Читать книгу Von den Schülern genommen - Vic Stark - Страница 4
Kapitel 1
ОглавлениеEine Trennung ist nie leicht und für mich ganz besonders nicht, da es sich um meine erste richtige Beziehung handelte. Fünf Jahre meines Lebens habe ich an diesen Idioten verschwendet und dann verlässt der Kerl mich, weil er auf einmal findet, dass unser Sexleben zu vanilla war! Dabei wollte er es doch genau so wie ich! Eigentlich hätte mir klar sein müssen, dass Sven genau der Typ ist, der die Schuld immer den anderen in die Schuhe schiebt, also auch mir. Jetzt bin ich also brav und langweilig. Okay, ich bin brav, aber es hat ihm gefallen! Es war gut! Fünf Jahre lang.
Nun gut, fast fünf Jahre lang. Denn in einem Punkt bekenne ich mich schuldig: Ich bin zu lange in der Beziehung geblieben; auch dann noch, als längst klar war, dass es zwischen uns im Grunde aus ist. Ja, mein Gott, und wahrscheinlich kann man sogar sagen, dass ich mich noch immer nicht weiterentwickelt oder vom Fleck bewegt habe, obwohl er mich schon vor einem halben Jahr hat sitzen lassen. Einmal vanilla, immer vanilla. Das sieht man mir von Weitem an – ich liebe geblümte Kleidung, Schleifchen, dezente Farbtöne. Vanille ist süß, ich bin süß, und vielleicht ein bisschen naiv und brav, das mag schon sein.
Immerhin lasse ich mich nicht unterkriegen. Kopf hoch, weiter geht’s, das war schon immer mein Motto.
Genau aus diesem Grund habe ich auch einen Job als Aushilfslehrerin an einer Weddinger Gesamtschule angenommen, und das, obwohl ich gar keine ausgebildete Lehrerin bin. Doch in Berlin ist der Lehrermangel so akut, dass sie jeden nehmen; oder zumindest fast. Immerhin habe ich Germanistik studiert und schon während des Studiums begonnen, als Lektorin bei einem Sachbuchverlag zu arbeiten. Wie das bei Verlagen heutzutage so ist, muss auch meiner kräftig sparen; so drastisch sogar, dass er mich gleich weggespart hat. So stand ich zu meinem dreißigsten Geburtstag quasi auf der Straße – ohne Freund, ohne Job, ohne Dach über dem Kopf. Eins kam zum anderen, und doch fügte sich alles wieder. Denn ich bekam die Stelle an der Weddinger Gesamtschule ebenso wie eine Wohnung in der Nähe, gleich am Leopoldplatz. Mit Sack und Pack zog ich also vom (für mich allein) viel zu teuren Prenzlauerberg ein paar Kilometer weiter westlich; was ja auch eine Welt sein kann.
Inzwischen habe ich mich an die ungewohnte Arbeit mit so vielen Menschen und noch dazu pubertierenden Jugendlichen mit schwierigem Hintergrund gewöhnt. Einfach ist es nicht immer, doch es geht und ich bin entschlossen, zu kämpfen, denn ich brauche den Job unbedingt!
Zunächst durfte ich den Unterricht nur observieren, dann ein paar Wochen lang assistieren und seit gestern darf ich alleine unterrichten. „Darf“, oder muss. So einfach ist das gar nicht festzumachen, aber wer nicht aufs Amt will, muss unterrichten.
Was das Ganze zusätzlich erschwert, ist, dass neue Lehrer schreckliche viele und schrecklich unbeliebte Fleißaufgaben aufgebrummt bekommen. Wie gut bzw. wie schlecht man diese erledigt, fließt in die Bewertung mit ein, die wiederum letztendlich darüber entscheidet, ob man übernommen wird oder nicht.
Dass ich jetzt zum Direktor, Herrn Schwarz, gerufen werde, hängt bestimmt mit diesen Zusatzaufgaben zusammen. Mich beschleicht ein ungutes Gefühl, als ich den langen dunklen Gang zu seinem Büro entlanggehe. Zaghaft klopfe ich an die schwere Holztür und seine missmutige Stimme brummt von innen. „Eintreten!“
Träge hebt er seinen müden Blick, fischt ein dickes Polsterkuvert aus seiner Ablage, dreht sie mit einem Finger auf der glatten Holztischplatte und schiebt sie zu mir.
„Frau Müller, schön Sie zu sehen“, schnauft er schwer und in seiner geteerten Lunge rasselt es. „Leben Sie sich gut ein, ja?“, fragt er kurzatmig, streicht über sein stoppeliges Kinn und sieht mich zum ersten Mal richtig an.
Ich nicke vorsichtig und will gerade etwas sagen, als er mit dem Finger auf den Umschlag tippt.
„Der ist für sie. Ich bräuchte da ihre Hilfe. Die anderen Lehrer haben ja alle keine Zeit, keine Zeit …“
Nervös horche ich auf und das mulmige Gefühl in meinem Magen verstärkt sich.
„Wie Sie vielleicht mitbekommen haben, wechselt Herr Röder morgen an eine andere Schule. Selbstverständlich haben wir einen Nachfolger für seinen Geographie-Unterricht, selbstverständlich. Nur für sein, nennen wir es mal, Coaching schwieriger Schüler, dafür haben wir niemanden. Niemanden, außer Ihnen. Viel Erfolg!“ Er richtet sich auf, grinst hinterlistig und versucht zu lachen, erstickt jedoch fast daran.
„Wie, Moment bitte! Was für schwierige Schüler?“
„Drei. Drei Jungs, aus der Abschlussklasse. Herr Röder hat viel Zeit damit verbracht, ihr Verhalten, nun ja, zu korrigieren.“
„Zu korrigieren?“
„Ja. Nun ja. Verbessern. Daran arbeiten.“
Ich schlucke und nicke. Woran arbeiten? Meine Hände schwitzen. Aber so schlimm kann es ja nicht sein, rede ich mir Mut zu. Ein paar kleinere Vergehen, typisch Teenager eben, das wird es sein.
„Es ist bedauerlich, dass wir uns das eingestehen müssen. Aber Herrn Röders Züchtigungsmethode war nicht sehr effektiv“, gesteht der Direktor etwas kleinlaut und reibt sich seine faltige Stirn.
„Die Drei schaffen es einfach immer wieder, in Schwierigkeiten zu geraten. Und dieses Mal – nun, dieses Mal ist es noch schlimmer als jemals zuvor.“
Angespannt atme ich ein und schaue ich fragend an.
„Ja, nun“, fährt er fort, „eine Schülerin hat die Drei der sexuellen Belästigung bezichtigt. Da man jedoch keine Beweise finden konnte, wurde der Fall ad acta gelegt. Nur, so wie ich die Jungs kenne, wäre es ein großer Fehler, sie jetzt einfach so davon kommen zu lassen.“
Herr Schwarz schnalzt mit der Zunge, um seine Abscheu zu zeigen. „Und hier kommen Sie ins Spiel. Sie übernehmen die Drei ab jetzt. Herr Röder hatte jeden Mittwochnachmittag eine Sitzung mit ihnen. Seine Protokolle finden Sie in dem Ordner hier.“
Bereits auf der ersten Seite befindet sich eine schier endlos lange Liste ihrer Vergehen: Schwänzen, Abschreiben, Rauchen, Schlägereien, Vandalismus …
„Das, was sie hier finden, ist momentan nebensächlich. Sie kümmern sich ausschließlich um die Sache mit der sexuellen Belästigung. Bringen Sie die Jungs zur Vernunft!“
Ich nicke zaghaft.
„Gut, das wäre dann alles für heute. Sie können jetzt gehen. Auf Wiedersehen.“
„Auf Wiedersehen“, murmle ich wenig zuversichtlich.