Читать книгу Die Sprache des Dritten Reiches. Beobachtungen und Reflexionen aus LTI - Victor Klemperer - Страница 10
Januar bis Oktober 1933: Aus dem Tagebuch eines Sprachwandels*
Оглавление21. März 1933. […] In Leipzig haben sie eine Kommission zur Nationalisierung der Universität eingesetzt. – Am Schwarzen Brett unserer Hochschule hängt ein langer Anschlag (er soll in allen andern deutschen Hochschulen ebenso aushängen): »Wenn der Jude deutsch schreibt, lügt er«; er solle künftig gezwungen sein, Bücher, die er in deutscher Sprache veröffentliche, als »Übersetzungen aus dem Hebräischen« zu bezeichnen. – Für den April war hier in Dresden der Psychologenkongreß angesagt. Der »Freiheitskampf« brachte einen Brandartikel: »Was ist aus Wilhelm Wundts Wissenschaft geworden?16 … Welche Verjudung … Aufräumen!« Daraufhin ist der Kongreß abgesagt worden … »um Belästigungen einzelner Teilnehmer zu vermeiden«.
27. März. Neue Worte tauchen auf, oder alte Worte gewinnen neuen Spezialsinn, oder es bilden sich neue Zusammenstellungen, die rasch stereotyp erstarren. Die SA heißt jetzt in gehobener Sprache – und gehobene Sprache ist ständig de rigueur,17 denn es schickt sich, begeistert zu sein – »das braune Heer«. Die Auslandsjuden, besonders die französischen, englischen und amerikanischen, heißen heute immer wieder die »Weltjuden«. Ebenso häufig wird der Ausdruck »Internationales Judentum« angewandt, und davon sollen wohl Weltjude und Weltjudentum die Verdeutschung bilden. Es ist eine ominöse Verdeutschung: in oder auf der Welt befinden sich die Juden also nur noch außerhalb Deutschlands? Und wo befinden sie sich innerhalb Deutschlands? – Die Weltjuden treiben »Greuelpropaganda« und verbreiten »Greuelmärchen«, und wenn wir hier im geringsten etwas von dem erzählen, was Tag für Tag geschieht, dann treiben eben wir Greuelpropaganda und werden dafür bestraft. Inzwischen bereitet sich der Boykott jüdischer Geschäfte und Ärzte vor. Die Unterscheidung zwischen »arisch« und »nichtarisch« beherrscht alles. Man könnte ein Lexikon der neuen Sprache anlegen.
In einem Spielzeugladen sah ich einen Kinderball, der mit dem Hakenkreuz bedruckt war. Ob solch ein Ball in dies Lexikon hineingehört?
(Bald danach kam ein Gesetz »zum Schutz der nationalen Symbole« heraus, das solchen Spielzeugschmuck und ähnlichen Unfug verbot, aber die Frage nach der Abgrenzung der LTI hat mich dauernd beschäftigt.)
10. April. Man ist »artfremd« bei fünfundzwanzig Prozent nichtarischen Blutes. »Im Zweifelsfalle entscheidet der Sachverständige für Rassenforschung.« […]
17. Juni. Was ist Jan Kiepura eigentlich für ein Landsmann?18 Neulich wurde ihm ein Konzert in Berlin verboten. Da war er der Jude Kiepura. Dann trat er in einem Film des Hugenbergkonzerns auf.19 Da war er »der berühmte Tenor der Mailänder Scala«. Dann pfiff man in Prag sein deutsch gesungenes Lied »Heute nacht oder nie!« aus. Da war er der deutsche Sänger Kiepura.
(Daß er Pole war, erfuhr ich erst viel später.) […]
28. Juli. Es hat eine Feier stattgefunden am Grabe der »Rathenaubeseitiger«.20 Wieviel Mißachtung, wieviel Amoral oder betonte Herrenmoral steckt in dieser Substantivbildung, diesem Zum-Beruf-Erheben des Mordes. Und wie sicher muß man sich fühlen, wenn man solche Sprache führt! […]
Gestern in der Wochenschau eine Tonfilmaufnahme; der Führer spricht einige Sätze vor großer Versammlung. Er ballt die Faust, er verzerrt das Gesicht, es ist weniger ein Reden als ein wildes Schreien, ein Wutausbruch: »Am 30. Januar haben sie (er meint natürlich die Juden) über mich gelacht – es soll ihnen vergehen, das Lachen …!« Er scheint jetzt allmächtig, er ist es vielleicht; aber aus dieser Aufnahme spricht in Ton und Gebärde geradezu ohnmächtige Wut. Und redet man denn immerfort, wie er das tut, von Jahrtausenddauer und vernichteten Gegnern, wenn man dieser Dauer und Vernichtung sicher ist? – Beinahe mit einem Hoffnungsschimmer bin ich aus dem Kino fortgegangen. […]
19. September. Im Kino Szenen vom Nürnberger Parteitag. Hitler weiht durch Berührung mit der Blutfahne von 1923 neue SA-Standarten.21 Bei jeder Berührung der Fahnentücher fällt ein Kanonenschuß. Wenn das nicht eine Mischung aus Theater- und Kirchenregie ist! Und ganz abgesehen von der Bühnenszene – schon allein der Name »Blutfahne«. »Würdige Brüder, schauet hier: Das blutige Märtyrtum erleiden wir!« Die gesamte nationalsozialistische Angelegenheit wird durch das eine Wort aus der politischen in die religiöse Sphäre gehoben. Und die Szene und das Wort wirken fraglos, die Leute sitzen andächtig hingegeben da – niemand niest oder hustet, nirgends knistert ein Brotpapier, nirgends hört man das Schmatzen beim Bonbonlutschen. Der Parteitag eine kultische Handlung, der Nationalsozialismus eine Religion – und ich will mir weismachen, er wurzele nur flach und locker?
10. Oktober. […] Die philologischen Fachzeitschriften und die Zeitschrift des Hochschulverbandes bewegen sich derart im Jargon des Dritten Reichs, daß jede Seite buchstäblich Brechreiz verursacht. »Hitlers eiserner Besen« – »die Wissenschaft auf nationalsozialistischer Basis« – »der jüdische Geist« – »die Novemberlinge« (das sind die Revolutionäre von 1918). […]
29. Oktober. […] Ich frage mich, ob man die Worte Emigranten und Konzentrationslager in ein Lexikon der Hitlersprache aufzunehmen hätte. Emigranten: das ist eine internationale Bezeichnung für die vor der Großen Französischen Revolution Geflohenen. Brandes nennt einen Band seiner europäischen Literaturgeschichte die Emigrantenliteratur.22 Dann hat man von den Emigranten der russischen Revolution gesprochen. Und jetzt eben gibt es eine deutsche Emigrantengruppe – in ihrem Lager ist Deutschland! –, und »Emigrantenmentalität« ist ein beliebtes mot savant.23 So wird also diesem Wort in Zukunft nicht unbedingt der Aasgeruch des Dritten Reichs anhaften. Dagegen Konzentrationslager. Ich habe das Wort nur als Junge gehört, und damals hatte es einen durchaus exotisch-kolonialen und ganz undeutschen Klang für mich: während des Burenkrieges war viel die Rede von den Compounds oder Konzentrationslagern, in denen die gefangenen Buren von den Engländern überwacht wurden.24 Das Wort verschwand dann gänzlich aus dem deutschen Sprachgebrauch. Und jetzt bezeichnet es, plötzlich neu auftauchend, eine deutsche Institution, eine Friedenseinrichtung, die sich auf europäischem Boden gegen Deutsche richtet, eine dauernde Einrichtung und keine vorübergehende Kriegsmaßnahme gegen Feinde. Ich glaube, wo künftig das Wort Konzentrationslager fallen wird, da wird man an Hitlerdeutschland denken und nur an Hitlerdeutschland …
Ist es Kaltherzigkeit von mir und enge Schulmeisterei, daß ich mich immer wieder und immer mehr an die Philologie dieses Elends halte? Ich prüfe wirklich mein Gewissen. Nein; es ist Selbstbewahrung.