Читать книгу Über Goethes Hermann und Dorothea - Victor Hehn - Страница 5
Hermann und Dorothea.
ОглавлениеVon allen Dichtungen Goethes ist keine, wenn wir den Werther ausnehmen, gleich anfangs von der Nation mit so allgemeinem Beifall aufgenommen worden, als Hermann und Dorothea. Der Faust, der jetzt vielleicht unter den Goetheschen Werken das populärste ist, auch im Auslande, gewann sein Ansehen erst allmählich und wohl erst in der späteren Gestalt, in der er zur Zeit der romantischen Schule im Jahre 1808 neuvermehrt in zweiter Auflage erschien. Hermann und Dorothea war dem Stoffe nach so deutsch und so menschlich ansprechend und zugleich eine so durchsichtige und vollendete Kunstgestalt, daß das Gedicht sowohl die Menge, die nur nach dem Stoffe urteilt, als den gebildeten Kunstsinn, dem nur die Form, die künstlerische Behandlung gilt, zur Bewunderung hinriß. Schiller erklärte, nachdem er Hermann und Dorothea gelesen, dies Gedicht für den Gipfel der Goetheschen, ja aller modernen Kunst. Wilhelm von Humboldt knüpfte in einem eigenen Buche, das bald nach Hermann und Dorothea unter dem Titel »Aesthetische Versuche« erschien, an dies Gedicht eine ausführliche Erörterung allgemeiner ästhetischer Prinzipien. Auch August Wilhelm Schlegel nannte in einer eigenen Beurteilung Hermann und Dorothea ein vollendetes Kunstwerk im großen Stil, ein Buch voll goldner Lehren der Weisheit und Tugend. Mit gleicher Bewunderung äußern sich neuere Kritiker. Hermann und Dorothea, sagt Hillebrand, der ganz kürzlich eine vortreffliche Geschichte der deutschen Nationalliteratur von Lessing bis auf die Gegenwart verfaßt hat, Hermann und Dorothea ist ein Bibelwerk deutscher Religion und Tugend. Und Gervinus meint, wenn jetzt ein alter Grieche wieder auferstünde, so wäre in der ganzen neueren Literatur Hermann und Dorothea das einzige Gedicht, das wir ihm ohne Verlegenheit anbieten dürften. Auch Rosenkranz hält wie Humboldt und Gervinus Hermann und Dorothea in künstlerischer Hinsicht für das vollendetste von Goethes Werken. Goethe selbst hatte eine besondere Vorliebe für dasselbe: er konnte es, wie er in den Tag- und Jahresheften erzählt, nie ohne Thränen der Rührung vorlesen.
Ein ähnliches Urteil spricht unser eigenes Gefühl: wir haben alle das Gedicht, das uns hier beschäftigen soll, gelesen und genossen. Dennoch aber erhöht diesen Genuß Mitteilung und klares Bewußtsein seiner Quellen; die Wirkung, die ein schönes Gedicht auf uns macht, strebt von selbst nach einem angemessenen Ausdruck, und da ein wahrhaftes Kunstwerk, wie Hermann und Dorothea, immer halb unbewußt von dem künstlerischen Genius geschaffen ist, gleichsam eine Unendlichkeit von Absichten in sich birgt, so ist es zwar schwer, ein so beseeltes und ganz individuelles Gebilde treffend zu charakterisieren, gleichsam die Fäden seiner Textur aufzuwinden und den Eindruck, den es macht, kritisch in die einzelnen wirkenden Motive zu zerlegen; dennoch aber bietet es gerade durch seinen Reichtum der Auslegung und Betrachtung die verschiedensten Seiten dar und gibt der Aesthetik fruchtbare Gelegenheit, ihre allgemeinen Prinzipien daran zu messen.
Hermann und Dorothea ist ein Epos oder, wie Jean Paul es noch näher bezeichnet, ein episches Idyll. Wir werden also, um dem Gedicht seine Stelle, gleichsam seine substanzielle Heimat anzuweisen, im folgenden uns ausführlich daran erinnern müssen, welches das Wesen und die Gesetze der epischen Dichtung überhaupt sind; wir werden dann zu Goethe zurückkehren und finden, daß er durch eine einzige Gunst der Natur ganz zum epischen Dichter geboren war und daß das Wesen seiner Dichtung mit dem Wesen der epischen Dichtung auf das glücklichste zusammenfällt. Wir werden darauf zusehen, ob die Zeit und Nation, in welche der Dichter fiel, dem Epos günstig war oder nicht, welches sein Verhältnis zu den großen politischen Begebenheiten von damals und zu der ihn umgebenden nationalen Welt war, ob es leicht war hier einen epischen Stoff zu finden und ob der Dichter eine glückliche Wahl dabei getroffen. Wir werden dann weiter die Begebenheit selbst, die der Dichter uns erzählend vorführt, die Personen und Charaktere, die er in Handlung setzt, sowie die ganze Art der Darstellung und Behandlung näher ins Auge fassen. Auch die Diktion, der sprachliche Ausdruck, der Versbau gehört zur Charakteristik des Gedichts, sowie zum Schluß die Begleichung mit den beiden epischen Vorgängern unsres Gedichts in der deutschen Literatur, ich meine mit Klopstocks Messias und Voßens Luise dazu dienen wird, die Eigentümlichkeit und den Wert unsres Gedichts ins Licht zu setzen. Dies also der Faden, an dem unsre Betrachtung fortlaufen wird.
Die inneren Gesetze der epischen Poesie werden wir nirgends sicherer erkennen und in reinerer Gestalt wiederfinden können, als bei dem Vater aller epischen Poesie, dem alten Homer. Das glückliche Volk der Griechen war ja so künstlerisch und poetisch organisiert, daß bei ihnen die einzelnen Gattungen der poetischen Idee sich in naturgemäßer Stufenfolge eine aus der andern entwickeln und sich selbst ihre notwendige Form erschufen, so daß die inneren Momente des Begriffs nirgends so rein mit der Wirklichkeit, die Poetik mit der Geschichte der Poesie zusammenfällt. Goethe selbst hatte, indem er Hermann und Dorothea dichtete, den Homer als Vorbild vor Augen und so ruft er eben mit Bezug auf seinen Hermann:
Denn Homeride zu sein, auch nur als letzter, ist schön.
Wir werden also, indem wir die Grundzüge der epischen Poesie entwerfen, dies immer im Hinblick auf Homer thun.
Epos, Wort, Sage ist die Poesie im Kindheitsalter der Völker, in den Anfängen der Geschichte. Die epische Poesie blüht in jener Morgendämmerung, wo ein Volk schon aus der Wildheit und Stumpfheit des ersten Naturdaseins zum Geiste erwacht ist, wo aber die geistigen und sittlichen Mächte noch nicht als etwas Bewußtes, klar Erkanntes und als eine abgesonderte feste Gewalt dem Menschen gegenüberstehen, sondern dieser auf ganz naive Weise mit dem sittlichen Gebot noch eins ist. Es gibt in dieser Periode zwar schon ein Staatsleben, aber noch nicht in Form bestimmter Gesetze und fester Rechte, die die Freiheit des Einzelnen zügeln. Jeder trägt vielmehr die politische Sitte in seiner eignen Brust und, indem er ihr folgt, weiß er nicht, daß es anders sein könnte. Gesetz und Empfindung sind noch nicht geschieden und die Empfindung ist es eben, die den politischen Zustand geschaffen hat. So ist Agamemnon zwar König, aber diese Herrschaft beruht auf keinem geschriebenen Gesetze. Wenn er den besten Anteil von der Beute erhält, so versteht sich dies bei jedem von selbst. An welchem Punkte seine Macht aufhört und die der Aristokratie, der Geronten und Basileis beginnt und die letztere wieder durch die Volksversammlung beschränkt wird, dies ist nicht durch feste Satzung bestimmt, sondern durch das Allgemeingefühl der Einzelnen von selbst gegeben. Eine durch Reflexion bestimmte, durch Beratung zu stande gebrachte geschriebene promulgierte Verfassung gibt es nicht; die politische Ordnung hat keinen andern Boden als die unbefangene Gesinnung aller. Ebenso ist auch das Recht und die Rechtspflege nicht eine für sich bestehende Welt; die Bestimmungen derselben sind schwankend; es hat keine andre bindende Form, als die ihm durch das unmittelbare Volksleben, durch das Rechtsgefühl und den Billigkeitssinn gegeben wird. Hat einer z. B. einen Mord begangen, was bei dem frischen Dasein der homerischen Menschen nichts Seltenes ist, so sucht er die Familie des Getöteten durch eine Buße zu versöhnen oder er verläßt fliehend die Heimat: eins oder das andre macht ihm die Sitte zur Pflicht. Streiten zwei um ein Gewicht Goldes, so bildet das Volk im Freien einen Kreis, die Greise als Richter sitzen auf erhöhten steinernen Stufen, das Szepter als Zeichen richterlichen Ansehens und erfahrener Weisheit in der Hand: hin und her wird gestritten, das Volk fällt von beiden Seiten schreiend ein, die Herolde gebieten Ruhe; endlich geben die Greise nach eigenem Sinne und unmittelbarem Wahrheitsgefühl die Entscheidung. So ist auch das Kriegswesen der homerischen Zeit ohne äußerlich zwingende Norm und gestaltet sich aus dem Grunde des in allen Teilnehmern lebenden kriegerischen Sinnes. Keine Disziplin braucht wie in späteren Zeiten die widerstrebende Willkür der Individuen zu zügeln; wenn sich die Reihen fest zusammenschließen, wenn ein Kämpfer dem andern hilft, wenn um den Leichnam des Gefallenen die Ueberlebenden rettend und schirmend sich scharen, so geschieht dies nicht nach Befehl, sondern durch eine innere Nötigung, die jeden von selbst drängt. So handelt in diesem epischen Zeitalter das Individuum ganz naiv und unbewußt nach dem Zuge seiner Menschlichkeit; es ist von dem Volksgeist in allem, was es thut und fühlt, bestimmt und in den allgemeinen Mächten, die das Leben und die Sitte bilden, völlig enthalten. Es sind mit einem Worte objektive, substanzielle Menschen. So wie nun in einer späteren Periode der Geschichte die Trennung des Subjekts von der Substanz vor sich geht, treten wir aus der spezifisch epischen Welt heraus. Das Gemüt und die Gesinnung des Einzelnen sind nicht mehr im Einklang mit dem Geltenden: was früher bei seinem Thun eine innere Notwendigkeit war, das steht ihm jetzt gegenüber als ein moralisches Gebot; es gibt feste Rechte und Gesetze, die sich dem Gefühl des Einzelnen als Schranke entgegensetzen; der Staat tritt auf als eine bestimmte Verfassung mit besondern Satzungen, geschaffen durch Gesetzgeber; letzterer freilich faßt auch nur die geltende nationale Empfindung in Sätze und Formeln, dennoch ist schon diese Form des geschriebenen Gesetzes die erste Stufe der Reflexion; das poetische Gesamtleben der episch-heroischen Zeit wird zu einer prosaischen Ordnung der Dinge. Wird nun das in sich gebrochene Gemüt, das aufgehört hat ein totales zu sein, in sich selbst zurückgetrieben, um dort in subjektiven Empfindungen und Betrachtungen zu weilen, so gibt diese Beschäftigung des Subjekts mit sich selbst der lyrischen Poesie Entstehung; drängt es umgekehrt den Zwiespalt mit der bestehenden Welt nach außen und sucht praktisch und handelnd sein Inneres in der objektiven Welt geltend zu machen, so führt dieser Kampf individueller Zwecke und Charaktere mit den allgemeinen objektiven Mächten zur dramatischen Poesie.
Wie aber in der Periode des Epos die Kräfte des Menschen überhaupt noch in Einheit sind, so ist auch sein sinnliches Dasein noch nicht von dem geistigen unterdrückt. Die homerischen Helden sind ganze volle, zugleich herrlich sinnliche und edel geistige Menschen, stehen im engen Verkehr mit der äußern Natur, und die physischen Bedürfnisse und deren Befriedigung gelten ihnen eben so sehr, als wir sie zu verhüllen streben. Essen und Trinken ist in ihrem Lebenslauf keine Nebensache, und die äußeren Verrichtungen, die dazu nötig sind, stehen nicht unter ihrer Würde. Der Held schlachtet selbst seinen Ochsen und zerlegt und reinigt ihn und brät das Fleisch; der Sessel, auf dem er sitzt, das Bett, in dem er schläft, die Matten, Segel und Ruderbänke des schnellen hohlen Schiffes, mit dem er übers Meer gekommen, sein Helm, sein Schild, sein Panzer und der Speer, mit dem er sich zur Schlacht wappnet, der Wagen, mit dem er über die troischen Gefilde eilt, die Zügel, die Pferde — alles dies gehört wesentlich zum Kreise, in dem seine Persönlichkeit gegenwärtig ist. Und indem er in diese sinnlichen Beschäftigungen und physischen Bedürfnisse sein ganzes Ich hineinlegt, werden diese Verrichtungen selbst geadelt und gleichsam menschlicher. Für uns arbeiten Maschinen und Fabriken; wir beteiligen uns an den sinnlichen Geschäften nur halb, unser edleres Selbst ist nicht dabei zugegen; Diener thun es für uns hinter unserm Rücken; Handwerker verfertigen unser Gerät; die Speisen kommen uns künstlich bereitet schon zu und diejenige Klasse, die sich mit jenen Verrichtungen abgibt, hat dafür den geistigen Adel eingebüßt, den die homerischen Menschen bei all ihrem Thun bewahren. So macht es jetzt einen rührenden Eindruck auf uns, wenn Penelope, die Fürstin von Ithaka, und Helena, die Gattin des Königssohnes Paris, selbst ihr Gewand weben, daß Nausikaa selbst am Meeresufer mit ihren Mägden ihre Kleider wäscht und trocknet. Wenn von dem einen Helden gerühmt wird, daß die Beredsamkeit von seinen Lippen geflossen wie süßer Honig (ein sehr geistiges Lob), so preist der Dichter dafür andre wegen ihrer mächtigen Stimme, wegen der Schnelligkeit ihrer Füße und der Kraft, mit der sie große Steine aufheben und fortschleudern, also wegen sinnlicher Eigenschaften. Das Ansehen des Königs stützt sich auf die Gewalt des Heldenkörpers, durch die der Herrscher dem Volk überlegen ist. Der Kampf selbst ist ein körperlicher: Mann trifft auf Mann. Voll schöner symbolischer Gebräuche ist die Kriegführung, die Bestattung, der Opferdienst, öffentlich ist die Volksversammlung, sie bewegt sich in lauter sichtbaren und hörbaren Formen. So gilt das Recht der Sinnlichkeit unverkürzt und das Sittliche und Physische verschmelzen mit gleicher Macht zum Bilde einer totalen, in sich einigen und ungebrochenen Menschennatur.
Auf diesem Boden also entsteht das Epos und damit ergeben sich alle Eigenschaften dieser poetischen Gattung von selbst. Wenn der Held abends von seinen Thaten ruht, wenn nach beendigtem Mahle das Verlangen nach Speise und Trank gestillt ist, dann tritt der Rhapsode auf und sein Lied ist eine ideale Reproduktion des Erlebten und Vollführten, Erzählung geschehener Thaten und Begebenheiten, Erinnerung an eine nähere und fernere Vergangenheit. Solche Gesänge tönen bei jedem Fest, unter jedem Dache, überhaupt wenn die Mußezeit eingetreten ist. Sie sind nicht willkürlichen und individuellen Inhalts; nicht der Einzelne hat sie mit diesem bestimmten Geiste gefüllt und in dieser bestimmten Form gestaltet; er ist ein Organ, gleichsam der Mund des Volkes, das lautwerdende Allgemeingefühl. Das Nibelungenlied, sagt Grimm, hat sich selbst gedichtet. So haben diese Rhapsodieen einen inneren Zug zusammenzufließen; zugleich bildet sich die anfangs schwankende Sage durch vielseitigen Austausch zu einer festen Gestalt. Das so entstehende epische Gedicht wird in einer Periode, wo überhaupt mehr die allgemeinen Lebensgesetze gelten als das Individuum, das ganze nationale Leben umfassend spiegeln; es wird ein Abbild der Thaten und Gesinnungen des Volkes überhaupt. Das Volk selbst dichtet das wahre Epos und spricht sich darin mit allen seinen Eigentümlichkeiten aus. Das epische Gedicht erzählt uns daher keine vereinzelte That, sondern die Bewegung, die Züge und Kämpfe nationaler Massen: in ihm herrscht nicht eine einzelne Empfindung oder Leidenschaft oder eine begrenzte Herzens- und Lebenssituation wie im lyrischen Gedicht oder im Drama, sondern es umschließt die volle Totalität einer Nation und einer Zeit. Dadurch nur wird auch das Epos zum Hauptbuche, zur allgemeinen Quelle der Erziehung und Bildung oder, wie Hegel treffend sagt, zur Bibel des Volkes. So blieb Homer für immer der heilige Lehrer der Griechen, dessen Aussprüche wie Entscheidungen eines Gottes galten, auf den sich jeder berief, der das Fundament wurde, auf welches sich die gesamte poetische, religiöse und sittliche Bildung der Griechen auferbaute. Homer schuf nach Herodot den Griechen ihre Götter, die Tragiker entnahmen ihm die Fabel ihrer Stücke, die Philosophen maßen ihre Ansichten an ihm; Grenzstreitigkeiten wurden nach seinen Aussprüchen geschlichtet; Lykurg legte ihn der altdorischen Ordnung, die er befestigte, zu Grunde; in Athen war Homer das Erziehungsbuch der Jugend. Eine ähnliche epische Bibel hat fast jede bedeutende Nation in einem gewissen Stadium ihrer Geschichte hervorgebracht: die Indier haben ihre großen Epen wie die Griechen ihren Homer; so erzeugten die Italiener gleichfalls am Anfangspunkt ihres nationalen Werdens ihren Dante, für dessen Erklärung sogar eigene Lehrstühle an den Universitäten errichtet wurden; so die Portugiesen ihren Camoens, der ebenfalls in einer Periode des Aufschwunges der portugiesischen Volksmacht lebte und diesen Aufschwung, nämlich die Entdeckungsfahrten nach Indien in seine Lusiaden aufnahm; und nicht anders wurde im deutschen Mittelalter Wolfram von Eschenbachs Parzival der treue und vollständige Spiegel des damals herrschenden mystischen Rittertums und wurde daher auch das am allgemeinsten verbreitete Buch, Genuß und Vorbild für alle. Manchen Bibeln fehlt die epische Form, z. B. dem alten Testament, wo auch niedergelegt ist, was das jüdische Volk an Sage und Geschichte, an Poesie und Nachdenken besaß, obgleich im Alten Testament das Religiöse zu sehr vorherrscht, als daß wir es für ein wirkliches Epos erklären könnten. Ebenso verhält es sich mit den religiösen Grundbüchern der Perser und Araber, dem Zendavesta und dem Koran. Eben aber weil das Epos auf diese Weise den ganzen geistigen Schatz eines Volkes in sich schließt, rührt es in seiner reinsten Gestalt auch nicht von einem einzelnen Dichter her, sondern ist aus Rhapsodieen, Volksgesängen, epischen Bruchstücken aller Art zusammengeflossen. Wie Homer sind auch die Nibelungen und Gudrun, auch das finnische Epos auf diese Weise entstanden. Hegel widersetzt sich zwar mit Nachdruck der Wolfschen Hypothese, wonach die Ilias und Odysse aus gesonderten Teilen erst später zusammengesetzt worden: aber er thut dies nicht aus Gründen historischer Kritik, sondern weil er mit Recht glaubte, die Einheit sei einem Gedicht unerläßlich und ein wahrhaftes Kunstwerk müsse ein geschlossenes Ganzes bilden. Allein die Einheit braucht deshalb nicht verloren zu gehen: es kommt durch die Gleichartigkeit des in der epischen Zeit alle Einzelnen beherrschenden Volksgeistes und seiner Sage in die getrennten Bruchstücke von selbst Einheit des Tones und lebendiger Zusammenhang; ferner ist ja das Epos in der Gestalt, wie es den späteren Geschlechtern überliefert wird, das Werk eines Ordners und Zusammensetzers (Diaskeuasten), der nach einem bestimmten Gedanken verfährt, welcher in den Bruchstücken selbst enthalten ist. So konnten die Ilias und Odyssee, obgleich sie nur eine Konkretion alter Heldengesänge und epischer Hymnen sind, dennoch den strengen Zusammenhang haben, dessen Fugen nur das geschärfte kritische Auge an manchen Stellen entdeckt. Umgekehrt fehlt es in manchen reflektierten späteren Epen, obgleich sie von einem Dichter herstammen, an der nötigen inneren Gleichartigkeit. Die Aeneis des Virgil z. B. besitzt die künstlerische Einheit nicht; die Geschichte von der Dido z. B. fällt aus dem epischen Ton heraus und ist eine ganz tragische Episode. Auch Klopstocks Messias ist, weil der Dichter ungefähr zwanzig Jahre daran arbeitete, sehr disparat in seinen einzelnen Teilen. Gerade wenn das Gedicht das unmittelbare Produkt des naiv dichtenden Volkes ist, wird es in sich zusammenstimmen, so lang es auch sei. Das echte Epos wird immer das Ansehen haben, als wenn das Volk selbst mit dunklem Triebe nach Selbstdarstellung es geschaffen: der Einzelne, der daran gearbeitet, verliert sich; das Nibelungenlied hat sich selbst gedichtet, es ist erwachsen. Daher sagt Jakob Grimm sehr wahr: es gibt gute und schlechte lyrische Gedichte, gute und schlechte Dramen, aber dem echten Epos steht nur ein falsches gegenüber. Dies ist der Mangel z. B. bei Virgil: er ist ein künstlicher gelehrter Dichter, der an die Wahrheit der Dinge, die er erzählt, selbst nicht glaubt; er ist in dem Bewußtsein der von ihm geschilderten Welt nicht befangen, schafft mit Absicht, ahmt nach und stutzt seine Rede mit rhetorischen Blumen auf. Nur in einer Hinsicht zeigt er sich als wahrhaft epischen Dichter: auch ihn nämlich durchdringt wie das ganze römische Volk das Bewußtsein der Herrlichkeit dieses Volkes, seine göttergleiche Größe, der Stolz und die Pracht der Weltherrschaft. An solchen Stellen ist auch er nur ein Ausdruck seines Volkes, die Begeisterung ist keine künstliche und die Worte strömen ihm zu, daher er auch fünf Jahrhunderte hindurch in allen Schulen bei den Römern der gefeierte Liebling blieb.
Indem wir nun mit Recht das Epos für das poetische Totalbild eines Volkes und einer Zeit ansehen, ist dies nicht so zu verstehen, als solle das Gedicht ein ethnographisches Gemälde sein oder eine geordnete Schilderung der damals herrschenden Sitten, wie sie der Historiker unternimmt. Vielmehr fordert das Gesetz aller Poesie auch beim Epos, daß der allgemeine Geist sich zu einer bestimmten epischen Begebenheit zusammenziehe und sich individualisiere, und daß nicht das ganze Volk oder gar die Menschheit, sondern ein bestimmter Held Subjekt derselben sei. Das nationale Leben wird uns im Epos in einer einzelnen begrenzten That vorgeführt; es kommt durch eine bestimmte Situation, durch bestimmte Zwecke und Handlungen als ein konkretes Individualbild zur Anschauung. Einen Konflikt und eine Kollision verlangt auch das Epos, aber dieser Konflikt ist von dem dramatischen sehr verschieden. Im Drama stehen sittliche Mächte in Kollision; das Subjekt, das sich auf dem Punkte ihres Zusammenstoßes befindet, geht zu Grunde. Oder das Individuum macht sein individuelles Pathos, den inneren Drang seiner Leidenschaft der objektiven Ordnung der Dinge gegenüber geltend; es kreuzt mit seinen subjektiven Zwecken die des Schicksals und der sittlichen Notwendigkeit und macht untergehend die tragische Erfahrung seiner Endlichkeit. In der epischen Welt aber gibt es noch keinen so tiefen Zwiespalt; der Lauf des Schicksals tritt dem Streben des Einzelnen nicht entgegen, sondern hebt und fördert es. Die epische Kollision vernichtet daher den Frieden des Menschen nicht; ohne die harmonische Entfaltung des Volksganzen zu stören, bringt sie nur eine belebende Bewegung hervor. Eine passende epische Kollision ist daher der Krieg, in welchem die Nation ihre Kräfte übt und Wachstum und Entfaltung beschleunigt fühlt; nur darf der Krieg kein innerer, im Schoße des Volks selbst ausgebrochener sein, kein Dynastieenkampf wie bei Shakespeare, kein Bruderzwist um das Erbe des Thrones, denn dann stehen wir auf dem tiefen Boden der dramatischen Kollision. Auch Entdeckungszüge wie die der Portugiesen bei Camoens, eine Kreuzfahrt wie bei Tasso sind ein schöner epischer Stoff: auch dort türmen sich die Hindernisse, die Gefahren nur auf, um überwunden zu werden, und der Widerstand der Wirklichkeit dient nur dazu bei jedem Schritte sich dieser Wirklichkeit vollständiger und glücklicher zu bemächtigen. Auf diesem allgemeinen Boden epischer Kollision tritt nun die ganz individuelle epische Begebenheit auf, und in ihr bewegen sich die epischen Charaktere. Auch der Charakter des epischen Helden schwebt wie die Begebenheit in der Mitte zwischen der nationalen Basis und seiner individuellen Besonderheit. Er ist, was jeder sein kann, was jeder im Grunde ist: dies in ihm Waltende ist nichts andres als die allgemeine Lebensgrundlage, die alle trägt. Sein Streben ist kein Kampf, weder mit dem Schicksal noch mit der ihn umgebenden Volksnatur. Er will nicht die Welt umgestalten und etwas erst noch in seinen Gedanken Vorhandenes realisieren, sondern in der Realität selbst wirkend, folgt er dem Zuge der Dinge mehr in ein äußeres Geschehen verflochten als durch wirkliche That, die immer in dem Innern des Subjekts entspringend in der Welt der Objekte sich durchsetzt, die Natur nach Zwecken seiner Freiheit umformend. Im Epos ist daher kein verwickeltes psychologisches Getriebe, kein verstecktes Motiv; die Handlungen fließen aus dem Instinkt des Ganzen. Die erzählte Begebenheit strömt ruhig an uns vorüber; der äußere Vorgang, Umstände, Zufälle, Ereignisse, dasjenige, was dem Helden begegnet, nicht der Held selbst als eine innerlich von Absichten bewegte oder von streitenden Motiven aus dem Gleichgewicht gebrachte Persönlichkeit ist im Epos das Wesentliche. Danach lassen sich alle geschichtlichen Charaktere in epische und dramatische einteilen. Der epische Held ist nur eine Konzentration der Nation und der Zeit; was er will und fühlt, ist Wille und Gefühl aller. Er ist daher immer glücklich, er ist der Günstling des Geschickes und die Götter sind mit ihm. Die Macht der Umstände trägt ihn von Erfolg zu Erfolg, Hindernisse und Hemmungen weichen, sein eigenes Innere ist offen, harmonisch bewegt; keine individuelle Willkür reißt ihn los von der Lebensgemeinschaft mit allen übrigen, und, indem er ein umfassendes Werk mit Größe vollführt, ist diese Vollführung vielmehr das bewußtlose Werden der Dinge selbst. Bei den tragischen Charakteren, die der reine Gegensatz der epischen sind, ist die religiöse Harmonie zur Empörung geworden. In Zeitaltern vorgeschrittener Zivilisation isoliert sich der begabte weiter blickende Genius; er fühlt der stumpfen Masse gegenüber höhere Einsicht, überwiegende Kraft in sich; er bildet den ersten Strahl des kommenden Zeitalters; in dem Kampf gegen das Bestehende fällt er als Opfer; der zähen Gewohnheit, der Beschränktheit gegenüber verblüht er langsam; oder er überwindet den Widerstand, steigt zum höchsten Glanz empor und will die Welt nach seinen Zwecken zwingen. Aber da ereilt ihn nach dem tiefsinnigen Ausdruck der Alten der Neid der Götter, die nicht dulden können, daß ein Sterblicher sich mit ihnen messe und das Steuer der Weltregierung ihren Händen entreiße. Indem er sein individuelles Pathos zum alleinigen Gesetz macht, stört er den Gesamtkomplex der sittlichen Mächte, die in gegenseitiger Durchdringung das Leben bilden; seine Kraft und Größe nach einer Seite ist seine Schwäche nach der andern; die durchbrochene Ordnung stellt sich wieder her, die Massen reagieren gegen ihn und, wo er am höchsten stand, stürzt er am tiefsten; in dem Augenblick, wo seine Pläne dem Gelingen am nächsten waren, sinken sie in Staub. Die Götter, die den epischen Helden lieben, hassen und vernichten den tragischen. Prometheus ist der wahre Typus tragischer Helden. Cäsar, Xerxes, der in seinem Uebermut den Hellespont geißelte, Ajax, den Pallas ins Verderben stürzt, sind tragische Charaktere, die daher auch von den Dichtern, von Shakespeare, Aeschylus und Sophokles gewählt wurden. Manche Figuren der Weltgeschichte tragen, je nachdem sie aufgefaßt werden, mehr den tragischen oder den epischen Charakter, z. B. Napoleon. Im ersten Stadium seines Lebens, als Obergeneral in Italien und Aegypten ist er der epische Held, den die Schwinge des Jahrhunderts und die Strömung der Dinge glück- und sieggewährend trägt; seine Thaten sind ein sonnenbeglänztes Epos; allmählich isoliert er seine Zwecke; er verliert sich in eine immer kühnere und einsamere Höhe; die objektive Welt mit allen endlichen Bedingungen und Verhältnissen, die Völker mit ihrer nationalen Denkart werden ihm nur der gleichgültige Stoff, dem er die Form seines idealen Willens aufprägen will; da reagiert eben diese reale Welt, die sich von keinem Einzelnen aus dem Schwerpunkt rücken lassen will; die Katastrophe, d. h. das plötzliche Umschlagen erfolgt und den Vermessenen trifft ein erschütterndes Verderben. So ist auch bei Alexander dem Großen, bei Kolumbus eine doppelte Auffassung möglich: epische Helden sind beide, insofern sie nur Organ des Zeitgeistes sind; der eine öffnet den Orient, der andre den fernen Occident; beide sind von dem allgemeinen Streben der beengten Völker nach Erweiterung des Weltbewußtseins zu glücklichem Ziele getragen; in das Leben beider mischt sich aber bald das tragische Unglück, dem der eine in der Blüte der Jugend, der andre nach einer Kette von Kränkungen und Mißgeschicken verfällt.
Die letzte Betrachtung, die wir dem Epos zu widmen haben, betrifft, nachdem wir die epische Substanz bezeichnet, die epische Haltung, die Weise der poetischen Behandlung im Epos. Diese wird die einfache Konsequenz von jener sein, und auch darin kann uns Homer das Muster sein. Da das Epos in jene frühe Zeit fällt, wo die fühlende Seele in unmittelbarer Einheit mit der Welt ist und der Wille noch keinen Kampf mit den Naturtrieben zu bestehen hat, so wird auch die ganze epische Darstellung von jenem heitern Frieden und jener ungetrübten Harmonie überall getragen sein. Da ferner der epische Dichter von einer vergangenen Zeit nur erzählt, da, was er vorträgt, nur durch den stillen Sinn des Ohres vernommen wird und nicht wie im Drama in unmittelbar ergreifende Gegenwart tritt, so wird der Gemütsanteil ein milderer, die Stimmung eine freiere und der Sänger gewinnt Raum zu plastischer Entfaltung aller Seiten und Umstände, zu ruhiger Entwicklung und ebenmäßiger Anerkennung auch des Kleinsten und Geringfügigsten. Im Drama ist der Charakter der Personen gleichsam nur von einer Seite beleuchtet, insofern sie nämlich durch eine vorherrschende Leidenschaft, durch eine besondere Stellung zum System des Ganzen in den tragischen Kollisionsfall verwickelt sind. Das Epos aber hat nicht einen besonderen Gesichtspunkt, es beleuchtet die Persönlichkeit von allen Seiten, in allen Beziehungen und stellt den ganzen Menschen mit verweilender Ausführlichkeit als eine Totalität von Neigungen, Eigentümlichkeiten und Interessen vor unser geistiges Auge. Das Drama eilt unruhig durch eine Reihe von immer heftigeren Dissonanzen seinem Ziele entgegen; von Steigerung zu Steigerung drängt es der Katastrophe zu; der Zuschauer, zwischen Furcht und Hoffnung bewegt, in sich selbst geteilt und aus dem Gleichgewicht harmonischen Selbstgefühls gerissen, findet keine Ruhe als in dem endlichen Ausgangspunkt, wo die gewaltsame Spannung sich in ideales Mitleid auflöst und die Harmonie des vollendeten Kunstbaues uns die innere Versöhnung wiedergibt. Umgekehrt bleiben wir dem epischen Erzähler gegenüber immer in der Freiheit des Gemütes und in der allseitigen Integrität unsrer Kräfte. Statt wie im Drama den Gehalt heftig zusammenzudrängen, entfaltet er vielmehr das ganze Leben, die ganze Breite menschlichen Wirkens und Daseins mit allen Nebenumständen, allen Nebenstimmungen in gleichmäßig heller Beleuchtung. Seine freundliche Ansicht der Dinge gewährt auch dem Unscheinbarsten ein Dasein im Ganzen und er verweilt gern dabei. Mit göttlicher Unparteilichkeit und Unbefangenheit gibt Homer jedem Gegenstande, dem größten wie dem kleinsten seinen Namen und sein Recht; nachgiebig und milde hebt er jede zur Seite sich anschließende Beziehung hervor, sie mag wichtig oder unwichtig sein, und sich ganz hinter der von ihm geschilderten Welt verbergend läßt er alles und jedes sich in seinen eigensten Tönen aussprechen und nach seiner eigensten Form und Stelle in das reiche und mannigfache Bild einfügen. In dem weiten Umfang seines anschauenden Geistes und in der gleichmäßigen Wärme seiner Teilnahme ist nichts als störend, überflüssig oder unbedeutend ausgeschlossen. Er berichtet uns nicht bloß, wie seine Helden hassen, lieben und kämpfen, sondern auch, wie sie die Sohlen anlegen und über das Unterkleid den Mantel werfen; er zählt uns alle Stücke der ehernen Rüstung auf von den Beinschienen bis zum Haarbusch des Helms, ebenso alle Polster und weicheren wollenen Teppiche des Bettes; er folgt der Mahlzeit in allen ihren Teilen, die Helden waschen sich die Hände, sie erhalten alle gleiche Portionen Fleisch zugeteilt, die Herolde mischen den Wein mit Wasser und gießen aus dem Mischkessel jedem Gaste das Getränk in den kleineren Becher u. s. w. Treten im entscheidenden Moment der Schlacht zwei Kämpfer einander gegenüber, schon ist die Lanze gehoben, so hat der Dichter doch noch Zeit und heitere Seelenruhe genug uns mit den bisherigen Schicksalen des einen oder des andern bekannt zu machen, wo er bisher gelebt, wer seine Mutter und sein Vater gewesen, ja wie dessen Vater geheißen und wo und wie alt er gestorben sei. Ganz von dieser epischen Ruhe sind auch Homers Dialoge, die Wechselreden der Helden und der Götter unter einander durchdrungen. Sie mögen in heftiger Leidenschaft mit einander streiten oder sie mögen Befehle geben und empfangen oder prahlend mit einander im Wortkampf wetteifern oder in Todesnot um Rettung flehen oder forschen oder erzählen, immer ist es der langsame, ruhig strömende Fluß, der nirgends anhält, aber auch nirgends mit stürmischer Gewalt fortdrängt. Ein gutes Beispiel epischen Verweilens bildet die Stelle, wo die Amme Eurykleia beim Fußwaschen plötzlich ihren Herren, den als Bettler zurückgekehrten Odysseus an der Narbe am Knie erkennt. Es ist der Moment höchster Spannung: dennoch erzählt der Dichter nun ausführlich, wie Odysseus in der Jugend zu dieser Narbe gekommen, bei einem Besuch bei Autolykus auf dem Parnaß; die Eberjagd, auf der der Eber ihm die Wunde beibrachte, wird mit allen Einzelheiten geschildert; die dabei vorkommenden Reden werden mitgeteilt; endlich wird mit den Worten: »diese Narbe also erkannte die alte Amme« wieder eingelenkt. Wiederum als Patroklus getötet worden und Achilles die Waffen ergriffen, schwärmt er voll Wut und Vernichtungseifer auf dem Schlachtfelde: da trifft er auf den Lykaon, den Sohn des Priamus; ein Augenblick genügte, um den Unglücklichen zu verderben. Aber der Dichter schiebt ruhig diesen Augenblick noch auf: er erzählt uns zuerst, wie Achilles schon früher einmal den Lykaon in dunkler Nacht in des Vaters Weingarten überfallen; der Jüngling schnitt sich da mit scharfem Messer von einem Feigenbaum junge Ruten; diese Ruten sollten zu Wegweisern dienen; doch überfiel ihn nun dort unversehens der göttliche Sohn des Peleus. Aber er schickte den Gefangenen auf einem Schiffe über das Meer und verkaufte ihn ins schöngebaute Lemnos. Käufer aber war Euneus, Sohn des Jason. Von dort kaufte ihn ein Freund los, viel Gold gebend, Eetion der Imbrier, und schickte ihn nach Troja zurück in die göttliche Arisbe. Von dort heimlich entfliehend kam er ins väterliche Haus zurück. Daselbst war er elf Tage, sich des Umgangs seiner Lieben freuend, nachdem er Lemnos verlassen, am zwölften aber traf er wieder auf den Achilles. Jetzt also stehen wir wieder bei dem Moment wie vor jener Einschaltung. Aber noch fällt der tödliche Streich nicht. Achilles ist verwundert den nach Lemnos Verkauften wieder auf dem Kampfplatz vor sich zu sehen und jetzt folgt ein lautes Selbstgespräch von zehn Versen, in welchen Achilles ausruft: Fürwahr ich glaube, die von mir getöteten Troer kehren aus der Unterwelt wieder zurück; so habe ich diesen doch in die heilige Lemnos verkauft, aber das graue salzige Meer hat ihn nicht zurückhalten können und viele kommen doch wider ihren Willen im Meere um; aber nun will ich sehen, ob er, wenn er meines Speeres Schärfe erfahren, auch von da zurückkehren wird oder ob ihn die Erde bändigen wird, die ja auch den Kräftigen bändigt. Jetzt beschreibt der Dichter, wie Lykaon im Gemüte nicht sterben gemocht, in welcher Stellung Achilles ihm gegenüber gestanden, wie Lykaon darauf bittend sich ihm genaht, und nun folgt in mehr als zwanzig Versen diese Bittrede, in der Lykaon wieder Zug für Zug erzählt, wie er in dem Obstgarten gefangen worden, für hundert Ochsen nach Lemnos verkauft sei, elf Tage zu Haus zugebracht u. s. w. Ich sehe, sagt er, daß meine Mutter mich nur zu kurzem Leben geboren hat, die Laothoe, die Tochter des greisen Altes, welcher über die kriegerischen Leleger herrscht in der hohen Pedasos am Flusse Satnioeis. Dieses Altes Tochter hatte Priamus wie viele andre: wir waren von der Mutter zwei Kinder, du wirst sie wohl beide töten, den einen hast du schon getötet, den göttergleichen Polydorus u. s. w. Hierauf antwortet Achilles seinerseits ausführlich in fast ebenso langer Rede, worin er den Tod des Patroklus anführt, und nun erfolgt die Tötung, deren nähere Umstände gleichfalls genau angegeben werden. Solche Beispiele des wahrhaft epischen Tones ließen sich aus Homer unzählige anführen. Der Dichter folgt aber in der Reihe der Zeitmomente nur dem Gesetz poetischer Anschaulichkeit und, wenn er manchmal das Ausgedehnte zusammenfaßt, so entfaltet er meistens das, was sich in der Wirklichkeit zusammendrängt, z. B. wenn sich eine spannende Lage, ein heftiges Gefühl in unsrer Brust oft nur in einem kurzen Ausruf oder in einem einzigen Wort Luft macht, zu voller Darlegung des darin liegenden mannigfaltigen Gehaltes. Der epische Dichter gleicht darin ganz dem bildenden Künstler: auch dieser hält einen im Zeitflusse vorübergehenden Moment fest und stellt ihn mit festen und vollen Marmorumrissen vor unsre Anschauung, so daß wir seinen ganzen Inhalt entfaltet und bleibend vor uns haben. Daher nun auch die Neigung des epischen Dichters zu Episoden. Im Drama duldet die Angst der Erwartung kein Abspringen, es folgt immer in strenger Linie Schlag auf Schlag dem Endziele, aber das Epos ist der wahre Boden der mannigfaltigsten Episoden. Der Dichter wie der Zuhörer folgen in ihrem inneren Frieden jedem Zuge der sich darbietenden Gelegenheit; wo ein Seitenpfad sich öffnet, wird er harmlos betreten. Homer macht nichts parteiisch, weil er das Recht eines jeden Dinges kennt und bereit ist es ihm zu geben. Seine Darstellung will weder loben noch tadeln, sondern nur sich selbst genugthun. Ganze Gesänge der Ilias, kann man sagen, sind nur Episoden, so der sehr schöne fünfte, der von der Tapferkeit und den Thaten des Diomedes handelt; in den Gesängen aber sind die unzähligen kleineren Digressionen wieder, so zu sagen, für sich bestehende Epen im kleinen, Teilgebilde, die ein eigentümliches Leben führen und nur locker und lose mit dem Hauptgange zusammenhängen; polypenartig wächst Epos aus Epos hervor. Jeder Punkt in dem großen Gebilde ist für sich belebt; jeder Satz hat seine eigne Seele und ist um seiner selbst willen da; und daher auch die lose Wort- und Satzverknüpfung überhaupt, die bis in die kleinste Form von dem epischen Prinzip durchdrungen ist. Auch die häufigen ausgeführten Gleichnisse, die alle epischen Dichter dem Homer nachgebildet haben, sind von diesem Geiste ruhigen Verweilens bei Nebenvorstellungen eingegeben: indem dem Dichter bei irgend einer Situation eine ähnliche aus einem andern Gebiete einfällt, verweilt er bei dieser zweiten, die unter der Hand zu einem eigenen Ganzen wird und ein selbständiges Interesse gewinnt, was sich auch in dem Uebergange aus dem abhängigen Nebensatze in einen Hauptsatz zeigt, der bei homerischen Gleichnissen so oft vorkommt. Dieselbe epische Ruhe zeigt sich bei den so häufigen Wiederholungen: wenn bei Homer ein Bote eine Meldung zu bringen hat, so wird er den Auftrag gewiß, so lang dieser sein mag, mit allen Nebenmotiven in denselben Worten wiederholen. Auch dies ist ja nur ein Zeichen jener göttlichen Geduld, die durch die ganze epische Welt waltet, jener zwar immer schaffenden und bildenden epischen Phantasie, die aber, eben weil sie solchen Reichtum im Schoße trägt, ganz wie die gebärende Natur selbst mit ihrem Erzeugen halb zurückhaltend zögert. Das Epos, sagt Herder einmal, muß langweilig sein: dies ist in dem Sinne wahr, als es allen dramatischen Drang, alle lyrische Erreglichkeit und Unruhe ausschließt. Aber das dadurch mangelnde lebhaftere Interesse ersetzt es durch die Sinnlichkeit, durch die Plastizität, durch das helle Licht und den ununterbrochenen greifbaren Umriß, womit es den anschauenden Sinn entzückt.
Wir haben uns scheinbar von Goethe und unserm Gedicht weit entfernt, aber in der That dadurch die wichtigsten Anhaltspunkte zu seiner Beurteilung und Charakterisierung gewonnen.
Goethe war seiner ganzen Naturanlage nach nicht bloß ein Dichter, sondern im besondern ein epischer Dichter nach den Merkmalen, die wir oben angegeben haben. Sein ganzes Leben ist ein großes episches Gedicht und verfloß in innerer und äußrer Harmonie unter dem stillen Bilden der Lebensschicksale. Eine Altersstufe löste mit unmerklichem Werden die andre ab und jede trug im vollen Walten des Naturgesetzes die ihr eigentümlichen Blüten und Früchte. Der Strom seines Lebens stockte und wirbelte nie, von feindlichen Hindernissen gehemmt; in sanften Windungen umging er den Fuß entgegentretender Felsberge. Goethe war immer glücklich und jedes Mißgeschick verwebte er ausgleichend in den großen Zusammenklang seines Lebens und der Natur. Wohl hatte auch er innere Kämpfe zu bestehen, Kämpfe voll tiefer Spaltung und Verfinsterung der Seele, denn er war ja ein Dichter, aber immer stimmte die reiche Heilkraft seiner Natur das gebrochene Gemüt wieder zur heitern Versöhnung mit der Welt und mit sich selbst. Immer in kindlichem Zusammenhang mit der Ordnung der Natur und in ihren stillen gesetzmäßigen Gang einstimmend konnte er daher zu der Tragödie, die die Kämpfe des Subjekts mit den objektiven Mächten oder den Konflikt der letzteren unter sich poetisch darstellt, sich nicht bestimmt fühlen. Ich fühle deutlich, schreibt er an Schiller, daß der bloße Versuch eine wahre Traggödie zu schreiben mich innerlich zerstören würde. In der epischen Welt dagegen, die von jenem Leiden der subjektiven Freiheit nicht berührt wird, fand er den Frieden wieder, den die Natur und das rein und einfach Schöne gewährt. Von Shakespeare entfernte er sich, je länger er lebte, immer mehr; zu Homer fühlte er sich immer mehr gezogen; er dachte in Sizilien lange über den Plan zu einem Drama Nausikaa nach, er begann in späterer Zeit ein Heldengedicht, die Achilleis: in beiden wollte er mit Homer wetteifern. Das Epische liegt teils vor dem Tragischen, d. h. wo dieses in der ungetrübten Brust noch nicht hervorgebrochen ist, teils in der Höhe über demselben, wo nach Ueberwindung aller Qualen und Widersprüche der endlichen Welt die bewußtvolle Versöhnung und Seligkeit wieder eingetreten ist. Goethe nun stand in dieser Region echter in sich beruhigter Menschlichkeit. Die höchste Bildung war ihm die reinste Menschlichkeit; Schönheit und Sittlichkeit, ebenso Glück und Sittlichkeit war ihm eins. Der Zustand, wo die Pflicht mit der Neigung, der moralische Wille mit dem natürlichen Triebe nicht zusammenstimmt, wo wir also nicht in vollem ungeteiltem Besitz unsrer selbst sind, war ihm unerträglich. Er folgte dem schönen Zuge seiner Natur, aber nicht der gemeinen und häßlichen, sondern der edeln und geläuterten. Dies ist ganz jene Geistesstufe, die wir oben als die dem Epos und dem epischen Dichter eigentümliche gefunden haben. Goethes besonderes Erbteil war eine mächtige Energie der Phantasie und die volle Gabe der Anschauung. Dadurch blieb er in einem Zeitalter des kalten und trocknen Verstandes ein ewiger Jüngling. Mit klarem Blick schaute und beobachtete er die Dinge um sich her, trübte ihr Anschauen nie durch Haß und eigne Einmischung, ließ sie unbefangen auf sich wirken und stellte sie mit idealer Kunstläuterung dann in ihrer innersten Wahrheit wieder dar. Wahrheit und Natur sind daher die Hauptmerkmale aller Goetheschen Dichtung. Die objektive Treue, mit der das Menschenleben und die Natur sich in seiner Dichtung spiegelt, die plastische Sinnlichkeit, mit der alle Darstellungen seiner Hand im heitern Sonnenlicht nachbildender Kunst uns entgegentreten, läßt sich nur mit der Plastik und Objektivität des Homer vergleichen. Merck, der ältere Freund Goethes, erriet diese Gabe des Dichters schon frühe und äußert in einem Briefe, Goethes unverrückbare Richtung sei die, dem Wirklichen eine poetische Gestalt zu geben, während die andern nur die Imagination zu verwirklichen suchten. Auch Schiller bemerkt über Goethe, bei keinem modernen Dichter finde sich so die volle sinnliche Wahrheit der Dinge als bei ihm. Goethe hielt sich ganz an die lebendige Gegenwart der ihn umgebenden Dinge und fand in ihr den Gehalt der Ewigkeit: