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Der Unfall

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Komteß Maud hatte sich eingespielt – ein weiterer Erfolg für Désirée.

Es war etwa drei Wochen nach der Premiere, an einem Donnerstag. Meine Mutter war zu einer Nachmittagsvorstellung ins Theater gefahren. Ich wollte ein paar Einkäufe erledigen und nach der Vorstellung ins Theater kommen, dann könnte Thomas uns zusammen nach Hause fahren. So hielten wir es öfter. Es verschaffte uns ein wenig Zeit miteinander, bevor meine Mutter zur Abendvorstellung enteilte.

Als ich das Haus verließ, kam Roderick Claverham die Straße entlang.

»Guten Morgen«, sagte er. Wir standen uns ein paar Sekunden gegenüber und lächelten uns an.

Ich fand als erste die Sprache wieder. »Sie sind also noch in London?«

»Ich war unterdessen zu Hause, und jetzt bin ich wieder hier.«

»Was machen die Ausgrabungen?«

»Keine weiteren Entdeckungen. Das würde mich auch wundern. Ich hatte gehofft, Sie zu sehen. Ich bin in dieser Absicht schon ein –, zweimal hergekommen. Diesmal habe ich Glück.«

Er hatte also nach mir Ausschau gehalten. Das stimmte mich froh.

»Wollten Sie uns besuchen?« fragte ich.

»Ich dachte, unter den gegebenen Umständen sei es vielleicht nicht erwünscht, habe ich recht?«

»Vielleicht.«

»Wohingegen eine zufällige Begegnung ...«

» ... freilich etwas anderes wäre.«

»Wollten Sie ausgehen?«

»Nur Einkäufe machen.«

»Darf ich Sie begleiten?«

»Es würde Sie langweilen.«

»Das glaube ich nicht.«

»Es sind keine notwendigen Besorgungen. Anschließend wollte ich zum Theater und mit meiner Mutter nach Hause fahren.«

»Vielleicht kann ich Sie zum Theater begleiten?«

»Die Vorstellung ist erst in zwei Stunden zu Ende.«

»Dann lassen Sie uns ein wenig Spazierengehen. Sie könnten mir diese Gegend von London zeigen. Vielleicht trinken wir irgendwo eine Tasse Tee? Oder finden Sie das langweilig?«

»Ganz im Gegenteil.«

»Schön, wo fangen wir an?«

»Sie sind natürlich an der Vergangenheit interessiert«, sagte ich, als wir uns auf den Weg machten. »Ich glaube nicht, daß wir hier etwas so Altes haben wie Ihre römischen Ruinen. Meine Gouvernante kennt sich in dieser Gegend sehr gut aus. Sie interessiert sich für alles, was irgendwie mit dem Theater zu tun hat.«

»Vielleicht, weil sie in einem Theaterhaushalt tätig ist.«

»Ehrlich gesagt, Matty hat für die Leistungen meiner Mutter nicht viel übrig. Das ist immer so, wenn man auf jemanden trifft, der die Spitze eines niedrigeren Niveaus, als man es selbst anstrebt, erreicht hat – vor allem, wenn man selbst noch nicht einmal den ersten Schritt zu seinem Ziel getan hat. Matty sieht sich im Geist als große Schauspielerin und glaubt, daß sie mit Unterrichten nur Zeit verschwendet.«

»Ich hätte gedacht, sie wäre sehr stolz auf ihre Schülerin.«

»Wir kommen ganz gut miteinander aus. Aber eigentlich interessiert sie sich nur fürs Theaterspielen. Ich glaube, im Grunde ihres Herzens weiß sie, daß es für sie unerreichbar ist. Aber sind Sie nicht auch der Meinung, daß die Menschen sich an Tagträumen ergötzen?«

»Allerdings.«

»Es ist eine einfache Methode. Matty kann in ihren Träumen leben – in diesen Augenblicken, wenn sie auf der Bühne als Lady Macbeth glänzt, den Beifall des Publikums und die Blumensträuße entgegennimmt und am nächsten Morgen in der Zeitung ihr Talent gerühmt sieht. Sie muß nicht unter den nervenaufreibenden Spannungen leiden, den entsetzlichen Zweifeln, den Alpträumen der Premiere, wie meine Mutter sie jedesmal durchmacht.«

»Ich hätte gedacht, Ihre Mutter sei sich ihres Erfolges absolut sicher.«

»Eben weil sie es nicht ist, ist sie erfolgreich ... , falls Sie verstehen, was ich meine. Sie sagt, wenn man nicht unter Anspannung steht, gibt man nicht sein Bestes. Jedenfalls kann ich Ihnen sagen, es ist nicht leicht, Schauspielerin zu sein, und ich denke allmählich, Mattys Träume sind erquicklicher als die Wirklichkeit. Sie gerät über diese Gegend ins Schwärmen, sie liebt die Nähe des Theaters. Unsere Spaziergänge in der Nachbarschaft sind ihr ein Genuß.«

»So wie mir.«

»Wir sprechen viel von den alten Zeiten. Es muß aufregend gewesen sein, als die Theater wieder geöffnet wurden. Matty verbreitet sich gern ausführlich über die Puritaner unter Cromwell, die die Theater geschlossen haben. Sie hielten sie für sündig. Matty schimpft über sie.«

»Ich stimme ihr zu. Ich habe eine Abneigung gegen die Scheinheiligen, die den Menschen unter dem Vorwand, es sei gut für sie, ihre Vergnügungen rauben, während sie selbst die ganze Zeit dem Vergnügen frönen, sich an ihrer eigenen Tugend zu ergötzen.«

»Ich empfinde es genauso. Aber es war wundervoll, als es wieder Theater gab! So wundervoll, daß es die Entbehrung beinahe lohnte! Matty interessiert sich sehr für die Stückeschreiber der Restauration. Sie studiert sie mit mir. Sie meint, es sei gut für mich. Ich bin froh darüber.«

»Ich bin sicher, sie unterrichtet sich selbst ebenso wie Sie.«

»Ganz gewiß. Wir sind in die Bibliotheken gegangen und haben alles mögliche Wissenswerte ausgegraben. Sie werden verstehen, wie aufregend das war. Sie haben Ihre römischen Ruinen.«

»O ja, ich verstehe. Und wenn Sie durch diese Straßen spazieren, sehen Sie sie im Geist so vor sich, wie sie vor Jahren gewesen sind.«

»Ja ... die Männer mit ihren prachtvollen Perücken und Federhüten. Und Neil Gwynn hat natürlich in der Drury Lane Apfelsinen verkauft, und dann wurde sie Schauspielerin und hat König Karl begeistert. Das ist alles so romantisch.«

»Und Sie wollen nicht zur Bühne und mit Ihrer Mutter im Rampenlicht stehen?«

»Ich habe zuviel Hochachtung vor ihrem Talent, um mir einzubilden, es ihr gleichtun zu können. Ich kann nicht singen, meine Mutter dagegen hat eine herrliche Stimme. Und sie ist eine großartige Tänzerin.«

»Und anders als Matty schmachtet sie nicht nach den klassischen Rollen.«

»Komteß Maud und ihresgleichen genügen ihr.«

»Und das macht sie sehr gut.«

»Ich habe Sie im Theater gesehen.«

»Ja, ich Sie auch.«

»Sie sind hinterher nicht geblieben. Sind Sie gleich enteilt?«

»Ich wußte nicht recht, was tun. Am besten unternimmt man gar nichts, wenn man sich nicht schlüssig ist, was das Richtige wäre.«

»Da mögen Sie recht haben. Übrigens, dies ist die Vere Street. Wir haben eine interessante Geschichte über ein Theater entdeckt, das es hier einmal gegeben hat. Es wurde von Killigrew und Davenant gegründet, zwei wohlbekannten Theaterleuten. Sie waren dermaßen auf die Wiedereröffnung der Theater erpicht, daß sie nur wenige Monate nach der Restauration hier eines aufmachten. Matty sagt, ihr Enthusiasmus muß sagenhaft gewesen sein. Sie haben es durchgesetzt, daß Frauen auf der Bühne spielen durften. Bis dahin wurden Frauenrollen von Knaben verkörpert. Können Sie sich das vorstellen! Die Frauen wurden zu allen Zeiten benachteiligt. Ich meine, es ist an der Zeit, daß wir etwas dagegen unternehmen. Finden Sie nicht auch?«

»Ich fürchte, wenn ich Ihnen nicht beipflichte, werde ich jegliche Achtung verlieren, die Sie für mich übrig haben, und deshalb stimme ich Ihnen bedenkenlos zu.«

Ich lachte. »Ich möchte nicht, daß Sie mir allein aus diesem Grund zustimmen.«

»Vergessen Sie, was ich gesagt habe. Es war eine alberne Bemerkung in einem ernsthaften Gespräch. Ja, ich stimme Ihnen zu, und ich bin überzeugt, daß sich die Situation mit Hilfe von Leuten wie Ihnen bald bessern wird.«

»Die Geschichte, die ich Ihnen erzählen wollte, handelt von einer Frau, der man Unrecht getan hatte. Sie war eine der ersten, die auf der Bühne standen. Sie spielte an dem Theater in der Vere Street die Roxana in Die Belagerung von Rhodos. Der Earl of Oxford, Aubrey de Vere, sah das Stück und entbrannte in Leidenschaft für sie. De Vere konnte keine Schauspielerin ehelichen, aber sie wollte sich ihm nicht ohne Heirat hingeben. Darauf bediente sich der Schurke eines falschen Priesters, der eine Scheintrauung vollzog, und sie erfuhr erst von der List, als es zu spät war.«

»Sie war gewiß nichts die erste, die auf diese Weise hintergangen wurde.«

»Es macht Matty Freude, Geschichten über diese Leute zu sammeln. Sie weiß von der Arroganz Colly Cibbers und der Tugend Anne Bracegirdles zu erzählen.«

»Erzählen Sie mir von der tugendhaften Anne.«

»Sie war eine Schauspielerin, die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts starb. Zu jener Zeit müssen eine Menge interessanter Leute gelebt haben. Anne hatte sehr strenge moralische Grundsätze, was bei einer Schauspielerin selten war. Sie half den Armen. Sie erinnert mich an meine Mutter, die Hunderte von Bettelbriefen bekommt. Vor dem Theater warten immer Menschen mit einer mitleiderregenden Geschichte.«

»Ihre Mutter hat ein liebenswertes Gesicht. Sie hat so etwas Sanftes, Gütiges. Sicher, sie ist schön, aber sie besitzt auch eine innere Schönheit. Ich glaube, Menschen mit solchen Gesichtern sind wirklich gut.«

»Das haben Sie lieb gesagt. Ich möchte es ihr erzählen. Es dürfte sie amüsieren. Sie hält sich keineswegs für gut, sie denkt vielmehr, sie sei eine Sünderin. Aber Sie haben recht. Sie ist gut. Ich denke oft, welch ein Glück es für mich ist, ihre Tochter zu sein.«

Er drückte meinen Arm. Wir schwiegen einen Augenblick, dann fragte er: »Was geschah mit Roxana?«

»Wir haben entdeckt, daß es ein Kind namens Aubrey de Vere gab, und daß er sich als Earl of Oxford bezeichnete. Er war der Sohn einer Schauspielerin, und es hieß, der Earl sei mit seiner Mutter eine Scheinehe eingegangen.«

»Das muß derjenige gewesen sein, es sei denn, es war eine Gewohnheit von ihm, Scheinehen einzugehen.«

»Das könnte ich mir gut vorstellen. Das ist es ja, was einen bei diesen Geschichten zum Wahnsinn treibt. Man weiß oft nicht, wie es ausgegangen ist.«

»Man muß es sich ausdenken. Ich hoffe, daß Roxana eine große Schauspielerin geworden ist und daß den Earl of Oxford die strafende Gerechtigkeit ereilte.«

»Matty hat entdeckt, daß er für seine Unmoral berüchtigt, aber bei Hofe geistreich und beliebt war. Daher nehme ich an, daß er nicht für seine Missetaten büßte.«

»Eine Schande! Ah, hier ist eine Teestube. Möchten Sie sich ein Weilchen hinsetzen, und anschließend gehen wir rechtzeitig zum Schluß der Vorstellung zum Theater?«

»Mit Vergnügen.«

Die Teestube war klein und gemütlich. Wir fanden einen Tisch für zwei Personen in einer Ecke.

Als ich den Tee einschenkte, sprach er über seinen bevorstehenden Urlaub in Ägypten.

»Der Traum eines Archäologen«, sagte er. »Das Tal der Könige! Die Pyramiden! So viele Relikte aus dem Altertum. Das müssen Sie sich einmal vorstellen.«

»Ich versuche es gerade. Es muß ein ungeheuer aufregendes Erlebnis sein, in eines der Königsgräber zu gelangen ... aber auch ein bißchen schauerlich.«

»O ja. Ich finde, die Grabräuber hatten eine Menge Courage. Wenn man an die vielen Mythen und Legenden denkt, wird einem klar, was für erstaunliche Dinge die Menschen um des Profits willen tun.«

»Oh, wird das aufregend für Sie!«

»Ihnen würde es auch gefallen.«

»Bestimmt.«

Er sah mich eindringlich an und rührte dann langsam, wie in Gedanken vertieft, seinen Tee um. »Mein Vater und Ihre Mutter sind seit Jahren richtig gute Freunde, nicht wahr?« fragte er dann.

»O ja. Meine Mutter hat oft gesagt, daß auf ihn mehr Verlaß ist als auf jeden anderen. Robert Bouchère ist ebenfalls ein langjähriger Freund von ihr. Aber ich glaube, Ihr Vater kommt bei ihr an erster Stelle.«

Er nickte nachdenklich.

»Erzählen Sie mir von Ihrem Zuhause«, bat ich.

»Das Anwesen heißt Leverson Manor. Leverson war ein Vorfahre, aber der Name ging irgendwann verloren, als eine Tochter das Gut erbte und einen Claverham heiratete.«

»Und Ihre Mutter?«

»Sie ist natürlich nur durch Heirat eine Claverham. Ihre Familie hat Besitztümer im Norden. Es ist eine sehr alte Familie, deren Stammbaum sich mehrere Jahrhunderte zurückverfolgen läßt. Sie sehen sich gleichrangig mit den Nevilles und Percys, die den. Norden gegen die Schotten absicherten. Sie besitzen Porträts von Kriegern, die in den Rosenkriegen kämpften, und von solchen, die noch früher die Pikten und Schotten bekämpften. Mein Vater ist, wie Sie wissen, ein gütiger, sanfter Mensch. Er ist auf dem Gut sehr beliebt. Vor meiner Mutter haben alle großen Respekt, und ihr ist es recht so. Sie vermittelt den Eindruck, daß ihr bewußt ist, unter ihrem Stand geheiratet zu haben, und ich vermute, daß es rein gesellschaftlich gesehen sogar stimmt. Dennoch hängt sie sehr an meinem Vater und natürlich an mir, ihrem einzigen Sohn.«

»Ich kann sie mir sehr gut vorstellen. Eine recht gestrenge Dame.«

»Sie will nur unser Bestes. Das Dumme ist, daß wir uns nicht immer einig sind, was das Beste ist, und da beginnen die Konflikte. Wenn sie sich doch nur von dem Glauben lösen könnte, daß ihr Blut ein bißchen blauer ist als das meines Vaters, wenn sie nur verstünde, daß manche von uns tun müssen, was wir wollen, und nicht, was nach ihrem Beschluß das Beste für uns ist ... dann wäre sie ein wunderbarer Mensch.«

»Ich sehe, daß Sie an ihr hängen, und Sie haben natürlich ein Quantum von dem blaueren Blut, um es mit der minderwertigen Sorte zu vermischen.«

»Ich verstehe sie ja. Sie ist wirklich ein großartiger Mensch, und oft hat sie ja auch recht.«

Ich gewann ein gutes Bild von Lady Constance und dem Leben auf Leverson Manor.

Wie gern hätte ich es einmal gesehen! Aber das kam wohl nicht in Frage. Eines stand für mich fest: Lady Constance würde die Freundschaft ihres Gatten mit einer Schauspielerin, und sei es auch eine berühmte, niemals billigen. Daher durfte ich nicht erwarten, daß aus meiner Begegnung mit Roderick etwas werden könnte, das über eine flüchtige Bekanntschaft hinausging.

Wir konnten nicht bis in alle Ewigkeit am Teetisch sitzen bleiben, wenngleich Roderick den Eindruck machte, daß ihm ebendies sehr lieb wäre.

Ich sah auf meine Uhr und sagte: »Die Vorstellung dürfte bald zu Ende sein.«

Wir verließen die Teestube und gingen das kurze Stück zum Theater. Bevor wir uns am Eingang verabschiedeten, nahm Roderick meine Hand und sah mich ernst an.

»Das müssen wir wiederholen«, sagte er. »Ich habe es ungemein genossen. Ich möchte noch mehr von der Geschichte der Welt des Theaters erfahren.«

»Und ich möchte mehr über die römischen Ausgrabungen hören.«

»Wollen wir es verabreden?«

»Ja.«

»Wann ist die nächste Nachmittagsvorstellung?«

»Sonnabend.«

»Also bis dann?«

»Gern.«

Heiteren Sinnes ging ich in die Garderobe.

Martha war dort. »Kein so gutes Publikum«, sagte sie. »Ich hab’ nie was von Nachmittagsvorstellungen gehalten. Und wir waren nicht ausverkauft. Das dürfte ihr nicht passen. Sie haßt es, vor halbleeren Häusern zu spielen.«

»War es halbleer?«

»Nein, aber eben nicht ganz voll. Das muß sie gemerkt haben. Sie hat ein Auge dafür. Sie ist publikumsbewußter als die meisten anderen.«

Wider Marthas Erwarten war meine Mutter guter Laune.

»Jeffry ist ausgerutscht, als er bei Ich würde dich lieben, und wärst du noch ein Ladenmädchen den Arm um mich legte. Er hat mich gepackt und mir hinten an meinem Kleid einen Knopf abgerissen, Martha.«

»Ein ungeschickter Tropf ist er, dieser Jeffry«, sagte Martha.

»Schätze, er hat ziemlich dumm dagestanden.«

»Aber nein. Die Zuschauer lieben ihn ... die goldblonden Haare und den kecken Schnauzbart. Das halbe Publikum ist in ihn vernarrt. Was ist schon ein kleiner Ausrutscher? Das macht ihn nur menschlich. Die Leute kommen ebensosehr, um ihn zu sehen, wie mich.«

»Unsinn. Du bist der strahlende Stern der Vorstellung, daß du das ja nicht vergißt. Ich hab’ mir nicht die Finger wundgearbeitet, damit du an zweiter Stelle hinter Jeffry Collins kommst.«

»Er denkt, er ist derjenige, der die Leute anzieht.«

»Soll er doch. Er ist der einzige, der das denkt. Sehen wir uns mal den Knopf an. Oh, der ist schnell wieder angenäht, heute abend ist alles wieder in Ordnung.«

»Ach ja, heute abend. Dann fängt alles noch mal von vorn an. Ich mag die Nachmittagsvorstellungen nicht.«

»Ah, Noelle ist da, um mit uns nach Hause zu fahren.«

»Wie nett, Liebling. Hattest du einen schönen Nachmittag?«

»O ja ... sehr schön.«

»Jetzt sollten wir aber los«, sagte Martha. »Vergiß nicht, daß du heute abend Vorstellung hast.«

»Erinnere mich nicht daran«, seufzte meine Mutter.

Am Bühneneingang warteten etliche Leute, um einen Blick auf Désirée zu erhaschen. Sie lächelte übers ganze Gesicht und wechselte ein paar Worte mit ihren Bewunderern.

Thomas half ihr in die Kutsche, Martha und ich kletterten neben sie. Sie winkte der kleinen Menge fröhlich zu, und sobald wir sie hinter uns ließen, lehnte sie sich mit halbgeschlossenen Augen zurück.

»Hast du was Hübsches gekauft?« fragte sie mich.

»Nein, überhaupt nichts.«

Ich wollte ihr schon von der Begegnung mit Roderick Claverham erzählen, sah aber dann davon ab. Ich war mir nicht ganz sicher, wie sie dazu stand, daß ich ihn ins Haus gebracht hatte. Sie hatte es lachend abgetan, aber ich glaubte bemerkt zu haben, daß die Situation ihr peinlich gewesen war.

Sie hatte stets frei von Konventionen gelebt, und sie hatte anderen so viel gegeben. Sie lebte, wie es ihr gefiel. Ich hatte sie sagen hören, wenn man niemandem weh tut, welchen Schaden kann man dann anrichten?

Solange Lady Constance nichts von der tiefen Freundschaft zwischen ihrem Gatten und der berühmten Schauspielerin wußte, was spielte es da für eine Rolle? Für Moralisten ja, aber zu denen gehörte Désirée nicht. »Leben und leben lassen«, pflegte sie zu sagen. »Das ist meine Devise.« Aber wenn das heimliche und das konventionelle Leben von Charlie sich berührten, dann wurde es vielleicht Zeit, innezuhalten und nachzudenken.

Ich war unsicher, deshalb sagte ich ihr nichts von der Begegnung mit Roderick.

Ich bat sie, von der Nachmittagsvorstellung zu erzählen, wozu sie stets gern bereit war. Schließlich bogen wir in unsere Straße ein. Der Hengst spitzte die Ohren, wie er es zu unserer Belustigung immer tat, und er wäre an dieser Straßenkreuzung in Galopp verfallen, wenn Thomas ihn nicht gezügelt hätte.

Mutter sagte: »Der Gute, er weiß, daß er zu Hause ist. Ist das nicht süß?«

Wir wollten gerade vor dem Haus halten, als es passierte. Das Mädchen muß direkt vor das Pferd gelaufen sein. Ich war mir nicht sicher, wie es genau geschah. Ich glaube, Thomas scherte aus, um ihr auszuweichen, aber schon lag sie ausgestreckt auf der Straße.

Thomas war ruckartig stehengeblieben und abgesprungen. Ich stieg mit meiner Mutter und Martha aus.

»Grundgütiger Himmel«, rief Mutter, »sie ist verletzt!«

»Sie ist Ranger direkt vor die Füße gestürzt«, sagte Thomas. Er hob sie auf.

»Ist sie schwer verletzt?« fragte meine Mutter besorgt.

»Weiß ich nicht, Madam. Ich glaub’ aber nicht.«

»Bring sie lieber hinein«, sagte meine Mutter. »Dann holen wir den Arzt.«

Thomas trug das junge Mädchen in eines der zwei Gästezimmer und legte sie aufs Bett.

Mrs. Crimp und Carrie kamen herbeigelaufen. »Was ist los?« schnaufte Mrs. Crimp. »Ein Unfall? Ach du liebe Zeit! Wie könnte das passieren?«

»Mrs. Crimp, wir brauchen einen Arzt«, sagte Mutter. »Thomas, du fährst am besten mit dem Wagen und holst Dr. Green. Das arme Mädchen. Sie sieht so blaß aus.«

»Wie die aussieht, könnte man sie glatt mit ’ner Feder umhauen, geschweige denn mit Pferd und Wagen«, bemerkte Mrs. Crimp.

»Das arme Mädchen«, wiederholte meine Mutter. Sie legte dem Mädchen ihre Hand auf die Stirn und strich ihr die Haare aus dem Gesicht.

»Wie jung sie ist«, setzte sie hinzu.

»Ich glaube, etwas Heißes zu trinken würde ihr guttun«, meinte ich. »Mit viel Zucker.«

Das Mädchen schlug die Augen auf und schaute Désirée an. Diesen Ausdruck hatte ich schon so oft gesehen, und ich war stolz, daß sie selbst in einem solchen Augenblick von meiner Mutter beeindruckt war.

Dann erkannte ich sie. Sie war das Mädchen, das ich nach der Premiere vor dem Hause hatte stehen sehen.

Sie war also wirklich gekommen, um Désirée zu sehen. Höchstwahrscheinlich war sie eines von diesen theaterbesessenen Mädchen, die für die berühmte Schauspielerin schwärmten und davon träumten, zu werden wie sie.

Ich sagte zu Désirée: »Ich glaube, sie ist eine Verehrerin von dir. Ich habe sie schon einmal gesehen ... sie hat draußen vorm Haus gewartet, um einen Blick auf dich werfen zu können.«

Sogar in solch einem Augenblick konnte meine Mutter sich über öffentliche Anerkennung freuen.

Heißer Tee wurde gebracht, und meine Mutter führte dem Mädchen die Tasse zum Mund. »So«, sagte sie, »so ist es gut. Der Arzt wird bald hier sein. Er wird feststellen, ob Sie verletzt sind.«

Das Mädchen richtete sich halb auf, und meine Mutter sagte beschwichtigend: »Bleiben Sie liegen. Sie werden sich hier ausruhen, bis Sie wieder auf dem Damm sind.«

»Ich ... mir fehlt nichts«, sagte das Mädchen.

»Aber Sie haben einen Schock erlitten, Sie können jetzt nicht fort. Sie bleiben hier, bis wir Ihnen sagen, daß Sie gehen können. Möchten Sie irgendwen verständigen ... gibt es jemanden, der sich Sorgen um Sie macht?«

Sie schüttelte den Kopf und sagte mit ausdrucksloser Stimme: »Nein, niemand.«

Ihre Lippen zitterten, und ich sah das tiefe Mitgefühl in den Augen meiner Mutter.

»Wie heißen Sie?« fragte sie.

»Lisa Fennell.«

»Schön, Lisa Fennell, Sie werden mindestens diese Nacht hierbleiben«, bestimmte meine Mutter. »Aber zuerst müssen wir auf den Arzt warten.«

»Ich glaube nicht, daß sie schwer verletzt ist«, erklärte Martha.

»Sie hat nur einen Schock, weiter nichts. Und du hast heute abend Vorstellung. Diese Tage mit den Nachmittagsvorstellungen sind ohnehin schon hektisch genug. Nachmittagsvorstellungen sollten abgeschafft werden, wenn du mich fragst.«

»Dich fragt aber keiner, Martha, und du weißt, wir müssen jeden Pfennig aus dem Publikum herausquetschen, wenn wir weiter bestehen wollen.«

»Ich schätze, wir könnten es auch ohne Nachmittagsvorstellungen schaffen«, beharrte Martha.

»Denk an all die Menschen, die sich nur einen halben Tag in der Woche freinehmen können.«

»Ich denk an uns, Schatz.«

»Es ist unsere Pflicht, an andere zu denken ... insbesondere im Theater.«

»Der Gedanke ist mir noch nie gekommen.«

Das Mädchen auf dem Bett hörte aufmerksam zu. Sie schien mir wirklich nicht schlimm verletzt zu sein.

Der Arzt kam, und er bestätigte meine Vermutung. »Es sind nur ein paar Prellungen«, erklärte er uns nach der Untersuchung.

»Und sie hat natürlich einen Schock erlitten. In ein, zwei Tagen ist sie wieder wohlauf.«

»Ich schlage vor, daß wir sie über Nacht hierbehalten«, sagte meine Mutter.

»Eine gute Idee. Was ist mit ihren Angehörigen?«

»Sie hat anscheinend keine.«

»In diesem Fall ist es bestimmt das Beste für sie, wenn sie hierbleibt. Ich lasse ihr ein mildes Beruhigungsmittel da, damit sie die Nacht durchschläft. Geben Sie es ihr zur Schlafenszeit. Bis dahin lassen Sie sie einfach ruhen.«

»Und jetzt«, sagte Martha, »müssen wir los, sonst enttäuschen wir unsere Zuschauer. Sie kommen, um Madame Désirée zu sehen, nicht die zweite Besetzung Janet Dare.«

»Arme Janet«, sagte meine Mutter. »Sie würde sich freuen, wenn sie Gelegenheit bekäme, zu zeigen, was sie kann.«

»Wir wissen alle, was sie kann, und es wäre nicht gut genug.«

Als meine Mutter zum Theater gefahren war, ging ich zu unserem Gast und stellte mich an ihr Bett.

Sie sagte: »Sie waren so gut zu mir.«

»Es war das mindeste, was wir tun konnten. Wie ist es passiert?«

»Es war meine Schuld. Ich war unvorsichtig. In meinem Eifer habe ich nicht bemerkt, daß die Kutsche noch fuhr. Ich habe Désirée so bewundert. Komteß Maud habe ich dreimal gesehen ... natürlich oben auf der Galerie. Mehr konnte ich mir nicht leisten. Wenn man Pech hat, sitzt ein großer, breiter Mensch vor einem. Das ist zum Wahnsinnigwerden. Désirée ist wundervoll. Sie ist ganz oben, nicht wahr? Und Sie sind ihre Tochter. Wie wunderbar für Sie.«

»Erzählen Sie mir von sich. Was machen Sie?«

»Im Augenblick nichts.«

»Sie möchten Schauspielerin werden?« mutmaßte ich.

»Sie haben es erraten.«

»Ach, das wollen so viele. Wissen Sie, eine Menge Leute sehen meine Mutter auf der Bühne und denken, das sei ein wunderbares Leben. In Wirklichkeit ist es schrecklich harte Arbeit. Es ist bestimmt nicht leicht.«

»Das weiß ich. Ich bin anders als diese Leute. Ich wollte schon immer zum Theater.«

Ich sah sie traurig an.

»Ich kann spielen, ich kann singen, ich kann tanzen«, sagte sie ernst. »Wirklich, ich kann’s.«

»Was haben Sie auf diesem Gebiet vorzuweisen?«

»Ich habe schon auf einer Bühne gesungen und getanzt.«

»Wo?«

»An einem Laientheater. Ich war die Hauptdarstellerin in unserer Truppe.«

»Das ist nicht dasselbe«, sagte ich freundlich. »Bei Berufsschauspielern zählt das nicht viel. Wie alt sind Sie? Verzeihung. Das hätte ich nicht fragen sollen. Ich benehme mich wie ein Theateragent.«

»Es ist mir sehr recht, wenn Sie sich wie ein Agent benehmen. Wie ich sehe, verstehen Sie dank Ihrer Mutter sehr viel vom Theater. Ich bin gerade siebzehn geworden. Ich konnte einfach nicht länger warten.«

»Wie lange sind Sie schon in London?«

»Drei Monate.«

»Und was haben Sie gemacht?«

»Ich habe versucht, einen Agenten zu finden.«

»Und kein Glück gehabt?«

»Sie waren nicht interessiert. Es hieß jedesmal, keine Erfahrung. Sie wollten mich nicht einmal zeigen lassen, was ich kann.«

»Woher kommen Sie?«

»Aus einem kleinen Dorf namens Waddington. Niemand hat je davon gehört, außer denen, die dort leben. Es ist nicht weit von Hereford. Dort hatte ich natürlich keine Chance. Ich konnte höchstens im Kirchenchor singen, und bei Konzerten war ich die Attraktion.«

»Ich verstehe.«

»Und als ich Ihre Mutter in Komteß Maud sah, wollte ich genauso werden wie sie. Sie ist wunderbar. Man spürt, daß sie das Publikum die ganze Zeit fesselt.«

»Und Sie sind aus dieser Ortschaft nahe Hereford fortgegangen. Was hat Ihre Familie gesagt?«

»Ich habe keine Familie mehr ... und auch kein Zuhause. Mein Vater hatte einen kleinen Hof gepachtet, und wir haben recht auskömmlich gelebt, bis er starb. Meine Mutter ist gestorben, als ich fünf Jahre alt war; ich erinnere mich kaum an sie. Ich habe den Haushalt besorgt und ein bißchen auf dem Hof mitgeholfen.«

»Ich verstehe, und die ganze Zeit wollten Sie Schauspielerin werden. Wußte Ihr Vater davon?«

»O ja, aber er meinte, es sei nur ein Traum. Er war sehr stolz auf mich, wenn ich in den Konzerten sang. Dann saß er in der ersten Reihe und ließ mich nicht aus den Augen. Er verstand mich, aber er gehörte zu den Menschen, die sagen, es kann nicht sein, und resignieren. Ich bin nicht so. Ich muß versuchen, es wahrzumachen.«

»Natürlich, das ist die einzige Möglichkeit. Meine Mutter hat hart kämpfen müssen.«

»Das kann ich mir denken. Diese Vollkommenheit war gewiß nicht mühelos zu erreichen. Als mein Vater starb, beschloß ich, mein Glück zu versuchen. Ich würde es mir nie verzeihen, wenn ich es nicht getan hätte. Mein Vater hatte einen Schlaganfall. Ich pflegte ihn sechs Monate, bevor er starb. Dann habe ich alles verkauft, was ich besaß, und bin nach London gekommen.«

»Und nun sind Sie drei Monate hier und stehen noch genauso da wie bei Ihrer Ankunft.«

»Nur daß ich noch viel ärmer bin.«

»Leider ist Ihre Geschichte nicht ungewöhnlich. So viele Menschen sind ehrgeizig, und so wenige haben Erfolg.«

»Ich weiß. Aber ich werde mich bemühen. Wie hat Ihre Mutter es geschafft? Sie hat gekämpft. Ich werde ebenfalls kämpfen.«

Ich sagte: »Ich kann mir vorstellen, wie Ihnen zumute ist, aber im Augenblick sollten Sie einfach nur ausruhen. Nehmen Sie das Beruhigungsmittel, das der Arzt dagelassen hat, und schlafen Sie. Aber vorher müssen Sie etwas essen. Danach werden Sie vielleicht müde.«

»Sie sind so gut zu mir.«

Ich ging in die Küche hinunter. Dort wollten sie unbedingt alles erfahren, was geschehen war.

»Miß Daisy Ray ist so gütig«, sagte Mrs. Crimp. »Und sie hat sich selber ziemlich miserabel gefühlt. Schließlich war es ihre Kutsche, die das arme Mädchen angefahren hat.«

»Sie können sich darauf verlassen, daß sie alles tun wird, um dem Mädchen zu helfen«, sagte ich. »Können Sie ihr etwas zu essen hinaufschicken?«

»Ein Hühnerbein oder dergleichen? Vielleicht etwas Suppe?«

»Das dürfte genau das Richtige sein, Mrs. Crimp.«

»Ich mach’ das schon.«

Jane sagte: »Ich bringe es ihr hinauf.«

Ich ging wieder zu Lisa Fennell und sagte ihr, daß sie gleich etwas zu essen bekäme. Jane brachte es ihr. Neugierig musterte sie den Gast. Sie hätte gern ein wenig geplaudert. Sie hatten etwas gemeinsam: Beide strebten nach Ruhm, wie er Désirée beschieden war.

»Alle sind so gütig hier«, sagte Lisa Fennell.

»Das ist typisch Miß Daisy Ray«, erwiderte Jane. »So ist sie immer.«

Jane ging, und Lisa ließ sich die Mahlzeit schmecken. Ich fragte mich, ob sie wohl immer genug zu essen hatte. Ich stellte mir vor, wie sie versuchte, mit ihrem Geld auszukommen; denn viel war es sicher nicht. Bestimmt fragte sie sich die ganze Zeit, wie lange es reichen würde – abwechselnd hoffnungsvoll und verzweifelt. Die Ärmste!

Ich gab ihr das Beruhigungsmittel. »Davon werden Sie schön müde«, sagte ich. »Morgen geht es Ihnen besser.«

Ich blieb noch ein Weilchen bei ihr sitzen, bis ich merkte, daß sie schläfrig wurde. Kurz darauf war sie eingeschlafen. Ich schlich aus dem Zimmer.

Ich blieb auf, um auf die Rückkehr meiner Mutter aus dem Theater zu warten; denn ich wußte, daß sie hören wollte, wie es Lisa Fennell ging.

Sie setzte sich nach der Abendvorstellung gern für ein halbes Stündchen in den Salon, um wieder zu sich zu kommen, wie sie sagte. Martha ging oft in die Küche, um ihr etwas zu trinken zu holen, ein Glas heiße Milch oder ein Glas Ale – je nachdem, wonach ihr der Sinn stand. Es helfe ihr, sich zu entspannen, sagte sie.

An ihrer Stimmung konnte ich immer erkennen, wie die Vorstellung gelaufen war. Ich merkte ihr an, daß es heute abend gutgegangen war.

»Wie geht’s diesem Mädchen?« fragte sie. »Wie heißt sie doch gleich?«

»Lisa Fennell. Sie schläft jetzt. Sie hat gut zu Abend gegessen, dann habe ich ihr das Beruhigungsmittel gegeben. Bald danach ist sie eingeschlafen. Ich habe vor etwa einer Stunde nach ihr gesehen. Sie hat mich nicht bemerkt. Bald wird sie wieder wohlauf sein.«

»Hoffentlich ist sie nicht schlimm verletzt.«

»Natürlich nicht«, sagte Martha.

»Man kann nie wissen. So etwas macht sich nicht immer gleich bemerkbar. Es kann sich später herausstellen. Und es war unsere Kutsche.«

»Sie ist vor das Pferd gelaufen«, entgegnete Martha.

»Gottlob sind wir nicht schnell gefahren.«

»Ich habe mit ihr gesprochen«, sagte ich. »Sie möchte Schauspielerin werden.«

Martha schnalzte mit der Zunge und hob die Augen zur Decke.

»Das arme Mädchen«, sagte meine Mutter. »Hat sie irgendwelche Erfahrungen?«

»Laientheater«, sagte ich.

»Gott behüte!« murmelte Martha. »Und deswegen hält sie sich für eine zweite Désirée.«

»Nicht ganz ... sie findet Désirée wunderbar. Sie möchte nur eine Chance bekommen, etwas Ähnliches zu machen.«

Ich berichtete ihnen, was sie mir erzählt hatte.

»Das Beste für sie ist«, sagte Martha, »sie packt ihre Koffer, fährt nach Hause, sucht sich einen Bauern, der sie heiratet, und melkt Kühe.«

»Woher willst du das wissen?« entgegnete meine Mutter. »Vielleicht hat sie ja Talent. Jedenfalls war sie entschlossen, nach London zu kommen.«

»Entschlossenheit ist nicht Talent, das solltest du wissen.«

»Sie ist ein unentbehrlicher Bestandteil des Erfolgs.«

»Es ist wie Brotteig ohne Hefe. Er steigt nie nach oben.«

»Seit wann verstehst du dich auf die Kochkunst?«

»Ich bin lange genug beim Theater, ich weiß Bescheid. Und auf jeden, der an die Spitze gelangt, kommen zehntausend, die es versuchen.«

»Manche von uns schaffen es. Warum nicht dieses Mädchen? Ich finde, sie sollte wenigstens eine Chance bekommen. Sie hat ja in ihrem Dorf schon Erfahrungen gesammelt.«

»Ein Dorfpublikum ist kein Londoner Publikum.«

»Natürlich nicht. Aber man sollte das Mädchen nicht als untauglich abtun, bevor sie eine Chance hatte, zu zeigen, was sie kann.«

»Du willst ihr also zu einer Chance verhelfen, was? Wie den andern, denen du beizustehen versucht hast. Und was war der Dank dafür, ha? Einige hatten die Unverschämtheit, dir die Schuld zu geben, weil sie glaubten, du würdest ihnen den Erfolg auf einem Tablett präsentieren, und als er sich nicht einstellte, dachten sie, du hättest es verhindert. Sie sagten, du wärst eifersüchtig. Der Herr bewahre uns künftig vor solchem Unfug.«

»Ich finde, jedem sollte eine Chance vergönnt sein«, beharrte meine Mutter.

»Immerhin ist sie nach London gekommen«, warf ich ein. »Sie hat den richtigen Elan, und du hast gesagt, das spielt eine große Rolle, um ans Ziel zu kommen.«

»Wir könnten uns wenigstens ansehen, was sie kann«, sagte meine Mutter.

»Denk dran, daß du sechs Vorstellungen die Woche hast, dazu zwei am Nachmittag, bevor du dich als barmherziger Samariter betätigst.«

»Ich werde es nicht vergessen«, erwiderte meine Mutter. »Aber ich finde wirklich, daß jeder eine Chance bekommen soll.« Sie gähnte. »Das war eine gute Vorstellung heute abend. Ich dachte schon, sie würden uns bis morgen dort festhalten, so viele Vorhänge! Es ist schön, wenn sie aufstehen und uns zujubeln. So, wie es aussieht, werden wir eine ganze Weile mit Maud leben.«

»Und wie es aussieht, ist es Zeit für dich, ins Bett zu gehen«, sagte Martha kurz angebunden.

»Ich weiß«, erwiderte meine Mutter. »Sonst komme ich morgen nicht aus den Federn.«

Wie gut sie ist, dachte ich, wie lieb. Sie war tatsächlich besorgt um das Mädchen. Inmitten ihres Erfolges hatte ihr erster Gedanke Lisa Fennell gegolten, und ich wußte, sie würde alles tun, um ihr zu helfen.

Die höchste Tugend, dachte ich, ist die Sorge um andere. Und ich ging impulsiv zu ihr und gab ihr einen Kuß.

Lisa Fennel war nun etwas mehr als eine Woche bei uns. Meine Mutter hatte sie singen hören. Sie meinte, sie habe eine recht gute Stimme. Es gebe keine Mängel, die sich nicht durch ein paar Gesangsstunden beheben ließen. Auch tanzte sie nicht schlecht. Es wurde vereinbart, daß sie zu einer Gesangslehrerin gehen sollte, die Désirée kannte.

Désirée konnte sich restlos für ein Vorhaben begeistern. Martha zufolge war sie ein geborener Samariter und machte sich nicht selten wegen ihrer bedauernswerten Schutzbefohlenen zum Narren. Ihre Kutsche sei an dem Unfall beteiligt gewesen, beharrte sie, und es sei nur recht und billig, daß sie versuche, es an dem armen Mädchen wiedergutzumachen, das so viel erlitten habe. Lisa war mittellos, sie hatte zu kämpfen, und für meine Mutter war es nur natürlich, Lisa Fennell unter ihre Fittiche zu nehmen.

Lisa sollte vorerst bei uns bleiben, bis sie befriedigend untergebracht wäre.

Ihre wenige Habe war aus ihrem Quartier abgeholt worden, von dessen Ärmlichkeit meine Mutter und ich erschüttert waren. Was Lisa betraf, war ich ebenso erpicht wie meine Mutter, ihr zu helfen. Lisa tat uns beiden unendlich leid.

Nachdem Lisa drei Unterrichtsstunden bei der Gesangslehrerin absolviert hatte, sagte meine Mutter zu Martha und mir: »Ich sehe nicht, warum Dolly sie nicht in der Tanztruppe unterbringen sollte. Die ist sowieso ziemlich spärlich besetzt.«

»Spärlich!« rief Martha. »Was redest du da?«

»Die Mädchen müßten bei der Nummer, wo sie sich die Hände auf die Schultern legen und die Beine hochwerfen, enger beieinander sein. Einige haben Schwierigkeiten, die vor ihnen zu erreichen, und das verdirbt den Effekt.«

»Unsinn«, sagte Martha. »Das ist eine der besten Nummern.«

»Sie könnte besser sein, findest du nicht, Noelle?«

Mir war nicht aufgefallen, daß die Mädchen Schwierigkeiten beim Strecken hatten, aber ich mußte meiner Mutter natürlich recht geben.

»Ja«, sagte ich. »Sie könnten noch ein Mädchen gebrauchen.«

»Ich spreche mit Dolly«, sagte meine Mutter.

»Der geht in die Luft«, prophezeite Martha.

Ich war dabei, als sie mit Dolly sprach. »Ich will Martha nicht dabeihaben«, sagte sie. »Sie wird seine Partei ergreifen. Aber du sollst dabei sein, Noelle. Er hat eine Schwäche für dich und achtet die Jugend. Er wird nicht so ordinär aus der Haut fahren, wenn du dabei bist.«

Und deshalb war ich zugegen.

»Dolly«, sagte sie, »ich finde die Tanztruppe ein bißchen spärlich besetzt.«

»Spärlich?« rief Dolly. »Du phantasierst wohl.«

»Dieses Mädchen, das wir da bei uns haben«, fuhr sie fort, »sie kann wirklich etwas. Es wäre ein guter Anfang für sie. Es war schließlich meine Kutsche. Ich dachte, wenn wir sie in der Tanztruppe unterbrächten, so wäre das eine nette Geste von mir.«

»Ich betreibe dieses Geschäft nicht, um Leute in der Tanztruppe unterzubringen, bloß weil sie deinem Pferd vor die Hufe gelaufen sind.«

»Sie ist ein armes Mädchen, Dolly. Hör zu.«

»Nein, ich höre dir nicht zu, wenn du nur davon redest, einen von deinen Schützlingen in meiner Tanztruppe unterzubringen.«

»Deine Truppe! Wer hat dem Stück zum Erfolg verholfen? Ich!«

»Mit ein bißchen Unterstützung von mir und ein paar andern.

Schauspieler und Schauspielerinnen nehmen sich immer viel zu wichtig.«

»Dolly, du bist kein solcher Narr, wie du mich glauben machen möchtest. Wir könnten noch ein Mädchen in der Tanztruppe gebrauchen, das weißt du genau.«

»Nein«, sagte Dolly bestimmt.

»Dolly, ich bitte dich.«

»Ach was. Du mit deinen verrückten Ideen, Leuten zu helfen, die mit einer traurigen Geschichte zu dir kommen. Das sieht dir ähnlich. Dies ist ja nicht das erste Mal. Gibst du diesem Mädchen Arbeit, werden Tausende vor deine Tür pilgern. Zu Tausenden werden sie unter die Räder deiner Kutsche geraten. Wir werden eine ganze Bühne voll Tänzerinnen haben. Für die Hauptakteure wird kein Platz mehr sein.«

»Dolly, ich bitte nur für ein einziges Mädchen.«

»Hör zu. Ich hab’ deinen Wohltätigkeitsfimmel bis obenhin satt. Tu, was du nicht lassen kannst, aber halt dich mit diesen Dingen aus meinem Geschäft heraus.«

»Dolly, manchmal hasse ich dich. Du bist so blasiert. Siehst du nicht, daß du mich aufregst? Du verdirbst noch meine Vorstellung heute abend.«

Dolly nahm seine theatralische Pose ein, die Hand an die Stirn gepreßt, das Gesicht verzweifelt in Falten gezogen.

»Oh, wie ich leide! Allmächtiger Gott, wer hielt es für angezeigt, mich zu strafen, was habe ich getan, um diese Frau erdulden zu müssen? Wie kann ich diese Qual ertragen? Sie ist entschlossen, mich zugrunde zu richten. Sie plant meine Vernichtung. Sie will das Stück ruinieren, in das ich alles gesteckt habe, was ich besitze. Sie will meine Bühne mit Hunderten von albern lächelnden, dämlichen Tänzerinnen füllen!«

»Hör auf!« sagte Mutter. »Wer hat von Hunderten gesprochen? Ich sage dir doch, es ist nur eine. Und wenn du ruiniert bist, Mr. Dollington, dann durch deine eigene Hand. Du machst mich krank ... mir ist so übel, daß ich heute abend nicht spielen kann. Du wirst Janet Dare nehmen müssen. Dann kannst du sehen, wie das dem Publikum gefällt. Ihr wird es nichts ausmachen, mit einer Tanztruppe zu spielen, die erbärmlich spärlich besetzt ist, weil Mr. Dollington, der sich am liebsten als Garrick und Kean in einer Person sieht, sich scheut, ein paar Pennys mehr in ein Stück zu investieren, für das andere sich zu Tode schuften. Komm, Noelle, du mußt mir eine Eau-de-Cologne-Kompresse auf die Stirn legen. Ich merke, daß sich rasende Kopfschmerzen ankündigen.«

Sie hatte meine Hand ergriffen und steuerte auf die Tür zu.

Dolly sagte: »Also gut. Ich verspreche nichts, aber ich werde mir das Mädchen ansehen.«

Meine Mutter lächelte übers ganze Gesicht. Die Kopfschmerzen hatten sich verflüchtigt.

»Dolly, Liebling«, sagte sie. »Ich hab’s ja gewußt.«

So kam es, daß Lisa Fennell Dolly vorsang, während George Garland, Mutters Pianist, sie begleitete. Ich war mit Martha zugegen.

»Es ist gut, ein paar Zuhörer zu haben«, hatte meine Mutter gemeint.

Lisa sang Womit kann ich dienen, Madam? Es war eine gekonnte Imitation meiner Mutter.

Dolly brummte etwas und bat sie, einen Tanz vorzuführen. Sie gehorchte. Dolly brummte wieder, gab aber nicht gleich sein Urteil ab.

»Er will nur sein Gesicht wahren«, flüsterte meine Mutter mir zu. »Sei’s ihm gegönnt. Alles läuft nach Wunsch.«

Im Laufe des Tages schickte Dolly Bescheid, daß Lisa Fennell am kommenden Montag in der Tanztruppe anfangen könne. In der Zwischenzeit solle sie sich ein wenig in die Tänze einüben.

Lisa war selig. »Ich kann es nicht glauben. Ich kann es einfach nicht glauben«, sagte sie wieder und wieder. »Man denke, ich werde mit der großen Désirée auf der Bühne stehen!«

Meine Mutter, die nicht weniger erfreut war als sie, sagte: »Ich weiß, Sie werden erfolgreich sein. Sie haben den richtigen Elan.«

»Und wenn man bedenkt, wenn ich nicht angefahren und fast getötet worden wäre ...«

»So ist das Leben, Liebes«, sagte meine Mutter. »Etwas Schreckliches geschieht, und am Ende erweist es sich als etwas Gutes.«

Lisa gehörte alsbald zum Ensemble, und sie betete meine Mutter an.

Ich sagte: »Sie imitiert deine Stimme. Sie geht mit demselben Schwung wie du. Du bist Ihr Vorbild, ihr Ideal.«

»Sie ist theaterbesessen, das ist alles. Ich hab’s geschafft, und sie bahnt sich ihren Weg nach oben.«

»Sie ist dir so dankbar. Du hast ihr zu ihrer Chance verholfen.«

»Jetzt kann wenigstens keiner mehr sagen, daß sie keine Erfahrung hätte.«

Eines Tages sagte Lisa zu mir: »Ich habe mich nach einem Quartier umgesehen. Ich möchte auf alle Fälle in der Nähe des Theaters wohnen. Alles ist so schrecklich teuer. Ich schätze, ich kann es mir gerade eben leisten. Ihre Mutter war wunderbar. Aber ich kann ihre Gastfreundschaft nicht länger in Anspruch nehmen.«

Ich erzählte meiner Mutter, was sie gesagt hatte.

»Ich nehme an, sie möchte unabhängig sein. Der Mensch hat gern etwas Eigenes. Dolly ist ein alter Geizkragen. Er sagt, er könne Tänzerinnen keine Phantasiegagen zahlen. Wenn ihnen nicht genüge, was sie bekommen, könnten sie ja jederzeit woanders hingehen.«

»Sie sagte, daß Wohnungen teuer sind.«

»Sie stört hier doch nicht, oder?«

»Nein. Sie ist still und hilfsbereit und kommt mit allen gut aus.«

»Schön. Sag ihr, sie kann bleiben, wenn sie mag. Sie kann in die Mansarde ziehen, falls sie Bedenken hat. Die wird nie benutzt, und da oben wäre sie ganz für sich.«

Als ich es Lisa erzählte, strahlte sie vor Freude.

»Nicht nur, daß ich mir nichts suchen muß, was ich mir eigentlich gar nicht leisten kann ... ich Werde hier sein, bei Ihrer Mutter ... mitten im Geschehen ...«

»Meine Mutter meint, dort oben könnten Sie ganz für sich sein.«

»Ich weiß nicht, was ich sagen soll. So gut ist noch nie jemand zu mir gewesen. Désirée ist ein Engel.«

»Sie ist ein wunderbarer Mensch. Ich glaube, das haben eine Menge Leute erkannt.«

Als sie sich bei Désirée bedankte, bekam sie zu hören: »Sie werden schon eine Möglichkeit finden, es mir zu vergelten, wenn Sie es wünschen. Aber ich bestehe nicht auf Bezahlung. Ich sage Ihnen, Liebes, es macht mir ebensoviel Freude wie Ihnen, zu sehen, wie Sie Ihre Arbeit anpacken. Sie werden vorankommen, und ich werde die erste sein, die Ihnen gratuliert.«

»Und wenn man bedenkt, daß es ohne Sie nie hätte geschehen können.«

»Es gibt immer Mittel und Wege, Liebes.«

Unser Leben nahm seinen gewohnten Lauf. Von Lisa Fennell bekam ich nicht viel zu sehen. Ich glaube, sie fürchtete, daß sie stören würde. Sie bewohnte das große Mansardenzimmer mit der schrägabfallenden Decke und lebte dort still und zufrieden. Wenn sie Lieder aus Komteß Maud sang, glaubte ich oft meine Mutter singen zu hören.

Es war drei Monate nach der Premiere von Komteß Maud, und immer noch strömten die Zuschauer herbei, um das Stück zu sehen. Manche kamen mehr als einmal. Das war ein Zeichen für Erfolg.

Nach dem Theater kam Lisa immer mit meiner Mutter und Martha nach Hause. Ich hatte den Eindruck, daß Martha mit dieser Gepflogenheit nicht einverstanden war. Sie war sehr eifersüchtig, was meine Mutter betraf, und ich war überzeugt, daß sie ihr das Interesse für Lisa verübelte.

Lisa merkte das und gab sich alle Mühe, niemanden zu verletzen. Tatsächlich schien mir, daß Lisa vieles mitbekam und behutsam zu Werke ging, aus Furcht, sich jemanden zum Feind zu machen.

Als ich dies meiner Mutter gegenüber erwähnte, meinte sie: »Ja, das ist schon möglich. Das arme Mädchen ist ängstlich darauf bedacht, seine Stellung zu behalten. Sie will niemanden verärgern. Ich weiß genau, was sie empfindet. Wir müssen uns bemühen, es ihr leichtzumachen.«

Dann geschah etwas Schicksalhaftes. Janet Dare hatte einen Unfall. Sie war eines Nachmittags in der Regent Street einkaufen gewesen, war auf dem Bürgersteig ausgerutscht und hatte sich einen zweifachen Beinbruch zugezogen. Es würde lange dauern, bis sie wieder arbeiten konnte.

Janet gehörte der Tanztruppe an und war zugleich die zweite Besetzung. Das Ballett würde nun wieder so sein, wie es gewesen war, bevor Lisa kam. Damit konnten sie zurechtkommen, aber eine zweite Besetzung war, wenngleich glücklicherweise selten benötigt, unumgänglich.

Ich sah die Träume in Lisas Augen.

Sie wandte sich zuerst an meine Mutter. »Ich kenne die Lieder. Ich kenne die Tänze ... und ich habe alle Ihre Vorstellungen gesehen.«

»Ich weiß«, sagte meine Mutter. »Sie wären die Richtige. Ich kann nicht für Dolly sprechen. Wenn ich Sie vorschlage, wird er bestimmt Einwände erheben.«

»Aber ich kenne das Stück so gut. Ich würde üben ... ich würde proben ...«

»Ich weiß, Liebes. Sie sind die Richtige dafür. Überlassen Sie das mir. Ich will sehen, was ich tun kann.«

Dolly war erstaunlich entgegenkommend. Er muß wohl eingesehen haben, daß Lisa Fennell die beste Wahl war. Sie hatte sich nach meiner Mutter geformt. Sie kannte die Lieder.

Er erhob keine Einwände.

So kam es, daß Lisa Fennell neben ihrer Rolle in der Tanztruppe Désirées zweite Besetzung wurde.

Tochter der Täuschung

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