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Drei Wünsche im Zauberwald

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Ich sitze in der Falle. Ich bin in einem Netz gefangen, und es ist nur ein kleiner Trost, daß ich das Netz selbst gesponnen habe. Der Gedanke an die Tragweite dessen, was ich getan habe, erfüllt mich mit lähmender Angst. Ich habe niederträchtig, vielleicht sogar verbrecherisch gehandelt; jeden Morgen, wenn ich aufwache, schwebt eine drohende Wolke über mir, und ich frage mich, welch neues Mißgeschick dieser Tag für mich bereithält. Wie oft habe ich gewünscht, ich hätte nie von Susannah, Esmond und den anderen gehört – besonders aber von Susannah. Ich wünsche, ich hätte nie einen Blick auf Mateland geworfen, dieses stattliche, ehrwürdige Schloß, das mit seinem mächtigen Pförtnerhaus, seinen grauen Mauern und Zinnen wie der Schauplatz eines Ritterromans aus dem Mittelalter wirkte. Dann wäre ich nie in Versuchung geraten.

Am Anfang sah alles so einfach aus, und ich war so verzweifelt. »Dieser alte Teufel packt dich am Ellbogen und verführt dich«, hätte meine alte Freundin Cougaba auf der Vulkaninsel gesagt. Es stimmte. Der Satan hatte mich verführt, und ich war der Versuchung erlegen. Deshalb befinde ich mich hier auf Schloß Mateland und suche, gefangen und verzweifelt nach einem Ausweg aus einer Lage, die mit jedem Tag bedrohlicher wird.

Die Anfänge liegen weit zurück – eigentlich begann alles schon vor meiner Geburt. Es ist die Geschichte meines Vaters und meiner Mutter; es ist die Geschichte Susannahs – und natürlich auch meine. Doch als mir zum erstenmal bewußt wurde, daß es mit mir eine besondere Bewandtnis hatte, war ich gerade erst sechs Jahre alt.

Ich verbrachte die frühen Jahre meiner Kindheit in der Holzapfelhütte am Dorfanger von Cherrington. Der Anger lag im Schatten der Kirche. In seiner Mitte befand sich ein Weiher. An schönen Tagen ließen sich dort die alten Männer auf der Holzbank nieder und verplauderten den Vormittag. Auch ein Maibaum stand auf dem Anger, und am ersten Mai wählten die Dorfbewohner eine Königin. Ich beobachtete die Feierlichkeiten durch die Ritzen der Jalousien vor dem Fenster der guten Stube, sofern es mir gelang, den wachsamen Augen Tante Amelias zu entkommen.

Tante Amelia und Onkel William waren sehr fromm und meinten, der Maibaum sollte entfernt werden und mit diesen heidnischen Bräuchen müsse Schluß sein; doch glücklicherweise waren wir anderen nicht dieser Ansicht.

Wie gerne wäre ich dort draußen gewesen. Ich sehnte mich danach, das junge Grün aus den Wäldern zu holen, eines der Bänder zu ergreifen und mit den ausgelassen Feiernden um den Maibaum zu tanzen. Ich hielt es für den Gipfel der Glückseligkeit, zur Maikönigin gewählt zu werden. Doch für diese Ehre mußte man wenigstens sechzehn Jahre alt sein, und ich war damals noch nicht einmal sechs.

Ich hätte mein seltsames Leben vermutlich noch eine ganze Weile so hingenommen, wären da nicht all diese Winke und Andeutungen gewesen. Einmal hörte ich Tante Amelia sagen: »Ich weiß nicht, ob wir auch das Richtige getan haben, William. Miss Anabel hat mich gebeten, und ich gab einfach nach.«

»Denk doch auch an das Geld«, mahnte Onkel William.

»Aber es bedeutet doch, daß wir eine Sünde billigen.«

Onkel William versicherte ihr, daß niemand behaupten könne, sie hätten gesündigt.

»Wir haben einer Sünderin vergeben, William«, beharrte sie.

William erwiderte, sie hätten keine Schuld auf sich geladen. Sie hätten nur getan, wofür sie bezahlt würden, und womöglich könnten sie damit der Hölle eine Seele entreißen.

»Die Sünden der Väter werden den Kindern vergolten«, erinnerte ihn Tante Amelia.

Er nickte nur und ging hinaus zum Holzschuppen, wo er eine Weihnachtskrippe für die Kirche schnitzte.

Mir wurde allmählich klar, daß Onkel William nicht so ausschließlich danach strebte, gut zu sein, wie Tante Amelia. Er lächelte hin und wieder – zwar ein verschämtes Lächeln, aber es deutete sich doch zuweilen an; und als er mich einmal während der Festlichkeiten am ersten Mai durch die Jalousien spähen sah, ging er ohne etwas zu sagen aus dem Zimmer.

Gewiß, ich schreibe dies erst nach Jahren auf, doch ich glaube mich zu erinnern, daß ich sehr bald merkte, daß in Cherrington gewisse Mutmaßungen über mich geäußert wurden. Onkel William und Tante Amelia waren ein für die Betreuung eines Kindes ungeeignetes Paar.

Matty Grey, die eine der Hütten am Anger bewohnte und an Sommertagen vor ihrer Tür zu sitzen pflegte, galt im Dorf als eine Art Original. Ich plauderte gern mit Matty, wann immer es mir möglich war. Das wußte sie, und wenn ich in ihre Nähe kam, stieß sie seltsame schnaufende Laute aus, und ihr fetter Körper zitterte, was ihre Art zu lachen war. Dann rief sie mich zu sich und lud mich ein, mich zu ihren Füßen niederzusetzen. Sie nannte mich »armes kleines Würmchen« und befahl ihrem Enkel Tom, ja nett zur kleinen Suewellyn zu sein.

Mein Name gefiel mir recht gut. Er war von Susan Ellen abgeleitet. Ich glaube, das »w« hatte man dazwischengeschoben, um die zwei nebeneinanderstehenden »e« zu trennen. Ich fand den Namen hübsch. Ausgefallen. In unserem Dorf gab es eine Menge Ellens und eine Susan, die Sue gerufen wurde. Aber Suewellyn war einmalig.

Tom gehorchte seiner Großmutter. Er sorgte dafür, daß die anderen Kinder aufhörten, mich zu hänseln, weil ich anders war. Ich besuchte die private Elementarschule, deren Vorsteherin eine ehemalige Gouvernante vom Gutshaus war. Sie hatte die Tochter des Gutsherrn unterrichtet. Als die junge Dame ihre Dienste nicht mehr benötigte, hatte sie ein kleines Haus unweit der Kirche bezogen und eine Schule eröffnet, in welche nun die Dorfkinder gingen. Unter ihnen war auch Anthony, der Sohn der Tochter des Gutsherrn. Nach einem Jahr würde er einen Hauslehrer bekommen, und später würde er ins Internat gehen. Es war schon eine buntgemischte Gesellschaft, die sich da in Miss Brents Stube versammelte und mit Holzstäbchen Buchstaben in mit Sand gefüllte flache Kästen kritzelte und das Einmaleins herunterleierte. Wir waren zwanzig, im Alter von fünf bis elf, aus allen Volksschichten; für manche war die Ausbildung mit elf Jahren zu Ende, andere würden sie fortsetzen. Außer dem Erben des Gutsherrn waren da noch die Töchter des Arztes und die drei Kinder eines ortsansässigen Bauern sowie all diejenigen, die so waren wie Tom Grey. Unter ihnen war ich das einzige Kind, das ungewöhnlich war.

Mit mir hatte es nämlich etwas Geheimnisvolles auf sich. Ich war bereits geboren, ehe ich eines Tages im Dorf auftauchte. Die Ankunft der meisten Kinder war sonst ein vielbesprochenes Ereignis, bevor der Neuankömmling wirklich in Erscheinung trat. Mit mir war das anders. Ich lebte bei einem Ehepaar, das für die Betreuung eines Kindes höchst ungeeignet war. Ich war immer gut angezogen und trug zuweilen Kleider, die weit kostspieliger waren, als es der Stand meiner Pflegeeltern erlaubt hätte.

Dann waren da die Besuche. Einmal im Monat kam sie.

Sie war schön. Sie fuhr in der Bahnhofsdroschke vor der Hütte vor, und ich wurde zu ihr in die gute Stube geschickt. Ich wußte, daß es ein bedeutendes Ereignis war. Denn die gute Stube wurde nur zu besonderen Gelegenheiten benutzt etwa wenn der Pfarrer zu Besuch kam. Die Jalousien waren stets heruntergelassen, aus Furcht, die Sonne könnte den Teppich ausbleichen oder den Möbeln schaden. Hier herrschte eine heilige Atmosphäre. Vielleicht lag es an dem Bild von Christus am Kreuz oder an dem Heiligen – ich glaube, es war Sankt Stephan –, in dem lauter Pfeile steckten und aus dessen Wunden Blut tropfte; gleich daneben hing ein Jugendbildnis unserer Königin, die sehr streng, hochmütig und mißbilligend dreinschaute. Das Zimmer wirkte bedrückend auf mich, und nur bei verführerischen Ereignissen, wie es die Festlichkeiten am ersten Mai wären, traute ich mich hinein, um durch die Ritzen auf das übermütige Treiben auf dem Anger zu spähen.

Doch wenn sie da war, war das Zimmer wie verwandelt Sie hatte prachtvolle Kleider. Sie trug stets mit Rüschen und Bändern besetzte Blusen, lange Glockenröcke und kleine, mit Federn und Schleifen verzierte Hüte.

Sie sagte jedesmal: »Hallo, Suewellyn!«, so, als sei sie mir gegenüber ein wenig schüchtern. Dann lief ich auf sie zu und ergriff ihre ausgestreckte Hand. Sie hob mich hoch und musterte mich so eindringlich, daß ich mich ängstlich fragte, ob mein Scheitel gerade war und ob ich nicht vergessen hatte, mich hinter den Ohren zu waschen.

Wir setzten uns nebeneinander auf das Sofa. Eigentlich haßte ich dieses Sofa. Es war aus Roßhaar und pikte sogar durch meine Strümpfe hindurch an den Beinen; doch wenn sie da war, merkte ich nichts davon. Sie stellte mir eine Menge Fragen, die alle mich betrafen. Was aß ich gern? War mir im Winter kalt? Wie ging es mir in der Schule? Waren alle nett zu mir? Als ich lesen lernte, wünschte sie, daß ich ihr zeigte, wie gut ich es beherrschte. Sie drückte mich an sich, und wenn die Droschke wieder vorfuhr, um sie zum Bahnhof zu bringen, umarmte sie mich und machte ein Gesicht als würde sie gleich weinen.

Das war alles sehr schmeichelhaft. Denn wenn sie sich auch eine Weile mit Tante Amelia unterhielt und ich unterdessen aus der guten Stube geschickt wurde, schien es doch, als ob ihre Besuche vornehmlich mir galten.

Wenn sie fort war, kam es mir vor, als habe sich im Haus etwas verändert Onkel William sah aus, als strenge er sich mächtig an, damit seine Miene sich zu einem Lächeln verzog, und Tante Amelia ging umher und murmelte vor sich hin: »Ich weiß nicht, ich weiß nicht.«

Natürlich wurden die Besuche im Dorf bemerkt. James, der Droschkenkutscher, und der Stationsvorsteher flüsterten über sie. Später wurde mir klar, daß sie ihre eigenen Schlüsse aus der eigentlich gar nicht so geheimnisvollen Angelegenheit zogen, und ich bezweifle nicht, daß ich schon viel früher davon erfahren hätte, wenn Matty Grey ihrem Enkel nicht eingeschärft hätte, sich meiner anzunehmen. Tom hatte klar zu verstehen gegeben, daß ich mich unter seinem Schutz befand und daß jeder, der mich beleidigte, es mit ihm zu tun bekäme. Ich liebte Tom, obgleich er sich nie herabließ, viele Worte mit mir zu wechseln. Doch für mich war er mein Beschützer, mein Ritter in schimmernder Rüstung, mein Lohengrin.

Aber selbst Tom konnte nicht verhindern, daß die Kinder die Köpfe zusammensteckten und über mich tuschelten, und eines Tages bemerkte Anthony den Leberfleck rechts an meinem Kinn, unmittelbar unter meinem Mund.

»Seht mal, Suewellyn hat ein Zeichen im Gesicht«, rief er da. »Da hat sie der Teufel geküßt.«

Alle lauschten mit weit aufgerissenen Augen, als er ihnen erzählte, daß der Teufel um Mitternacht komme und sich die Seinen auserwähle. Dann küsse er sie, und wo er sie berührt hätte, hinterlasse er ein Mal.

»Unsinn«, sagte ich. »Eine Menge Leute haben Leberflecke, das weiß doch jeder.«

»Dies ist eine ganz bestimmte Sorte«, sagte Anthony düster. »Die erkenne ich auf den ersten Blick. Ich habʼ einmal eine Hexe gesehen, die hatte genau so einen Fleck wie den da an ihrem Mund ... versteht ihr?«

Alle starrten mich entgeistert an.

»Sie sieht aber nicht wie eine Hexe aus«, meinte Jane Motley, und ich war sicher, daß sie recht hatte. In meinem braven Kattunkleid und mit meinem streng aus der Stirn gekämmten Haar, das zu zwei mit marineblauen Samtbändern zusammengehaltenen Zöpfen geflochten war, sah ich ganz gewiß nicht wie eine Hexe aus. Eine ordentliche, saubere, anständige Haartracht sei das, wie Tante Amelia oft betonte, wenn ich mein Haar offen tragen wollte.

»Hexen können ihre Gestalt verwandeln«, erklärte Anthony.

»Ich habʼja immer gewußt, daß Suewellyn irgendwie anders ist«, sagte Gill, die Tochter des Schmieds.

»Wie schaut er denn aus, der ... Teufel?« fragte jemand.

»Ich weiß es nicht«, antwortete ich. »Ich habʼ ihn nie gesehen.«

»Glaubt ihr kein Wort«, sagte Anthony Felton. »Sie hat das Teufelsmal.«

»Du bist ja blöde«, sagte ich zu ihm, »und niemand würde auf dich hören, wenn du nicht der Enkel des Gutsherrn wärst.«

»Hexe«, sagte Anthony.

Tom war an diesem Tag nicht in der Schule. Er mußte seinem Vater bei der Kartoffelernte helfen.

Ich hatte Angst. Die sahen mich alle so merkwürdig an, und auf einmal wurde mir bewußt, daß es mit mir eine besondere Bewandtnis hatte, daß ich anders war als die Masse.

Es war ein seltsames Gefühl – einerseits frohlockte ich, weil ich anders war, andererseits war mir bange.

Dann kam Miss Brent herein, und es wurde nicht mehr geflüstert; doch als der Unterricht zu Ende war, rannte ich schleunigst aus der Schule. Ich fürchtete mich vor diesen Kindern. Ich hatte es ihren Augen angesehen, daß sie wirklich glaubten, der Teufel habe mich des Nachts heimgesucht und mir sein Mal aufgeprägt.

Ich lief über den Anger zu Matty Grey, die vor ihrer Tür saß, einen Halbliterkrug neben sich, die Hände im Schoß gefaltet Sie rief mir entgegen: »Wo rennst du denn hin ... als wäre dir der Teufel auf den Fersen.«

Kalte Furcht ergriff mich. Ich blickte über meine Schulter.

Matty brach in Gelächter aus. »Ist doch bloß so ʼne Redensart Kein Teufel ist hinter dir her. Aber du siehst ja wirklich zu Tode erschrocken aus.«

Ich ließ mich zu ihren Füßen nieder.

»Wo ist Tom?« fragte ich.

»Der buddelt noch immer Kartoffeln aus. Ist ʼne gute Ernte dieses Jahr.« Sie leckte sich die Lippen, »ʼs geht nichts über ʼne gute Kartoffel. Schön heiß und mehlig, mit ʼner leckeren braunen Pelle. Was Besseres gibtʼs nicht Suewellyn.«

Ich sagte: »Es ist wegen meines Leberflecks im Gesicht.«

Matty beäugte mich, ohne sich zu rühren. »Was ist damit?« fragte sie. »Das ist doch bloß ein Schönheitsfleck, weiter nichts.«

»Da hat mich der Teufel geküßt haben sie gesagt.«

»Wer hat das gesagt?«

»Die in der Schule.«

»Sie haben kein Recht so etwas zu sagen. Ich werdʼs Tom erzählen, und dann sorgt er dafür, daß sie aufhören.«

»Warum ist der Fleck dann da, Matty?«

»Oh, manchmal wird man damit geboren. Die Menschen kommen mit allen möglichen Sachen auf die Welt. Die Cousine meiner Tante sah bei ihrer Geburt aus, als hätte sie einen Büschel Erdbeeren im Gesicht ... bloß weil ihre Mutter ʼne Vorliebe für Erdbeeren hatte, bevor sie auf die Welt kam.«

»Und was für eine Vorliebe hatte meine Mutter, daß ich mit so einem Fleck auf die Welt kam?«

Ich dachte: Und wo ist meine Mutter? Das war eine weitere Merkwürdigkeit an mir: Ich hatte keine Mutter. Ich hatte keinen Vater. Es gab Waisen im Dorf, aber die wußten wenigstens, wer ihre Eltern gewesen waren. Ich dagegen wußte es nicht.

»Je nun, das kann man nie wissen, Mäuschen«, sagte Matty begütigend. »Solche Dinger kriegt man eben ab und zu. Ich kannte mal ein Mädchen, das kam mit sechs Fingern auf die Welt Na, das ließ sich schwerlich verheimlichen. Was ist schon ein Leberfleck, der bisher niemandem aufgefallen ist? Ich will dir was sagen. Ich finde, der ist richtig hübsch. Manche Leute machen ein Riesengetue um so ʼn Ding. Sie malen es sogar dunkler, damit manʼs besser sieht. Du brauchst dir deswegen wirklich keine Sorgen zu machen.«

Matty war einer der gütigsten Menschen, die mir in meinem Leben begegnet sind. Sie war mit ihrem Los zufrieden, obwohl es aus wenig mehr bestand als einem Dasein in der dunklen kleinen Hütte – »eins rauf, eins runter, ein Eckchen zum Waschen und Kochen und ein Abtritt hinten im Garten«, so beschrieb sie ihre Behausung. Ihr Sohn, Toms Vater, wohnte in der Hütte gleich nebenan. »Nahe, aber nicht zu dicht«, pflegte sie zu sagen, »just wie es sein soll.« Und wenn sie an trockenen Tagen draußen sitzen und das Geschehen beobachten konnte, dann begehrte sie nichts weiter.

Mochte Tante Amelia auch mißbilligend bemerken, daß Matty, wenn sie vor ihrer Tür saß, das harmonische Bild des Angers störe – Matty lebte ihr Leben nach ihrem eigenen Willen und hatte einen Zustand der Zufriedenheit erreicht, wie es nur wenigen Menschen gelingt.

Als ich am nächsten Tag zur Schule kam, flüsterte mir Anthony Felton ins Ohr: »Du bist ein Bastard.«

Ich starrte ihn an. Ich hatte diesen Ausdruck als Schimpfwort gehört und setzte dazu an, Anthony zu sagen, was ich von ihm hielt; aber da kam Tom hinzu, und Anthony verzog sich sofort. »Tom«, flüsterte ich, »er hat Bastard zu mir gesagt.«

»Mach dir nichts draus«, meinte Tom und fügte geheimnisvoll hinzu: »Bastard nicht in dem Sinn, wie du denkst.« Ich fand das damals sehr verwirrend.

Zwei oder drei Tage vor meinem sechsten Geburtstag befahl Tante Amelia mich in die gute Stube, um etwas mit mir zu besprechen. Sie tat sehr feierlich, und ich wartete auf das, was sie mir zu sagen hatte.

Es war der erste September, und einem Sonnenstrahl war es gelungen, durch eine Ritze der nicht ganz geschlossenen Jalousien hereinzudringen. Ich sehe heute noch alles ganz deutlich vor min das Roßhaarsofa, die passenden Roßhaarsessel, die gottlob nur selten benutzt wurden, mit ihren säuberlich über die Rückenlehnen gestreiften Schonbezügen; die Etagere in der Ecke mit ihren Verzierungen, die zweimal in der Woche abgestaubt wurde; die Heiligenbilder an der Wand und das Konterfei der jungen Königin mit dem mißbilligenden Blick, den verschränkten Armen und dem Hosenbandorden über der Schulter. In diesem Zimmer gab es nichts Heiteres, und deshalb wirkte der Sonnenstrahl so fehl am Platz. Ich war sicher, daß Tante Amelia ihn bald bemerken und die Jalousien vollends schließen würde.

Aber sie tat zu meiner großen Überraschung nichts dergleichen. Sie war offensichtlich mit ihren Gedanken ganz woanders und schien recht besorgt.

»Miss Anabel kommt am Dritten«, sagte sie. Der dritte September war mein Geburtstag.

Ich faltete die Hände und wartete. Miss Anabel war stets an meinem Geburtstag gekommen.

»Sie denkt an ein kleines Fest für dich.«

Mein Herz klopfte schneller. Ich wartete atemlos.

»Wenn du brav bist ...«, sprach Tante Amelia weiter. Es war die übliche Einschränkung, und ich achtete kaum darauf. Sie fuhr fort: »... kannst du dein Sonntagskleid anziehen, obwohl es ein Donnerstag ist.«

An einem Donnerstag Sonntagskleider zu tragen, das erschien mir wahrhaft ungeheuerlich.

Tante Amelia hatte die Lippen fest zusammengepreßt. Ich sah ihr an, daß ihr das Vorhaben mißfiel.

»Sie will an diesem Tag mit dir ausgehen.«

Ich war fassungslos. Ich konnte mich kaum beherrschen. Am liebsten wäre ich auf dem Roßhaarsessel auf und nieder gehüpft.

»Wir müssen darauf achten, daß du nichts falsch machst«, sagte Tante Amelia. »Ich möchte nicht, daß Miss Anabel denkt, wir erziehen dich nicht wie eine Dame.«

Ich platzte heraus, daß ich alles recht machen würde. Ich wollte nichts vergessen, was man mich gelehrt hatte. Ich würde nicht mit vollem Mund sprechen. Ich wollte mein Taschentuch bereithalten, falls es gebraucht würde. Ich wollte nicht vor mich hin summen. Ich wollte immer erst reden, wenn ich gefragt würde.

»Sehr gut«, sagte Tante Amelia, und später hörte ich Onkel William bemerken: »Was denkt sie sich nur dabei? Mir gefallt das nicht Es setzt dem Kind Flausen in den Kopf.«

Der große Tag kam. Mein sechster Geburtstag. Ich hatte meine schwarzen Knöpfstiefel an und meine dunkelblaue Jacke, darunter nur ein Kleid aus glänzender Baumwolle. Ich trug dunkelblaue Handschuhe und einen Strohhut mit einem Gummiband unter dem Kinn, damit er nicht fortfliegen konnte.

Miss Anabel kam mit einer Droschke vom Bahnhof, und als sie zurückfuhr, saß ich mit darin.

Miss Anabel wirkte an diesem Tag verändert. Ich hatte den Eindruck, daß sie sich in Tante Amelias Gegenwart ein wenig fürchtete. Sie lachte unentwegt umklammerte meine Hände und sagte zwei- oder dreimal: »Ist das schön, Suewellyn!«

Unter den neugierigen Blicken des Stationsvorstehers stiegen wir in den Zug, und kurz darauf dampften wir davon. Ich konnte mich nicht erinnern, zuvor schon einmal mit der Eisenbahn gefahren zu sein, und ich wußte nicht, was ich aufregender fand, das Geräusch der Räder, die ein munteres Lied zu singen schienen, oder die vorübersausenden Felder und Wälder; das größte Vergnügen jedoch war die Gegenwart von Miss Anabel, die ganz dicht neben mir saß und ab und zu meine Hand drückte.

Ich hätte Miss Anabel gern so viele Fragen gestellt doch ich besann mich, daß ich Tante Amelia gelobt hatte, mich wie ein wohlerzogenes Mädchen zu benehmen.

»Du bist so still, Suewellyn«, sagte Miss Anabel, und ich erklärte ihr, daß ich nur reden dürfe, wenn ich gefragt würde.

Sie lachte; sie hatte ein glucksendes Lachen, das mich jedesmal, wenn ich es hörte, zum Mitlachen reizte.

»Oh, das kannst du vergessen«, sagte sie. »Ich möchte, daß du mit mir sprichst, wann immer du Lust dazu hast. Du sollst mir alles erzählen, was dir in den Sinn kommt.«

Seltsam, als der Bann gebrochen war, fiel mir nichts mehr ein. Ich sagte: »Fragen Sie mich was.«

Sie legte den Arm um mich und drückte mich an sich. »Ich möchte, daß du mir sagst, daß du glücklich bist. Du hast Onkel William und Tante Amelia doch gern, nicht wahr?«

»Sie sind alle beide sehr gut«, erwiderte ich, »besonders Tante Amelia.«

»Ist Onkel William nicht nett zu dir?« fragte sie rasch.

»Doch, doch. Sogar netter. Tante Amelia ist nämlich so schrecklich gut, daß sie selten nett sein kann. Sie lacht nie ...« Ich brach ab, weil Miss Anabel furchtbar lachen mußte und es so aussah, als behauptete ich, sie sei nicht nett.

Sie umarmte mich und sagte: »O Suewellyn ... was bist du doch für ein kleines Mädchen.«

»Bin ich nicht«, widersprach ich. »Ich bin größer als Clara Feen und Jane Motley. Und die sind älter als ich.«

Sie drückte mich an sich, so daß ich ihr Gesicht nicht sehen konnte, und ich hatte den Eindruck, daß sie es absichtlich vor mir verbarg. Der Zug hielt und sie sprang auf. »Hier steigen wir aus«, sagte sie. Sie nahm mich bei der Hand, und wir verließen den Zug. Wir rannten fast den Bahnsteig entlang. Draußen stand ein zweirädriger Einspänner. Eine Frau saß darin.

»O Janet«, rief Miss Anabel, »ich wußte, daß du kommen würdest.«

»ʼs ist nicht recht«, sagte die Frau mit einem Blick auf mich. Sie hatte ein blasses Gesicht und braunes, im Nacken zu einem Knoten zusammengefaßtes Haar. Sie trug eine braune Haube, die mit Bändern unter dem Kinn befestigt war, und ich mußte plötzlich an Onkel William denken, weil ich merkte, daß sie sich bemühte, ein Lächeln zu unterdrücken.

»Das ist also das Kind, Miss«, sagte sie.

»Ja, das ist Suewellyn«, erwiderte Miss Anabel.

Janet schnalzte mit der Zunge. »Ich weiß nicht, warum ich ...«, begann sie.

»Janet, das wird ein wundervoller Tag. Ist der Korb da?«

»Alles wie befohlen, Miss.«

»Komm, Suewellyn«, sagte Miss Anabel. »Steig in die Kutsche. Wir machen eine Spazierfahrt.«

Janet saß vorn und hielt die Zügel. Miss Anabel und ich nahmen hinter ihr Platz. Miss Anabel umklammerte meine Hand. Sie lachte wieder.

Der Einspänner setzte sich in Bewegung, und bald fuhren wir über baumgesäumte Feldwege. Ich wünschte, es würde ewig so weitergehen. Es war, als betrete ich eine verzauberte Welt. Die Bäume begannen gerade, sich bunt zu färben; ein schwacher Dunst lag in der Luft, und der diesige Sonnenschein verlieh der Landschaft etwas Geheimnisvolles.

»Ist dir warm genug, Suewellyn?« erkundigte sich Miss Anabel. Ich nickte glücklich. Ich wollte nicht sprechen. Ich hatte Angst den Zauber zu brechen; ich fürchtete, ich würde in meinem Bett aufwachen und feststellen, daß ich alles nur geträumt hatte. Ich versuchte, jeden Augenblick einzufangen und festzuhalten; jetzt, sagte ich zu mir. Es ist freilich immer jetzt, aber ich wünschte, dieser Augenblick des Jetzt bliebe mir ewig erhalten.

Ich war nahezu unerträglich aufgeregt nahezu unerträglich glücklich.

Als der Einspänner plötzlich anhielt, stieß ich einen Seufzer der Enttäuschung aus. Aber es sollte noch mehr kommen.

»Das ist die Stelle«, sagte Janet »Aber, Miss Anabel, ich finde, es ist viel zu nahe, um sich hier so sorglos niederzulassen.«

»Ach was, Janet. Es ist vollkommen sicher. Wie spät ist es?«

Janet blickte auf die Uhr, die sie an ihrer schwarzen Bluse befestigt hatte.

»Halb zwölf«, sagte sie.

Miss Anabel nickte. »Nimm den Korb«, sagte sie. »Mach alles bereit. Suewellyn und ich machen einen kleinen Spaziergang. Das ist dir doch recht, Suewellyn, oder?«

Ich nickte. Mir wäre alles recht gewesen, was ich mit Miss Anabel zusammen tat.

»Geben Sie nur acht, Miss«, sagte Janet »Wenn man Sie sieht ...«

»Man wird uns schon nicht sehen. Bestimmt nicht. So nahe gehen wir nicht heran.«

»Das will ich auch nicht hoffen.«

Miss Anabel nahm mich bei der Hand, und wir spazierten davon.

»Ist die aber schlecht aufgelegt«, sagte ich.

»Sie ist auf der Hut.«

»Was heißt das?«

»Sie will nichts riskieren.«

Ich verstand zwar nicht, wovon Miss Anabel sprach, war aber zu glücklich, um mir darüber den Kopf zu zerbrechen.

»Laß uns in den Wald gehen«, sagte sie. »Ich möchte dir etwas zeigen. Los, komm!«

Wir sausten zwischen den Bäumen hindurch über das Gras. »Fang mich doch«, rief Miss Anabel.

Es gelang mir beinahe; sie lachte und entwischte mir wieder. Ich geriet außer Atem und war noch glücklicher als im Zug und in der Kutsche. Die Bäume hatten sich gelichtet; wir waren am Waldrand angelangt.

»Suewellyn«, sagte Miss Anabel mit sanfter Stimme. »Schau.« Und dort, ungefähr eine Viertelmeile von uns entfernt stand es, von einem Graben umgeben, auf einem kleinen Hügel. Ich konnte es deutlich sehen. Es war wie ein Schloß aus einem Märchen.

»Was sagst du nun?« fragte Miss Anabel.

»Ist das ... echt?« wollte ich wissen.

»Aber ja ... es ist echt.«

Ich besaß schon immer ein ausgeprägtes Erinnerungsvermögen. Hatte ich nur ein- oder zweimal einen Blick auf etwas geworfen, konnte ich mir alle Einzelheiten merken. Deshalb war es mir auch möglich, das Bild von Schloß Mateland in den kommenden Jahren im Gedächtnis zu bewahren. Ich beschreibe es jetzt so, wie ich es kenne.

Als ich es mit sechs Jahren zum erstenmal erblickte, war der Tag von einem Zauber verklärt, und es blieb mir für einige Jahre in Erinnerung wie ein Traum.

Das Schloß war prächtig und geheimnisvoll. Es war von hohen Mauern umringt, mit mächtigen Rundtürmen an den vier Ecken; an jeder Mauerseite stand ein eckiger Turm, und auch das traditionelle, mit Pechnasen bewehrte Pförtnerhaus fehlte nicht. Lange, schmale Fensterschlitze waren in die Quadermauern eingelassen. Die Brüstung des seitlichen Wachturms, der das darunterliegende Portal schützte, erinnerte mich auf schaurige Weise daran, daß einst siedendes Öl auf jeden herabgegossen wurde, der den Versuch wagte, die Befestigungen zu überwinden. Hinter den Zinnen auf den Mauern befanden sich Wandelgänge, von denen die Verteidiger ihre Pfeile niederprasseln ließen. Dies alles und noch viel mehr erfuhr ich erst später, als ich jeden Kragstein, jede Pechnase, jede Biegung der Wendeltreppen kennenlernen sollte. Doch das Schloß zog mich bereits von jenem ersten Augenblick an in seinen Bann; es war fast, als ergreife es Besitz von mir. Später gefiel ich mir in der Vorstellung, daß es mir meine Handlungsweise aufzwang.

Damals aber vermochte ich nur neben Miss Anabel zu stehen, sprachlos vor Staunen.

Ich hörte sie lachen, und sie flüsterte: »Gefällt es dir?«

Ob es mir gefiel? Dies schien mir ein viel zu schwaches Wort, um auszudrücken, welche Gefühle der Anblick des Schlosses in mir erweckte. Es war das Herrlichste, was ich je gesehen hatte.

In Miss Brents Schulzimmer hing ein Bild von Schloß Windsor. Es war wunderschön. Aber das hier war etwas anderes. Das hier war echt. Die Septembersonne ließ die kleinen scharfen Quarzstückchen im Mauerwerk funkeln.

Miss Anabel wartete auf meine Antwort.

»Es ist schön ... Es ist echt.«

»O ja, es ist echt«, wiederholte Miss Anabel. »Es steht schon seit siebenhundert Jahren dort.«

»Siebenhundert Jahre«, echote ich.

»Eine lange Zeit, hm? Und denk nur, du bist erst seit sechs Jahren auf dieser Erde. Ich freue mich, daß es dir gefällt.«

»Wohnt da auch jemand?«

»O ja, da wohnen Leute.«

»Ritter ...«, flüsterte ich. »Vielleicht die Königin.«

»Nein, nicht die Königin, und es gibt heutzutage auch keine Ritter in Rüstungen mehr ... nicht einmal in siebenhundert Jahre alten Schlössern.«

Plötzlich erschienen vier Leute – ein Mädchen und drei Knaben. Sie ritten über den Rasen vor dem Schloßgraben. Das Mädchen hatte ein Pony; sie fiel mir besonders auf, weil sie ungefähr in meinem Alter sein mußte. Die Knaben waren älter.

Miss Anabel hielt den Atem an. Sie legte ihre Hand auf meinen Arm und zog mich ins Gebüsch.

»Kein Grund zur Aufregung«, flüsterte sie wie zu sich selbst »Sie gehen hinein.«

»Wohnen sie dort?« fragte ich.

»Nicht alle. Nur Susannah und Esmond. Malcolm und Garth sind zu Besuch.«

»Susannah«, sagte ich. »Das klingt ein bißchen wie mein Name.«

»O ja, gewiß.«

Ich beobachtete, wie die Reiter die Brücke, die über den Graben führte, überquerten und durch das Pförtnerhaus im Schloß verschwanden.

Ihr Erscheinen hatte Miss Anabel tief bewegt. Sie ergriff plötzlich meine Hand, und ich erinnerte mich an Tante Amelias Geheiß, nicht zu reden, wenn ich nicht gefragt wurde.

Miss Anabel lief zurück unter die Bäume. Ich versuchte sie zu fangen, und wir lachten wieder.

Wir kamen zu einer Lichtung; dort hatte Janet den Korb ausgepackt und ein Tuch auf dem Gras ausgebreitet; sie legte Besteck und Teller auf.

»Wir wollen noch etwas warten«, sagte Miss Anabel.

Janet nickte mit verkniffenen Lippen, als halte sie eine unfreundliche Bemerkung zurück.

Miss Anabel schien ihre Gedanken zu erraten, denn sie sagte: »Es ist nicht deine Sache, Janet.«

»O nein«, erwiderte Janet mit einem Gesicht wie eine Henne, der sich die Haare sträuben, »das weiß ich sehr gut. Ich tuʼ nur, was man mir aufträgt.«

Miss Anabel gab ihr einen leichten Schubs. Dann sagte sie; »Horcht!«

Wir lauschten. Ich hörte das unverkennbare Geräusch von Pferdehufen.

»Er ist es«, sagte Miss Anabel.

»Seien Sie vorsichtig, Miss«, warnte Janet »Es könnte jemand anders sein.«

Ein Reiter kam in Sicht. Anabel stieß einen Freudenschrei aus und lief ihm entgegen.

Er sprang vom Pferd und band es an einen Baum. Miss Anabel, die für eine Frau recht groß gewachsen war, wirkte neben dem Mann mit einemmal sehr klein. Er legte ihr seine Hände auf die Schultern und blickte sie ein paar Sekunden lang an. Dann fragte er: »Wo ist sie?«

Miss Anabel streckte ihre Hand aus, und ich lief zu ihr.

»Das ist Suewellyn«, sagte sie.

Ich machte einen Knicks, wie ich es vor dem Gutsherrn und dem Pfarrer zu tun pflegte, weil man es mich so gelehrt hatte. Der Mann hob mich hoch, hielt mich in seinen Armen und sah mich prüfend an.

»O je«, sagte er, »wie klein sie noch ist.«

»Vergiß nicht, sie ist erst sechs«, erwiderte Miss Anabel. »Was hast du denn erwartet? Eine Amazone? Dabei ist sie sehr groß für ihr Alter, nicht wahr, Suewellyn?«

Ich sagte, ich sei größer als Clara Feen und Jane Motley, und die seien älter als ich.

»Fein«, sagte er, »das ist ein Glück. Ich bin froh, daß du die zwei überholt hast.«

»Aber Sie kennen sie doch gar nicht«, meinte ich.

Da mußten sie beide lachen.

Er ließ mich hinunter und strich mir übers Haar. Ich trug es heute offen, denn Miss Anabel konnte Zöpfe nicht leiden.

»Jetzt wollen wir essen«, verkündete Miss Anabel. »Janet hat alles vorbereitet.« Sie flüsterte dem Mann zu: »Höchst widerwillig, das kann ich dir versichern.«

»Das brauchst du mir nicht eigens zu versichern«, erwiderte er. »Sie glaubt, dies sei wieder einer von meinen verrückten Plänen.«

»Na und, ist es das nicht?«

»Oh, du hast es genauso gewollt wie ich.«

Seine Hand lag noch immer auf meinem Kopf. Er zerzauste mein Haar und sagte: »Ich glaube schon.«

Anfangs war ich ziemlich enttäuscht, daß er und Janet zugegen waren. Ich hätte Miss Anabel lieber für mich allein gehabt. Doch nach einer Weile änderte ich meine Meinung. Jetzt war es nur noch Janet, die ich nicht dabeihaben wollte. Sie saß ein Stück von uns entfernt und ihre Miene gemahnte mich an Tante Amelia. Das wiederum erinnerte mich an die unerfreuliche Tatsache, daß dieser märchenhafte Tag einmal enden würde, ich in das Haus am Anger zurückkehren mußte und mir nur die Erinnerung blieb. Doch vorerst war jetzt, und das Jetzt war wunderbar.

Wir setzten uns zum Essen nieder, ich saß zwischen Miss Anabel und dem Herrn. Ein- oder zweimal sprach sie ihn mit seinem Vornamen an. Er hieß Joel. Man sagte mir nicht, wie ich ihn nennen sollte, was mich ein wenig verlegen machte. Er hatte etwas Besonderes an sich, und es war unmöglich, sich diesem Flair zu entziehen. Ich spürte, daß Janet Achtung vor ihm hatte. Mit ihm sprach sie nicht so wie mit Anabel. Wenn sie ihn anredete, nannte sie ihn Sir.

Er hatte dunkelbraune Augen, und sein Haar war von etwas hellerem Braun. Er hatte tiefe Grübchen im Kinn und strahlend weiße Zähne. Seine Hände waren kräftig und gepflegt. Sie fielen mir besonders auf; am kleinen Finger trug er einen Siegelring. Mir schien, daß er mich und Miss Anabel beobachtete, und Miss Anabel ihrerseits beobachtete ihn und mich. Janet, die ein wenig abseits saß, hatte ihr Strickzeug hervorgeholt, und ihre klappernden Nadeln schienen ebenso von ihrer Mißbilligung zu künden wie ihr verkniffener Mund.

Miss Anabel erkundigte sich bei mir nach dem Leben in der Hütte bei Tante Amelia und Onkel William. Sie hatte mich das meiste schon vorher gefragt, und mir wurde klar, daß sie die Fragen wiederholte, damit Joel die Antworten hören konnte. Er lauschte aufmerksam, und hin und wieder nickte er.

Das Mahl war köstlich; vielleicht war ich aber auch so verzaubert, daß mir alles anders vorkam als im Alltagsleben. Es gab Hähnchen, knuspriges Brot und eine Art Gewürzgurken, die ich noch nie gekostet hatte.

»Oh«, sagte Miss Anabel, »Suewellyn hat den Wunschknochen.« Sie nahm den Knochen von meinem Teller und hielt ihn in die Höhe.

»Komm, Suewellyn, wir müssen ziehen. Wenn du die größere Hälfte erwischst, hast du einen Wunsch frei.«

»Drei Wünsche«, sagte der Mann.

»Nein, nur einen, Joel, das weißt du doch«, widersprach Miss Anabel.

»Heute sind es drei«, erwiderte er. »Es ist ein besonderer Geburtstag, hast du das vergessen?«

»Natürlich ist es ein besonderer Tag.«

»Also gibt es auch besondere Wünsche. Und jetzt gehtʼs los.«

»Du weißt, was du zu tun hast, Suewellyn«, sagte Miss Anabel. Sie nahm den Knochen. »Du legst deinen kleinen Finger um dieses Ende, und ich lege meinen kleinen Finger um das andere Ende, und dann ziehen wir. Wer das größere Stück bekommt, darf sich etwas wünschen.«

»Dreimal«, sagte Joel.

»Eine Bedingung ist dabei«, erklärte Miss Anabel. »Du darfst deine Wünsche nicht verraten. Fertig?«

Wir legten unsere kleinen Finger um den Knochen. Es knackte. Der Knochen war durchgebrochen, und ich schrie entzückt auf, weil ich das größere Stück in der Hand hielt.

»Suewellyn hat gewonnen!« rief Miss Anabel.

»Mach die Augen zu, und denk dir deine Wünsche«, sagte Joel und lächelte dabei.

Ich hielt den Knochen in der Hand und überlegte, was ich mir am liebsten wünschte. Ich wollte, daß dieser Tag nie endete, aber das wäre ein törichter Wunsch gewesen, denn nichts, nicht einmal ein Hühnerknochen, könnte ihn erfüllen. Ich dachte angestrengt nach. Ich hatte mir immer einen Vater und eine Mutter gewünscht, und ehe ich mich versah, war der Wunsch gedacht – aber ich wollte nicht irgendwelche Eltern. Ich wollte einen Vater wie Joel und eine Mutter wie Miss Anabel. Damit war der zweite Wunsch gedacht. Ich wollte nicht in der Holzapfelhütte leben müssen. Ich wollte bei meinen Eltern wohnen. Die drei Wünsche waren gedacht.

Ich öffnete die Augen. Die beiden beobachteten mich eindringlich.

»Bist du fertig mit deinen Wünschen?« fragte Miss Anabel.

Ich nickte und preßte die Lippen zusammen. Es war sehr wichtig, daß die Wünsche in Erfüllung gingen.

Danach aßen wir köstliche, mit Kirschmarmelade gefüllte Törtchen, und als ich in den süßen Kuchen biß, dachte ich: Eine größere Seligkeit kann es nicht geben.

Joel fragte mich, ob ich reiten könne.

Ich verneinte.

»Das sollte sie aber«, sagte er mit einem Blick auf Miss Anabel.

»Darüber müßte ich mit deiner Tante Amelia sprechen«, meinte Miss Anabel.

Joel erhob sich und reichte mir seine Hand. »Komm, laß uns sehen, ob es dir Spaß macht«, sagte er.

Ich ging mit ihm zu seinem Pferd, und er hob mich in den Sattel. Er führte das Pferd zwischen den Bäumen herum. Ich fand, dies sei der aufregendste Augenblick meines Lebens. Plötzlich sprang Joel hinter mir auf, und schon preschten wir davon, aus dem Wald hinaus auf ein Feld. Das Pferd verfiel in Galopp, immer schneller, und einen Moment dachte ich: Vielleicht ist er der Teufel und will mich entführen.

Doch seltsamerweise hatte ich nichts dagegen. Ich wollte, daß er mich entführte. Ich wollte mein ganzes Leben lang bei ihm und Miss Anabel bleiben. Es war mir einerlei, ob er der Teufel war. Wenn Tante Amelia und Onkel William Heilige waren, dann war mir der Teufel lieber. Ich hatte das Gefühl, das Miss Anabel stets in seiner Nähe war, und wenn ich mit einem von ihnen zusammen wäre, so wäre auch der andere nicht weit.

Doch der aufregende Ritt ging zu Ende, und das Pferd schritt wieder langsam durch die Bäume zu der Lichtung, wo Janet die Picknickreste zusammenpackte und den Korb in dem Einspänner verstaute.

Joel stieg ab und hob mich herunter.

Ich war unbeschreiblich traurig, denn ich wußte, daß mein Besuch im Zauberwald mit dem fernen Schloß vorüber war. Es war wie ein schöner Traum, und ich sträubte mich heftig, daraus zu erwachen. Doch ich wußte, es half nichts.

Joel hob mich auf seine Arme und gab mir einen Kuß. Ich legte meine Arme um seinen Hals. Ich sagte: »Oh, war das schön.«

»Nie habe ich einen Ritt mehr genossen«, erwiderte er.

Miss Anabel sah uns mit einem Blick an, als wüßte sie nicht, ob sie lachen oder weinen sollte; da sie nun einmal Miss Anabel war, lachte sie.

Joel stieg auf sein Pferd und folgte uns zur Kutsche. Miss Anabel und ich kletterten hinein. Er verschwand in die eine Richtung, und wir fuhren in die andere Richtung zum Bahnhof. Dort stiegen wir aus.

»Vergiß nicht, mich vom Zug abzuholen, Janet«, sagte Miss Anabel. Dies gemahnte mich auf traurige Weise daran, daß der Tag fast vorüber war, daß ich bald wieder in die Hütte zurückkehrte und daß die Erlebnisse dieses Tages der Vergangenheit angehörten. Wir saßen nebeneinander im Zug und hielten uns fest an den Händen, als wollten wir uns nie wieder loslassen. Wie der Zug raste! Wie gern hätte ich ihn aufgehalten! Die Räder lachten mich aus: »Bist bald zurück! Bist bald zurück!« sagten sie wieder und wieder.

Kurz vor der Ankunft legte Miss Anabel ihren Arm um mich und fragte: »Was hast du dir gewünscht, Suewellyn?«

»Oh, das darf ich nicht verraten«, rief ich. »Sonst geht es nicht in Erfüllung, und das wäre schrecklich.«

»Waren deine Wünsche denn so dringend?«

Ich nickte.

Sie schwieg eine Weile, und dann sagte sie: »Es stimmt nicht ganz, daß du sie niemandem verraten darfst. Einem Menschen darfst duʼs erzählen, wenn du willst ... und wenn du flüsterst, gehen die Wünsche trotzdem in Erfüllung.«

Ich war selig. Es ist sehr tröstlich, wenn man seine Erlebnisse mit jemandem teilen kann, und mit niemandem hätte ich sie lieber geteilt als mit Miss Anabel.

Also sagte ich: »Zuerst habe ich mir einen Vater und eine Mutter gewünscht. Dann wünschte ich, daß es Sie und Joel sind; und danach wünschte ich, daß wir alle zusammensein könnten.«

Sie sprach lange kein Wort, und ich hätte gern gewußt, ob es ihr leid tat, daß sie es erfahren hatte.

Wir waren am Bahnhof angelangt. Die Droschke erwartete uns, und in wenigen Minuten kamen wir zur Holzapfelhütte. Sie wirkte trostloser denn je, nachdem ich in dem wundersamen Wald gewesen und das Zauberschloß gesehen hatte.

Miss Anabel küßte mich und sagte: »Ich muß mich beeilen, sonst versäume ich meinen Zug.« Sie sah immer noch so aus, als fange sie gleich an zu weinen, obwohl sie lächelte. Ich lauschte auf das Klappern der Pferdehufe, die sie davontrugen.

In meinem Zimmer lagen zwei Päckchen, die Miss Anabel für mich dagelassen hatte. Das eine enthielt ein mit Bändern verziertes Kleid aus blauer Seide. Es war das hübscheste Kleid, das ich je gesehen hatte. Das war Miss Anabels Geburtstagsgeschenk. In dem anderen Päckchen war ein Buch über Pferde, und ich wußte, daß es von Joel war.

Was für ein herrlicher Geburtstag! Doch das Traurige an herrlichen Erlebnissen ist, daß sie die folgenden Tage um so trüber erscheinen lassen.

Tante Amelia bemerkte zu Onkel William über den Ausflug: »So was setzt ihr nur Flausen in den Kopf!«

Möglicherweise hatte sie recht.

In den folgenden Wochen lebte ich wie in einem Traum. Immer wieder betrachtete ich das blaue Kleid, das in meinem Schrank hing. Ich zog es nie an. Es sei höchst unangemessen, meinte Tante Amelia, und ich sah ein, daß sie recht hatte. Es war zu schade, um getragen zu werden. Es war nur zum Anschauen da. In der Schule sagte Miss Brent: »Was ist in dich gefahren, Suewellyn? Du bist neuerdings sehr unaufmerksam.«

Anthony Felton behauptete, ich ginge nachts zum Hexensabbat; dort zöge ich alle meine Kleider aus, tanzte immer im Kreis herum und küßte Bauer Mills Ziege.

»Sei nicht albern«, sagte ich zu ihm, und ich glaube, die anderen stimmten mit mir überein, daß er phantasierte. Tante Amelia hätte nie zugelassen, daß ich nachts fortging und meine Kleider auszog, weil es sich nicht schickte; und Ziegen zu küssen war ungesund. Ich las, soviel ich vermochte, in dem Buch über Pferde. Zwar begriff ich nicht alles, aber ich hoffte unentwegt, daß Miss Anabel eines Tages wiederkäme, um mich in den Zauberwald zu bringen. Ich wollte unbedingt etwas über Pferde wissen, wenn ich Joel wieder begegnete. Ich dachte, wie töricht ich doch war, weil ich mir nichts gewünscht hatte, das leichter zu erfüllen wäre – etwa noch so einen Tag im Wald anstatt Eltern. Väter und Mütter mußten schließlich verheiratet sein. Sie glichen nicht im geringsten Miss Anabel und Joel.

Ich fing an, mich für Pferde zu interessieren. Anthony Felton hatte ein Pony, und ich bat ihn, mich darauf reiten zu lassen. Zuerst lachte er mich aus, doch dann fiel ihm wohl ein, daß ich, wenn ich zu reiten versuchte, bestimmt hinunterfallen würde; und das gäbe einen Heidenspaß. Wir gingen also zur Pferdekoppel beim Gutshaus; ich stieg auf Anthonys Pony und ritt eine Runde durch die Koppel. Es war ein Wunder, daß ich nicht abgeworfen wurde. Ich dachte immerfort an Joel und bildete mir ein, daß er mich beobachtete. Ich wollte vor seinen Augen bestehen.

Anthony war sehr enttäuscht und ließ mich danach nie wieder auf seinem Pony reiten.

Im November kam Miss Anabel wieder. Sie war blasser und magerer geworden. Sie erzählte mir, daß sie krank gewesen sei; sie habe eine Rippenfellentzündung gehabt und deshalb nicht früher kommen können.

»Gehen wir wieder in den Wald?« fragte ich.

Sie schüttelte den Kopf, und ich fand, daß sie sehr traurig aussah.

»Hat es dir dort gefallen?« fragte sie gespannt.

Ich faltete die Hände und nickte. Es war nicht in Worten auszudrücken, wie sehr es mir gefallen hatte.

Sie schwieg mit traurigem Blick, und ich sagte: »Es war ein wunderbares Schloß. Es sah gar nicht echt aus, und ich glaube, es ist nicht immer da. Obwohl – das Mädchen und die Jungen sind hineingegangen. Und das Pferd war auch da. Ich bin auf einem Pferd geritten ... wir sind galoppiert. Das war aufregend.«

»Es hat dir also sehr gefallen, Suewellyn.«

»Ja, besser als alles, was ich bisher erlebt habe.«

Später hörte ich sie mit Tante Amelia sprechen.

»Nein«, sagte Tante Amelia, »das geht nicht, Miss Anabel. Wo sollten wir es denn lassen? So etwas können wir uns nicht leisten. Das gäbe nur noch mehr Gerede. Und ich versichere Ihnen – es wird bereits mehr als genug geklatscht.«

»Es wäre doch aber gut für sie.«

»Die Leute tuscheln schon. Ich glaube nicht, daß Mister Planter damit einverstanden wäre. Es gibt Grenzen, Miss Anabel. Und in so einem Dorf ... Ihre Besuche zum Beispiel. Die sind doch schon ungewöhnlich genug.«

»O ja, ich weiß, ich weiß, Amelia. Aber ihr würdet gut bezahlt ...«

»Es geht dabei nicht um Geld. Es geht um den äußeren Anschein. In so einem Dorf ...«

»Schon gut. Lassen wir das vorerst. Es wäre mir nur lieb gewesen, wenn sie reiten würde, und ihr hätte es Freude gemacht.« Das war alles sehr geheimnisvoll. Ich wußte, daß Miss Anabel mir zu Weihnachten ein Pony schenken wollte, und Tante Amelia war dagegen.

Ich war sehr zornig. Ich hätte mir ein Pony wünschen sollen. Das wäre etwas Vernünftiges gewesen. Aber ich war so töricht gewesen und hatte mir etwas Unmögliches gewünscht.

Miss Anabel ging, doch ich wußte, daß sie wiederkommen würde, obwohl ich Tante Amelia zu ihr hatte sagen hören, sie möge nicht allzu oft kommen. Das waren böse Aussichten.

Ich bat Anthony Felton, mich noch einmal auf seinem Pony reiten zu lassen, doch er weigerte sich. »Warum sollte ich?« fragte er.

»Weil ich beinahe auch eins bekommen hätte«, erklärte ich ihm stolz.

»Was soll das heißen? Wieso hättest ausgerechnet du ein Pony bekommen sollen?«

»Aber ich hätte wirklich beinahe eins bekommen«, beharrte ich.

Ich malte mir aus, wie ich auf einem Pony, das viel hübscher war als Anthonys, an der Pferdekoppel der Feltons vorüberritt, und war so zornig und enttäuscht, daß ich Anthony und Tante Amelia haßte. Das konnte ich Tante Amelia natürlich nicht sagen, aber Anthony bekam es von mir zu hören.

»Du bist eine Hexe und ein Bastard«, schrie er zurück, »und beides zusammen ist das Allerschlimmste auf der Welt.«

Matty Grey saß nicht mehr draußen vor ihrer Hütte. Es war zu kalt.

»Der Wind, der da über den Anger fegt, fährt mir in die Knochen«, sagte sie. »Tut meinem Zipperlein nicht gut.« Ihr Zipperlein war ihr Rheumatismus, und im Winter war er so schlimm, daß sie sich nicht vom Feuer entfernen konnte. »Das alte Zipperlein macht mir heute den Garaus«, pflegte sie zu sagen. »Aber Scherz beiseite, so weit ist es noch nicht mit mir. Tom macht mir ein schönes Feuerchen, und was gibt es Schöneres als ein gemütliches Holzfeuer? Und wenn dann noch ein Kessel auf dem Herd summt ... dann hat manʼs fast so gut wie die Engel im Himmel.«

Ich machte es mir zur Gewohnheit, auf dem Heimweg von der Schule bei Matty hereinzuschauen. Ich konnte nie lange bleiben, weil Tante Amelia nichts davon wissen durfte. Sie hätte es nicht gebilligt. Wir waren »bessere Leute« als Matty. Ich begriff das nicht ganz. Wenn ich auch nicht zum Stand des Arztes oder des Pfarrers gehörte, die ihrerseits nicht den Rang des Gutsherrn erreichten, so waren wir doch etwas »Besseres« als Matty.

Matty hieß mich eine Scheibe von dem großen Weißbrotlaib herunterschneiden. »Von der unteren Seite, Mäuschen.« Und ich spießte das Brot auf eine lange Röstgabel, die Toms Onkel in der Schmiede gefertigt hatte, und hielt es ans Feuer, bis es goldbraun war.

»Eine Tasse voll gutem starkem Tee und eine Scheibe guter brauner Toast; ein eigener Herd, und wenn draußen der Wind heult und nicht hereinkann ... ich wette, was Besseres kannʼs nicht geben.«

Da war ich anderer Meinung. Ich wußte, was es noch geben konnte: einen Zauberwald, ein Tuch auf dem Gras; Wunschknochen vom Huhn und zwei schöne Menschen, die anders waren als alle, die ich kannte; ein Zauberschloß, das man durch die Bäume erspähte, und ein Pferd, auf dem man galoppieren konnte.

»Woran denkst du, Suewellyn?« fragte Matty.

»Es kommt drauf an«, meinte ich. »Manche Leute wollen vielleicht keinen Toast und keinen starken Tee. Sie mögen vielleicht lieber ein Picknick im Wald.«

»Nun, das meine ich ja. Auf die Phantasie kommt es an. Von meinen Träumen habe ich nun erzählt, jetzt bist du dran.«

Und ehe ich mich versah, schilderte ich ihr, was ich erlebt hatte. Sie hörte zu. »Und du hast den Wald wirklich gesehen? Und das Schloß? Und jemand hat dich mitgenommen, hm? Ich weiß schon, die Dame, die immer kommt.«

»Matty«, fragte ich aufgeregt, »hast du gewußt, daß man drei Wünsche hat, wenn man einen Hühnerknochen durchbricht und die größere Hälfte erwischt?«

»O ja, das ist ein altes Spielchen. Als ich klein war, gab es ab und zu ein Rebhuhn bei uns, ein richtiger Festschmaus war das. Erst wurde es gerupft und gefüllt ... und wenn es aufgefuttert war, haben wir Kinder uns um den Wunschknochen gebalgt.«

»Hast du dir auch mal was gewünscht? Sind deine Wünsche in Erfüllung gegangen?«

Sie schwieg eine Weile, dann sagte sie: »Ja. Ich denke, ich hatte ein schönes Leben. Ja, meine Wünsche sind wahr geworden.«

»Glaubst du, daß meine auch in Erfüllung gehen?«

»Ja, ganz bestimmt. Eines Tages wirst duʼs richtig gut haben.

Das ist eine sehr hübsche Dame, die dich immer besuchen kommt.«

»Sie ist schön«, sagte ich. »Und er ...«

»Wer ist er, Liebes?«

Ich dachte: Ich rede zuviel. Das darf ich nicht ... nicht einmal mit Matty. Ich hatte Angst darüber zu sprechen, weil ich dann womöglich entdecken würde, daß alles gar nicht wirklich geschehen war, sondern daß ich nur geträumt hatte.

»Ach niemand«, sagte ich.

»Du verbrennst den Toast Macht nichts. Kratz das Schwarze über dem Ausguß ab.«

Ich kratzte das Verbrannte vom Brot herunter und strich Butter darauf. Ich bereitete Tee und schenkte ein. Dann saß ich eine Weile und starrte in die Flammen. Das Holz glühte rot, blau und gelb. Jetzt glaubte ich sogar, das Schloß zu sehen.

Plötzlich fiel die Glut zusammen, und das Bild erlosch.

Es wurde Zeit, daß ich heimging. Sonst würde Tante Amelia mich vermissen und peinliche Fragen stellen.

Weihnachten rückte näher. Die Kinder sammelten im Wald Efeu und Stechpalmenzweige, um das Schulzimmer zu schmücken. Miss Brent stellte in ihrer Diele einen Briefkasten auf, in den wir die Karten an unsere Freunde steckten. Am Tag vor Heiligabend, dem letzten Schultag, spielte Miss Brent den Postboten; sie öffnete den Briefkasten und nahm die Karten heraus; dann setzte sie sich an ihr Pult. Sie rief uns einzeln zu sich, und wir nahmen die für uns bestimmten Karten in Empfang.

Wir waren alle sehr aufgeregt. Die Karten hatten wir im Klassenzimmer selbst gebastelt, und es gab dabei viel Geflüster und Gekicher. Wir bemalten das Papier, falteten es mit großer Geheimnistuerei zusammen, schrieben dann die Namen derjenigen, an die der Gruß gerichtet war, darauf und steckten die Karten in den Kasten.

Nachmittags sollte ein Konzert stattfinden. Miss Brent würde Klavier spielen, und wir würden alle im Chor singen; diejenigen unter uns, die eine gute Stimme hatten, sollten ein Lied vortragen, andere Gedichte aufsagen.

Es war für uns alle ein großer Tag, und wir freuten uns schon Wochen vor Weihnachten darauf.

Noch aufregender aber war für mich Miss Anabels Besuch. Sie kam am Tag vor der Schulfeier. Sie brachte mir einige Päckchen mit, auf die sie »Am Weihnachtstag öffnen« geschrieben hatte. Doch ich fand Miss Anabel selbst immer viel aufregender als ihre Mitbringsel.

»Im Frühling«, sagte sie, »machen wir wieder ein Picknick.«

Ich war begeistert »An derselben Stelle!« rief ich. »Gibt es dann auch wieder Hühnerknochen?«

»Ja«, versprach sie. »Dann darfst du dir wieder etwas wünschen.«

»Aber vielleicht erwische ich diesmal gar nicht das größere Stück vom Knochen.«

»Ich denke doch«, meinte sie lächelnd.

»Miss Anabel, kommt er ... kommt Joel auch?«

»Ich glaube schon«, sagte sie. »Du mochtest ihn gern, nicht wahr, Suewellyn?«

Ich zögerte. Gern haben war nicht ganz das richtige Wort, um es auf Götter anzuwenden.

Sie wirkte beunruhigt. »Er hat dich doch nicht ... erschreckt?« Wieder schwieg ich, und sie fuhr fort »Möchtest du ihn wiedersehen?«

»O ja«, rief ich begeistert, und sie schien zufrieden.

Ich war traurig, als die Droschke kam, um sie zum Bahnhof zu bringen, aber nicht so traurig wie sonst; denn war der Frühling auch noch weit, er würde doch gewiß kommen, und ich freute mich heute schon auf den herrlichen Ausflug in den Wald.

Onkel William hatte die Weihnachtskrippe in seinem Holzschuppen fertiggeschnitzt, und nun stand sie mit dem Abbild des Christkindes in der Kirche. Drei Jungen von der Schule sollten die drei Weisen darstellen. Einer war der Sohn des Vikars, und ich fand es ganz natürlich, daß sein Vater ihn dabeihaben wollte. Der zweite war Anthony Felton, denn er war der Enkel des Gutsherrn; seine Familie spendete großzügig für die Kirche und stellte ihre Gartenanlagen oder, wenn es regnete, die große Halle für Feste und Wohltätigkeitsbasare zur Verfügung. Tom war der dritte, weil er eine schöne Stimme hatte. Es war kaum zu glauben, daß so ein schlampiger Bengel eine so wunderbare Stimme besaß. Ich freute mich für Tom, denn es war eine Ehre für ihn. Matty war entzückt. »Sein Vater hatte eine gute Stimme. Und mein Großvater auch«, erzählte sie mir. »So was vererbt sich in der Familie.«

Tom hatte einen riesigen Stechpalmenzweig über der Heimkehr des Seemanns in Mattys Stube befestigt, was dem Bild einen nahezu heiteren Anstrich verlieh. Ich hatte die Heimkehr des Seemanns oft betrachtet; denn dies war ein Bild, das ich in Mattys Besitz eigentlich nicht vermutet hätte. Es hatte etwas Schwermütiges an sich. Aber das lag vielleicht auch daran, daß es kein farbiger Druck war. Der Seemann stand mit einem Bündel über der Schulter in der Hüttentür. Seine Frau starrte entgeistert vor sich hin, als sähe sie etwas Entsetzliches und erlebe nicht die Rückkehr eines geliebten Menschen. Matty hatte mit Tränen in den Augen über das Bild gesprochen. Seltsam, daß jemand, der sich über die Heimsuchungen des wirklichen Lebens lustig machen konnte, über die scheinbaren Probleme einer Person auf einem Bild Tränen vergoß.

Ich hatte sie bedrängt, mir die Geschichte zu erzählen. »Also«, sagte sie, »das war so: Du siehst das Bettchen mit dem kleinen Kind. Dieses Kind dürfte aber gar nicht dasein, weil der Seemann drei Jahre fort war, und sie hat das Baby bekommen, während er weg war. Das gefällt ihm nicht ... und ihr auch nicht.«

»Warum gefällt es ihm nicht? Er sollte doch froh sein, wenn er heimkommt und ein kleines Kind findet.«

»Nun, es ist eben nicht seins, und darum gefällt es ihm nicht.«

»Warum nicht?«

»Na ja, er ist – nun, sagen wir – eifersüchtig. Eigentlich waren es zwei Bilder; sie gehörten zusammen. Meine Mama hat sie aufgeteilt, als sie starb. Sie sagte, die Heimkehr ist für dich, Matty, und der Abschied ist für Emma. Emma ist meine Schwester. Sie ist nach ihrer Heirat in den Norden gezogen.«

»Und den Abschied hat sie mitgenommen?«

»Ja. Dabei hat sie sich gar nicht viel daraus gemacht. Und ich hätte so gern beide Bilder gehabt. Obwohl der Abschied sehr traurig war. Der Mann hat die Frau umgebracht, weißt du, und die Polizei holte ihn ab, um ihn aufzuhängen. Das war mit Abschied gemeint. Oh, wie gern hätte ich den Abschied auch besessen.«

»Matty«, fragte ich, »was ist aus dem kleinen Kind in dem Bettchen geworden?«

»Jemand hat es in seine Obhut genommen«, sagte sie.

»Das arme Kind! Jetzt hat es keinen Vater und keine Mutter mehr.«

Matty sagte schnell: »Tom hat mir von eurem Briefkasten in der Schule erzählt. Ich hoffe, du hast eine hübsche Karte für Tom gemacht. Er ist ein guter Junge, unser Tom.«

»Ich habʼ ihm eine ganz schöne Karte gemalt«, erwiderte ich, »mit einem Pferd.«

»Da wird er sich aber freuen. Er ist ganz vernarrt in Pferde. Wir wollen ihn zu Schmied Jolly in die Lehre geben, denn Schmiede haben schließlich viel mit Pferden zu tun.«

Meine Besuche bei Matty gingen immer viel zu schnell zu Ende. Außerdem waren sie stets davon überschattet, daß Tante Amelia zu Hause auf mich wartete.

Die Holzapfelhütte wirkte nach den Besuchen bei Matty immer besonders freudlos. Das Linoleum auf dem Fußboden war gefährlich glatt gebohnert, und an den Bildern von Christus und Sankt Stephan steckten keine Stechpalmen. Die hätten dort auch völlig deplaciert gewirkt, und die mißmutige Königin mit einem Zweig zu schmücken hätte an Majestätsbeleidigung gegrenzt.

»Dreckzeug«, hatte Tante Amelia einmal darüber geäußert.

»Rieselt bloß runter, und die Beeren treten sich überall fest.«

Der Tag der Schulfeier war gekommen. Wir stimmten unseren Gesang an, und die Begabteren unter uns – zu denen ich nicht gehörte – trugen ihre Gedichte und Lieder vor. Der Briefkasten wurde geöffnet. Von Tom bekam ich eine wunderschöne Pferdezeichnung, und auf der Karte stand geschrieben: »Fröhliche Weihnachten, immer Dein Tom Grey.« Jeder in der Schule hatte jedem eine Karte geschenkt, und das Austeilen dauerte sehr lange. Anthony Felton wollte mich mit seiner Karte wohl eher verletzen als mir gute Wünsche übermitteln. Er hatte eine Hexe gemalt, die auf einem Besenstiel ritt. Ihr offenes, dunkles Haar schien im Wind zu flattern, und sie hatte ein schwarzes Mal am Kinn. »Zauberhafte Weihnachten« hatte Anthony darauf geschrieben. Es war eine schlechte Zeichnung, und ich stellte schadenfroh fest, daß die Hexe Miss Brent wesentlich ähnlicher war als mir. Ich rächte mich mit dem Bild eines ungeheuer fetten Jungen (Anthony war nämlich ausgesprochen gefräßig und deshalb ganz schön pummelig) mit einem Plumpudding in der Hand. »Werde Weihnachten nicht zu fett, sonst kannst du nicht mehr reiten«, hatte ich dazu geschrieben, und er würde wissen, daß ich ihm das genaue Gegenteil wünschte.

Am Heiligen Abend fielen ein paar Schneeflocken, und alle hofften, sie würden liegenbleiben. Doch sie schmolzen, kaum daß sie den Boden berührten, und gingen bald in Regen über.

Ich besuchte mit Tante Amelia und Onkel William die Christmette; dieser nächtliche Ausflug hätte ein Erlebnis werden können; aber leider konnte mich nichts freuen, wenn ich zwischen meinen zwei strengen Wächtern einherschreiten und steif mit ihnen in der Kirchenbank sitzen mußte.

Ich schlief während des Gottesdienstes fast ein und war froh, als ich endlich wieder ins Bett schlüpfen konnte. Dann kam der Weihnachtsmorgen, und ich war sehr aufgeregt, obwohl es für mich keinen Weihnachtsstrumpf gab. Ich wußte, daß andere Kinder solche Strümpfe bekamen, und stellte es mir wundervoll vor, meinen Strumpf vor lauter guten Dingen ausgebeult vorzufinden und mit einer Hand hineinzufahren, um die Köstlichkeiten hervorzuziehen.

»Das ist kindisch«, sagte Tante Amelia, »und nicht gut für die Strümpfe. Du bist schon zu alt für solchen Firlefanz, Suewellyn.« Aber ich hatte ja Anabels Geschenke. Wieder war es etwas zum Anziehen – zwei Kleider, von denen eines besonders schön war. Ich hatte das blaue, das sie mir geschenkt hatte, nur ein einziges Mal getragen, und zwar als sie kam. Jetzt besaß ich noch ein zweites Seidenkleid; dazu noch ein wollenes und einen hübschen Muff aus Seehundsfell; außerdem bekam ich drei Bücher. Ich war von den Geschenken entzückt und bedauerte nur, daß Anabel nicht da war, um sie mir persönlich zu überreichen.

Von Tante Amelia erhielt ich eine Schürze und von Onkel William ein Paar Strümpfe. Das waren keine besonders aufregenden Geschenke.

Am Morgen gingen wir in die Kirche, und dann nahmen wir zu Hause das Festmahl ein. Es gab Huhn, was in mir Erinnerungen weckte, aber von Wunschknochen war nicht die Rede. Danach folgte der Plumpudding.

Am Nachmittag las ich in meinen Büchern. Der Tag wurde mir sehr lang. Wie gern wäre ich zu den Greys hinübergelaufen. Matty war zur Feier des Tages nach nebenan gegangen, und fröhlicher Lärm drang auf den Anger hinaus. Tante Amelia hörte das und meinte kopfschüttelnd, Weihnachten sei doch eigentlich ein ernstes Fest. Es sei Christi Geburtstag. Die Menschen sollten Würde zeigen und sich nicht wie die Heiden aufführen.

»Ich finde, es sollte ein Freudenfest sein«, hielt ich ihr entgegen, »gerade weil Christus geboren wurde.«

Tante Amelia sagte: »Ich hoffe nicht, daß du dir komische Ideen in den Kopf setzt, Suewellyn.«

Ich hörte sie zu Onkel William bemerken, daß es in unserer Schule alle möglichen Kreaturen gebe und es bedauerlich sei, daß Leute wie die Greys ihre Kinder zusammen mit denen aus besseren Kreisen dorthin schicken durften.

Ich hätte fast herausgeschrien, daß die Greys die besten Menschen seien, die ich kannte, doch ich wußte, daß jegliche Mühe umsonst sei, Tante Amelia davon zu überzeugen.

Der zweite Weihnachtsfeiertag war noch stiller als der erste. Es regnete, und der Südwestwind fegte über den Anger.

Es war ein endlos langer Tag. Ich konnte mich nur an meinen Geschenken ergötzen und mich fragen, wann ich wohl das Seidenkleid anziehen könnte.

Im neuen Jahr kam Anabel wieder. Tante Amelia hatte in der guten Stube Feuer gemacht – ein seltenes Ereignis – und die Jalousien hochgezogen, weil sie sich ja nun nicht mehr beklagen konnte, daß die Sonne den Möbeln schadete.

Selbst im Schein der Wintersonne sah das Zimmer immer noch recht trostlos aus. Keines der Bilder wurde durch das Licht freundlicher. Sankt Stephan blickte noch gequälter in die Stube, die Königin noch mißbilligender, und Christus hatte sich überhaupt nicht verändert.

Miss Anabel kam wie gewöhnlich kurz nach dem Mittagessen. Sie sah wunderschön aus in ihrem pelzverbrämten Mantel mit einem Muff aus Seehundsfell, der mir wie der große Bruder von meinem erschien.

Ich umarmte sie und bedankte mich für die Geschenke.

»Eines Tages«, sagte sie, »bekommst du ein Pony. Ich bestehe darauf.«

Wir unterhielten uns wie immer. Ich zeigte ihr meine Hefte, und wir sprachen über die Schule. Ich erzählte ihr nie etwas von den Hänseleien, die ich von Anthony Felton und seinen Kumpanen zu erdulden hatte, weil ich mir gut vorstellen konnte, daß es ihr Kummer machen würde.

So verging dieser Tag mit Anabel viel zu schnell, und als die Droschke kam, um sie wieder zum Bahnhof zu bringen, schien es ein Besuch wie jeder andere gewesen zu sein. Aber das war nicht ganz der Fall.

Matty erzählte mir von dem Mann, der im Gasthof King William abgestiegen war.

Tom arbeitete dort nach der Schule; er trug das Gepäck in die Zimmer und machte sich auch sonst nützlich. »Das ist sein zweites Eisen im Feuer«, sagte Matty, »falls es mit dem Schmied nicht klappt.«

Tom hatte ihr von dem Mann im Gasthof berichtet, und Matty erzählte es mir weiter.

»Ein richtiger Meckerfritze ist im King William abgestiegen«, berichtete sie. »Ein aufgeplusterter Gentleman. Wohnt im besten Zimmer. Kam mit schlechter Laune an. Weil nämlich keine Droschke da war, um ihn zum King William zu bringen, als er aus dem Zug stieg. Je nun, es konnte schließlich keine dasein. Die Droschke war unterwegs, nicht wahr?« Matty gab mir einen Stups. »Du hattest doch gestern Besuch, nicht? Also, da mußte Mister Großmächtig eben warten, und eins mögen Gentlemen dieser Sorte überhaupt nicht gern – daß man sie warten läßt.«

»Aber die Droschke braucht doch nicht lange für den Weg zur Holzapfelhütte und zurück zum Bahnhof.«

»Das nicht aber reiche, großmächtige Gentlemen mögen eben nicht einmal ein Minütchen warten, während andere bedient werden. Ich habʼs von Jim Fenner.« (Das war unser Stationsvorsteher, Gepäckträger und Bahnhofsfaktotum.) »Der Mensch stand wutschnaubend auf dem Bahnsteig, während die Droschke mit deiner jungen Dame davonfuhr. Erfragte immer wieder: ›Wo fährt sie denn hin? Wie weit ist das?‹ Und der alte Jim sagte, ganz außer sich, weil er doch sah, daß dies ein richtiger Gentleman war, Jim sagte also: ›Sir, es dauert nicht lange. Die junge Dame fährt bloß zur Holzapfelhütte am Anger.‹ – ›Holzapfelhütte‹, brüllte er, ›und wie weit ist das?‹ – ›Gleich am Anger, Sir. Dort bei der Kirche. Kaum mehr als einen Steinwurf weit. Die junge Dame wäre zu Fuß in zehn Minuten dort. Aber sie nimmt jedesmal die Kutsche und läßt sich auch wieder abholen.‹ Nun, damit schien er zufrieden, und er sagte, er würde warten. Er stellte Jim eine Menge Fragen, und als seine Wut verraucht war, entpuppte er sich als ein ganz umgänglicher Gentleman. Er wurde sehr höflich und gab Jim fünf Schilling. So jemanden kriegt Jim nicht alle Tage zu sehen. Hoffentlich bleibt der Gentleman lange hier, sagte er.«

Leider konnte ich nicht mehr länger bei Matty bleiben und lief eilends zur Hütte zurück. Er wurde jetzt früh dunkel, und wenn wir aus der Schule kamen, dämmerte es bereits. Miss Brent hatte vorgeschlagen, im Winter schon um drei Uhr Schluß zu machen, damit die Kinder, die weiter weg wohnten, vor Anbruch der Dunkelheit zu Hause waren. Im Sommer war die Schule um vier Uhr aus. Dafür fingen wir jetzt schon um acht Uhr früh an, statt um neun wie im Sommer, und um acht Uhr war es noch ziemlich dunkel.

Tante Amelia stellte Blätter zu einem Strauß zusammen. Sie sagte: »Die bringe ich in die Kirche, Suewellyn. Sie sind für den Altar. Schade, daß es in dieser Jahreszeit keine Blumen gibt. Der Vikar meint es sähe so kahl aus, wenn die Herbstblumen verblüht sind, deshalb versprach ich, ein paar Blätter zu sammeln, um die Kirche damit zu schmücken. Er schien das für eine gute Idee zu halten. Du kannst mitkommen.«

Ich brachte meine Schultasche in mein Zimmer und ging gehorsam hinunter. Wir überquerten mit wenigen Schritten den Anger und traten in die Kirche.

Drinnen herrschte tiefe Stille. Die bunten Glasfenster sahen düster aus, wenn die Sonne nicht hereinschien und auch kein Gaslicht brannte. Allein wäre mir wohl ein wenig bange gewesen; ich hätte befürchtet, daß die Christusgestalt vom Kreuz steigen könnte, um mir meine Sünden vorzuwerfen. Ich glaubte, die Bilder in den bunten Glasfenstern könnten lebendig werden. Sie stellten alle möglichen Martyrien dar, und dort oben war auch mein alter Bekannter Sankt Stephan, dem es auf Erden so schrecklich ergangen war. Unsere Schritte hallten unheimlich auf den Steinplatten wider.

»Wir müssen uns beeilen, Suewellyn«, sagte Tante Amelia. »Bald wird es ganz dunkel sein.«

Wir stiegen die drei steinernen Stufen zum Altar hinauf.

»So!« meinte Tante Amelia. »Die machen sich ganz gut. Ich denke, ich stelle sie am besten ins Wasser. Hier, Suewellyn, nimm diesen Krug, und lauf damit zur Pumpe.«

Ich ergriff den Krug und lief damit auf den Kirchhof hinaus. Die Grabsteine sahen aus wie kniende alte Männer und Frauen, die ihre Gesichter mit grauen Kapuzen verhüllt hatten.

Die Pumpe befand sich nur wenige Meter von der Kirche entfernt. Um dorthin zu gelangen, mußte ich an einigen der ältesten Grabsteine vorbei. Ich hatte die Inschriften darauf schon oft gelesen, wenn wir aus der Kirche kamen. Diese Toten waren schon vor langer, langer Zeit begraben worden: Einige Daten reichten zurück bis ins siebzehnte Jahrhundert. Ich lief an den Gräbern vorbei zur Pumpe, pumpte kräftig und füllte das Gefäß. Plötzlich hörte ich Schritte. Ich blickte über meine Schulter. Es war dunkel geworden, seit ich mit Tante Amelia die Kirche betreten hatte. Ich spürte, wie mir ein Schauer über den Rücken rieselte. Ich hatte das Gefühl, daß jemand ... daß etwas mich beobachtete.

Ich wandte mich wieder der Pumpe zu. Es war ziemlich anstrengend, mit einer Hand die Pumpe zu bedienen und mit der anderen den Krug zu halten.

Mir zitterten die Hände. Sei nicht albern, redete ich mir zu. Warum sollte nicht jemand auf den Friedhof kommen? Vielleicht war es die Frau des Vikars auf dem Heimweg oder noch eine andere eifrige Kirchgängerin, die auch den Altar schmücken wollte.

Ich hatte den Krug vollgemacht und verschüttete ein wenig Wasser. Dann hörte ich das Geräusch wieder. Mir blieb vor Schreck fast die Luft weg: Dort, zwischen den Grabsteinen, stand eine Gestalt. Ich war überzeugt, daß es ein Geist war, der einem Grab entstiegen war. Ich stieß einen Entsetzensschrei aus und rannte, so schnell ich konnte, zum Kirchenportal. Das Wasser im Krug schwappte über und bespritzte meinen Mantel. Doch ich hatte die schützende Tür der Kirche erreicht.

Ich blieb einen Moment stehen und blickte über meine Schulter. Niemand war zu sehen.

Tante Amelia wartete ungeduldig am Altar.

»Komm, mach schon«, sagte sie.

Ich reichte ihr den Krug. Meine Hände waren naß und kalt und ich zitterte.

»Es ist nicht genug«, schalt sie. »Du unachtsames Kind, du hast es verschüttet.«

Ich blieb entschlossen stehen. »Draußen ist es dunkel«, sagte ich störrisch. Nichts hätte mich bewegen können, noch einmal zur Pumpe zu gehen.

»Ich denke, es wird reichen«, sagte Tante Amelia mürrisch.

»Suewellyn, ich weiß nicht, warum du nichts anständig machen kannst.«

Sie ordnete die Blätter, und wir verließen die Kirche. Ich hielt mich dicht an Tante Amelia, als wir den Friedhof überquerten und auf den Anger hinaustraten.

»Es ist nicht ganz das, was ich gern für den Altar gehabt hätte«, murmelte Tante Amelia. »Aber es muß genügen.«

In dieser Nacht konnte ich nicht schlafen. Ich döste nur und sah mich wieder bei der Pumpe auf dem Kirchhof stehen und malte mir aus, wie der Geist sich aus der Erde erhob, um die Menschen zu erschrecken. Mich hatte er jedenfalls gründlich erschreckt. Ich hatte mir Geister immer als nebelhafte, weiße, durchsichtige Wesen vorgestellt. Wenn ich mich jedoch recht besann, soweit meine verschwommene Erinnerung und meine Angst es zuließen, so war dieser Geist vollkommen angekleidet gewesen. Es war ein Mann gewesen, ein sehr großer Mann mit einem glänzenden schwarzen Hut. Ich hatte keine Zeit gehabt, viel mehr von ihm wahrzunehmen als einen starren Blick, und den hatte er fest auf mich gerichtet.

Schließlich schlief ich ein, so tief, daß ich am nächsten Morgen zu spät aufwachte.

Tante Amelia musterte mich mit grimmiger Miene, als ich zum Frühstück hinunterkam. Sie hatte mich nicht gerufen. Das tat sie nie. Man erwartete von mir, daß ich von selbst rechtzeitig aufwachte und pünktlich zur Schule ging. Das hatte etwas mit Disziplin zu tun, auf welche Tante Amelia mindestens ebenso viel Wert legte wie auf Ehrbarkeit.

Ich kam infolgedessen zu spät zur Schule, und Miss Brent die der Meinung war, Erziehung zur Pünktlichkeit sei ebenso wichtig wie Lesen, Schreiben und Rechnen, sagte, wenn ich nicht rechtzeitig erscheinen könne, so müsse ich eine halbe Stunde nachsitzen und das Glaubensbekenntnis aufschreiben.

Das bedeutete hinwiederum, daß ich keine Zeit haben würde, bei Matty hereinzuschauen.

Der Tag verging, und um drei Uhr saß ich an meinem Pult und schrieb: »Ich glaube an Gott, den allmächtigen Vater ...« Nach zwanzig Minuten war ich fertig. Ich ging nach oben, klopfte an die Tür von Miss Brents Wohnzimmer und reichte ihr meine Strafarbeit. Sie sah sie durch, nickte und sagte: »Und nun beeil dich, damit du daheim bist, bevor es dunkel wird. Und, Suewellyn, bemühe dich, pünktlich zu sein. Unpünktlichkeit zeugt von schlechten Manieren.«

Ich sagte demütig: »Ja, Miss Brent« und rannte los.

Wenn ich die Abkürzung über den Kirchhof nähme, hätte ich gerade noch Zeit, bei Matty hereinzuschauen und ihr von dem Geist zu berichten, den ich tags zuvor auf dem Friedhof gesehen hatte, und käme ich dann zu spät nach Hause, könnte ich Tante Amelia von dem Nachsitzen und dem Glaubensbekenntnis erzählen. Sie würde grimmig nicken und Miss Brents Vorgehen gutheißen.

Es mag merkwürdig scheinen, daß ich nach dem Erlebnis am Vortag den Weg über den Kirchhof nahm. Doch es war bezeichnend für mich und wirft vielleicht ein wenig Licht auf das, was später geschah, daß gerade meine Furcht dem Kirchhof einen besonderen Reiz verlieh. Es war noch nicht ganz dunkel. Der Tag war heiterer, als der vergangene gewesen war, und die Sonne stand noch als großer roter Ball am Horizont. Ich hatte Angst; ich zitterte, war gleichzeitig aufgeregt und beklommen, doch irgendwie fühlte ich mich unwillkürlich zum Kirchhof hingezogen.

Sobald ich ihn betrat, schalt ich mich töricht, weil ich hergekommen war. Kalte Furcht ergriff mich, und ich verspürte den dringenden Wunsch, kehrtzumachen und davonzulaufen. Aber ich tat es nicht. Ich machte einen Bogen um den alten Teil und schlug den Weg zwischen den helleren Steinen ein, deren Inschriften noch nicht von der Zeit und der Witterung verblaßt waren.

Ich wurde verfolgt. Ich wußte es. Ich hörte die Schritte hinter mir und fing an zu rennen. Wer immer hinter mir her war, er hatte es ebenfalls eilig.

Wie dumm von mir, hierherzukommen! Ich hatte mich selbst herausgefordert. Das Erlebnis gestern war bereits eine Warnung gewesen. Wie hatte ich mich gefürchtet und dabei war Tante Amelia nicht weit weg gewesen. Ich brauchte nur zu ihr zu laufen. Und doch war ich zurückgekommen – allein.

Vor mir tauchten die grauen Mauern der Kirche auf. Wer immer mir folgte, er war schneller als ich. Es ... er ... war mir dicht auf den Fersen.

Ich blickte auf das Kirchenportal und erinnerte mich, daß ich einmal gehört hatte, Kirchen seien Zufluchtsorte, weil sie heilige Stätten seien. Für böse Geister sei dort kein Platz.

Vor der Kirchentür zögerte ich ... sollte ich hineingehen oder weiterrennen?

Eine Hand berührte mich.

Ich holte tief Luft.

»Was hast du denn, Kleine?« fragte eine wohltönende und sehr freundliche Stimme. »Du brauchst keine Angst zu haben.«

Ich fuhr herum und stand einem sehr großen Mann gegenüber. Der schwarze Hut, den er auch gestern getragen hatte, thronte auf seinem Kopf. Der Mann lächelte. Er hatte dunkelbraune Augen, und sein Gesicht sah keineswegs so aus, wie ich mir ein Geistergesicht vorstellte. Vor mir stand ein lebendiger Mann. Er nahm seinen Hut ab und verbeugte sich.

»Ich möchte mich doch nur mit dir unterhalten«, fuhr er fort.

»Sie waren gestern auf dem Kirchhof«, hielt ich ihm vor.

»Ja«, sagte er. »Ich liebe Kirchhöfe. Ich lese die Inschriften auf den Grabsteinen so gern. Du nicht?«

Doch, ich las sie auch gern, aber ich sagte nichts. Ich zitterte vor Angst.

»Die Pumpe ging ein bißchen streng, nicht wahr?« fuhr er fort.

»Ich wollte dir helfen. Einer hätte den Krug halten können, während der andere pumpte, meinst du nicht?«

»Ja«, sagte ich.

»Magst du mir die Kirche zeigen? Ich interessiere mich für alte Kirchen.«

»Ich muß nach Hause«, erklärte ich ihm. »Ich bin schon spät dran.«

»Ja, später als die anderen. Warum?«

»Ich mußte nachsitzen ... um das Glaubensbekenntnis aufzuschreiben.«

»Ich glaube an Gott, den allmächtigen Vater. Glaubst du an ihn, Kleine?«

»Natürlich. Jeder glaubt an ihn.«

»Wirklich? Dann weißt du auch, daß Gott über dich wacht und dich vor allen Gefahren und Bedrängnissen der Nacht beschützt ... auch vor Fremden auf dem Kirchhof. Komm ... nur für einen Augenblick. Zeig mir die Kirche. Ich glaube, die Leute hier sind sehr stolz auf die bunten Glasfenster.«

»Der Vikar schon«, bestätigte ich. »Es ist sogar darüber geschrieben worden. Er hat die Ausschnitte alle gesammelt. Sie können sie sehen, wenn Sie wollen. Er zeigt sie Ihnen bestimmt.«

Er hielt noch immer meinen Arm und zog mich zum Kircheneingang. Er musterte neugierig die Anschläge in der Vorhalle, auf denen die Veranstaltungen angekündigt waren.

Im Innern der Kirche war mir wohler. Die heilige Atmosphäre machte mir wieder Mut. Ich spürte, daß mir hier bei dem goldenen Kreuz und den bunten Glasfenstern, auf denen das Leben Jesu in wunderschönem Rot, Blau und Gold dargestellt war, nichts Böses zustoßen konnte.

»Eine schöne Kirche«, sagte der Mann.

»Ja, aber ich muß gehen. Der Pfarrer wird Sie herumführen.«

»Einen Moment noch. Ich möchte sie lieber bei Tageslicht sehen.«

»Es wird gleich dunkel«, sagte ich. »Und ich ...«

»Ja, du mußt daheim sein, ehe es dunkel ist. Wie heißt du?«

»Suewellyn.«

»Ein hübscher und ungewöhnlicher Name. Und weiter?«

»Suewellyn Campion.«

Er nickte, als sei er mit meinem Namen zufrieden.

»Und du wohnst in der Holzapfelhütte?«

»Woher wissen Sie das?«

»Ich habe dich dort hineingehen sehen.«

»Sie haben mich also beobachtet.«

»Ich war zufällig in der Nähe.«

»Ich muß gehen, sonst wird Tante Amelia böse.«

»Du wohnst bei deiner Tante Amelia, nicht wahr?«

»Ja.«

»Wo sind deine Eltern?«

»Ich muß gehen. Der Vikar kann Ihnen alles über die Kirche erzählen.«

»Ja, gleich. Wer war die Dame, die dich vorgestern besucht hat?«

»Ich weiß, wer Sie sind. Sie sind der Mann, der sich wegen der Droschke so aufgeregt hat.«

»Ja, das stimmt. Man sagte mir, sie sei nur zur Holzapfelhütte gefahren. Sie ist eine äußerst reizvolle Dame. Wie heißt sie?«

»Miss Anabel.«

»Aha. Besucht sie dich oft?«

»O ja.«

Plötzlich griff er mir ans Kinn und blickte mir ins Gesicht. Da dachte ich, er sei der Teufel und wolle sich den Leberfleck an meinem Kinn anschauen.

Ich sagte: »Ich weiß, wonach Sie suchen. Lassen Sie mich gehen. Ich muß jetzt nach Hause. Wenn Sie die Kirche besichtigen wollen, fragen Sie den Vikar.«

»Suewellyn«, sagte er, »was hast du denn? Wonach suche ich? Willst du es mir nicht sagen?«

»Es hat nichts mit dem Teufel zu tun. Man wird damit geboren. Es ist wie mit den Erdbeeren im Gesicht, wenn die Mutter eine Vorliebe für Erdbeeren hatte.«

»Was?« fragte er.

»Es ist nichts, wirklich. So was haben viele Leute. Es ist nur ein Leberfleck.«

»Er ist sehr hübsch«, sagte er. »Wirklich, sehr hübsch. Suewellyn, du warst sehr nett zu mir, und jetzt begleite ich dich nach Hause.«

Ich rannte beinahe aus der Kirche. Er blieb an meiner Seite, und wir schritten rasch über den Kirchhof zum Anger.

»Da drüben ist die Holzapfelhütte schon«, sagte er. »Lauf schnell hinüber. Ich passe hier auf, bis du drinnen bist. Gute Nacht, Suewellyn, und danke, daß du so nett zu mir warst.«

Ich rannte los.

Auf dem Weg zu meinem Zimmer begegnete ich Tante Amelia. »Du kommst zu spät«, sagte sie.

»Ich mußte nachsitzen.«

Sie nickte und lächelte zufrieden.

»Ich mußte das Glaubensbekenntnis aufschreiben.«

»Das wird dich lehren, faul im Bett zu liegen«, bemerkte sie.

Ich lief in mein Zimmer. Ich konnte ihr nichts von dem Fremden erzählen. Das war alles so sonderbar. Warum war er mir gefolgt? Warum wollte er, daß ich ihm die Kirche zeigte, wenn er sich, als er drinnen war, kaum dafür zu interessieren schien? Das war ziemlich rätselhaft. Doch ich hatte wenigstens meine Furcht überwunden. Ich hatte mich auf den Kirchhof gewagt und entdeckt, daß der Geist nur ein Mensch war.

Ich fragte mich, ob ich ihn wohl jemals wiedersehen würde.

Aber ich sah ihn nicht wieder.

Als ich am nächsten Tag zu Matty hereinschaute, erzählte sie mir, daß der Gentleman aus dem King William ausgezogen sei. Tom hatte ihm seine Reisetasche in die Droschke getragen, und er war mit dem Zug abgereist, und zwar erster Klasse.

»Das war ein echter, anständiger Gentleman«, sagte Matty, »reist erster Klasse und läßt sich im King William nur vom Besten geben. Von der Sorte steigen nicht viele bei John Jeffers ab, und Tom hat er einen Schilling geschenkt fürs Rauftragen von seinem Gepäck und noch einen fürs Runtertragen. Ein richtiger Gentleman.«

Ich überlegte, ob ich Matty von meiner Begegnung auf dem Kirchhof mit diesem echten, anständigen, richtigen Gentleman berichten sollte.

Ich zögerte, denn ich war meiner selbst nicht ganz sicher. Vielleicht würde ich es ihr eines Tages erzählen, aber jetzt noch nicht ... nein, jetzt noch nicht.

Bis zum Ende der Woche hatte meine innere Spannung nachgelassen, die ich verspürte, seit ich dem Mann auf dem Friedhof zum erstenmal begegnet war. In der Kirche war er immerhin recht freundlich gewesen. Er hatte ein sympathisches Gesicht und erinnerte mich ein wenig an Joel. Seine Stimme klang ähnlich, und er hatte das gleiche Lächeln. Er wollte die Kirche besichtigen und hatte geglaubt, daß ich, die ich im Dorfe lebte, ihm etwas darüber erzählen könnte, weiter nichts. Ich wußte, daß er am nächsten Tag den Vikar nicht aufgesucht hatte, war er doch am nächsten Morgen abgereist.

Es war ein kalter Tag. Miss Brent hatte im Schulzimmer Feuer gemacht; dennoch waren unsere Finger klamm vor Kälte, was unserer Handschrift nicht gerade zugute kam. Wir waren alle heilfroh, als es drei Uhr war und wir nach Hause eilen konnten. Ich schaute bei Matty vorbei, die vor einem lodernden Feuer saß. Der von schwarzem Ruß bedeckte Kessel stand auf dem Herd, und es würde nicht mehr lange dauern, bis Matty sich ihren Tee bereitete.

Sie begrüßte mich wie immer mit ihrem glucksenden Lachen, das ihren molligen Körper erzittern ließ.

»Das is ʼn Tag und noch ʼn halber dazu«, sagte sie. »Der Wind kommt direkt von Osten. Nicht mal ʼn Hund würde an so ʼnem Tag rausgehen ... wenn er nicht muß.«

Ich machte es mir zu ihren Füßen gemütlich und wünschte, ich könnte den ganzen Abend hierbleiben. In der Holzapfelhütte war es bei weitem nicht so behaglich. Freilich, Mattys Kaminsims war mit einer Staubschicht bedeckt und unter ihrem Stuhl lagen Krümel; doch all dies war von einer Gemütlichkeit die ich daheim vermißte. Ich dachte daran, wie ich in meinem eiskalten Schlafzimmer mich auskleiden und über das gefährlich glatte Linoleum schaudernd ins Bett hüpfen mußte. Neben Mattys Kamin lag eine Wärmflasche aus Steingut, die sie mit ins Bett nahm.

Tom kam herein und sagte: »Hallo, Oma.« Er nickte mir zu, denn mir gegenüber war er immer etwas schüchtern.

»Wirst du im King William nicht gebraucht?« fragte Matty.

»Habʼ noch ʼne Stunde Zeit, bevor der Betrieb losgeht. Ist sowieso nicht viel zu tun ... an so ʼnem Abend.«

»Je nun, es kommen nicht alle Tage so feine Herren zu euch.«

»Leider«, meinte Tom.

Ehe ichʼs mich versah, erzählte ich ihnen von der Begegnung auf dem Kirchhof. Ich hatte es gar nicht beabsichtigt, aber ich mußte einfach darüber sprechen. Tom hatte das Gepäck des Herrn getragen und einen Schilling von ihm bekommen. Sie sollten wissen, daß auch ich seine Bekanntschaft gemacht hatte. »Leute wie er interessieren sich immer für Kirchen und dergleichen«, sagte Tom.

Matty nickte. »Einmal war einer hier ... der hatte es auf die Grabsteine abgesehen. Hat sich da hingehockt ... vor Sir John Ecclestones geschnitztes Bild, und hat es auf ʼn Stück Papier abgemalt. O ja, so was gibtʼs.«

»Als ich nachsitzen mußte, bin ich über den Kirchhof nach Hause gegangen. Er war dort und ... hat gewartet.«

»Gewartet?« echote Tom. »Worauf?«

»Ich weiß nicht. Er wollte, daß ich ihm die Kirche zeige, und ich habʼ ihm gesagt, der Vikar könnte ihm alles viel besser erzählen, was er wissen möchte.«

»Oh, das macht der Vikar gern. Wenn er einmal loslegt und sich über die Gewölbe und die Fenster ausläßt, ist er nicht mehr zu halten.«

»Komisch«, sagte ich, »mir war, als wollte er eigentlich mich sehen ... nicht die Kirche.«

Matty sah Tom scharf an.

»Tom«, sagte sie streng, »ich habʼ dir doch gesagt, du sollst Suewellyn im Auge behalten.«

»Tuʼ ich ja auch, Oma. Sie mußte an dem Tag nachsitzen, an dem ich zur Arbeit ins Gasthaus mußte. Nicht wahr, Suewellyn?« Ich nickte.

»Du sollst mit fremden Männern keine Kirchen besichtigen, Mäuschen«, sagte Matty. »Keine Kirchen und nichts.«

»Ich wollte ja gar nicht, Matty. Er hat mich irgendwie gezwungen.«

»Und wie lange wart ihr in der Kirche?« fragte Matty eindringlich.

»Ungefähr fünf Minuten.«

»Und hat er bloß mit dir geredet? Er hat nicht ... hm ...«

Ich war verwirrt. Ich verstand nicht, was Matty mit ihrer Andeutung meinte.

»Laß gut sein«, fuhr sie fort. »Seine Hoheit ist weg, und damit basta. Der besichtigt hier keine Kirchen mehr.«

Es wurde ganz still in der Hütte. Dann sackte das Feuer in der Mitte zusammen, und ein Funkenturm ergoß sich über die Herdplatte. Tom ergriff den Haken und kniete nieder, um das Feuer zu schüren. Sein Gesicht war ganz rot.

Matty war ungewöhnlich schweigsam.

Ich konnte nicht länger bleiben, aber ich nahm mir vor, wenn ich mit Matty allein wäre, sie zu fragen, warum sie wegen des Mannes so beunruhigt war.

Doch dazu sollte es nie kommen.

Es war ein milder, nebliger Tag gewesen. Als ich kurz nach drei Uhr von der Schule nach Hause ging, war es fast schon dunkel. Wie ich den Anger überquerte, sah ich die Bahnhofsdroschke vor der Holzapfelhütte stehen und wunderte mich, was das zu bedeuten habe. Miss Anabel gab immer Bescheid, bevor sie kam.

Ich schaute deshalb nicht, wie ich es vorgehabt hatte, bei Matty herein, sondern rannte, so schnell ich konnte, nach Hause.

Als ich eintrat, kamen Tante Amelia und Onkel William aus der guten Stube. Sie sahen verstört aus.

»Da bist du ja«, bemerkte Tante Amelia überflüssigerweise; sie schluckte, und dann war es kurze Zeit still. Schließlich sagte sie: »Es ist etwas passiert.«

»Miss Anabel ...«, begann ich.

»Sie ist droben in deinem Zimmer. Geh nur hinauf. Sie wird es dir erklären.«

Ich raste die Treppe hinauf. In meinem Zimmer herrschte ein wildes Durcheinander. Meine Kleider lagen auf dem Bett, und Miss Anabel war dabei, sie in eine Reisetasche zu packen.

»Suewellyn!« rief sie, als ich eintrat »Wie bin ich froh, daß du pünktlich bist!«

Sie lief auf mich zu und umarmte mich. Dann sagte sie: »Du kommst mit mir. Ich kann es dir jetzt nicht erklären ... Später wirst du alles verstehen. O Suewellyn, du willst doch sicher mitkommen!«

»Mit Ihnen? Aber natürlich, Miss Anabel.«

»Ich fürchtete ... schließlich warst du so lange hier ... ich dachte schon ... ach, nichts. Ich habe deine Kleider eingepackt Hast du sonst noch was?«

»Meine Bücher.«

»Gut ... gib sie her ...«

»Fahren wir in die Ferien?«

»Nein«, sagte sie, »du gehst für immerfort Du wirst jetzt bei mir leben und ... und ... Aber das erzähle ich dir später. Fürs erste möchte ich nur, daß wir den Zug erwischen.«

»Wohin fahren wir?«

»Das weiß ich selbst nicht genau. Aber weit fort. Suewellyn, hilf mir mal.«

Ich suchte meine wenigen Bücher zusammen und stopfte sie zu meinen Kleidern in die Reisetasche, die Miss Anabel mitgebracht hatte. Ich war ganz durcheinander. Insgeheim hatte ich immer gehofft, daß etwas Derartiges geschehen möge. Und nun, da es eingetreten war, fühlte ich mich dermaßen überrumpelt, daß ich überhaupt nichts begriff.

Miss Anabel schloß die Tasche und faßte nach meiner Hand.

Wir blickten uns noch einmal in dem Zimmer um, in dieser spärlich möblierten Kammer, die, solange ich zurückdenken konnte, mein Zuhause war. Glänzend gebohnertes Linoleum, Sprüche an den Wänden – alle mahnend und ein wenig drohend. Derjenige, der mich am tiefsten beeindruckt hatte, lautete: »Mit dem ersten Betrug in unserem Leben / ein unentwirrbares Netz wir weben.«

Daran sollte ich mich in den kommenden Jahren noch oft erinnern. Da stand das schmale, eiserne Bettgestell mit der Flickensteppdecke, die Tante Amelia gemacht hatte – jeder Flicken von akkuraten Hexenstichen eingerahmt, ein Sinnbild vorbildlichen Fleißes. »Du solltest anfangen, für eine Flickendecke zu sammeln«, hatte Tante Amelia einmal gesagt. Jetzt nicht, Tante Amelia! Ich gehe fort, für immer fort von Flickendecken und kalten Schlafzimmern und noch kälterer Fürsorge. Ich gehe mit Miss Anabel.

»Sagst du deinem Zimmer Lebewohl?« fragte Miss Anabel. Ich nickte.

»Tut es dir ein bißchen leid?« erkundigte sie sich besorgt.

»Nein«, erwiderte ich heftig.

Sie lachte das Lachen, das ich so gut kannte, aber es klang jetzt etwas anders, spitzer, ein wenig hysterisch.

»Komm«, sagte sie, »die Droschke wartet.«

Tante Amelia und Onkel William waren in der Diele.

»Ich muß schon sagen, Miss Anabel ...«, begann Tante Amelia.

»Ich weiß ... ich weiß ...«, erwiderte Miss Anabel. »Aber es muß sein. Ihr bekommt euer Geld ...«

Onkel William blickte hilflos auf sie.

»Ich möchte nur wissen«, fuhr Tante Amelia fort, »was die Leute dazu sagen werden.«

»Die klatschen doch schon seit Jahren«, gab Miss Anabel leichthin zurück. »Sollen sie doch.«

»Wer hier nicht lebt, hat gut reden«, murrte Tante Amelia.

»Laß gut sein, es war nicht so gemeint. Komm, Suewellyn, sonst verpassen wir noch den Zug.«

Ich blickte zu Tante Amelia auf. »Lebwohl, Suewellyn«, sagte sie, und ihre Lippen zuckten. Sie beugte sich herunter und drückte ihre Wange an meine; das war das Höchste an Zärtlichkeit dessen sie fähig war. »Bleib ein braves Mädchen ... wohin es dich auch treibt. Vergiß nicht, deine Bibel zu lesen, und vertraue auf den Herrn.«

»Ja, Tante Amelia.«

Dann war Onkel William an der Reihe. Er gab mir einen richtigen Kuß. »Bleib ein braves Mädchen«, wiederholte er und drückte mir die Hand.

Dann hastete Miss Anabel mit mir zur Droschke.

Wenn man über einen Zeitraum von vielen Jahren zurückblickt, ist es nicht immer leicht, sich an das zu erinnern, was man erlebte, als man noch nicht ganz sieben Jahre alt war. Ich nehme an, das Bild verfärbt sich ein wenig; vieles ist vergessen; doch ich weiß sicher, daß ich furchtbar aufgeregt war und es nicht bedauerte, die Holzapfelhütte zu verlassen. Nur um Matty tat es mir leid, und natürlich um Tom. Ich hätte gern noch einmal bei Matty am Feuer gesessen und ihr erzählt, wie ich Miss Anabel in der Hütte beim Packen meiner Sachen antraf, während die Droschke wartete, um uns zum Bahnhof zu bringen.

Ich erinnere mich, wie der Zug durch die Dunkelheit fuhr, wie dann und wann die Lichter einer Stadt auftauchten und wie anders die Räder diesmal sangen: Du gehst fort Du gehst fort. Du gehst fort mit Miss Anabel.

Miss Anabel hielt meine Hand ganz fest und fragte: »Bist du glücklich, Suewellyn?«

»O ja«, antwortete ich.

»Und es macht dir wirklich nichts aus, Tante Amelia und Onkel William zu verlassen?«

»Nein«, erwiderte ich. »Ich habʼ Matty liebgehabt und Tom auch ein bißchen, und Onkel William hatte ich gern.«

»Sie haben natürlich gut für dich gesorgt. Ich war ihnen sehr dankbar.«

Ich schwieg, denn ich verstand nichts.

»Gehen wir wieder in den Wald?« fragte ich. »Schauen wir uns das Schloß an?«

»Nein. Wir fahren weiter weg.«

»Nach London?« Miss Brent hatte oft von London gesprochen, und es war auf der Landkarte mit einem großen schwarzen Punkt markiert, so daß ich es auf der Stelle finden konnte.

»Nein, nein«, sagte Miss Anabel. »Viel weiter. Mit einem Schiff. Wir verlassen England.«

Mit einem Schiff! Ich war so aufgeregt, daß ich unwillkürlich auf dem Sitz auf und nieder hüpfte. Sie lachte und umarmte mich, und ich dachte, daß Tante Amelia jetzt sicher sagen würde, ich solle stillsitzen.

Wir stiegen aus und warteten auf dem Bahnsteig auf einen anderen Zug. Miss Anabel holte eine Tafel Schokolade aus ihrer Reisetasche. »Das lindert die Pein«, sagte sie und lachte. Obgleich ich nicht wußte, was sie meinte, lachte ich mit ihr und biß herzhaft in die köstliche Schokolade. Tante Amelia hatte in der Holzapfelhütte keine Schokolade geduldet. Anthony Felton hatte manchmal welche mit in die Schule gebracht und sich ein Vergnügen daraus gemacht, sie allein vor unserer Nase aufzuessen und uns zu sagen, wie gut sie schmeckte.

Es war Nacht, als wir den Zug verließen. Miss Anabel hatte mehrere Reisetaschen dabei, und zusammen mit meiner hatten wir eine ganze Menge Gepäck. Wir fuhren mit einer Droschke zu einem Hotel, wo wir ein großes, luxuriöses Doppelzimmer bekamen.

»Morgen müssen wir früh raus«, sagte Miss Anabel. »Kannst du früh aufstehen?«

Ich nickte selig. Man brachte uns etwas zu essen aufs Zimmer – heiße Suppe und köstlichen Schinken; und dann schliefen Miss Anabel und ich zusammen in dem großen Bett.

»Ist das nicht himmlisch, Suewellyn?« meinte sie. »So habe ich es mir immer gewünscht.«

Ich wollte nicht schlafen, weil ich mein Glück noch länger auskosten wollte; aber ich war so müde, daß mir bald die Augen zufielen. Als ich aufwachte, war ich allein im Bett. Ich entsann mich, wo ich war, und stieß einen erschreckten Schrei aus, weil ich glaubte, Miss Anabel hätte mich verlassen.

Doch dann sah ich sie am Fenster stehen. »Was ist denn, Suewellyn?« fragte sie.

»Ich dachte, Sie wären fort. Ich dachte, Sie hätten mich verlassen.«

»Nein«, sagte sie, »ich verlasse dich nie mehr. Komm her.«

Ich trat ans Fenster, von wo aus sich mir ein seltsamer Ausblick bot: Inmitten von lauter Gebäuden lag etwas, das wie ein großes Schiff aussah.

»Das ist der Hafen«, erklärte sie. »Siehst du das Schiff? Heute nachmittag legt es ab, und wir fahren mit.«

Das Abenteuer wurde von Minute zu Minute spannender, obwohl es doch nichts Schöneres geben konnte, als mit Miss Anabel zusammenzusein.

Wir frühstückten in unserem Zimmer. Dann brachte der Träger unsere Taschen hinunter, und wir fuhren in einer Droschke zum Hafen. Man nahm uns das Gepäck ab, und wir gingen die Gangway hinauf. Miss Anabel hielt meine Hand ganz fest und führte mich eine Treppe hinauf, durch einen langen Flur. Wir gelangten zu einer Tür, und sie klopfte an.

»Wer ist da?« fragte eine Stimme.

»Wir sindʼs«, rief Miss Anabel.

Die Tür ging auf, und da stand Joel!

Er riß Miss Anabel in seine Arme und drückte sie an sich. Dann hob er mich hoch und hielt mich fest. Mein Herz klopfte heftig. Ich mußte an den Wunschknochen im Wald denken.

»Ich hatte Angst du könntest nicht ...«, begann er.

»Aber natürlich konnte ich«, sagte Miss Anabel. »Und ich wäre auf keinen Fall ohne Suewellyn gekommen.«

»Nein, natürlich nicht«, erwiderte er.

»Jetzt sind wir in Sicherheit«, sagte sie, aber es kam ein wenig ängstlich heraus, wie ich fand.

»Erst in drei Stunden ... wenn wir ablegen.«

Sie nickte. »Dann bleiben wir solange hier in der Kabine.«

Er blickte auf mich herunter. »Was hältst du davon, Suewellyn?

Bißchen überraschend, was?«

Ich nickte, schaute mich in dem Raum um, den man, wie ich erfahren hatte, Kabine nannte. Er enthielt zwei Betten übereinander. Miss Anabel öffnete eine Tür, und ich blickte in einen anderen, sehr kleinen Raum.

»Da schläfst du, Suewellyn.«

»Schlafen wir denn auf dem Schiff?«

»O ja, wir schlafen eine ganze Weile hier.«

Ich war zu verwirrt, um zu begreifen. Dann ergriff Miss Anabel meine Hand, und wir setzten uns alle auf das untere Bett, ich in der Mitte.

»Ich möchte dir etwas sagen«, begann Miss Anabel. »Ich bin nämlich deine Mutter.«

Eine Woge des Glücks schlug über mir zusammen. Ich hatte eine Mutter, und diese Mutter war Miss Anabel! Es war das Wunderbarste, das mir widerfahren konnte – noch viel, viel schöner, als mit einem Schiff zu verreisen.

»Da ist noch etwas«, sagte Miss Anabel. Sie wartete.

Dann erklärte Joel: »Und ich bin dein Vater.«

Darauf herrschte in der Kabine tiefe Stille, bis Miss Anabel fragte: »Woran denkst du, Suewellyn?«

»Ich glaube, Hühnerknochen können wirklich zaubern. Meine Wünsche ... sie sind alle drei in Erfüllung gegangen.«

Kinder nehmen so vieles als selbstverständlich hin. Schon nach kurzer Zeit war mir, als hätte ich schon immer auf einem Schiff gelebt. Ich gewöhnte mich bald an das Rollen, Schlingern und Stampfen, das mir überhaupt nichts ausmachte, während andere Leute dabei seekrank wurden.

Als das Schiff einen Tag auf See war und England weit hinter uns lag, bemerkte ich eine Veränderung bei meinen Eltern. Ihre Spannung ließ nach. Sie wirkten glücklicher. Ich hatte das unbestimmte Gefühl, daß sie vor irgend etwas flohen. Aber nach einer Weile dachte ich nicht mehr daran.

Mir schien, als seien wir eine Ewigkeit auf dem Schiff. Ganz plötzlich war es Sommer geworden, zu einer Zeit, da es eigentlich gar nicht Sommer sein sollte – und es war noch dazu ein sehr heißer Sommer. Wir glitten auf dem ruhigen blauen Meer dahin, und ich war entweder mit Joel oder Anabel – oder mit beiden – an Deck; wir beobachteten Tümmler, Wale, Delphine und fliegende Fische, die ich bisher alle nur aus Bilderbüchern kannte.

Auch ich hatte einen neuen Namen. Ich hieß nicht mehr Suewellyn Campion. Ich war jetzt Suewellyn Mateland. Ich könne mich Suewellyn Campion Mateland nennen, schlug Anabel vor, dann würde ich den Namen nicht verlieren, den ich nahezu sieben Jahre getragen hatte.

Anabel war Mrs. Mateland. Ich solle nun nicht mehr Miss Anabel zu ihr sagen, meinte sie. Wir überlegten, wie ich sie nennen sollte. Mama klang zu förmlich, Mutter zu streng. Wir wollten uns vor Lachen ausschütten! Schließlich sagte sie: »Nenn mich doch einfach Anabel, ohne Miss.« Das schien die beste Lösung, und Joel nannte ich Vater Jo.

Ich fühlte mich wie im siebten Himmel, denn endlich hatte ich Vater und Mutter. Anabel liebte ich abgöttisch. Ich betete sie an. Und Joel? Ihm gegenüber empfand ich eine ungeheure Ehrfurcht. Er war so groß und sah so bedeutend aus. Ich glaubte, jedermann fürchtete ihn ein wenig ... sogar Anabel.

Ich zweifelte nicht daran, daß er der großartigste und stärkste Mann der Welt war. Er war wie ein Gott. Doch Anabel war keine Göttin. Sie war das lieblichste menschliche Wesen, das ich kannte, und nichts war meiner Liebe zu ihr vergleichbar.

Ich erfuhr, daß Joel Arzt war; denn als eine Mitreisende erkrankte, wurde er gerufen.

»Er hat schon vielen Menschen das Leben gerettet«, erzählte Anabel.

»Einmal, als ...«

Ich wartete, daß sie fortführe, doch sie schwieg, und da ich so in meine Gedanken vertieft war über die wunderbare Wendung, die mein Leben genommen hatte, fragte ich nicht weiter. Ich hatte nicht nur Eltern bekommen, sondern ausgerechnet diese beiden. Das war wahrhaftig ein Wunder, nachdem ich vorher jahrelang niemanden hatte. Die Reise ging weiter, und die Temperaturen kletterten höher. Ich konnte mir kaum noch vorstellen, wie der Ostwind über den Anger fegte und ich im Winter die dünne Eisschicht durchstoßen mußte, um an das Waschwasser in dem Krug in meinem Schlafzimmer zu gelangen.

Das lag nun alles weit zurück, und die Erinnerung daran wurde immer verschwommener, je mehr mein neues Leben das alte verdrängte.

Und eines Tages erreichten wir Sydney, eine schöne und aufregende Stadt. Ich stand zwischen meinen Eltern, als wir mit dem Schiff die Hafenmauern passierten. Mein Vater erzählte mir, daß vor vielen Jahren Gefangene von England hierhergebracht wurden. Die Küste glich der englischen – vielmehr der von Wales – und hieß deshalb Neusüdwales.

»Sydney hat immer noch den schönsten Hafen der Welt«, sagte mein Vater.

Eigentlich war alles, was auf mich einstürmte, zu viel, um von einem Kind in meinem Alter verarbeitet zu werden. Eine neue Familie, ein neues Land, ein neues Leben. Aber ich war jung, lebte einfach von einem Tag zum anderen, und jeden Morgen wachte ich aufgeregt und glücklich auf.

Ich lernte Sydney recht gut kennen. Wir blieben drei Monate hier. Wir mieteten ein Haus in Hafennähe, wo wir ein ziemlich zurückgezogenes Leben führten. Eine ungewisse Beklommenheit, die auf dem Schiff nicht zu spüren gewesen war, hatte sich über unsere kleine Familie gesenkt. Bei Anabel bemerkte ich sie häufiger als bei meinem Vater. Es war beinahe, als fürchtete sie sich vor allzuviel Glück.

Auch ich fühlte eine unbestimmte Furcht.

Einmal fragte ich Anabel: »Anabel, wenn man glücklich ist, kann dann jemand kommen und einem alles wieder wegnehmen?«

Sie sah mich betroffen an und begriff sogleich, daß sich ihre Angst auf mich übertragen hatte.

»Nichts kann uns auseinanderbringen«, sagte sie schließlich fest. Mein Vater verließ uns für eine, wie es schien, endlose Zeit. Jeden Tag warteten wir auf die Ankunft des Schiffes, das ihn zurückbringen würde. Ich wußte, daß Anabel traurig war, obwohl sie sich bemühte, es mich nicht merken zu lassen. Wir lebten zu zweit so weiter, wie wir es zu dritt getan hatten, doch es entging mir nicht, daß Anabel verändert war. Ständig blickte sie aufs Meer hinaus.

Und eines Tages kam er zurück.

Er war sehr vergnügt, umarmte Anabel stürmisch und hob mich hoch, während er sie immer noch mit einem Arm festhielt.

Jubelnd erzählte en »Wir gehen fort. Ich habe den richtigen Ort gefunden. Er wird euch gefallen. Dort können wir uns niederlassen ... weit draußen im Ozean. Da wirst du dich sicher fühlen, Anabel.«

»Sicher«, wiederholte sie. »Ja ... das ist es, was ich mir wünsche ... daß ich mich sicher fühlen kann. Wohin gehen wir? Wo ist es?«

»Ich zeigʼs euch auf der Landkarte.«

Wir steckten alle drei unsere Köpfe über die Landkarte. Australien sah wie eine etwas unförmig geknetete Teigplatte aus. Neuseeland wirkte wie zwei sich gegenseitig anfauchende Hunde. Und weit draußen im blauen Meer waren mehrere kleine schwarze Punkte. Auf einen davon deutete mein Vater.

»Ideal«, sagte er. »Abgeschieden ... bis auf eine Gruppe ähnlicher Inseln. Diese ist die größte. Dort ist nicht viel los. Die Bevölkerung ist freundlich und zugänglich. Der Kokosnußanbau ist dort noch sehr spärlich entwickelt, und die ganze Insel ist voller Palmen. Ich habe sie Palmeninsel genannt, obwohl sie schon einen anderen Namen hat: Vulkaninsel. Sie brauchen dort einen Arzt. Es gibt auf der ganzen Insel ... keine Schule ... nichts. Es ist ein Ort zum Untertauchen ... ein Ort, den man entwickeln, aus dem man etwas machen kann. Oh, Anabel, mir gefällt es dort. Und dir wird es auch gefallen.«

»Und Suewellyn?«

»An Suewellyn habe ich auch gedacht. Du kannst sie ein paar Jahre selbst unterrichten, und danach kann sie in Sydney zur Schule gehen. Es ist ja nicht allzu weit entfernt. Ab und zu legt ein Schiff an und holt Kopra, die getrockneten und zerkleinerten Kokosnußkerne, ab. Es ist genau der richtige Ort, Anabel. Das wußte ich gleich, als ich die Insel sah.«

»Was müssen wir mitnehmen?« fragte sie.

»Eine Menge Zeug. Aber wir haben etwa einen Monat Zeit. Das Schiff geht alle zwei Monate. Ich möchte, daß wir das nächste nehmen, das dorthin fährt. Bis dahin gibt es viel zu tun.«

Jetzt waren wir sehr beschäftigt. Wir kauften die unterschiedlichsten Sachen – Möbel, Kleider und Vorräte aller Art.

Mein Vater muß ein sehr reicher Mann sein, dachte ich bei mir. Tante Amelia sagte immer, sie muß jeden Pfennig zweimal herumdrehen, bevor sie ihn ausgibt. Wer den Pfennig nicht ehrt, ist des Talers nicht wert – das ist eines ihrer Lieblingssprichwörter. Spare in der Zeit, so hast du in der Not, lautete ein anderes. Jede Brotkruste mußte zu Brotpudding verarbeitet werden, und im Winter hatte ich oft Mühe, etwas für die hungernden Vögel zu finden.

Mein Vater sprach immerzu von der Insel. Palmen wuchsen dort im Überfluß, aber auch andere Bäume wie etwa der Affenbrotbaum, außerdem Bananen, Orangen und Zitronen.

Es stand dort auch ein Haus, das für den Mann gebaut worden war, der begonnen hatte, den Kokosnußanbau zu einem Wirtschaftszweig zu entwickeln. Mein Vater hatte es zu einem günstigen Preis erworben.

Eines Tages wurde dann unser gesamtes Gepäck auf das Schiff verfrachtet, und wir liefen aus. Ich weiß nicht mehr, zu welcher Zeit des Jahres das war. Es gab hier ja keine Jahreszeiten, wie ich sie kannte. Es war immer Sommer. Meinen ersten Eindruck von der Vulkaninsel werde ich nie vergessen. Zuerst gewahrte ich den massiven, spitzen Berg, der sich aus dem Meer zu erheben schien und schon lange, bevor wir die Insel erreichten, zu sehen war.

»Einen merkwürdigen Namen hat die Insel«, sagte mein Vater.

»Übersetzt bedeutet er etwa Grollender Riese.«

Wir drei standen Hand in Hand an Deck, begierig, einen ersten Blick auf unsere neue Heimat zu werfen. Und da war sie – ein mächtiger, spitzer Berg, der sich aus dem Meer erhob.

»Warum grollt er?« wollte ich wissen.

»Er hat schon immer gegrollt. Manchmal, wenn er richtig zornig wird, spuckt er sogar glühende Steine und, du wirst es kaum glauben, Felsbrocken aus.«

»Ist er wirklich ein Riese?« fragte ich. »Ich habʼ noch nie einen Riesen gesehen.«

»Nun, bald wirst du mit dem Grollenden Riesen Bekanntschaft machen; aber er ist kein richtiger Riese«, antwortete mein Vater. »Es ist ein Berg, weiter nichts. Aber er beherrscht die ganze Insel. Die Eingeborenen nennen sie die Insel des Grollenden Riesen, doch vor langer Zeit kamen Reisende hierher und tauften sie in Vulkaninsel um, und so heißt sie auch auf den Landkarten.«

Wir standen an Deck und schauten dem Berg entgegen, und bald nahm das Land rund um den Berg Gestalt an: überall gelber Sand und wogende Palmen.

»Wie das Paradies«, seufzte Anabel.

»Das wird es auch für uns«, erwiderte mein Vater.

Wir konnten nicht direkt an der Insel anlegen, sondern mußten etwa eine Meile entfernt vor Anker gehen. Am Ufer herrschte ein lebhaftes Treiben. Braunhäutige Menschen paddelten in leichten, schlanken Booten umher, die man, wie ich später erfuhr, Kanus nannte. Die Leute riefen und gestikulierten, und meistens lachten sie.

Unser Hab und Gut wurde auf mehrere Rettungsboote des Schiffes und auf die Kanus verfrachtet und an Land gebracht. Als alles drüben war, kamen wir an die Reihe.

Dann wurden die kleinen Boote hochgezogen, und das große Schiff lief wieder aus und ließ uns in unserer neuen Heimat auf der Vulkaninsel zurück.

Es gab viel zu tun und viel zu sehen. Ich konnte fast nicht glauben, daß dies alles Wirklichkeit war. Ich kam mir vor wie eine Gestalt aus einer Abenteuergeschichte.

Anabel bemerkte meine Verwirrung und sagte: »Eines Tages wirst du alles verstehen.«

»Erzählʼs mir jetzt«, bat ich.

Sie schüttelte den Kopf. »Das wäre heute zuviel für dich. Ich möchte warten, bis du größer bist. Aber ich fange jetzt an, alles aufzuschreiben, damit du es später lesen und begreifen kannst. Oh, Suewellyn, ich wünsche so sehr, daß du uns verstehst. Ich möchte nicht, daß du uns eines Tages etwas vorwirfst. Wir lieben dich. Du bist unser Kind, und weil es eben auf diese Weise geschah, lieben wir dich um so mehr.«

Sie sah meinen verwunderten Blick und küßte mich, drückte mich an sich und fuhr fort »Später werde ich dir alles erklären. Warum du hier bist ... warum wir alle hier sind ... und wie es dazu kam. Es blieb uns nichts anderes übrig. Du darfst weder deinem Vater Vorwürfe machen ... noch mir. Wir sind nicht wie Amelia und William.« Sie lachte leise. »Die leben ... gesichert. Ja, das ist das richtige Wort. Wir nicht. Das liegt nicht in unserer Natur. Ich habe das Gefühl, daß du genauso veranlagt bist.« Wieder lachte sie. »Nun, so sind wir eben. Und doch ... Suewellyn, wir werden uns hier niederlassen ... wir werden gern hier sein. Immer, wenn wir Heimweh haben, müssen wir daran denken ... daß wir zusammen sind und daß dies die einzige Möglichkeit für uns ist, beieinander zu bleiben.«

Ich schlang die Arme um ihren Hals. Mein Herz floß fast über vor Liebe zu ihr.

»Wir werden nie mehr auseinandergehen, nicht wahr?« fragte ich ängstlich.

»Niemals«, erwiderte sie heftig. »Nur der Tod kann uns scheiden. Aber wer mag schon an den Tod denken? Hier ist das Leben. Spürst du es, Suewellyn? Hier wimmelt es von Leben. Du brauchst nur einen Stein aufzuheben, und schon ...« Sie zog eine Grimasse. »Ich könnte ganz gut ohne Ameisen, Termiten und dergleichen auskommen ... Aber das hier ist das Leben ... und es ist unser Leben ... wir drei beisammen. Hab Geduld, mein geliebtes Kind. Sei glücklich. Laß uns jeden Tag neu erleben, ja?«

Ich nickte lebhaft, und wir wanderten zusammen zu den Palmen am Strand, wo sich das warme Wasser der Tropen am Ufer kräuselte.

Tanz der Masken

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