tier.

Freitag, 30. November, London

Normalerweise hatte ich eine fixe Morgenroutine. Das war mir wichtig, und nur wenn ich mich penibel daran hielt, hatte der Tag eine Chance, gut zu werden. Hatte ich am Abend meine Show und blieb am Morgen dieser Routine nicht treu, passierte im Studio immer mindestens ein Missgeschick, das mir noch Tage danach peinlich war.

Als ich an diesem Freitag aufwachte, einen Blick auf den Wecker warf und merkte, dass ich ihn nicht gestellt und deshalb verschlafen hatte, hätte ich am liebsten laut geschrien. Hektisch sprang ich aus dem Bett und versuchte, mein einstündiges Morgenprogramm auf fünfzehn Minuten zu kürzen. Währenddessen verscheuchte ich mehrmals die Katze aus der Küche, die meine Panik spürte und mithalf, indem sie der mit Weintrauben gefüllten Tüte auf der Küchenanrichte einen Schubs gab. Dann sah sie dabei zu, wie ich schimpfend die Weintrauben wieder einsammelte, die sich in die Freiheit davonstehlen wollten.

Bis ich im Auto saß, war es schon nach elf Uhr. Ich startete mit quietschenden Reifen aus der Tiefgarage und nutzte die PS meines Maseratis, bis ich in den Londoner Verkehr kam.

Natürlich hatte ich von den Studien gehört, nach denen Raser und Drängler meistens nicht viel schneller am Ziel ankamen als gesittete Autofahrer. Doch heute erschien es mir die beste Methode, jeden freien Zentimeter Straße auszunutzen.

Die rote Ampel, die grell vor mir aufleuchtete, sah ich deshalb erst im allerletzten Moment. Ich stieg voll auf die Bremse und klammerte mich für einige Sekunden mit klopfendem Herzen am Lenkrad fest, während der Querverkehr vorbeiraste. Laut schärfte ich mir ein, erst wieder über meine Verspätung nachzudenken, wenn ich das Auto sicher beim Fernsehsender geparkt hatte.

Die nächsten zwei Minuten fuhr ich konzentriert und zivilisiert, dann wanderten meine Gedanken weiter. An diesem verpatzten Morgen hatten allein Mia und ihre Hochzeit Schuld. Sie hatte mich gestern noch angerufen und mir lang und breit von ihrer Hochzeitsplanerin erzählt, die sie engagiert hatte. Ich hatte dafür die Nacht über wach gelegen und mir überlegt, wie schön es wäre, so verliebt zu sein wie sie.

Schluss jetzt! Mia darf heiraten, und du darfst weiter deine Fernsehshow moderieren. Und damit basta.

Die Minuten im Auto verstrichen äußerst langsam. Trotzdem erreichte ich nach geraumer Zeit die Docklands, parkte in der weitläufigen Tiefgarage der Cartano Media Studios und holte das Handy aus der Tasche. Auf dem Display sah ich neben einigen verpassten Anrufen eine Textnachricht meiner Assistentin, die schrieb, dass ich zum Büro meines Vorgesetzten Toni Cartano kommen solle, sobald ich da wäre, da er unbedingt mit mir sprechen wolle.

Fabelhaft. Mein Fehlen war schon bis zum Chef durchgedrungen, und ich wollte gar nicht wissen, was er mir zu sagen hatte. Vielleicht, dass ich den Job nicht mehr ernst genug nahm? Allein der Gedanke an diesen Vorwurf versetzte mir einen Stich in die Brust, nachdem ich dieser Show mein ganzes Leben untergeordnet hatte.

Seufzend griff ich nach meiner Handtasche, kontrollierte meine Frisur im Rückspiegel und stieg aus dem Auto. Der Weg von der Garage zum Empfang war kurz, und die Empfangsdame Mrs Graham lächelte mir freundlich entgegen, als ich durch die Eingangstür trat. „Willkommen, Ms Bonastale, Mr Cartano wartet schon auf Sie!“, sagte sie mit einer weisenden Handbewegung nach links, als ob ich zum ersten Mal hier wäre und den Weg nicht wüsste.

Natürlich tut er das. Ich nickte zur Begrüßung und lief den weiß gestrichenen Gang entlang, der vom Empfang direkt zu Toni Cartanos Büro führte. Er war gesäumt mit unzähligen Fotos von Mitarbeitern und Gästen, auf nicht wenigen davon war ich in Großaufnahme zu sehen. Vor seiner Bürotür, die einen Spaltbreit geöffnet war, atmete ich noch einmal tief durch, klopfte und trat ein.

Toni Cartano saß vor seinem Computer und starrte angestrengt auf den Bildschirm. Als er mich sah, lächelte er kurz. „Ah, Anabel Bonastale. Schön, dass du auch noch kommst.“

Ich biss mir auf die Lippe, redete mir ein, dass ich das verdient hatte, und begrüßte ihn dann wie üblich mit zwei Küssen auf die Wangen. „Es tut mir leid, dass ich mich verspätet habe …“, setzte ich an, doch Toni winkte gleich ab.

„Dass ich keine Zeit für solche Ausreden habe, ist dir hoffentlich bewusst. Und dass ausgerechnet du heute nicht pünktlich kommst, sagt einiges über deine Einstellung aus, Anabel“, kam er direkt zum Punkt und fixierte mich mit seinem Blick.

„Das ist nicht fair, Toni, es war doch keine Absicht!“, fiel ich ihm ins Wort. Ich kannte diesen Mann schon so lange – und doch war er mir manchmal ein Rätsel. Mit ihm hatte ich meine Kindheit verbracht, und trotzdem war er, sobald er hier in seinem Büro saß, mein Boss, der mir vorschrieb, was ich zu tun hatte.

Toni warf mir einen Blick zu, der mich davon abhielt, noch etwas zu sagen. „Du weißt, wie wichtig es ist“, sagte er leise, und auf einmal war sie wieder da, diese Samtstimme, die einem Kopf und Sinne verdrehen konnte.

Ich hielt mich aufrecht und nickte artig. „Ja, das weiß ich. Und ich verspreche dir, es ist mir wichtig.“

„Nicht wichtig genug.“ Auf einmal sah er mir direkt in die Augen, und ich wusste wieder, warum er das normalerweise unterließ. Sein Blick war so intensiv, dass ich ihm nicht standhalten konnte und stattdessen zu Boden schauen musste. „Die Show heute wird einwandfrei werden.“

„Sie soll aber nicht einwandfrei werden.“ Toni hatte den Spaß daran verloren, mich durch seinen Blick einzuschüchtern, und begann damit, Papierstöße auf seinem Schreibtisch zu ordnen. „Sie soll Aufsehen erregen. Die Show soll provozieren und die Leute dazu bringen nachzudenken!“

Toni hatte für mich ein Format entwickelt, das Unterhaltung mit politischen Themen kombinierte und zu unserer aller Überraschung ein Hit geworden war. Dabei fokussierten wir uns in jeder Show auf ein eigenes Thema; so hatten wir beispielsweise letzten Monat eine Sendung mit dem Titel Korruption als Teil unserer Gesellschaft.

Auf der einen Seite führte ich Gespräche und Diskussionen mit bekannten und unbekannten Menschen, die sich mit dem Thema auskannten, auf der anderen Seite gab es Aufgaben zu lösen, Ratespiele und Interaktionen mit dem Publikum, die für Spannung sorgten. Tonis Idee dahinter war, die politischen Gäste, die normalerweise bei reinen Unterhaltungsshows nicht mitwirkten, durch die aufgelockerte Atmosphäre und den Wettbewerb zu eigenen, impulsiven Antworten bei den Diskussionen zu bewegen.

Als er uns das Konzept zum ersten Mal vorgestellt hatte, war niemand davon überzeugt gewesen, auch ich nicht, doch er hatte ein Händchen für scheinbar unmögliche Vorhaben. Ihm gelangen solche Experimente fast immer. Und so gingen Politiker, Beamte und Wissenschaftler bei meiner Show ein und aus und gaben Dinge von sich, die sie in reinen Interviewformaten nie gesagt hätten.

„Sie wird provozieren, glaub mir“, antwortete ich ihm und versuchte, so viel Selbstvertrauen wie möglich in meine Stimme zu legen. Toni musste kein guter Menschenkenner sein, um zu sehen, dass ich mich sicherer gab, als ich war.

Kurz dachte ich, er wolle weiter mit mir streiten, dann gab er auf einmal nach. „Wir sprechen später noch darüber. Am besten kommst du direkt hierher, sobald die Show vorbei ist.“

Ich verkniff mir einen abgrundtiefen Seufzer und nickte nur langsam. „In Ordnung.“

„Außerdem wollte ich dir sagen, dass Tom Kavanagh für heute abgesagt hat. Er hat die Grippe und kann nicht kommen.“

Tom Kavanagh wäre einer der Experten für das politische System in den Vereinigten Staaten gewesen, nachdem das Thema der Sendung heute das Amtsenthebungsverfahren in den USA war.

„Gibt es Ersatz?“, fragte ich bang. Wenn Toni niemanden gefunden hatte, der so kurzfristig einsprang, musste ich mir noch schnell etwas einfallen lassen, um Kavanaghs Sendezeit zu überbrücken.

Doch er zerstreute meine Befürchtungen. „Du hast Glück. Unser US-Korrespondent Brennan Coughlan ist letzte Woche nach London zurückgekommen und hat sich spontan dazu bereit erklärt, dir in der Sendung ein Interview zu geben.“

Ich atmete auf. „Zum Glück.“

„Ja, zum Glück ist er nicht mehr dort, denn ich werde nächste Woche für einige Tage in Washington D.C. auf einer Konferenz sein, und da will ich meine Zeit nicht mit diesem snobistischen Langweiler verbringen.“ Toni lächelte mir zu.

Wie konnte er vorher so streng sein und dann wieder Späße machen wie früher, als ob wir immer noch die besten Freunde wären?

„Dafür darf ich meine Zeit mit ihm hier verbringen.“ Ich wandte mich zur Tür. „Kann ich gehen?“

Toni nickte abwesend, etwas auf seinem Computerbildschirm hatte seine Aufmerksamkeit eingenommen. „Ja, bis später.“

Erleichtert verließ ich das Büro und machte mich auf den Weg zu meiner Redaktion. Dabei dachte ich über Toni und mich nach. Es gab Zeiten, da hatte ich das Gefühl, wir wären ein Team und niemand könnte uns in die Quere kommen. Und dann gab es Tage wie heute, an denen ich seine Anwesenheit kaum ertrug. Trotzdem war es da, dieses Band, das sich auf unserem langen gemeinsamen Weg gebildet hatte.

Wer hätte schon gedacht, dass aus uns kleinen italienischen Waisenkindern, die zusammen in einem Heim aufgewachsen waren und dabei von der Welt geträumt hatten, einmal erfolgreiche Mitglieder der internationalen Medienbranche werden würden?

Mein Team, mit dem ich den Monat über Beiträge für die große Sendung erstellte, arbeitete ein Stockwerk höher. Da ich für die Gestaltung und Inhalte der Show mitverantwortlich war, genoss ich in der Redaktion eine gewisse Autorität. Trotzdem hatte Toni, der sich wegen der Größe und des Erfolgs der Sendung immer wieder einmischte, in wichtigen Fragen meistens das letzte Wort.

Als ich das Redaktionszimmer betrat, wurde es leise. Normalerweise war nur rund die Hälfte der zehn Computer besetzt, doch heute, am Tag der Sendung, waren alle Mitarbeiter da. Hier fiel mein Zuspätkommen zum Glück nicht auf, da ich an Tagen der Show meistens erst am Nachmittag in die Redaktion kam. Im Haus und bei Toni war ich aber immer schon früher, und das war mir heute zum Verhängnis geworden.

„Guten Morgen, Anabel!“ Meine Assistentin Sophie lächelte mir von ihrem Schreibtisch aus zu und löste somit das merkwürdige Schweigen in der Redaktion. Alle wandten sich wieder ihrer Arbeit zu, wenn auch, wie mir schien, etwas konzentrierter als vorher.

„Hat Brennan Coughlan angerufen?“, fragte ich, und Sophie schüttelte den Kopf. „Er will sich in der nächsten Stunde melden.“

Ich versuchte, mich dadurch nicht stressen zu lassen, und verdrehte die Augen in Richtung meiner Assistentin. „Verstehe.“

Es war ein gutes Gefühl zu wissen, dass hier alles in geregelten Bahnen lief und Sophie das Management übernahm, nachdem sie bemerkt hatte, dass ich heute etwas neben mir stand. Ich kochte stattdessen einen Tee und führte die Atemübungen meiner ehemaligen Sprechtrainerin in meinem Zimmer durch, das durch eine Glaswand von der restlichen Redaktion getrennt war. Der Redaktionsraum war eines der vier großen Büros, in denen massenhaft Computer standen, auf die sich die Redakteure der unterschiedlichen Bereiche aufteilten. So saßen in dem Raum hinter meiner Glastür öfters Mitarbeiter des aktuellen Dienstes oder aus der Sportredaktion.

Mit großen Armbewegungen lief ich um den Schreibtisch herum und konzentrierte mich auf meine Atmung, bis ich das Gefühl hatte, mich wieder anständig konzentrieren zu können. Dann erst setzte ich mich an den Computer und traf meinerseits die letzten Vorbereitungen für die Show, bevor es Zeit war, in die Maske zu wechseln.

Interessanterweise waren mir die Stunden vor der Sendung die liebsten. Es war alles besprochen und geprobt, und ich konnte mich in Seelenruhe frisieren und schminken lassen. Was meine Haare und das Make-up betraf, gab es nur zwei Menschen, denen ich in dieser Hinsicht vertraute. Die eigentlich dort beschäftigte Visagistin würde deshalb wohl nicht mehr meine Freundin werden. Nachdem ich ihr einmal etwas ungeschickt erklärt hatte, dass ich mit ihrer Schminke im Scheinwerferlicht aussah wie eine Wasserleiche, verließ sie jedes Mal mit säuerlicher Miene den Raum, wenn sie mich erblickte.

„Anabel, wie schön, dich zu sehen!“ Mein Friseur Frédéric Guereve war ein Franzose mittleren Alters, der ein Auftreten hatte, um das man ihn nur beneiden konnte. Mit einer einstudierten Handbewegung legte er sein Markenzeichen, einen schwarzen Hut, ab, und kam dann auf mich zu. Er küsste die Luft rechts und links von mir, bevor er einen Schritt zurücktrat, um meine Haare zu begutachten.

„Zu viel Hitze, Schätzchen“, sagte er kopfschüttelnd und nahm die Spitzen unter die Lupe. „Wäre heute nicht die Show, würde ich dir mindestens einen Zentimeter Haar abschneiden“, erklärte er.

Schnell zog ich ihm die Strähne aus der Hand. „Meine Haare bleiben ganz“, sagte ich fest, doch Frédéric konnte ich mit diesem Tonfall nicht verschrecken. Er lachte nur und wies auf den Frisierstuhl. „Wenn du dein Karamellhaar offen trägst, merkst du es nicht einmal.“ Seufzend hob er die obere Haarschicht an. „Hm, möchtest du heute Locken haben? Ich meine, abgesehen von diesen armseligen Kringeln, die du mit deinem furchtbaren Lockenstab machst?“

Damit hatte er mich für meinen Geschmack schon genug kritisiert. Nachdem ich heute Morgen keine Zeit zum Haarewaschen gehabt hatte, sah man einigen Strähnen noch den Lockenstab an, den ich gestern benutzt hatte. „Mach mir Locken, steck sie hoch und spar dir deine Kommentare.“

Frédéric verdrehte die Augen. „Wem willst du was vormachen? Die große Anabel Bonastale hat Lampenfieber!“

In dem Moment kam meine persönliche Visagistin Elisa und ersparte mir eine Antwort. „Frédéric, schon bei der Arbeit?“ Sie begrüßte erst den Friseur und dann mich, wobei sie gleich einen prüfenden Blick auf mein Outfit warf, das neben der Tür hing. „Cremeweiß? Du weißt, was dir steht, Anabel.“

„Danke, Elisa.“ Ich drehte mich zum Spiegel, sodass sie zeitgleich mit Frédéric an mir arbeiten konnte. Die beiden tauschten Scherze aus, über die vor allem der Friseur so laut lachte, dass sein haarfreundlicher Lockenstab bedenklich nah an meinen Kopf kam.

„Also, Anabel, dann erzähl doch mal: Wie geht es dir, welche Neuigkeiten gibt es?“, fragte Frédéric nach einer Weile.

Ich seufzte. Solche Fragen brachten mich regelmäßig in die Bredouille. Wieso sollte es mir anders gehen als einen Monat früher? Ich tat exakt dasselbe, jeden Tag, jede Woche, zu jeder Uhrzeit. Mein Leben war so strukturiert und vorhersehbar, dass die Antwort immer gleich ausfallen würde. „Mir geht es gut. Und meiner Katze geht es auch gut.“

„Oh, Phoibe, das Goldstück! Ist sie wieder gewachsen?“ Frédérics Augen strahlten förmlich. Er war ein Katzenfanatiker, und meine Phoibe hatte es ihm besonders angetan.

„Hoffentlich nicht, sonst passt sie irgendwann nicht mehr in ihr Körbchen“, antwortete ich und griff demonstrativ nach einem Magazin auf dem Frisiertisch, um ihn von weiteren Fragen abzuhalten. Frédéric verstand und konzentrierte sich stattdessen auf meine Haare.

Es ziepte manchmal, doch nach einer Stunde harter Arbeit war aus mir ein anderer Mensch geworden. Jedes Mal, wenn ich so stark geschminkt und frisiert in den Spiegel sah, musste ich suchen, um ein mir bekanntes Detail zu finden. Mein Äußeres war nach Elisas und Frédérics Arbeit makellos, und das erfüllte mich mit Ehrfurcht.

Ich zog das Kostüm an und warf meinem Spiegelbild einen letzten Blick zu. Für Momente wie diesen hatte ich viel aufgegeben, doch in diesen Augenblicken, kurz vor der Sendung, war ich stolz auf das, was ich erreicht hatte.

„Begrüßen Sie daher mit mir den Auslandskorrespondenten Brennan Coughlan!“, rief ich.

Die Scheinwerfer drehten sich, und die Studiotür schwang auf. Das Publikum an diesem Abend war außergewöhnlich gut gelaunt, voller Begeisterung klatschten und jubelten sie bei Coughlans Auftritt. Hinter ihm leuchteten die Anabel Bonastale - The Show-Logos auf, und mich durchfuhr ein Schauer des Glücks.

Als ich heute zum ersten Mal aufgetreten war, hatte mich die Energie der Menschen auf der Tribüne für einen Moment fast den Text vergessen lassen. Doch dann hatte es mich beflügelt, und ich hatte selbst gemerkt, dass ich über mich hinauswuchs. Schon beim ersten Beitrag, bei dem ein ehemaliger britischer Botschafter gegen den amerikanischen Politiker Nathan Dorth-Carter in einem Ratespiel angetreten war, schien die Luft im Studio vor Spannung zu vibrieren. Nathan Dorth-Carter war Republikaner und hatte bei der letzten Präsidentschaftswahl in den USA gegen den Kandidaten der Demokraten verloren. Er war extra aus Philadelphia angereist und hatte die für meine Show äußerst gute Eigenschaft, kein Blatt vor den Mund zu nehmen. Der Ex-Botschafter und er hatten sich vor dem Spiel eine harte, aber faire Diskussion über Wahlen in den USA geliefert. Von hier kamen wir direkt zum Thema der Sendung, dem Amtsenthebungsverfahren in den USA.

Ich lief Brennan Coughlan ein paar Schritte entgegen und begrüßte ihn herzlich. Aus der Nähe sah ich, dass er alt geworden war, zumindest nahmen seine einst blonden Haare graue Züge an, und ich erkannte einige Falten, die sein fahles Gesicht durchzogen. Ich legte ihm eine Hand auf die Schulter und deutete ihm, dass er auf dem beigen Ledersofa in der Mitte des Studios Platz nehmen konnte. Das Sofa stand auf einer Bühne, dank der wir sitzend aus dem Bild fuhren, wenn der Raum für einen Entertainment-Teil der Sendung verwendet wurde. Coughlan machte einen kleinen Satz auf die Bühne, während ich die Stufe mit den hohen Schuhen deutlich konzentrierter nahm. Doch dann setzte ich mich neben ihn, sortierte meine Moderationskarten und lächelte ihn verbindlich an.

„Brennan, wir werden uns heute den Abend über hauptsächlich mit dem Thema Amtsenthebungsverfahren in den USA beschäftigen. Du kommst aus Washington D.C., warst dort als Auslandskorrespondent tätig – kannst du uns einmal erklären, was man unter dem Begriff ‚Impeachment‘ versteht?“, fragte ich und ließ die Moderationskarten sinken. Einer der Scheinwerfer blendete mich kurz, und ich blinzelte, um meinen Interviewpartner weiter ansehen zu können.

Coughlan saß mir gegenüber auf dem Ledersofa, das sich samt Bühne vom Publikum wegdrehte, um ins Bild der Kamera zu kommen.

„Gerne. Impeachment beschreibt das Verfahren in den USA, durch das zum Beispiel der amtierende Präsident seines Amtes enthoben werden kann. Das passiert im Repräsentantenhaus. Wird dort Anklage erhoben, kommt es zu einer Art Prozess im Senat – und wenn dieser Prozess mit einem Schuldspruch endet, verliert der Präsident sein Amt.“ Coughlan räusperte sich. „Vielleicht nur kurz zur Erklärung: Das Repräsentantenhaus und der Senat bilden in den USA die zwei Kammern des Kongresses, der Legislative.“ Er überlegte einen Moment, dann fuhr er fort. „Aber zurück zum Thema. Ein Impeachment-Verfahren kann nicht nur gegen den amtierenden Präsidenten eingeleitet werden; auch andere hochrangige Personen, wie zum Beispiel der Vizepräsident, können ihres Amtes enthoben werden“, erklärte er mit seiner monotonen Stimme, und ich nickte zum Zeichen, dass ich verstanden hatte. Ich kannte Brennan Coughlan von meiner eigenen Zeit als Auslandskorrespondentin und wusste daher, dass er manchmal dazu tendierte, gewisse Dinge lang und breit zu erklären, anstatt präzise zu antworten. Deshalb hoffte ich, dass er sich heute zusammennahm.

„Was müsste ein Präsident denn tun, um sein Amt zu verlieren?“, fragte ich weiter.

Er faltete seine Hände auf dem Schoß. „Das könnten unterschiedliche Verbrechen sein, ein Beispiel wäre Verrat. Wir müssen dabei aber immer im Hinterkopf behalten, dass es in der Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika keinen einzigen erfolgreichen Prozess im Senat gegen einen Präsidenten gegeben hat, wodurch dieser sein Amt verloren hätte – obwohl einige nahe dran waren.“

Ich strich die Moderationskarten glatt und bekam über den Knopf in meinem Ohr die Anweisung des Regisseurs, dass ich Zeit für eine weitere Frage hatte. Dieser Knopf hatte mich bei den ersten Moderationseinsätzen völlig aus dem Konzept gebracht. Es war mir damals unmöglich erschienen, den Kommentaren des Regisseurs zuzuhören und gleichzeitig ein sinnvolles Interview zu führen. Ich hatte mich die ersten Monate durchgequält, doch irgendwann hatte ich mich daran gewöhnt. Heute brachte mich nicht einmal der Countdown, den manche Regisseure für ein punktgenaues Ende zählten, aus der Ruhe.

„Du hast ja vorhin schon angedeutet, dass es in der Geschichte der USA Fälle gab, in denen es fast zu einer Amtsenthebung gekommen wäre. Einer dieser konkreten Fälle hat sich im Jahr 1868 zugetragen, und dazu sehen wir uns jetzt einen Beitrag an.“ Die Kamera entfernte sich von mir, und ich saß einige Sekunden still lächelnd da, bis der Beitrag im Fernsehen anlief und ich durchatmen konnte. Manche Leute im Publikum sahen immer noch gebannt zu Brennan Coughlan und mir, die wir direkt vor ihnen saßen, doch die meisten konzentrierten sich auf den Beitrag, den sie über eigene Bildschirme im Studio verfolgen konnten.

Ich hatte schon am Anfang gespürt, dass diese Sendung besonders war. Die Studiogäste, das Publikum – alles stimmte an diesem Abend. Brennan Coughlan würde sich nach dem Beitrag einer Frage-Antwort-Runde stellen, bei der nicht nur die Leute im Studio, sondern auch die Menschen zu Hause vor dem Fernseher zum Zug kamen. Dazu hatten wir eine eigene App, mit der die Zuschauer Fragen hochladen konnten, von denen dann ein paar in der Sendung diskutiert wurden.

Wenn ich moderierte, existierte für mich die Welt außerhalb des Studios nicht mehr. Ich konzentrierte mich dabei auf so viele Dinge gleichzeitig, dass ich jegliches Zeitgefühl verlor, und auch heute überprüfte ich wieder überrascht meine Moderationskarten, als ich bei der letzten angekommen war. Das waren zweieinhalb Stunden gewesen?

Ich erhob mich wie in Trance, wartete, bis ich auf der Kamera vor mir ein rotes Licht leuchten sah, und lächelte. „Bevor ich mich von Ihnen zu Hause verabschiede, darf ich noch kurz auf unsere große Jahresrückblickshow am dreißigsten Dezember hinweisen. Wir werden über die besten und spannendsten Themen dieses Jahres diskutieren, die Meldung des Jahres küren und noch einmal viele Experten und Studiogäste treffen. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen ein schönes Wochenende und hoffe, Sie bei der nächsten Sendung wieder begrüßen zu dürfen!“ Die Kamera fuhr weg, das Publikum applaudierte und trampelte mit den Füßen. Meine heutigen Studiogäste hatten alle in einer Linie neben mir Aufstellung genommen und winkten in die Kamera. Ich spürte, dass meine Wangen vor Aufregung feuerrot glühten und meine Handflächen schwitzten, während ich den Applaus entgegennahm.

Wir standen ein paar Minuten da und genossen den Moment, ehe sich die ersten Gäste meiner Sendung vom Publikum abwandten, um sich zu verabschieden. Auch ich bedankte mich bei ihnen für den Besuch, wobei ich mir Brennan Coughlan bis zum Schluss aufhob. Ich hatte Glück, denn als ich vor ihm stand und er den Mund aufmachte, kamen einige Leute aus dem Publikum und baten einer nach dem anderen um ein Foto mit den Studiogästen und mir.

Meine Gäste und ich taten ihnen den Gefallen, sprachen kurz mit den Zuschauern und bedankten uns, dass sie unsere Show besucht hatten. Und ich meinte es ernst, denn ich war mir sicher, dass diese Sendung heute außergewöhnlich gut gelaufen war, und das lag auch am Publikum.

Bei dem Gedanken, wie Toni auf die Show reagieren würde, fiel mir siedend heiß ein, dass ich heute noch ein Gespräch mit ihm hatte. Ich verabschiedete mich endgültig und verließ das Studio so schnell wie möglich.

Doch ich kam nicht weit. Hinter der Bühne wurde ich von einem Techniker abgefangen und bemerkte bei der Gelegenheit, dass mir Coughlan gefolgt war.

„Darf ich euch das Mikrofon abnehmen, Anabel?“ Der Techniker wartete gar nicht auf eine Antwort, sondern begann sogleich damit, uns von den Kabeln zu befreien.

„Wie geht es dir?“, fragte Brennan, und ich seufzte innerlich.

„Mir geht es gut, und meiner Katze auch“, sagte ich wie jedes Mal. Die Gegenfrage ersparte ich mir, dann verstand er hoffentlich, dass ich nicht an einem Gespräch interessiert war.

Doch Brennan hatte das Bedürfnis zu sprechen. „Mir geht es auch gut. Bis Ende Dezember bleibe ich in England, aber dann fliege ich wieder nach Washington D.C.“

„Was du nicht sagst.“

In dem Moment war der Techniker fertig, und ich hastete los, schließlich hatte Toni eine Uhr und wusste, dass die Sendung vor einer Stunde zu Ende gewesen war. Brennan folgte mir ungeniert.

„Weihnachten feiere ich zum ersten Mal seit vier Jahren wieder mit meinen Eltern und meiner Freundin. Hast du schon Pläne?“

Ich war alleinstehend, hatte keine Eltern oder Geschwister. Was sollte ich großartig zu Weihnachten machen? Wenn ich erzählte, dass ich die Feiertage meistens dazu nutzte, meine Jahresrückblickshow vorzubereiten, bekam ich mitleidige Blicke. Doch was blieb mir denn anderes übrig? Die Show schrieb sich nicht von selbst.

Um mir eine Antwort zu ersparen, packte ich den Uhrentrick wieder aus, indem ich einen Blick auf mein Handy warf und übertrieben laut seufzte. „Tut mir furchtbar leid, aber ich habe noch einen Termin mit Mr Cartano. Auf Wiedersehen, Brennan!“, rief ich und bog bei der nächsten Gelegenheit in den Quergang ein. Coughlan winkte mir verwundert nach, folgte dann aber zum Glück seinem ursprünglichen Weg geradeaus.

Toni saß wie immer vor dem Computer und hämmerte in die Tasten. Seine pechschwarzen Haare standen in alle Himmelsrichtungen ab, und um ihn herum häuften sich die Kaffeebecher. Die Ringe unter seinen Augen traten deutlich hervor.

Als er mich sah, wanderte sein Blick zur Uhr an der Wand. „Sieh an, ganze siebzig Minuten. War der After-Show-Talk so ergiebig?“

Er war zwar der Chef, aber ich kam von einer mehrstündigen Livesendung, und mein Adrenalinspiegel war dementsprechend hoch. „Lass das, Toni, du weißt, dass ich nach der Sendung nicht gleich das Studio verlassen kann.“ Ich strich mir eine Strähne zurück, die sich aus der Frisur gelöst hatte. „Was sagst du zu der Show heute?“

Ich war stolz auf meine Leistung, vor allem, da ich nach dem Fiasko in der Früh ja damit gerechnet hatte, dass die Sendung ein Reinfall werden würde. Möglicherweise war meine Morgenroutine nicht so wichtig, wie ich angenommen hatte?

Toni biss sich auf die Lippe und deutete mir, Platz zu nehmen. „Das war gut heute. Wirklich gut. Ich muss aber etwas anderes mit dir besprechen.“

Vor Enttäuschung hätte ich sein Büro am liebsten auf der Stelle verlassen. Wie konnte er die harte Arbeit nur so herunterspielen? Wortlos zog ich mir einen der Stühle vor seinem Schreibtisch heran und setzte mich.

Toni klopfte mit dem Kugelschreiber ungeduldig gegen die Schreibtischkante. „Ich hatte vorhin ein unangenehmes Gespräch mit unserem Korrespondenten in Australien. Anders gesagt: Unserem ehemaligen Korrespondenten in Sydney, er wurde nämlich mit Ende diesen Monats gekündigt.“

Ich nickte bockig. „Verstehe. Und weshalb erzählst du mir das?“

„Weil ich jemanden benötige, der mir seriöse Berichte von dort liefert.“

Auf einmal hatte ich ein ungutes Gefühl. Trotzdem nickte ich zustimmend. „Auf jeden Fall. Gute Berichterstattung ist essenziell.“

„Und genau deshalb bist du die Richtige, um in Down Under einzuspringen“, schloss Toni und sah mich an.

Ich war so überrumpelt, dass ich zunächst gar nicht wusste, welches schlagfertige Argument ich zuerst hervorbringen sollte, um ihn von dieser irrwitzigen Idee abzubringen. „Was?!“, brachte ich schließlich heraus.

„Ich möchte, dass du nach Sydney gehst und dort als Auslandskorrespondentin einspringst“, erklärte mir Toni ungerührt.

Du arroganter Mistkerl! Zuvor hatte mir die Enttäuschung über seine Reaktion zu meiner Show den Mund trocken werden lassen, jetzt spürte ich, wie meine Wangen rot vor Zorn wurden. Was war denn nur in ihn gefahren? Vor lauter Wut war das erste Argument, dass ich gegen diesen Schwachsinn hervorbrachte, leider kein gutes.

„Aber ich habe eine Katze!“, rief ich, und Tonis Gesichtsausdruck zeigte mir, dass ihm das herzlich egal war.

„Na und? Derek hat eine Frau und zwei Kinder und hat trotzdem Berichte aus Australien senden können“, widersprach er.

„Aber ich bin Showmoderatorin! Ich muss meine Jahresrückblickshow für Ende Dezember vorbereiten. Das geht nicht so einfach, ich muss jeden Tag Rücksprache mit meinem Team halten. Allein schon deshalb könnte ich nicht nach Australien“, sagte ich etwas gefasster. Bei Toni halfen hysterische Anfälle nicht, im Gegenteil, er wurde dann noch sturer. Trotzdem fragte ich mich, was zur Hölle hier los war. Ich war schon seit Jahren nicht mehr im Ausland tätig gewesen. Warum musste ausgerechnet ich das machen? Weil ich heute zu spät gekommen war?

„Die Show kannst du auch von dort aus vorbereiten, wozu gibt es Videochat? Es geht nur um eine Handvoll Berichte, die aber von einem geübten Korrespondenten übernommen werden müssen. Im nächsten Monat werde ich eine neue Lösung finden, aber zumindest für die kommenden ein bis zwei Wochen brauche ich qualitativen Ersatz.“

Ich konnte mir ein sarkastisches Lachen kaum verkneifen. Was wollte er mir hier erzählen, ich kannte ihn und seine Vorgehensweise schon seit Jahren! Es war jedes Mal das Gleiche gewesen: Ein Mitarbeiter hatte Toni hier in London auf die Palme gebracht, hatte Dinge getan, die mein reizender Boss anders gemacht hätte – und prompt bekam der bedauernswerte Mitarbeiter eine Stelle in einem Auslandskorrespondentenbüro. Je schlimmer das Vergehen, desto weiter weg. Nur für ein paar Wochen sollte er oder sie jeweils weg sein, doch keiner dieser Mitarbeiter war wiedergekommen, stattdessen arbeiteten sie nun schon jahrelang an ihren neuen Arbeitsplätzen.

Mir war völlig klar, dass ich, auch wenn ich für die Show am Jahresende nach Großbritannien kommen würde, danach sofort wieder in ein Flugzeug nach Australien steigen durfte, wenn ich das jetzt nicht verhinderte.

Was würde Toni dann mit meiner Sendung machen? Sie hieß Anabel Bonastale - The Show, verdammt, niemand sonst konnte sie moderieren! Wollte er sie absetzen? Jetzt, wo sie so gut lief? Ich musste etwas Schlimmes getan haben, um das zu verdienen, aber mir fiel beim besten Willen nicht ein, was. „Coughlan!“, rief ich deshalb verzweifelt.

„Coughlan?“

„Brennan Coughlan! Er kennt sich mit der Materie aus …“ Ich musste Luft holen und gleichzeitig nachdenken. „… und er ist vollkommen unterbeschäftigt. Er will Weihnachten sogar zu Hause mit seiner Familie verbringen! Ich hingegen werde die Feiertage Tag und Nacht im Büro sitzen und schuften wie ein Esel, um rechtzeitig mit meinen Beiträgen für die Show fertig zu werden.“ Ich merkte, dass ich ihn damit nicht aus der Reserve locken konnte. Deshalb stellte ich die Frage, die mir seit Minuten im Kopf herumschwirrte. „Sag mir bitte ehrlich, was es ist. Was stört dich so an mir, dass du deine beste Show absetzt?“

Toni runzelte die Stirn. Er hatte aus seiner Schublade ein Sandwich herausgefischt, das nach Thunfisch stank, und biss herzhaft hinein. Während er kaute, herrschte eine unangenehme Stille, doch dann schluckte er und sah mich an. „Mir gefällt deine Arbeitshaltung nicht, Anabel. Mir ist schon die letzten Wochen über aufgefallen, dass du die Sache hier nicht ernst genug zu nehmen scheinst.“

Mir klappte der Mund auf. „Wie bitte? Ich habe letzte Woche zwanzig Überstunden gemacht, damit diese Show heute läuft! Und falls du es wieder vergessen hast, die Sendung war der Hammer.“

Toni legte sein Sandwich auf den Schreibtisch, klappte es auf und pickte die Tomatenscheiben heraus. Tomaten hatte er noch nie gemocht, nicht einmal, als wir gemeinsam im Heim gewesen waren. Dort hatte immer ich seine Tomaten gegessen, doch heute warf er sie in den Mülleimer unter dem Tisch. Das gab mir einen Stich ins Herz. Selbst wenn ich es manchmal ignorieren wollte – er hatte sich verändert. Und egal, wie nahe wir uns einmal gestanden hatten, es würde nie wieder so sein wie früher.

„Ich meinte damit nicht deine lobenswerte Einstellung zur Arbeit im Generellen. Worauf ich hinauswollte, ist dein Verhältnis zu dieser Sendung. Du hältst dich für unersetzbar, aber das bist du nicht. Es ist immer noch meine Show, selbst wenn es dein Name ist, der auf dem Logo steht. Ich habe sie erfunden, und ich habe dich zur Moderatorin aufgebaut. Und genauso schnell, wie ich dich ins Rampenlicht gebracht habe, kann ich dich von dort wieder wegholen. Du arbeitest für meine Firma, und wenn ich sage, dass du nach Australien gehen sollst, dann wirst du das verdammt noch mal tun“, knurrte er, während er sein Sandwich wieder zusammenbaute.

„Aber die Show ist mir wichtig …“, setzte ich an, und Toni unterbrach mich mit einer Handbewegung.

„Wie ich dir vorhin schon sagte: Sie ist dir nicht wichtig genug. Doch diese Diskussion erübrigt sich, denn dein Flug ist schon für nächste Woche gebucht. Du musst ja für die Jahresrückblickshow wieder zurück sein.“ Er sah von seinem Essen auf und zwinkerte mir belustigt zu.

Meine Hände begannen zu zittern, und ich ballte sie zu Fäusten. „Ich fliege nicht nach Australien, Toni“, sagte ich und betonte jedes Wort. Ich verstand seine Beweggründe für diese Bestrafung nicht, was zum Kuckuck sollte ich denn noch alles tun, um zu beweisen, dass mir die Show am Herzen lag?

Toni beachtete mich gar nicht mehr, sondern kramte in seiner Schublade. „Irgendwo hatte ich doch … ach ja, siehst du? Dein Vertrag. Seite sieben, Absatz fünf.“ Er drückte mir eine Ladung Papier in die Hand, die ich wohl vor drei Jahren unterschrieben hatte. Missmutig blätterte ich auf die siebte Seite und las mir die Klausel durch, die besagte, dass ich mich bereiterklärte, jederzeit für wenige Wochen ins Ausland zu reisen, sollte es erforderlich sein.

Für wenige Wochen, dass ich nicht lache. Spätestens im Januar bekomme ich dann den Vertrag für den Job als dauerhafte Korrespondentin in Australien.

Ich ließ den Stapel auf den Tisch fallen, sodass es knallte, und stützte mich darauf ab. Kampflos würde ich mich nicht für die nächsten Jahre ans andere Ende der Welt verbannen lassen. Ich startete einen allerletzten Versuch. „Wir kennen uns jetzt schon so lange. Willst du mir das wirklich antun, Toni? Ich möchte nicht nach Australien.“

Kurz wich Toni meinem Blick aus, als ob seine Gedanken woanders wären. Dann stand er auf und seufzte. „Du hast es unterschrieben. Und Arbeit ist Arbeit. Glaub mir, ich tue hier auch viele Dinge, die ich nicht machen will.“

Ich biss die Zähne zusammen, griff nach meiner Tasche und funkelte ihn an. „Dann gibt es hier nichts mehr zu reden.“ Ohne auf seine Antwort zu warten, stolzierte ich aus seinem Büro und ließ die Tür hinter mir kraftvoll ins Schloss fallen. So durfte er nicht mit mir umgehen!

Wütend lief ich Richtung Ausgang, doch meine Gedanken blieben bei Toni, als klebten sie fest. Nicht zum ersten Mal stellte ich unser Verhältnis infrage, überlegte, ob ich ohne ihn nicht glücklicher wäre.

Er war der Mensch, der wie kein anderer auf dieser Welt wusste, was in mir vorging, denn er kannte mich schon mein ganzes Leben. Und doch gab es immer wieder diese Momente, in denen er mir unheimlich wurde, Augenblicke, in denen ich sogar ein wenig Angst vor ihm hatte. Konnte ich so jemanden überhaupt als Freund bezeichnen?

Einerseits waren wir im selben italienischen Heim für Kinder und Jugendliche aufgewachsen und hatten unsere ganze Kindheit miteinander verbracht. Andererseits war er mein Boss, der unmissverständlich meinen Respekt forderte, sobald wir dieses Gebäude betraten. Er war derjenige, der mich aufgebaut und zu der Person gemacht hatte, die ich heute war, aber ich wurde das Gefühl nicht los, dass er Kontrolle über mich haben wollte. Das war kein schönes Gefühl, im Gegenteil, es hatte mich schon sehr oft dazu gebracht, beinahe eine Kündigung zu schreiben. Doch was sollte ich ohne ihn machen? War es schlau, ihn nicht zu provozieren, oder nur feige?

Immer, wenn diese Gedanken des Zweifels kamen, hatte ich ein schlechtes Gewissen, denn ich verdankte Toni meinen ganzen beruflichen Erfolg. Ohne ihn wäre ich nie auf die Idee gekommen, Korrespondentin oder Moderatorin zu werden, doch Toni hatte mich davon überzeugt. Er hatte mir oft erklärt, dass ich, wenn ich tun wollte, wozu ich bestimmt war, nämlich moderieren, meine Karriere meinem Privatleben vorziehen musste. Und sosehr ich mir manchmal wünschte, eine Familie zu haben, versuchte ich mir einzureden, dass er recht hatte. Dass niemand, weder Freunde noch ein Mann, in meinem Leben Platz hatten.

„Auf Wiedersehen, Ms Bonastale!“, rief mir Mrs Graham zu, doch ich antwortete nicht. Sobald ich in meinem Auto saß, drehte ich die Heizung auf, dann parkte ich schwungvoll aus und verließ die Cartano Media Studios so schnell wie möglich. Was für ein schrecklicher Tag. Es wäre bestimmt alles anders gelaufen, wenn ich heute nicht verschlafen hätte.

Samstag, 01. Dezember, London

„Australien“, berichtete ich so neutral wie möglich. „Ich muss nach Australien.“ Ich lag bäuchlings auf meinem Bett und hatte das Handy vor mir auf der Bettdecke liegen. Durch die Lautsprecher hörte ich Mia fragen: „Du musst nach Australien?“ und nickte kläglich vor mich hin.

„Toni schickt mich als Korrespondentin. Ich soll zwei Wochen dortbleiben und dann um Weihnachten herum wiederkommen“, erklärte ich ihr.

„Und da freust du dich nicht?“, fragte Mia erstaunt.

Ich seufzte. „Das sagt Toni nicht, weil er mir einen Gefallen tun will. Irgendetwas an meiner Arbeit passt ihm nicht, deshalb schickt er mich fort. Das hat er schon mit anderen Mitarbeitern gemacht, und von denen ist keiner wiedergekommen. Vielleicht setzt er meine Show ab und lässt mich bis zu meiner Pensionierung in Sydney arbeiten.“

Mia seufzte mitfühlend. „Ich verstehe, dass das hart für dich ist. Aber womöglich will er dich gar nicht wegschicken, sondern braucht wirklich deine Hilfe. Die Show ist so erfolgreich, es wäre dumm von ihm, sie abzusetzen. Außerdem sieh es mal so: Australien ist bestimmt ein spannendes Land, ich würde dort gerne hinfahren. Die Sonne, das Meer …“

„Ich hasse Wasser“, unterbrach ich sie kühl.

Mia seufzte erneut, diesmal resignierend. „Ach ja, du gehst ja nicht gerne schwimmen …“

„Ich gehe überhaupt nicht schwimmen. Das ist ein großer Unterschied“, brummte ich. Allein der Gedanke an Wasser löste in mir Ekel und kalte Schauer aus.

„Wieso eigentlich nicht?“, erkundigte sich Mia. Darauf wusste ich selbst keine Antwort. Ich hatte Wasser schon immer verabscheut, ich konnte nicht einmal ein Bad nehmen. Sobald ich von Wasser umgeben war, kroch Panik in mir hoch, so schlimm, dass ich danach stundenlang ein Schwindelgefühl bekämpfen musste. Kurz gesagt, ich würde niemals einen Zeh ins Meer halten, auch nicht in Australien.

„Ich weiß es nicht. Vermutlich angeboren“, antwortete ich knapp, um wieder zum ursprünglichen Thema zu kommen.

„Hat Toni nur dich gefragt, ob du in Australien einspringst?“, fragte Mia weiter.

„Ja.“ Ich seufzte. „Weißt du, ich habe wieder eine lupenreine Show abgeliefert. Was zum Teufel hat er an meiner Arbeit auszusetzen?“

Mia schien zu überlegen, wie sie mich am besten aufmuntern konnte. „Solange du nicht sicher weißt, ob du länger in Sydney bleiben musst, solltest du dich nicht darüber aufregen. Und wer weiß, unter Umständen ist diese Reise ja endlich ein Ausbruch aus dem Alltag für dich? Wann hast du das letzte Mal Urlaub gemacht?“

Ich drehte mich auf den Rücken und fuhr mir mit den Händen über das Gesicht. „Vor fünf Monaten. Da war ich für zwei Tage in Dublin.“

Mia seufzte zum dritten Mal, und ich hatte das Gefühl, sie wusste nicht, was sie mit mir anfangen sollte. „Anabel, ich sehe das so – wenn du nicht fortwillst, musst du kündigen. Du bist so erfolgreich mit deiner Fernsehshow, dass sich doch alle Sender um dich reißen würden“, fasste sie zusammen.

An eine Kündigung hatte ich auch schon gedacht, doch obwohl – oder gerade weil - ich Toni schon mein ganzes Leben kannte, würde ich ihm in solch einer Situation alles zutrauen. Würde er meinen Ruf in der Medienbranche zerstören, wenn ich sein Unternehmen verließ? Oder würde ich jemals dazu in der Lage sein, mit einer neuen Sendung an meinen Erfolg anzuknüpfen? Fragen über Fragen, auf die ich keine Antwort wusste.

Als Mia merkte, dass ich nicht reagierte, räusperte sie sich. „Ich bin fest davon überzeugt, dass du es schaffst, egal ob du nach Australien gehst oder hierbleibst.“

„Hm“, machte ich und verabschiedete mich. Das Gespräch mit Mia hatte mir überhaupt nicht geholfen, im Gegenteil, jetzt wusste ich noch weniger, was ich tun sollte. Toni ging davon aus, dass ich die Reise antrat und hatte mir heute früh die Flugtickets zukommen lassen. Ich hatte nicht darauf geantwortet, wieso auch? Toni hätte es nicht gelesen.

Sonntag, 2. Dezember, London

Nachdem ich mir den Samstag freigenommen hatte, um mit Mia zu telefonieren, einkaufen zu gehen und meine Wohnung auf Vordermann zu bringen, wachte ich am Sonntag zum Glück mit dem Wecker auf. Obwohl Wochenende war und ich nicht zur Arbeit musste, hatte ich ein dichtes Programm, angefangen damit, dass ich mit einigen Gästen von vergangenen Sendungen Rücksprache halten würde, um sie für die Jahresrückblickshow einzuladen. Normalerweise war dafür mein Team zuständig, doch einige Spezialisten gab es immer, die nur von mir persönlich angerufen werden wollten. Sophie hatte mir die Liste mit E-Mail-Adressen und Telefonnummern gestern geschickt, damit ich heute den Großteil von ihnen anschreiben konnte. Sollte ich dann darauf in den nächsten zwei Tagen keine Antwort bekommen, würde ich sie anrufen.

Phoibe tänzelte schon aufgeregt in der Küche herum, sodass ich sie zuerst fütterte, bevor ich die Kaffeemaschine einschaltete. Mit frischem Kaffee und Müsli setzte ich mich an den Tisch und schaltete nebenbei mein Telefon ein.

Überrascht stellte ich fest, dass ich zwei Anrufe in Abwesenheit hatte, von einer Nummer, die mir unbekannt war.

Meine private Telefonnummer kannten nicht so viele Menschen, die meisten wurden von Sophie weitergeleitet. Kontrollweise sah ich die Liste der Interviewpartner durch, doch keiner von ihnen würde mich sonntags um sieben anrufen. In Anbetracht meines Zeitplans verlegte ich den Rückruf auf Mittag, um rechtzeitig mit dem Schreiben und Beantworten der E-Mails beginnen zu können.

Sobald ich in meinem Büro saß, vergaß ich die Welt um mich herum. Einen Namen nach dem anderen hakte ich ab, bevor ich die E-Mails, die ich unter der Woche bekommen hatte, durchlas und beantwortete. Die meisten waren von Leuten aus dem Publikum, die über die Sendung resümierten, Fragen stellten oder nach Brennan Coughlans E-Mail-Adresse fragten.

Da ich selbst lange in Amerika gelebt hatte, wusste ich bis auf wenige Ausnahmen immer eine Antwort. Fragen nach Coughlans Kontaktdaten ließ ich aber unbeantwortet. Gerade, als ich die letzte E-Mail durchgelesen hatte, läutete mein Telefon. Ich warf einen Blick auf das Display und sah, dass es dieselbe Nummer war, über die ich mich schon am Morgen gewundert hatte.

Ich beschloss, abzuheben. „Hier spricht Anabel Bonastale.“

Am anderen Ende war es zunächst still, dann räusperte sich jemand. „Hallo, Ms Bonastale. Haben Sie einen Moment, oder ist es unpassend?“, fragte eine samtweiche Männerstimme, die mir für kurze Zeit die Luft zum Atmen nahm. Alles in mir zog sich zusammen, als ob mich mein Instinkt vor etwas warnen würde. Ich konnte es mir nicht erklären, denn ich telefonierte tagtäglich mit fremden Menschen, die meistens nicht so freundlich waren.

„Ähm … nein, ich denke, ich kann mir ein paar Minuten nehmen“, erwiderte ich mit krächzender Stimme und stand auf, um mir ein Glas Wasser zu holen. Dabei stolperte ich über Phoibe, die sich unbemerkt hinter mich auf den Fußboden gelegt hatte und nun beleidigt ins Wohnzimmer stolzierte.

„Das ist schön. Ich habe Ihre Sendung am Freitag gesehen, in der Sie mit Ihren Gästen über das Amtsenthebungsverfahren in den USA gesprochen haben. Ich muss zugeben, Ihre Show war gelungen“, sagte der Mann. Dabei sprach er so merkwürdig ruhig, dass ich nicht wusste, wie ich darauf reagieren sollte. Inzwischen war ich in der Küche angelangt und trank ein paar Schlucke, bis ich das Gefühl hatte, meine Stimme wieder unter Kontrolle zu haben.

„Vielen Dank. Ich freue mich, dass sie Ihnen gefallen hat“, antwortete ich dann.

„Stimmt es, dass Sie dieses Thema in Ihrer Sendung demnächst noch einmal aufgreifen werden?“, fragte der Mann weiter.

Normalerweise hatte ich ausschließlich per E-Mail Kontakt mit Zusehern, und wenn ich telefonierte, dann nur über unser offizielles Telefon an Sophies Schreibtisch. Woher kannte der Mann meine private Telefonnummer? Wer war er, wieso stellte er sich nicht vor? Die Fragen geisterten in meinem Kopf herum, doch der Moment, in dem ich mich höflich danach erkundigen konnte, kam nicht. Irgendetwas hielt mich davon ab aufzulegen. „Ja, in meiner Jahresrückblickshow greife ich alle Themen noch einmal auf, deshalb werde ich auch über das Amtsenthebungsverfahren in den USA sprechen.“

Es raschelte am anderen Ende der Leitung. „Das heißt, Sie recherchieren noch zu dem Thema, Ms Bonastale?“

Die Art, wie er meinen Nachnamen aussprach, überraschte mich. Er zog die Vokale auseinander, und obwohl er keinen Akzent hatte, wenn er Englisch sprach, betonte er die Silben auf die gleiche Art, wie ich es aus Italien kannte.

„Aktiv nicht. Ich werde demnächst für zwei Wochen nach Sydney fliegen, um dort einen Korrespondenten zu ersetzen. Aber meine Kollegen werden weiter zu diesem Thema recherchieren“, antwortete ich und fragte mich, worauf er hinauswollte.

Am anderen Ende der Leitung wurde es still; so still, dass ich kontrollierte, ob der Mann aufgelegt hatte. Dann räusperte er sich wieder. „Wer bestimmt das Thema Ihrer Show?“

Ich runzelte die Stirn. Was war das für eine merkwürdige Frage? „Ähm … in dem Fall war es die Idee unseres Direktors, Toni Cartano. Aber normalerweise entscheiden wir so etwas in einer größeren Gruppe von Mitarbeitern.“

„Ach“, machte der Anrufer und verstummte erneut. Ich seufzte.

„Darf ich fragen, worauf Sie hinauswollen?“

„Ms Bonastale … wenn ich Ihnen sagen und beweisen würde, dass Ihr Direktor das Thema nicht zufällig gewählt hat, sondern damit explizit andeuten will, dass ein Amtsenthebungsverfahren in den USA kurz bevorsteht, wären Sie dann an der Recherche interessiert?“

Ich glaubte, mich verhört zu haben. „Was meinen Sie damit?“, fragte ich mit schwacher Stimme.

„Ich möchte sagen, dass Ihr Direktor unter Umständen in etwas verwickelt ist, über das Sie zu Ihrer eigenen Sicherheit Bescheid wissen sollten. Und dass auch Ihr Leben demnächst schnell aus dem Ruder laufen könnte. Deshalb würde ich mich für ein anonymes Interview zu diesem Thema zur Verfügung stellen.“

Ich fuhr mir durch die Haare. Was erzählte er mir da? Wenn ich ihn richtig verstanden hatte, ging Toni aus irgendeinem Grund davon aus, dass es in den USA bald zu einem Amtsenthebungsverfahren kommen würde. Doch weshalb sollte gerade Toni das wissen? Woher sollte das irgendjemand wissen? Und was hatte ich damit zu tun?

„Sie sind der Meinung, Sie hätten Beweise dafür, dass Mr Cartano in Verbindung steht mit … mit …“ Mir fehlten die Worte, doch mein Anrufer fand sie für mich.

„… mit geplanten Provokationen, die ein Amtsenthebungsverfahren in den USA heraufbeschwören sollen? Ja, genau das will ich Ihnen sagen.“

Ich schüttelte langsam den Kopf. „Man kann so etwas doch ohne triftige Gründe nicht heraufbeschwören, wie soll das denn gehen? Schon gar nicht als Außenstehender. Und, rein hypothetisch, selbst wenn das aus irgendeinem Grund möglich sein sollte … warum hätte gerade Mr Cartano etwas damit zu tun?“

Der Anrufer räusperte sich. „Man kann. Oder besser gesagt, Mr Cartano glaubt, dass man es kann. Ob das realistisch ist, kann ich schwer beurteilen, da ich kein Experte bin, aber was ich weiß, ist, dass Sie ihn und seine Komplizen rein theoretisch an seinem Vorhaben hindern könnten. Und das bringt Sie in eine gefährliche Position.“

Die Welt um mich herum drehte sich, und ich setzte mich, um nicht samt Handy umzukippen. Bestimmt war er nur ein geisteskranker Zuschauer aus einer Psychiatrie, der sich Zugang zu einem Telefon verschafft hatte und irgendwie an meine Nummer gekommen war. Vielleicht gab es im Internet Informationen zu meinen Kontaktdaten? Eine andere Erklärung fiel mir in diesem Moment für diese wirre Aussage nicht ein.

… was ich weiß, ist, dass Sie ihn und seine Komplizen rein theoretisch an seinem Vorhaben hindern könnten. Und das bringt Sie in eine gefährliche Position … Seine Stimme hallte in meinem Kopf nach, und mir lief ein Schauer über den Rücken. Leg endlich auf, verdammt!

Doch ich konnte nicht. Stattdessen überlegte ich ernsthaft, Toni außen vorzulassen und ein Interview mit dem Mann zu führen. Tat ich es, weil ich wissen wollte, was er über mich zu sagen hatte? Oder war es ein Akt der Rache? War ich so sauer wegen seiner Bitte, vorübergehend in Australien zu arbeiten, dass ich einem Interviewpartner zusagte, der Toni unter Umständen in den Dreck zog?

Und wenn es wahr ist?

Je länger ich darüber nachdachte, desto absurder kam mir die ganze Sache vor. „Welchen Grund hätte Toni Cartano, ein Amtsenthebungsverfahren zu provozieren? Und wer soll denn überhaupt seines Amtes enthoben werden?“

Ich hörte einen langen Seufzer am anderen Ende, der vieles bedeuten könnte. „Die Verteidigung Ihres Vorgesetzten in allen Ehren, doch ich erzähle Ihnen die Wahrheit - ich wurde selbst unfreiwillig in diese Sache hineingezogen. Wer und warum … das erörtere ich gerne mit Ihnen bei unserem Interview.“

Ich nahm meinen Mut zusammen. „Es tut mir leid, aber ich kann mir für so etwas keine Zeit nehmen. Trotzdem danke …“

„Eins noch, Ms Bonastale. Hat Ihr Vorgesetzter zufälligerweise vor, demnächst in die USA zu reisen? Und werden Sie zufälligerweise zur gleichen Zeit nach Australien geschickt?“

Woher zum Teufel weiß er das?! Ich atmete scharf ein. Ja, Toni hatte mir von seiner Konferenz in Washington D.C. erzählt. Aber es war nur eine Konferenz, wie er schon an vielen teilgenommen hatte.

„Glauben Sie mir, Sie fliegen nicht nach Sydney, weil Mr Cartano keine anderen Korrespondenten hat, die er um die halbe Welt jagen kann. Sie fahren nach Sydney, weil Sie in Mr Cartanos Plänen noch eine Rolle spielen und deshalb möglichst weit weg von ihm sein sollen, wenn das Spektakel beginnt.“

Ich konnte später nicht sagen, was mich dazu gebracht hatte zuzusagen. Nicht seine Argumente, denn die waren haltlos und wirr. War es seine Stimme? Oder die Sache mit Australien, die mich so verletzt hatte, dass ich Gerechtigkeit wollte? Bestimmt war es das. Oder die Tatsache, dass er so fest davon überzeugt schien, dass ich mich in Gefahr befand?

Wie dem auch sei. Ich überlegte kurz und fragte dann: „Sie haben gesagt, Sie wollen mir ein Interview geben?“

Ich konnte förmlich spüren, wie der Mann erleichtert aufatmete. „Ja. Ein anonymes Interview.“

„Über das Telefon?“, erkundigte ich mich.

„Sie sind zurzeit in London, oder? Ich wäre bereit, mit Ihnen persönlich zu sprechen“, erwiderte der Mann.

Spätestens hier hätte ich auflegen müssen. Ich sollte mich auf keinen Fall mit einem Menschen treffen, der mir am Telefon schon so suspekt war. Doch ich hörte nicht auf die warnende Stimme in meinem Kopf, stattdessen fiel mir nur eine einzige Vorsichtsmaßnahme ein.

„Aber nur in der Öffentlichkeit“, verlangte ich. Ich hörte den Anrufer leise lachen, dann wurde er wieder ernst.

„Einverstanden. Was halten Sie von dem italienischen Restaurant Mancini? Es liegt relativ zentral.“

Sollte sich aus irgendeinem Grund bewahrheiten, was der Mann am Telefon angedeutet hatte, wäre es merkwürdig, solch ein Interview an einem so geschäftigen Ort zu führen, doch da konnte man mich hoffentlich nicht einfach unbemerkt verschleppen.

„In Ordnung. Dienstagabend könnte ich dort sein“, sagte ich und klammerte mich an meinem Glas Wasser fest.

„Einverstanden.“ Der Mann machte eine kurze Pause. „Es war nett, mit Ihnen zu sprechen, Ms Bonastale. Auf Wiedersehen.“ Bevor ich mich verabschieden konnte, legte er auf.

Zu behaupten, ich wäre verwirrt, käme einer Untertreibung gleich. Ich war gelinde gesagt erschüttert und brauchte eine Weile, bis ich das Telefon vom Ohr nehmen und auf den Tisch legen konnte. Da ich mir nicht sicher war, was ich jetzt denken sollte, konzentrierte ich mich auf die Sonnenstrahlen, die auf mein gutes Geschirr in der Vitrine fielen und es in allen Farben glänzen ließen.

Nachher wusste ich nicht mehr, wie lange ich nur dagesessen und gewartet hatte, doch es kam mir wie eine Ewigkeit vor. Zumindest nach seinem Namen hätte ich mich erkundigen sollen, aber stattdessen hatte ich mich aus der Fassung bringen und verunsichern lassen. Nicht nur das, was er erzählt hatte, schockierte mich, sondern auch die Wirkung, die er auf mich gehabt hatte. Es war mir unmöglich erschienen, ihm abzusagen. Etwas in mir hatte sich geweigert, die Worte auszusprechen, und das machte mir Angst.

Als ich sicher war, dass ich wieder geradeaus laufen konnte, stolperte ich zu meinem Schrank, holte mir Sportkleidung und verließ die Wohnung. Der Wohnhausanlage schloss sich ein Park an, der bei schönem Wetter von den Anwohnern zum Spazierengehen genutzt wurde.

Ich hingegen rannte, was das Zeug hielt. Nach einem Sprint ging mir die Puste aus, und ich war gezwungen, langsamer zu joggen. Trotzdem half mir die körperliche Anstrengung dabei, einen klaren Kopf zu bekommen und das Telefonat zu verdrängen. Ich lief vorbei an Pensionisten, die voller Enthusiasmus ihre Nordic-Walking-Stöcke schwangen, Müttern mit Kinderwagen, die sie meist telefonierend vor sich herschoben, und einem kleinen Teich, dessen Oberfläche in der fahlen Wintersonne glitzerte. Doch all das nahm ich nur flüchtig wahr. Stattdessen sah ich auf den Boden und zählte im Kopf mit. Rechter Fuß, linker Fuß, rechter Fuß, linker Fuß, rechter Fuß, linker Fuß … wie ein Mantra formte ich die Worte, sodass ich keine Zeit hatte, über etwas anderes nachzudenken.

Der Weg um den Teich war schneller vorbei, als mir lieb war, weshalb ich gleich eine zweite Runde anhängte. Erst dann hatte ich das Gefühl, wieder alles unter Kontrolle zu haben. Ich würde dieses Gespräch genauso führen wie jedes andere Interview meiner Karriere. Sollte mir der Mann Beweise für irgendetwas liefern können, dann … tja, dann konnte ich mir immer noch überlegen, wie ich reagieren sollte.

Weit entspannter als vorher trat ich den Rückweg nach Hause an.

Montag, 3. Dezember, London

„Mia, das ist ein Brautmodengeschäft.“ Ich saß auf dem Beifahrersitz von Mias kleinem Auto und starrte aus dem Fenster.

Mia neben mir schaute über ihre Schulter und parkte ein. „Ich habe mir gedacht, ich könnte mir heute mein Kleid aussuchen.“

Ich fuhr herum und verschränkte die Arme. „Und damit ich mitkomme, hast du beschlossen, nichts zu sagen, bis wir direkt davor stehen? Gewieft.“

Mia nickte und stellte den Motor ab. „Du hast bei Klamotten einen guten Geschmack, deshalb wollte ich deine Meinung hören, bevor ich ein Kleid kaufe.“ Ihr Blick fiel auf die Auslage vor uns. „Wie schön, siehst du die vielen Farben?“

„Du heiratest nicht in Weiß?“

Mia zuckte mit den Schultern. „Ich habe keine fixe Vorstellung von meinem Kleid“, erwiderte sie und stieg dann aus dem Auto. Als ich mich nicht rührte, seufzte sie. „Nur eine Stunde, Anabel!“

Ich war nicht in der Stimmung, mit einer Braut auf Kleidersuche zu gehen, aber ich konnte Mia ihren Wunsch auch nicht ausschlagen, deshalb zog ich eine Augenbraue hoch und sah auf meine Armbanduhr. „Ich nehme dich beim Wort. Um Punkt vier sind wir hier wieder raus.“

Mia spielte mit dem Autoschlüssel. „Du wirst sehen, es geht schnell.“

Seufzend folgte ich ihr in das Geschäft, das von vorne bis hinten mit Brautkleidern voll war.

Die Wand, die uns gegenüberlag, war den weißen Kleidern gewidmet. Es gab sie in allen Formen und Größen, von kitschig bis klassisch. An den Seiten hingegen hingen grüne, rote, blaue und sogar orangefarbene Kleider an den Stangen, die besser aussahen, als man annehmen wollte.

Inmitten all des Tülls und der Farbe stand ein kleiner Tresen, hinter dem eine Frau wartete und uns anlächelte. Ihr Anblick allein ließ mich schon innerlich die Augen verdrehen. Hochgesteckte, grellblond gefärbte Haare, Schuhe mit mindestens zehn Zentimeter hohen Absätzen und ein künstliches Lächeln bis zu den Ohren. So schnell es in High Heels möglich war, kam sie in einer Wolke aus Rosenduft auf uns zu.

„Wer ist die glückliche Braut?“, fragte sie und kicherte komisch.

„Ich!“ Mias Stimme schnellte um eine Oktave in die Höhe, sie schien dem Kleiderwahnsinn verfallen zu sein.

„Oh, ich freue mich ja so für Sie! Wann soll es denn so weit sein?“, fragte die Verkäuferin.

„Im Januar. Ihre Kleider sind wundervoll!“, antwortete Mia.

„An was für ein Kleid haben Sie denn gedacht? Bunt oder weiß?“ Die Verkäuferin musterte Mia prüfend. „Ich kann nicht sagen, wieso, aber ich bin der Meinung, dass Ihnen Blau ausgezeichnet stehen könnte.“

Mia in einem blauen Hochzeitskleid? Damit würde die Hochzeit bestimmt einzigartig werden.

„Blau? Sind Sie sicher? Normalerweise ist das gar nicht meine Farbe“, erwiderte Mia nachdenklich.

Es ist niemandes Farbe, zumindest nicht zu einer Hochzeit! Das hätte ich ihr gerne gesagt, doch ich hielt mich zurück und beschloss, mich erst einzumischen, wenn sie das Kleid am Körper trug.

„Nehmen wir Maß“, beschloss die Verkäuferin, und während sie mit einem Maßband um Mia herumwirbelte, setzte ich mich auf das Ledersofa in der Mitte des Ladens und sah mir die Ausstellungsstücke aus der Ferne an. Zugegeben, hätte ich wie Mia einen Anlass, um es zu tragen, würde es mich auch reizen, einige Kleider anzuprobieren.

Die Frau verschwand für einen Augenblick und kam dann mit einem Kleid, verpackt in einer Hülle, wieder zu uns. „Das könnte Ihres sein.“

Mia ging damit in die Umkleidekabine und ließ mich mit der Verkäuferin zurück.

„Und was ist mit Ihnen?“, fragte sie.

Ich winkte schnell ab. „Ich bin nur hier, weil Mia nicht allein kommen wollte.“

„Sind Sie die Trauzeugin?“, fragte die Frau weiter. Ich schüttelte den Kopf. „Ich habe es nicht so mit Hochzeiten, wissen Sie?“

Die Verkäuferin wirkte ehrlich betroffen. „Man sollte aber niemals nie sagen!“

In dem Moment kam Mia wieder aus der Umkleidekabine, und ich konnte nicht anders, als der Verkäuferin insgeheim zu ihrer Empfehlung zu gratulieren. Innerhalb einer Zehntelsekunde hatte es das Kleid geschafft, sämtliche meiner Bedenken gegenüber blauen Brautkleidern und Mia als Braut zu zerstreuen. Ich hatte ein knalliges, sogar dunkles Blau erwartet, stattdessen schimmerte der Stoff zart wie Eis. Es war ein Traum aus Tüll, wobei eine Falte des Kleides mit einer silbernen Schnalle weiter oben festgesteckt wurde.

Wenn Mia sich bewegte, sah es aus, als ob es eisblaue Schneeflocken schneien würde. Die Träger waren zu Schultertüchern verarbeitet, sodass die Schultern nackt waren, Mias Oberarme aber sanft von weichem Stoff umrandet wurden.

„Wow“, entfuhr es mir.

„Ich kann mich nur wiederholen: Blau steht Ihnen“, sagte die Verkäuferin etwas wortgewandter.

Mia hatte Tränen in den Augen. „Es ist perfekt!“, flüsterte sie.

„Jetzt muss nur irgendjemand deinen Schatz diskret davon überzeugen, eine blaue Krawatte zu tragen“, bemerkte ich nachdenklich.

Mia nickte ernst. „Du hast recht, das darf ich nicht vergessen.“

„Wollen Sie trotzdem andere Kleider probieren?“, fragte die Verkäuferin, und Mia nickte zögerlich. „In Ordnung.“

Sie verschwand wieder in der Umkleidekabine und wartete, bis die Frau mit neuen Brautkleidern kam. Darunter waren grüne, rote, violette und weiße, doch ich musste zugeben, dass keines auch nur ansatzweise an das blaue Kleid herankam. Und Mia wusste das. Sie probierte zwar jedes Kleidungsstück mit neuem Enthusiasmus, doch mir fiel auf, dass sie immer wieder einen Blick auf das blaue Kleid warf, das neben der Kabine in einem Kleiderbeutel hing.

Nach einer Weile kam Mia dann wieder in Jeans und Pullover aus der Kabine. „Ich glaube, es wird das erste Kleid.“

Die Verkäuferin nickte. „Nicht zu übersehen, es hat Ihnen ausgezeichnet gepasst.“ Sie verpackte die Kleider wieder und nahm dann hinter dem Tresen Aufstellung. Mia hinterließ ihre Kontaktdaten und vereinbarte einen Termin, um mit der hauseigenen Schneiderin die nötigen Änderungen am Kleid zu besprechen. Die Verkäuferin seufzte glücklich. „Das wird eine Traumhochzeit, das verspreche ich Ihnen.“

„Hoffentlich.“ Mia strahlte, winkte zum Abschied und verließ mit mir gemeinsam das Geschäft.

„Sieh mal auf die Uhr“, forderte sie mich auf. Ich warf einen Blick auf meine Armbanduhr und musste lächeln. „Eine Minute vor vier. Respekt, Mia.“

Sie öffnete das Auto und stellte ihre Tasche zu den Tennissachen, die wie jeden Montag in dem Wagen Platz fanden. Nachdem ich heute nach all der Aufregung gar keinen Sport machen wollte, hatten wir uns auf einen Kompromiss geeinigt und verkürzt gespielt. Daraufhin hatte Mia den Umstand, mehr Zeit zur Verfügung zu haben als sonst, gleich für eine Shoppingtour genutzt. Über Australien hatten wir nur kurz gesprochen, ich hatte ihr zu verstehen gegeben, dass ich nicht in der Stimmung war, noch einmal darüber zu diskutieren.

Sogar meinen Anrufer hatte ich nicht erwähnt; Mia würde das nur in den falschen Hals bekommen und womöglich auf Polizeischutz oder Ähnlichem bestehen. Außerdem wüsste ich gar nicht, wie ich erklären sollte, was in mir vorgegangen war, als ich gehört hatte, was, und vor allem wie der Mann gesprochen hatte. Für Mia war das Leben ein einziger rosaroter Zuckertraum. In Menschen sah sie stets das Beste, von Betrug, Verrat und Korruption – Gesprächsthemen, die bei mir auf der Tagesordnung standen – verstand sie nichts. Wenn es nach ihr ginge, würde sich die gesamte Menschheit in den Armen liegen und friedlich vor sich hin leben.

Nein, Mia konnte ich nicht mit der Tatsache belasten, dass ein fremder Mensch mir beweisen wollte, dass Toni womöglich in eine politische Verschwörung verwickelt war.

„Dann fahr ich dich jetzt nach Hause“, sagte Mia und startete den Motor. Ich zwang mich, zumindest während der Fahrt nicht über meine Probleme nachzudenken, sondern Mia in dem Glauben zu lassen, alles sei in bester Ordnung. Die Rückfahrt war kurz, und bald standen wir vor meinem Wohnhaus.

„Anabel, auch wenn du nicht darüber reden möchtest: Gehst du nach Australien oder nicht?“

Ich seufzte. „Ich werde es am Donnerstag entscheiden“, erklärte ich dann ausweichend.

„Dann musst du mich auf jeden Fall anrufen und mir Bescheid geben. Wenn du fliegst, komme ich vorbei, um mich bei dir zu verabschieden!“

An so etwas hätte ich nicht gedacht, doch Mia waren solche Rituale wichtig. Deshalb nickte ich lächelnd, verabschiedete mich und stieg aus dem Auto. Im Schleichtempo fuhr Mia davon, vermutlich überlegte ihr die Jahre überdauerndes rotes Kleinauto, ob jetzt der ideale Moment war, um für immer stehen zu bleiben. Doch dann entschied sich das Gefährt anders, gab ein donnerndes Geräusch von sich und fuhr um die Kurve.

Ich schüttelte den Kopf über Mia und ihr altersschwaches Auto und machte mich auf den Weg zu meinem Wohnhaus.

Dienstag, 4. Dezember, London

Ich sah nichts, so heftig stürmte und regnete es. Vorsichtig setzte ich einen Schritt vor den anderen, darauf bedacht, auf dem merkwürdigen Untergrund nicht den Halt zu verlieren. Es wurde immer kälter, und ich zitterte am ganzen Leib, doch ich konnte nicht stehen bleiben. Als ich den Kopf hob, sah ich den Umriss einer Gestalt im Regen vor mir.

Panik stieg in mir hoch.

In dem Moment, als ich dachte, die Person zu erreichen, durchzuckte mich ein so heftiger Schmerz, dass meine Kraft aus meinem Körper wich und ich zusammensank. Ich wollte mich hinsetzen, doch der Boden war auf einmal verschwunden. Da war nichts mehr, nur schwarze, gähnende Leere. Vor Entsetzen brachte ich keinen Ton heraus, ich kippte vornüber und fiel. Alles um mich herum drehte sich, so schnell, dass ich nichts erkennen konnte. Dann hörte ich einen dumpfen Knall.

Schweißgebadet fuhr ich aus dem Bett. Es war nur ein Traum!

Automatisch schaltete ich den Wecker aus und sah dann aus dem Fenster, wo die Sonne über den Dächern Londons aufging.

Seit meinem Autounfall vor zehn Jahren erlebte ich immer wieder, was passiert war, nachdem ich in dieser einen Kurve die Kontrolle verloren hatte. Damals hatte es gewittert, der Regen war sintflutartig auf die Windschutzscheibe geprasselt und meine Hände hatten wie eingefroren auf dem Lenkrad geklebt. Doch die Kurve hatte ich nicht gesehen, genauso wenig wie die Hinweisschilder. Mein Auto hatte sich mehrmals überschlagen, gedreht und der Tank war in Flammen aufgegangen. Ich hatte drei Monate im Krankenhaus gelegen, bevor ich wusste, was passiert war.

Auf wackeligen Knien schleppte ich mich ins Badezimmer und spritzte mir Wasser ins Gesicht, dann sah ich auf.

Mein Spiegelbild war ein schrecklicher Anblick, als ob Krähen in meinen Haaren genistet hätten. Erst nachdem ich geduscht und mich angezogen hatte, fühlte ich mich etwas besser. Ich fütterte Phoibe und aß mein Frühstück in der Küche, bevor ich zur Arbeit fuhr.

Dort erwartete mich eine Lawine an Katastrophen. Drei Interviewpartner für die große Show hatten abgesagt, mein Team hinkte schon jetzt mit dem Zeitplan hinterher, und Sophie war krank, weshalb niemand die tausend Anrufe entgegennahm, die in unserer Redaktion eingingen. Um das Chaos etwas zu lindern, besetzte ich Sophies Schreibtisch mit einem jungen Mann, der erst seit Kurzem für uns als Redakteur arbeitete und am Anfang vollkommen überfordert schien. Doch als ich zwei Stunden später wieder nach ihm sah, war er Herr der Lage und hatte das Telefon und den E-Mail-Account unter Kontrolle. Als ob er sein Leben lang nichts anderes gemacht hätte, präsentierte er mir eine Liste mit Rückrufen, die ich tätigen sollte.

Die Studiogäste musste ich alle einzeln anrufen und darauf hinweisen, dass sie vertraglich zugestimmt hatten, zur Jahresrückblickshow zu kommen. Daran konnte sich keiner der drei Herren erinnern, zumindest waren sie aber bereit, sich die fraglichen Verträge einmal anzusehen.

Schlussendlich war ich irgendwann überrascht, dass schon später Nachmittag war. Aufgrund der tausend Kleinigkeiten, die angefallen waren, hatte ich das Interview nicht vorbereiten können. Trotzdem verabschiedete ich mich und fuhr nach Hause, um mich für einen Abend herzurichten, bei dem ich nicht wusste, was mich erwarten würde.

Langsam parkte ich das Auto auf dem verhältnismäßig großen Parkplatz des Restaurants und versuchte, die Nervosität zu unterdrücken.

Erst zu Hause war mir aufgefallen, dass wir keine Uhrzeit vereinbart hatten. Da ich nicht noch einmal mit dem Mann telefonieren wollte, hatte ich beschlossen, um sieben Uhr zum Mancini zu fahren.

Im Rückspiegel kontrollierte ich ein letztes Mal Gesicht und Haare, griff dann nach der Tasche und umklammerte sie, um das Zittern meiner Hände zu überspielen. Ich sah mich, immer noch im Auto sitzend und mit versperrter Tür, um, ob ich meinen Interviewpartner entdecken konnte. Gerade als ich aussteigen wollte, sah ich eine große Gestalt auf das Restaurant zugehen. Es war zu dunkel, um mehr zu erkennen; erst als er in die Nähe des Lichts aus dem Gebäude kam, stellte ich fest, dass es ein Mann war. Ich sah sein Gesicht nicht, doch er trug einen Anzug unter seiner eleganten Winterjacke und spähte durch die halb verdeckten Fenster des Restaurants, als ob er jemanden suchen würde. Das musste mein Anrufer sein.

Ganz ruhig jetzt. Du machst nur deinen Job. Ich straffte die Schultern und stieg aus dem Wagen. Als er die Autotür hörte, drehte er sich in meine Richtung.

Ich ging betont aufrecht und hob den Kopf ein paar Zentimeter an, während ich den kurzen Weg zwischen Parkplatz und Restaurant zurücklegte. Dabei zwang ich mich, zu dem Mann zu sehen, der vor den Stufen des Gebäudes wartete. Als ich nahe genug war, um sein Gesicht zu erkennen, setzte ich mein professionelles Lächeln auf und schaute ihm in die Augen.

Ich wäre auf viele Reaktionen seinerseits gefasst gewesen, nichts hätte mich überraschen können – doch mit meiner eigenen hatte ich nicht gerechnet. Eine Welle von Emotionen überrollte mich, so stark, dass ich kurzzeitig das Bild vor den Augen verlor. Alles spürte ich – Wut, Zuneigung, Schmerz, Angst, Erleichterung. In meinem Kopf dröhnte es, sodass ich fürchtete, wie in meinem Traum den Boden unter den Füßen zu verlieren. Mein Hals war wie zugeschnürt, und ich schnappte nach Luft, wandte den Blick auf das Restaurant hinter ihm und versuchte, alles zu unterdrücken, bis ich mich unter Kontrolle hatte. Dann erst lächelte ich ihn wieder an und streckte ihm die Hand entgegen.

„Ich bin Anabel Bonastale, wir sind zu einem Interview verabredet, stimmt das?“ Weil ich so beschäftigt mit mir war, hatte ich nicht mitbekommen, wie er reagiert hatte, doch das war mir egal. Ich wollte weg von hier, so schnell ich konnte.

„Ich heiße Nanito. Freut mich, Sie kennenzulernen, Ms Bonastale“, sagte er und schüttelte meine Hand. Obwohl ich meinen Sinnen nicht traute, wurde ich das Gefühl nicht los, dass er sich seiner Sache nicht sicher war; er sprach nicht mit derselben Ruhe wie am Telefon.

Erst jetzt konnte ich ihn direkt ansehen. Nanito war groß, hatte dunkle, weiche Haare, blaue Augen und ein ebenmäßiges Gesicht. Ich schätzte ihn wie mich um die dreißig, obwohl er eine Ausstrahlung hatte, die ihn älter erscheinen ließ.

Trotzdem wusste ich Bescheid: Ich hatte diesen Menschen noch nie in meinem Leben gesehen. Obwohl ich so merkwürdig reagiert hatte, kam er mir nicht bekannt vor. Mein Gefühl schien mich mit aller Kraft vor diesem Mann zu warnen, schon beim ersten Wort, das er am Telefon gesprochen hatte, war er mir unheimlich gewesen. Ich beschloss, auf mein Gefühl zu vertrauen und nur die Informationen zu holen, die ich brauchte. Dann würde ich so schnell wie möglich verschwinden, die Telefonnummer ändern und Toni darüber in Kenntnis setzen, dass ich womöglich nicht mehr sicher war. Und mit diesem Entschluss fühlte ich mich besser und bereit für diese Begegnung.

„Ich habe einen Tisch reservieren lassen, auf Ihren Namen“, berichtete Nanito und öffnete mir die Tür.

Von drinnen schlug uns warme Luft entgegen, und ich legte den Wintermantel ab. Nanito brachte unsere Jacken zur Garderobe, während ich der Kellnerin meinen Namen nannte. Sie nickte und führte uns an einen Tisch im hinteren Bereich des Restaurants, wo mehr Platz war als im Eingangsbereich. Nur etwa die Hälfte der anderen Tische war belegt, und die Gespräche der Menschen vermischten sich in meinen Ohren zu einem mehrtönigen Brummen.

„Darf ich Ihnen etwas zu trinken bringen?“, fragte die Kellnerin.

„Wein?“, erkundigte sich Nanito bei mir, und ich stimmte zu. Es war mir vollkommen egal, was wir tranken. Während er bestellte, dachte ich über seinen Namen nach und kam zu dem Schluss, dass es nur ein Pseudonym war. Er wollte schließlich anonym bleiben.

Um die Sache zu beschleunigen, wartete ich nicht, bis die Kellnerin außer Hörweite war, sondern packte schon vorher mein Aufnahmegerät aus und stellte es in die Mitte des Tisches. „Ich würde vorschlagen, wir beginnen gleich mit dem Interview, oder?“, sagte ich mehr zu mir selbst.

Nanito schmunzelte. „Haben Sie heute noch etwas vor?“

„Nein, aber ich denke … es gibt einiges zu besprechen.“ Ich holte mein Notizbuch heraus und kritzelte das Datum auf eine neue Seite. Was tat ich hier? Wenn Toni das herausfand, würde er mir den Hals umdrehen, von einer Kündigung ganz zu schweigen.

„Ich würde Ihnen das gerne in Ruhe erzählen.“ Nanito machte eine Pause, bevor er weitersprach. „Nach dem Essen.“

Ich erstarrte in der Bewegung, dann griff ich lächelnd nach dem Aufnahmegerät und stellte es auf den leeren Nachbartisch. „Wie Sie meinen.“ Es entstand eine unangenehme Stille, als wir beide überlegten, worüber wir sonst reden sollten.

„Dann erzählen Sie mal – wieso sind Sie Moderatorin geworden?“, begann Nanito das Gespräch im Plauderton von Neuem. Seine blauen Augen sahen mich voll ehrlichem Interesse an, als ob er meine Antwort auf die Frage wirklich hören wollte.

Ich überlegte kurz. Das hatte mich noch nie jemand gefragt. „Ich möchte den Menschen mitteilen, was auf der Welt passiert. Und mit meiner Sendung habe ich einen Weg gefunden, Nachrichten auf unterhaltsame Weise zu vermitteln und Themen tiefgründiger zu behandeln, als das in einer Nachrichtensendung möglich ist. Wobei ich mit unterhaltsam nicht unbedingt lustig meine, sondern eher gut und sehenswert verpackt. Durch unser Format bekommen wir selbst von den Menschen ehrliche Antworten, die sonst bei Interviews ihre eintrainierten Sätzchen aufsagen“, erklärte ich dann und sah voller Erleichterung, dass die Kellnerin schon mit den Getränken kam. Sie stellte jedem von uns ein Weinglas und ein Wasser hin, bevor sie wieder den Block zückte, um die Essensbestellung aufzunehmen.

In die Karte hatte ich bis jetzt keinen Blick geworfen, aber nachdem ich die Angebote überflogen hatte, bestellte ich eine Lasagne. Nachdem auch Nanito seinen Essenswunsch geäußert hatte, bedankte sich die Kellnerin, sammelte die Karten wieder ein und verschwand.

„Und was machen Sie genau? Ich meine, wie kommen Sie zu den Informationen, von denen Sie behaupten, dass Sie sie haben?“ Ich hatte für meinen Geschmack schon zu viel über mich gesprochen, jetzt war er an der Reihe.

Nanito lehnte sich zurück, als ob er sich verteidigen müsste. „Ich war lange auf Reisen und habe dabei unterschiedliche Menschen kennengelernt. Ein paar davon haben mir Einblicke in vertrauliche Bereiche der menschlichen Gesellschaft gegeben.“

„Sie sind ein Reisender?“, fragte ich weiter, in dieser Position fühlte ich mich wohler. Selbst Fragen zu beantworten hatte mir noch nie gelegen.

Nanito spielte mit seinem Weinglas, sodass der Inhalt hin und her schwappte. „In gewisser Weise schon. Nicht im herkömmlichen Sinne, doch ich habe Orte besucht, an denen nur wenige Menschen waren, und Dinge erlebt, die man vermutlich nicht als normal bezeichnen würde. Das waren nicht immer angenehme Zeiten, aber manchmal braucht man eine harte Schule, um für das Leben gerüstet zu sein.“

Ich merkte, wie meine Angst vor ihm langsam in den Hintergrund rückte und ich neugierig darauf wurde, was er mir zu erzählen hatte. Durch meinen Beruf hatte ich schon einige außergewöhnliche Lebensgeschichten gehört, doch seine löste in mir ein merkwürdig starkes Interesse aus.

„Und wie genau sind Sie in die … angebliche Angelegenheit mit Mr Cartano verwickelt?“, erkundigte ich mich.

Nanito zog die Augenbrauen hoch. „Tja, würden Sie mir glauben, wenn ich Ihnen sagen würde, dass ich mich das selbst manchmal frage?“ Er lächelte. „Ich war nur ein Zuschauer am Rande, der durch eine unglückliche Verkettung von Vorkommnissen auf einmal zum Hauptdarsteller wurde, wie mir scheint.“ Nanito sah mich ein wenig resigniert an. „Um ehrlich zu sein, bin ich nicht hier, um über mich zu sprechen, denn ich bin in dieser Sache nicht wichtig. Aber Sie sollten wissen, dass ich nur durch Zufall an diese Informationen gelangt bin und in Wahrheit für einen Menschen hier sitze, der einmal mein bester Freund war und alles, was ich Ihnen später erzählen werde, selbst aufgedeckt hat. Leider habe ich ihn seit zehn Jahren nicht mehr gesehen.“

Zuerst wusste ich nicht, wie ich auf diese Offenbarung reagieren sollte. Einerseits waren das Details, die unbedingt zum Interview gehörten, andererseits sah Nanito so betroffen aus, dass ich unmöglich nach dem Aufnahmegerät greifen und ihn bitten konnte, alles noch einmal zu sagen. „Das tut mir leid für Sie.“

Nanito zuckte mit den Schultern. „Das muss es nicht. Er wusste, was er tat, niemand konnte ihn davon abhalten. Auf jeden Fall konnte er sein Ziel, die Veröffentlichung seiner Informationen, nicht erreichen, und darum bin ich heute hier.“ Er machte eine kurze Pause und sah auf, weil die Kellnerin mit unserem Essen auf unseren Tisch zukam. „Deshalb möchte ich anonym bleiben. Einerseits bin ich nicht für die Aufdeckung verantwortlich, andererseits … will ich mir ein ähnliches Schicksal ersparen.“

Ich nickte schnell. „Das verstehe ich.“

Wir nahmen unsere Teller entgegen und begannen zu essen, um dem Gespräch eine kleine Pause zu gönnen. Währenddessen überlegte ich, wie ich das Interview am besten aufbauen konnte. Immer wieder sah ich in seine Richtung, doch er schien vollends mit seinem Essen beschäftigt. Als ich einen Blick auf die Uhr warf und verwundert feststellte, dass bereits eine Stunde vergangen war, räusperte er sich.

„Sie essen gerne Italienisch?“, fragte er mit einem seltsamen Unterton, den ich nicht einordnen konnte.

„Ja“, antwortete ich deshalb vorsichtig. Ich würde mich hüten, einem fremden Mann zu erzählen, dass ich ursprünglich aus Italien kam. Oder wusste er es schon? Ich war keine der Öffentlichkeit unbekannte Person, im Internet fand man mehr als einen Artikel über mich.

„Ich auch“, erwiderte Nanito und konzentrierte sich dann mit Hingabe wieder auf seine Pasta.

Das Essen schmeckte großartig, ich genoss jeden Bissen. Es dauerte, bis wir beide fertig waren, doch nach einer Zeit servierte die Kellnerin unsere Teller wieder ab und ich platzierte mein Aufnahmegerät erneut in der Mitte des Tisches. Dann legte ich den Notizblock vor mich und stellte fest, dass das teils belanglose Gespräch vorhin meine Nervosität gesenkt hatte.

„In Ordnung. Sind Sie bereit für das Interview?“, fragte ich, bevor ich die Aufnahmetaste drückte.

Nanito nickte und stützte die Arme auf den Tisch, um besser in das Gerät sprechen zu können.

„Mr … Nanito, Sie haben sich mit schweren Anschuldigungen an mich gewandt. Wollen Sie diese einmal wiederholen?“

„Ich werde versuchen, Ihnen zu erklären, was ich weiß, wobei das leider nicht so viel ist, wie ich Ihnen gerne sagen würde. Aber es reicht aus, um Mr Cartano aufzuhalten, und deshalb bin ich hier.“ Er seufzte tief. „Mr Cartano hat vor einigen Jahren … einen Plan entwickelt, mit dem er seiner Meinung nach ein erfolgreiches Amtsenthebungsverfahren gegen einen amerikanischen Präsidenten provozieren kann.“

Lächerlich. Das wollte ich spontan darauf antworten, aber ich hielt mich zurück. „Und wie soll das funktionieren?“ Ich runzelte die Stirn. „Ein Präsident verliert doch sein Amt nur dann, wenn er ein Verbrechen begangen hat. Und darüber, ob er verurteilt wird oder nicht, entscheiden die Mitglieder des Kongresses der Vereinigten Staaten.“

Nanito winkte beschwichtigend ab. „Ich stimme Ihnen vollkommen zu, dass er das Urteil am Ende nicht fällen kann. Was er aber tun kann und tun will, ist, dafür zu sorgen, dass das Repräsentantenhaus überhaupt auf die Idee kommt, Anklage zu erheben. Denn der amtierende demokratische Präsident Arthur Niall Roberts ist prinzipiell ein besonnener Mann und hat, soviel wir zu diesem Zeitpunkt wissen, kein Verbrechen begangen, das zu einer Amtsenthebung führen könnte.“

Ich richtete mich auf und sah ihn verwirrt an. „Aber wenn Präsident Roberts unschuldig ist, wie …“

„… wieso kann er dann sein Amt verlieren?“, vervollständigte Nanito meine Frage. „Weil Mr Cartano der Auffassung ist, dass jeder, absolut jeder für ein Verbrechen verurteilt werden kann, selbst wenn er oder sie es nicht begangen hat. Ob Staatsoberhaupt oder einfacher Bürger - mit der richtigen Methode kann es jeden erwischen.“ Er ließ den Blick kurz senken, und als er wieder aufsah, hatte sein Ausdruck etwas Flehendes, fast Verzweifeltes. „Ich weiß, wie das für Sie klingen muss, Ms Bonastale, und ich kann es Ihnen vermutlich nicht so erklären, dass Sie mir hundertprozentig glauben … aber Sie müssen verstehen, in welcher Gefahr Sie schweben. Deswegen bin ich hier. Ob Sie es wollen oder nicht, Sie sind Teil dieser Geschichte. Mehr noch, Sie haben die Möglichkeit, Mr Cartano zu enttarnen, und leider ist ihm das bewusst.“

Ich schüttelte verständnislos den Kopf. „Hören Sie, ich habe mein ganzes Leben mit diesem Mann verbracht, und mir ist nie etwas derartig Absurdes zu Ohren gekommen!“

Meine Worte trafen ihn. „Ich weiß von Ihrem Verhältnis zu Mr Cartano“, murmelte er, und sein Kiefer spannte sich an, als wollte er aufkommende Wut unterdrücken. Einen Moment lang verharrte er regungslos, dann wich die Anspannung aus seinem Gesicht. „In Ordnung, Ms Bonastale, lassen Sie mich zu Ende erzählen, und dann entscheiden Sie, was Sie denken.“

Ich hatte trotzig die Arme verschränkt und zuckte mit den Schultern. „Wenn Sie meinen.“

„Wie ich schon sagte, hat Toni Cartano einen Plan ausgearbeitet, mit dem es seiner Meinung nach möglich ist, den amerikanischen Präsidenten überzeugend als jemanden darzustellen, der ein Verbrechen begangen hat und deshalb sein Amt verlieren soll.“ Er zögerte kurz. „Ich habe Ihnen doch vorher von meinem Freund erzählt, von dem ich diese Informationen habe. Von ihm weiß ich zwar den ersten Schritt, den Mr Cartano setzen will, um sein Ziel zu erreichen, aber wie es genau funktionieren soll … darüber kann ich nur Vermutungen anstellen. Wenn Sie das wissen wollen, dann gehen Sie zu Ihrem Boss und fragen Sie ihn.“ Wieder hatte sich seine Stimme gehoben, und erneut musste er aussetzen, um sich unter Kontrolle zu bringen.

Wer zum Teufel war dieser Mensch?

„Was ich aber weiß: Mr Cartano ist es dabei immer um das Verfahren selbst gegangen, er wollte es schaffen, ein Amtsenthebungsverfahren mit einem erfolgreichen Prozess im Senat zu provozieren; der Präsident selbst ist ihm dabei egal. Warum er diesen Plan genau entwickelt hat – wer weiß, vielleicht eine Art Anerkennungssucht. Wie auch immer, ich vermute, dass diese Einstellung ein Grund dafür war, warum er seinen Plan nie umsetzen konnte – ausgedacht hat er ihn sich ja schon vor ein paar Jahren.“

„Und was hat sich jetzt verändert?“, fragte ich. Er hatte es geschafft, mich mit seiner Geschichte einzufangen, sodass ich gar nicht mehr daran dachte, sie unglaubwürdig zu finden.

„Einfach gesagt - er hat jemanden gefunden, der Roberts wie die Pest hasst und es begrüßen würde, wenn gerade dieser Präsident sein Amt verlieren würde“, antwortete Nanito schlicht. „Alec Thomson.“

Ich horchte auf. „War das nicht einmal Roberts’ Pressesprecher?“

Nanito lächelte mich anerkennend an. „Genau. Thomson ist Roberts’ ehemaliger Pressesprecher und, wie es aussieht, seit etwa einem Jahr befreundet mit Mr Cartano. Wobei ich nicht weiß, ob Mr Cartano überhaupt so etwas wie Freunde hat; vielleicht ist es eine Art Zweckgemeinschaft. Jedenfalls ergänzen sich die beiden: Mr Cartano hat den Plan, Thomson das Motiv.“

„Welches Motiv hätte Alec Thomson denn?“ Ich kaute vor Aufregung an meinem Stift. „Ist das nicht der Ex-Mann von Präsident Roberts’ Frau?“

Nanito nickte, und ich erinnerte mich dunkel an die Geschichte, die zum Bruch zwischen Präsident Roberts und seinem Pressesprecher geführt hatte. Ich konnte nicht mehr genau sagen, wie es passiert war, aber irgendwann hatte Arthur Roberts angefangen, Alec Thomsons Frau zu umgarnen. Kurze Zeit später war aus Mrs Thomson Mrs Roberts geworden, und der betrogene Alec Thomson hatte gekündigt.

„Man munkelt, dass es die reizende Mrs Roberts damals auf den Posten der First Lady abgesehen hatte. Aber was es war, Alec Thomson gibt offensichtlich Roberts die Schuld daran, denn er hat diversen Medien zufolge kein Geheimnis daraus gemacht, was er von Präsident Roberts hält – nämlich gar nichts.“

Ich dachte nach. „Für Thomson würde ein erfolgreiches Amtsenthebungsverfahren dann gleich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Erstens könnte er sich an Roberts rächen, indem er dafür sorgt, dass der Präsident mit seinem Amt auch etwas verliert, das ihm wichtig ist. Und zweitens wäre es Rache an seiner Ex-Frau, denn die wäre ja dann keine First Lady mehr.“

Nanito griff nach seinem Glas und prostete mir zu. „Zu diesem Schluss bin ich auch gekommen. Thomson hat ein Motiv und noch dazu gute Kontakte zum Kongress, und Cartano hat den Plan, mit dem es klappen kann. Außerdem wäre es möglich, dass Thomson Informationen hat, die Präsident Roberts unter Umständen schaden können. Wenn er etwas gegen den Präsidenten in der Hand hat … dann könnte es eng werden. Toni Cartano und Alec Thomson haben sich jedenfalls vor etwa einem Jahr kennengelernt, und seit Ihrer Show am Freitag, Ms Bonastale, bin ich mir sicher, dass die beiden es jetzt durchziehen wollen.“

„Und was hat meine Show damit zu tun?“, fragte ich verwirrt.

„Cartanos Plan beginnt mit Aufmerksamkeit. Aufmerksamkeit für das Thema Impeachment.“ Er unterbrach sich kurz. „Sie wissen sicher, dass Ihre Show auch außerhalb von Großbritannien äußerst beliebt ist.“

Ich ließ mir seine Worte durch den Kopf gehen. „Er will, dass die Menschen auf das Thema Impeachment aufmerksam gemacht werden?“, wiederholte ich dann langsam.

„Ja. Anscheinend ist das wichtig“, antwortete Nanito knapp.

Und was fange ich jetzt mit dieser Information an? Das hätte ich mir früher überlegen können. Egal, ob es wahr war oder nicht, sobald ich Toni in irgendeiner Form damit konfrontierte, was ich gehört hatte, war ich arbeitslos.

Wenn es falsche Anschuldigungen waren und ich mich nicht von Anfang an klar auf Tonis Seite stellen, sondern nachrecherchieren würde, dann würde er mir Illoyalität vorwerfen und mich feuern. Aber wenn nur ein Teil dieser Geschichte der Wahrheit entsprach … tja, dann hatte ich ein großes Problem, denn darüber sollte ich bestimmt nicht Bescheid wissen. Das wäre die perfekte Erklärung, warum er mich nach Australien schickt. Aber es kann nicht wahr sein, oder?

Ich sträubte mich dagegen zu glauben, dass es eine Möglichkeit geben konnte, etwas so Komplexes wie ein Amtsenthebungsverfahren als Außenstehender heraufzubeschwören. Andererseits, wenn es möglich wäre, die Mitglieder des Kongresses davon zu überzeugen, ein Vergehen des Präsidenten finden zu wollen … sie dementsprechend zu provozieren … dann würden sie doch bestimmt auf etwas stoßen, oder? Wenn es sogar aus politischer Motivation heraus entstand …

Und obwohl ich von diesem Plan nur wusste, dass er existierte, kam mir die Idee auf einmal nicht mehr so unrealistisch vor. Im Grunde müsste Toni nur irgendeine Art Legitimation schaffen, die Roberts’ politischen Gegnern erlauben würde, nach einem Grund für eine Amtsenthebung zu suchen. Wenn es dann jemanden gab, der sich als treibende Kraft gegen den Präsidenten stellte, dann … dann würde wohl alles andere in so einem langen Amtsenthebungsverfahren, von den Untersuchungen bis hin zu den Verfahren und Verhandlungen, von selbst seinen Lauf nehmen.

Je länger ich darüber nachdachte, desto weniger Gründe fand ich, Nanito diesen Wahnsinn nicht zu glauben.

Mein Herz klopfte wild, und ich unterbrach meine Gedanken, indem ich Nanito ansah und mich fragte, wie zur Hölle er an diese Information gekommen war.

Woher will er das alles wissen? Selbst wenn Toni involviert ist, er wird dafür sorgen, dass Fremde nicht von seinen Machenschaften erfahren! Ich sah Nanito prüfend an. „Sie haben mir vorhin gesagt, dass Sie nicht genau wissen, wie Toni Cartanos und Alec Thomsons Plan aussieht – woher nehmen Sie dann das Recht, solche Anschuldigungen zu äußern?“

Nanito wich vor meinem scharfen Ton ein wenig zurück. „Ich habe Ihnen doch gesagt, dass ich beweisen kann, was Toni Cartano vorhat … oder besser gesagt, Sie können das. Und deshalb bin ich hier.“

„Was?“, entfuhr es mir.

Nanito nickte langsam. „Ich bin hier, weil Sie dazu in der Lage sind, Toni Cartano zu enttarnen. Sie müssten sich nur erinnern.“

Ich stemmte die Hände auf den Tisch. „Wovon zum Teufel sprechen Sie? Ich habe keine Ahnung, was Sie meinen, denn alles, was Sie mir erzählt haben, höre ich zum ersten Mal!“

Nanito sah mich lange an, als ob seine Gedanken woanders wären. Ohne den Blick von mir abzuwenden, griff er in seine Jackentasche und zauberte ein in braunes Papier gewickeltes Päckchen zutage, dass mit einer alten Schnur umwickelt war. „Sie sind eine Bedrohung für Toni Cartano und seine Pläne, denn Sie haben die Möglichkeit, ihn auffliegen zu lassen. Ich will, dass Ihnen das bewusst ist. Nur dann haben Sie die Chance, sich vor ihm in Acht zu nehmen.“ Er suchte nach den richtigen Worten. „Für Sie ist es vollkommen unerheblich, ob Toni Cartanos Plan funktionieren kann oder nicht, denn solange er davon überzeugt ist, sind Sie für ihn ein Hindernis.“

Ich hatte nicht den blassesten Schimmer, wovon er sprach. Doch er hatte mich so überrumpelt, dass ich kein Wort hervorbrachte. Langsam legte er das Päckchen in die Mitte des Tisches und schob es zu mir herüber. „Ich habe für Sie darauf aufgepasst, aber ich denke, jetzt ist der richtige Zeitpunkt, um es Ihnen wieder zurückzugeben.“

„Ich verstehe nicht, was das soll. Mir gehört dieses Päckchen nicht!“

Nanito stand auf und sah mir fest in die Augen. „Sie haben die Beweise, die es braucht, Ms Bonastale. Sie müssen sich nur daran erinnern.“ Dann drehte er sich um und verließ das Restaurant.

Er verschwand genauso, wie er gekommen war: plötzlich und unerwartet, ohne dass ich viel dagegen tun konnte. Ich starrte auf das Päckchen vor mir, mein Kopf war leer. Wenn er recht hatte, dann war mein Leben ein einziger Scherbenhaufen, denn ich war Toni beruflich auf Gedeih und Verderben ausgeliefert. Und wenn ich den Job verlor – tja, ein überaus vielseitiges Sozialleben hatte ich nicht, das ich dann in vollen Zügen genießen könnte.

Auf Nanitos letzte Worte konnte ich mir genauso wenig einen Reim machen wie auf seine Vorwürfe davor. Wieso sollte Toni so etwas planen? War Nanito ein Verrückter, der aus einer Anstalt entflohen war, wie ich es schon beim Telefonat vermutet hatte? Ein Realitätsflüchtling, der Aufmerksamkeit suchte? Ein Journalist der Konkurrenz, der sich über mich lustig machte? Jede Erklärung würde passen, doch ich glaubte an keine einzige. Nichts rechtfertigte Nanitos Verhalten oder seine verworrenen Andeutungen, und vor allem nicht meine Reaktion auf ihn. Ich hatte von Anfang an gespürt, dass etwas nicht mit ihm stimmte, ich hatte es geahnt. Doch jetzt, nach einem Gespräch, das mehr Fragen als Antworten gebracht hatte, wusste ich immer noch nicht, was so falsch, so komisch an ihm war.

Ich konnte den Blick nicht von dem Platz abwenden, wo er vor Kurzem noch gesessen hatte. Seine Stimme klang in meinen Ohren nach wie ein unangenehmes Geräusch, das ich ausblenden wollte.

„Ms Bonastale?“ Wie aus weiter Ferne klang die Stimme der Kellnerin. Langsam drehte ich den Kopf zu ihr. „Ja?“, wollte ich fragen, doch es kam nur ein Krächzen aus meiner Kehle.

„Darf ich die Gläser schon mitnehmen?“, fragte sie.

Ich warf einen Blick auf die Weingläser, seines und meines, die immer noch auf dem Tisch standen, und nickte lediglich.

„Ihre Begleitung hat die Rechnung schon bezahlt. Darf ich Ihnen sonst noch etwas bringen?“

Ich schüttelte den Kopf, woraufhin die Kellnerin mir einen schönen Abend wünschte und mit den Gläsern verschwand. Wie in Trance schaltete ich das Aufnahmegerät aus, steckte es in die Tasche und packte meine Sachen ein, bis nur noch das Päckchen auf dem Tisch stand. Sollte ich es hierlassen?

Wer weiß, was darin ist.

Ich dachte eine Weile darüber nach, nahm dann eine Serviette, hob es wie ein Beweisstück an einem Tatort hoch und ließ es in meiner Tasche verschwinden. Danach stand ich auf und verließ das Restaurant.

Draußen war es kälter geworden, und ich zog den Mantel eng um die Schultern, während ich zu meinem Auto lief. Sobald ich hinter dem Lenkrad saß, startete ich den Motor. Sie haben die Beweise. Sie müssen sich nur daran erinnern.

Als ich seine Worte in meinem Kopf hörte, wurde mir wieder kalt. Ich schaltete die Heizung ein und drehte sie voll auf, doch es half nichts. Woran erinnern? Was soll ich deiner Meinung nach wissen?! Fast automatisch fiel mein Blick auf meine Tasche. Was auch immer Nanito mir gegeben hatte, es wartete darauf, von mir ausgepackt zu werden. Vielleicht würde es mir Antworten liefern, vielleicht aber auch nicht. Im Moment wollte ich es, konnte ich es noch nicht wissen.

Sie können ihn enttarnen.

Ich kniff die Augen zusammen und schüttelte den Kopf, um seine Worte nicht mehr zu hören. Vor lauter Angst, diese Andeutung zu verstehen, drehte ich das Radio auf und sang das Weihnachtslied mit, das gespielt wurde.

Ist Toni überhaupt dazu in der Lage, so etwas zu machen?

Ich wollte darüber nachdenken, doch das musste ich nicht, denn ich kannte die Antwort schon. Ja. Er wäre definitiv dazu in der Lage. Verdammt.

Die Tränen kamen ohne Vorwarnung, und ich wischte sie mit dem Ärmel weg; wohlwissend, danach das ganze Make-up auf meiner Jacke wiederzufinden. Doch das war mir egal. Ich fühlte mich belogen und betrogen, ob von Toni oder dem Fremden, den ich interviewt hatte, wusste ich nicht. Einer der beiden hatte mir auf jeden Fall nicht die Wahrheit erzählt. Und nicht zu wissen, wer es war, machte mich fertig.

In meiner Wohnung steckte ich das Päckchen zuerst in den hintersten Teil meines Kleiderschranks, dann tat ich dasselbe mit dem Aufnahmegerät und den Notizen.

Vielleicht hatte ich nach ein paar Wochen schon vergessen, wo ich das Päckchen hingelegt hatte, und es verschwand langsam aus meinen Gedanken.

Mittwoch, 5. Dezember, London

Ich stand in einem großen Raum, den ich besser kannte als jeden anderen Ort auf der Welt. Zentimeter für Zentimeter konnte ich ihn beschreiben, allein am Geruch würde ich ihn erkennen. Das war mein Zuhause, ich spürte es mit jeder Faser meines Körpers.

Draußen war es dunkel, nur der Mond schien fahl durch das Fenster an der gegenüberliegenden Wand. Ein Donner grollte direkt über unserem Haus.

„Hier müsste er sein“, hörte ich eine männliche Stimme aus der Küche sagen.

Ich vernahm ein Poltern, dann war es kurz still. „Wo ist sie?“, fragte ein anderer Mann.

Diese Frage machte mir Angst. Große Angst. So schnell ich konnte, drehte ich mich um und wollte fliehen.

„Wo ist Anabel?“, brüllte die Stimme.

Tränen stiegen in meinen Augen auf, und ich konnte nicht mehr klar sehen. Hinter mir hörte ich das Splittern von Holz, als ob sie unsere Tür eingeschlagen hätten. Ich begann zu rennen, doch mein Fuß schmerzte und der Gang schien kein Ende zu haben.

Mein Atem ging schnell, und ich lief immer weiter, rannte um mein Leben, doch ich kam nicht von der Stelle.

Sie würden mich verfolgen, sie würden mich jagen. In dem Moment sah ich das Fenster, das mich retten würde. Mit aller Kraft stemmte ich mich dagegen, doch es ging nicht auf. Verzweifelt trat ich nach dem sperrigen Holz, drehte mich um und sah sie kommen.

Ich riss meine Augen auf und klammerte mich an der Bettdecke fest, bis ich mir sicher war, dass ich vor niemandem davonlaufen musste.

Das muss endlich aufhören.

Selbst mir war klar, dass dieser Traum rein gar nichts mit meinem Autounfall zu tun hatte. Doch was war es dann? Ein Blick auf den Wecker sagte mir, dass mir noch drei Stunden blieben, bevor die Sonne wieder aufging. Doch gerade jetzt sehnte ich mich so sehr nach Licht und Wärme, dass ich aufstand und sämtliche Lampen in meiner Wohnung anmachte. Phoibe, die auf dem Kratzbaum gelegen hatte, blinzelte mich verschlafen an. Vermutlich überlegte sie, ob sie um drei Uhr nachts schon Hunger haben sollte, entschied sich aber dagegen und schlief weiter.

Als ich in der Küche das Licht aufdrehte, sah ich zur Eingangstür. Es war lächerlich, doch ich musste kontrollieren, ob sie verschlossen war. Natürlich hatte ich zugesperrt, aber das gab mir kein Gefühl der Sicherheit mehr. Zum ersten Mal hatte ich Angst allein in meiner Wohnung. Doch um diese Uhrzeit konnte ich niemanden anrufen und fragen, ob ich vorbeikommen durfte. Außerdem, was sollte ich sagen? Ich habe schlecht geträumt und jetzt Angst davor, wieder einzuschlafen?

Nein, ich war eine erwachsene Frau, und ich würde meine Probleme selbst lösen. Um mich zumindest ein bisschen besser zu fühlen, schob ich einen Stuhl zur Tür und stellte ihn unter die Klinke, wie ich es in Filmen gesehen hatte. Dort half dieser Trick gegen Einbrecher.

Dann drehte ich den Fernseher auf, damit es nicht zu leise war, und setzte mich auf mein Sofa. Unter Umständen würde ich bald so müde werden, dass ich wieder einschlief.

Doch die Angst, die ich im Traum gehabt hatte, ließ mich nicht mehr los. Wie gebannt saß ich vor dem Fernseher und schaffte es nicht, müde zu werden.

Deshalb schreckte ich zurück, als ich meinen Wecker aus dem Schlafzimmer piepsen hörte. Schnell schaltete ich ihn aus und überlegte, wie viel Sinn es hatte, zur Arbeit zu fahren. Ich war erschöpft, vollkommen unausgeschlafen und nicht dazu in der Lage, meine Konzentration länger als fünf Minuten aufrecht zu halten.

Trotzdem wollte ich nicht hierbleiben und mich durch die Stille in meiner Wohnung quälen. Vielleicht würde mir Ablenkung sogar guttun.

Mit diesem Vorsatz fuhr ich zur Arbeit, doch dort holte mich der Schlafentzug ein, bevor ich mein Büro betreten hatte. Meine Schläfen pochten, und ich massierte sie gegen die Kopfschmerzen, als aus dem Redaktionsraum schallendes Lachen drang. Das Geräusch hallte doppelt so laut in meinem Kopf wider, und in dem Moment nahm meine schlechte Laune überhand. Sobald ich in die Redaktion kam, steuerte ich auf Elliot Browns Schreibtisch zu, dessen unverwechselbar hohe Stimme ich gerade gehört hatte. Jetzt faltete er andächtig einen Stapel Papier, um ihn später einzusortieren.

Ich positionierte mich hinter ihm, warf einen Blick auf seinen Computerbildschirm und sah eine Social-Media-Seite mit Katzenvideos.

„Ernsthaft?“, fragte ich und verschränkte die Arme.

Elliot sah beschämt auf seinen Papierstoß. „Passiert nicht wieder, Ms Bonastale.“

Es pochte weiterhin in meinem Kopf, und obwohl er mir leidtat, konnte ich mich nicht zurückhalten. Ich faltete einen der Zettel auseinander. „Protokolle, Mr Brown, verdienen Aufmerksamkeit. Dieses hier zum Beispiel sollte schon längst in den Müll gewandert sein, sehen Sie das fehlerhafte Format? Damit können spätere Generationen nichts anfangen.“ Schwungvoll drehte ich mich um und hielt das Blatt Papier in die Höhe. „Wer ist für den Ausdruck verantwortlich?“

Ich wollte nicht mit Elliot streiten, er war ein fähiger Redakteur, der mich auf dem falschen Fuß erwischt hatte. Doch die Kopfschmerzen und meine Müdigkeit trieben mich dazu, immer weiterzumachen.

Als sich niemand meldete, seufzte ich erneut. „Ist Sophie wieder da?“ Statt auf eine Antwort zu warten, machte ich einen Schritt zurück und sah die beige Tasche meiner Assistentin im Büro. „Sehr gut. Dann ist Ihnen hoffentlich klar, dass ich nur sie fragen muss, wer die Protokolle bei ihr zum Drucker gebracht hat?“

Daraufhin zeigte ein Mann auf, dem die Schweißperlen auf der Stirn standen und dessen Name mir beim besten Willen nicht einfiel.

„Ich habe die Protokolle geschrieben und ausgedruckt“, erklärte er, wobei seine Stimme immer leiser wurde.

„Das können wir so nicht einsortieren, verstehen Sie? Machen Sie es noch einmal, und arbeiten Sie bitte gründlicher. Dann ist uns allen geholfen.“ An der Tür, die Sophies und mein Büro von unserer Redaktion trennte, blieb ich noch einmal stehen. „Mr Brown, ich würde nachher Ihre Hilfe im Archiv brauchen, wäre das möglich? In einer Stunde?“

Mir war meine Ansprache schon so peinlich, dass ich froh war, in Sophies Büro verschwinden zu können. Was war nur in mich gefahren, meine Laune so an meinen Kollegen auszulassen?

Sophie telefonierte, legte aber auf, als sie mich kommen sah. „Ihre Post, Ms Bonastale, die E-Mails habe ich schon weitergeleitet.“ Sie hielt mir einen Stapel Briefe und eine Tasse Kaffee entgegen. Ich bedankte mich und klemmte mir die Post unter den Arm.

„Wie ist Ihr Interview gelaufen? Soll ich etwas transkribieren?“, fragte Sophie weiter.

Sofort spürte ich einen Stich in der Magengegend und musste mich darauf konzentrieren, den Kaffee nicht zu verschütten. „Ähm … habe ich Ihnen von dem Interview erzählt?“

„Nicht direkt.“ Sophie legte den Kopf verwirrt schief. „Da ich gestern nicht da war, haben Sie mir eine Nachricht auf dem Schreibtisch hinterlassen.“

Jetzt erinnerte ich mich wieder. „Ach ja“, erwiderte ich und wollte auf dem Absatz umdrehen.

„Soll ich das Aufnahmegerät abhören und das Gespräch verschriftlichen?“, fragte Sophie erneut. Das war die übliche Prozedur, wenn ich ein Interview führte. Sie schickte mir dann die abgetippte Version, die ich in einen Beitrag verpacken konnte. Doch jetzt …

„Nein, danke. Wir haben das Interview nicht beenden können und müssen daher noch einmal sprechen.“

„Haben Sie schon einen neuen Termin, den ich eintragen kann?“

Jetzt wurde es mir zu bunt. Ich wollte nicht mehr an dieses verdammte Interview denken, schon gar nicht an Nanito oder das Päckchen zu Hause. „Nein, ich werde Ihnen Bescheid geben, wenn ich Ihre Hilfe brauche!“ Ich lief zu meinem Schreibtisch, wo ich die Briefe ablud und dann einen Schluck Kaffee trank.

Um mich zu beruhigen, beschloss ich, heute mit der Post anzufangen und erst später die Zusendungen der Redaktion durchzusehen.

Ich konnte mich mit der Arbeit genug ablenken, dass meine Gedanken nicht wanderten. Auch die Kopfschmerzen verebbten langsam, und ich fühlte mich munterer als heute Morgen. Die meisten Briefe waren Reaktionen auf die Sendung, die ich handschriftlich beantwortete. Bis ich beim letzten Schreiben angekommen war, dauerte es eine gute Stunde, doch dann hielt ich einen kleinen grauen Briefumschlag in der Hand, der keinen Absender trug.

Verwundert drehte ich den Brief, doch es stand nur meine Adresse in den Cartano Media Studios in einer schwungvollen Schrift auf dem Kuvert.

„Sophie? Wieso lassen Sie einen Brief ohne Abse…“ Während ich sprach, hatte ich den Umschlag schon geöffnet und wusste auf einmal, woher er stammte.

„Wie bitte?“ Sophie erhob sich und kam zu meinem Schreibtisch. „Stimmt etwas nicht?“

Schnell legte ich den Umschlag auf meinen Schoß. „Alles in Ordnung. Ich wollte Sie nur bitten, die fertigen Briefe heute noch zur Post zu bringen.“ Dabei deutete ich auf den Stapel der Antwortschreiben. Sophie nickte, nahm die Briefe mit und verschwand wieder.

Mein Herz klopfte bis zum Hals, und meine Hände zitterten, als ich das Kuvert auf den Schreibtisch legte und langsam das graue Briefpapier herauszog. Aus irgendeinem Grund, und ich konnte beim besten Willen nicht sagen warum, war ich fest davon überzeugt, dass dieser Brief von ihm kam.

Wütend über mich selbst biss ich die Zähne zusammen. Jeder Mensch auf diesem Planeten konnte mir geschrieben und vergessen haben, den Absender zu vermerken!

Ich faltete das Papier auf, strich es glatt und erkannte eine handschriftliche Notiz.

Wenn Sie mich noch einmal treffen wollen, wissen Sie, wo Sie mich finden.

N

Ich war fassungslos. Das gibt es doch nicht! Er hatte mir einen Brief geschrieben?! Wieso nur hatte ich mich auf dieses Interview eingelassen? Was bezweckte er mit dieser Andeutung?

Ich lehnte mich zurück und schloss die Augen. Wenn ich das verstehen wollte, durfte ich nicht die Nerven verlieren.

Kurzerhand stand ich auf und schnappte mir meine Jacke. „Ich muss an die frische Luft“, sagte ich zu Sophie, und ohne auf eine Antwort zu warten, verließ ich den Raum.

„Ms Bonastale, Elliot ist schon im Archiv!“, rief mir eine Kollegin aus meiner Redaktion zu.

„Äh … danke, ich bin gleich da“, murmelte ich und ließ die Tür hinter mir ins Schloss fallen. Ich wollte zu dem Innenhof im Erdgeschoss, der zu dieser Zeit meist leer war. Kaum war ich dort, setzte ich mich auf eine Bank und hielt das Gesicht in die fahle Dezembersonne. Zwei Möglichkeiten – ich habe zwei Möglichkeiten. Erstens, ich vergesse diesen ganzen Spuk und ignoriere Nanito. Oder zweitens, ich fahre nach Hause und finde heraus, was er mit seinen Andeutungen meint.

Noch während ich überlegte, wusste ich, dass meine Entscheidung schon gefallen war. Denn ich würde das Interview, diese Begegnung mit diesem fremden Menschen, der mir solche Angst eingejagt, aber gleichzeitig ein Gefühl der Sicherheit gegeben hatte, nie wieder vergessen. Kein Wort von dem, was er gesagt hatte, würde je aus meinem Kopf verschwinden, denn noch immer hörte ich seine Stimme.

Und genau aus diesem Grund hatte ich nur eine Möglichkeit: Ich würde das Päckchen öffnen, Nanitos Aussagen verstehen und endlich wissen, wovon er gesprochen hatte. Dann, und nur dann würde ich wieder in Ruhe weiterleben können.

Unter Umständen gab es eine logische Erklärung für seine merkwürdige Verabschiedung, und ich interpretierte viel zu viel in seine Worte. Sie haben die Beweise. Sie müssen sich nur daran erinnern.

Und da war der Moment gekommen, an dem ich wissen wollte, was in dem Päckchen war. Beweisfotos? Ein Brief? Vor lauter Tatendrang sprang ich auf und hastete zurück in die Redaktion. Die Müdigkeit war wie weggeblasen, das Adrenalin, das durch meinen Körper schoss, ließ mich hellwach sein. Ich riss die gläserne Schwingtür zu meinem Büro so fest auf, dass Sophie erschrocken zurückfuhr.

„Ms Bonastale, alles in Ordnung?“

Der Wissensdurst beflügelte mich, mit drei großen Schritten war ich beim Schreibtisch und griff nach der Tasche. „Meine Katze muss zum Tierarzt“, erwiderte ich, schon wieder im Gehen. „Ich komme heute nicht mehr, bitte vergessen Sie die Briefe nicht.“ Als ich gerade durch die Tür gehen wollte, fiel mir noch etwas ein. „Und rufen Sie im Archiv an und sagen Sie Mr Brown, dass er nicht auf mich warten soll.“

Die ganze Zeit über hatte ich mir nicht erlaubt, daran zu denken, was passieren würde, wenn ich das Päckchen aufmachte. Doch jetzt wurde ich nervös wie vor meiner ersten Sendung.

Nachdem ich in meiner Wohnung angekommen war, stand ich eine ganze Weile vor dem Schrank, bevor ich ihn öffnete und hinter den Sommerklamotten nach meinen Interview-Utensilien suchte.

Das Aufnahmegerät stellte ich zunächst auf den Schreibtisch, um beide Hände für das Päckchen freizuhaben. Es wog erstaunlich wenig, und durch die Verpackung konnte ich nicht ertasten, was Nanito mir hinterlassen hatte. Ich schlenderte ins Wohnzimmer, setzte mich auf das Sofa und sah das Päckchen prüfend an.

Es wird dir keine Ruhe lassen, wenn du es jetzt nicht öffnest!

Vorsichtig löste ich die Paketschnur und legte sie zur Seite. Dann wickelte ich das braune Papier ab, immer weiter, bis mir ein in Leder gebundenes Buch in den Schoß fiel. Ein Buch? Er schickt mir ein Buch?

Der Einband war rau und sah gebraucht aus. Ich nahm das Buch in meine Hand und drehte es, sodass ich die Vorderseite sehen konnte. Erst jetzt erkannte ich, dass es durch eine lederne Schnur verschlossen und mit rotem Wachs versiegelt worden war.

Aus Angst, etwas zu zerstören, erbrach ich das Siegel so langsam wie möglich.

Als ich das Buch aufschlagen wollte, rutschte etwas Metallenes, das zwischen den ersten Seiten gelegen hatte, heraus und fiel auf den Boden. Augenblicklich erkannte ich, was es war, und zog scharf die Luft ein.

Dann bückte ich mich und hob den silbernen Ring mit dem glänzenden Diamanten wieder auf. Im Licht funkelte der Edelstein in allen Regenbogenfarben, und merkwürdigerweise kam er mir bekannt vor. Ich wusste nicht, wo ich ihn gesehen hatte, doch ich war mir sicher, dass genau dieser Ring schon einmal in meiner Hand gelegen hatte. Es fiel mir schwer, den Blick davon zu lösen, doch dann legte ich ihn weg und schlug das Buch auf.

Erschrocken starrte ich auf die erste Seite und blätterte weiter durch das Werk, das Blatt für Blatt beschrieben worden war, und zwar mit meiner eigenen Handschrift. Ich wusste, ich kannte das Buch nicht, doch wie, wie war es dann möglich, dass es bis zur letzten Seite mit meiner Schrift gefüllt worden war?

Was geht hier nur vor?! Am liebsten hätte ich das Buch weggeworfen und wäre zum ursprünglichen Plan, das Interview und Nanito zu vergessen, zurückgekehrt, doch ich rührte mich nicht. Während ich das Buch durchblätterte, las ich Wortfetzen, mit denen ich nichts anfangen konnte, bis ich auf einer Seite auf den Namen Nanito stieß.

Erschöpft von der Aufregung sah ich auf und biss mir auf die Lippe. Wenn ich wissen wollte, was hier vorging; wenn ich verstehen wollte, wieso Nanito mich getroffen und mir dieses Buch gegeben hatte; wenn ich nicht länger im Dunkeln tappen und meinen Platz in dieser ganzen Geschichte finden wollte, dann musste ich lesen, was ich geschrieben hatte.

Ich konnte mir beim besten Willen nicht erklären, wie es möglich war, dass ich mich nicht an dieses Buch erinnern konnte, doch möglicherweise würde ich Antworten darauf auf den Blättern finden, die ich gefüllt hatte.

Ich nahm meinen Mut zusammen, schlug die erste Seite auf und begann zu lesen.

Der meinen Namen trägt

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