Читать книгу Das Haus der sieben Elstern - Victoria Holt - Страница 5

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Nach dem tragischen Ereignis war es ein großes Glück für mich, in Tante Sophies Obhut und damit in eine der faszinierendsten Gegenden Englands zu kommen.

Die Atmosphäre jener Landschaft nahm mich auf Anhieb gefangen. Tante Sophie meinte dazu: »Das kommt von den antiken Überresten. Man muß unwillkürlich an die Menschen denken, die vor unendlich vielen Jahren, als es noch keine Geschichtsschreibung gab, hier gelebt und ihre Spuren hinterlassen haben.«

Auf einem Hügel stand das sogenannte Weiße Pferd. Nur aus der Ferne konnte man es deutlich erkennen; es hatte etwas Mystisches. In der Hauptsache aber waren dort Steine zu sehen, deren Herkunft niemand zu erklären vermochte; es wurde jedoch vermutet, daß man sie lange vor Christi Geburt dorthingebracht hatte, um eine Kultstätte zu schaffen.

Das Dorf Harper’s Green glich zahlreichen anderen englischen Dörfern: Es gab eine alte normannische Kirche, die ständiger Renovierungsarbeiten bedurfte, einen Anger, einen Weiher, der von einer Reihe kleiner Tudorhäuser gesäumt war, und ein Gutshaus – in diesem Fall St. Aubyn’s Park, das Ende des sechzehnten Jahrhunderts errichtet worden war. Tante Sophies Haus war keineswegs groß, aber ungemein behaglich. In der kalten Jahreszeit waren die Kamine in den Zimmern ständig geheizt. Lily, die aus Cornwall stammte, erklärte mir, sie »halte die Kälte nicht aus«. Sie und Tante Sophie sammelten im Lauf des Jahres soviel Holz, wie sie konnten, so daß immer genügend Vorrat im Schuppen war.

Lily hatte schon in Cedar Hall gedient. Sie hatte ihre Heimat Cornwall verlassen, um sich dort zu verdingen, so wie Meg London verlassen hatte; sie kannte Meg natürlich gut. Mir tat es wohl, mit jemandem zu reden, der meine alte Freundin kannte.

»Sie ist mit Miß Caroline gegangen«, sagte Lily. »Ich hatte mehr Glück. Ich bin bei Miß Sophie geblieben.«

Ich hatte Meg geschrieben, aber sie tat sich etwas schwer mit der Feder, und bislang hatte ich kaum mehr von ihr gehört, als daß sie hoffe, ich sei wohlauf; sie habe es ganz gut getroffen mit dem Haus in Somerset. Das war tröstlich, und es freute mich, ihr mein Befinden in glühenden Farben schildern zu können. Sollte sie Schwierigkeiten haben, es selbst zu entziffern, hatte sie dort gewiß jemanden, um es sich vorlesen zu lassen.

In unserer Nachbarschaft gab es zwei vornehme Häuser. Das eine war St. Aubyn’s Park, das andere das anmutige Bell House, ein roter Ziegelbau.

»Es heißt Glockenhaus«, erklärte Tante Sophie, »weil über der Veranda eine Glocke ist, hoch oben, gleich unterm Dach. Das Haus muß irgendwann ein Versammlungsort gewesen sein. Die Dorians wohnen dort. Sie haben ein Mädchen bei sich aufgenommen, eine Waise, ungefähr in deinem Alter, die beide Eltern verloren hat. Sie ist die Tochter von Mrs. Dorians Schwester. Und dann haben wir natürlich die Familie in St. Aubyn’s Park.«

»Was sind das für Leute?«

»Oh, das sind die St. Aubyns ... sie heißen genauso wie das Haus. Die Familie lebt dort, seit es gebaut wurde. Du kannst es dir ausrechnen. Das Haus stammt vom Ende des sechzehnten Jahrhunderts, und Bell House entstand mehr als hundert Jahre später.«

»Wie groß ist die Familie St. Aubyn?«

»Sie haben zwei Kinder ... ach was, Kinder! Master Crispin würde es sich verbitten, als Kind bezeichnet zu werden. Er ist schon über zwanzig. Ein sehr arroganter junger Mann. Dann haben sie noch eine Tochter, Tamarisk. Ein ungewöhnlicher Name. Eine Tamariske ist ein Baum mit fedrigen Blättern. Das Mädchen ist etwa so alt wie du. Es kann durchaus sein, daß du zum Tee eingeladen wirst.«

»Wir waren nie zum Tee bei den Leuten, die Cedar Hall gekauft haben.«

»Das dürfte an deiner Mutter gelegen haben, Liebes.«

»Sie hat sie verachtet, weil sie Kaufleute waren.«

»Arme Caroline. Immer hat sie sich das Leben unnötig schwergemacht. Niemandem außer ihr selbst machte es etwas aus, daß sie nicht das hatte, was sie einst besaß. Die St. Aubyns sind die bedeutendste Familie im Dorf. Ich schätze, die Leute von Bell House kommen als nächste. Mich hat es nie bekümmert, daß ich in Cedar Hall aufgewachsen bin und jetzt in The Rowans wohne.«

Unser Haus hieß The Rowans, Die Eschen, weil zwei Ebereschen davorstanden, auf jeder Seite der Veranda eine.

Ich liebte es, wenn Tante Sophie vom Dorf erzählte, von Hochwürden Hetherington, der »mit einem Bein im Jenseits« stand und dessen Predigten sich endlos hinzogen, und Miß Hetherington, die nicht nur seinen Haushalt dirigierte, sondern auch alle übrigen Dorfbewohner.

»Eine sehr resolute Dame«, bemerkte Tante Sophie, »und unentbehrlich für den armen Pastor.«

Ich war fasziniert von den Steinen, die nicht weit von The Rowans gruppiert waren. Ich sah sie zum erstenmal, als ich mit Tante Sophie in Joe Jobbings’ Dogcart von Salisbury kam, wo wir Dinge eingekauft hatten, die in Harper’s Green nicht zu haben waren. »Können wir hier einen Augenblick anhalten, Joe?« bat Tante Sophie, und Joe tat ihr den Gefallen.

Als ich zwischen den uralten Gesteinsbrocken stand, fühlte ich mich von der Vergangenheit umschlossen. Ich war aufgeregt und ergriffen, und doch konnte ich mich eines bangen Gefühls nicht erwehren.

Tante Sophie erzählte mir ein wenig über die Steine. »Niemand weiß es ganz genau«, sagte sie. »Manche meinen, die Druiden hätten sie ungefähr siebzehnhundert Jahre vor Christus hierhergeschafft. Viel mehr weiß ich nicht, nur, daß es so etwas wie ein Tempel war. Damals haben die Menschen den Himmel angebetet. Die Steine sind nach dem Aufgang und dem Untergang der Sonne angeordnet.«

Ich umklammerte Tante Sophies Arm. Wie gut, daß sie bei mir war. Ich war sehr nachdenklich, als wir wieder in den Einspänner stiegen und Joe uns nach Hause kutschierte.

Ich war dankbar, daß ich in Harper’s Green sein durfte, zumal, wenn ich an die Tage in Middlemore im Schatten von Cedar Hall zurückdachte.

Wir besuchten meine Mutter regelmäßig. Sie schien sich wohl zu fühlen, zumal ihr nicht recht bewußt war, was mit ihr geschehen war und wo sie sich befand. Ich war jedesmal traurig, wenn ich sie verließ; und wenn ich Tante Sophie ansah, konnte ich nicht umhin zu denken, wenn meine Mutter wie sie gewesen wäre, dann hätten wir um vieles glücklicher sein können.

Und ich gewann Tante Sophie mit jedem Tag lieber.

Es galt zahlreiche praktische Dinge zu regeln – vor allem meine Schulbildung.

Tante Sophie spielte in Harper’s Green eine herausragende Rolle. Sie verfügte über unerschöpfliche Energien und liebte es, Anordnungen zu treffen. Sie hielt den Kirchenchor zusammen, organisierte das alljährliche Sommerfest mitsamt Basar, und wenngleich sie und Miß Hetherington nicht immer übereinstimmten, so waren sie doch beide zu klug, um nicht gegenseitig ihre Fähigkeiten anzuerkennen.

Gewiß, Tante Sophies kleines Haus war mit St. Aubyn’s Park oder Bell House nicht zu vergleichen, aber sie war in einem Herrschaftshaus aufgewachsen und mit den Verpflichtungen eines solchen vertraut, und sie besaß große Erfahrung in Dorfangelegenheiten. Ich erkannte bald, daß wir, obwohl weniger wohlhabend, denselben Rang in der Gesellschaft einnahmen wie der Dorfadel.

Ehe ich den Menschen begegnete, die künftig eine Rolle in meinem Leben spielen sollten, erfuhr ich durch Tante Sophie ein wenig über sie. Ich wußte, daß der alte Thomas, der seine Tage auf der Bank am Weiher verbrachte, Gärtner in St. Aubyn’s Park gewesen war, bevor ihm der Rheumatismus »in die Beine fuhr« und seiner Arbeit ein Ende machte. Er bewohnte nach wie vor sein Cottage auf dem Anwesen der St. Aubyns, und jedem, der sich zu ihm setzte, erzählte er, es stehe ihm »lebenslänglich« zur Verfügung, was sich mehr nach einer Gefängnisstrafe anhörte als nach der Wohltat, auf die er so stolz war. Ich wurde gewarnt, ich müsse Thomas rasch im Vorbeigehen guten Tag zurufen, wollte ich nicht in Erinnerungen an alte Zeiten hineingezogen werden. Ich hörte von dem armen alten Charlie, der vor langer Zeit den Verstand verloren hatte, und von Major Cummings, der in Indien zur Zeit des großen Aufstandes gedient hatte und seine Tage in Erinnerungen an dieses bedeutende Ereignis verbrachte.

Tante Sophie nannte die drei »die alten Männer vom Anger«. Wenn die Witterung es zuließ, fanden sie sich jeden Tag dort ein, und ihre Unterhaltung war, wie Tante Sophie sagte, ein »Potpourri« aus Thomas’ Cottage und Rheumatismus sowie dem indischen Aufstand, während der arme Charlie nickend und mit verzückter Aufmerksamkeit lauschend dabeisaß, als sei das alles ganz neu für ihn.

Dann gab es die Gestalten im Hintergrund – den Chor sozusagen. Mich interessierten diejenigen, die in meinem Alter waren, insbesondere die beiden Mädchen, das von St. Aubyn’s Park und das von Bell House.

Tante Sophie erklärte: »Tamarisk St. Aubyn ist ein rechter Wildfang. Kein Wunder. Mama und Papa St. Aubyn hatten genug mit sich selbst zu tun. Für den Nachwuchs blieb nicht viel Zeit. Freilich, sie hatten Kindermädchen, aber ein Kind braucht Zuwendung von der richtigen Seite.«

Sie sah mich beinahe wehmütig an. Sie wußte, daß meine Mutter so sehr von den verlorenen »besseren Tagen« besessen gewesen war, daß sie keine Zeit fand, mir angenehme Tage zu bereiten.

»Die beiden waren ein vergnügungssüchtiges Paar«, fuhr Tante Sophie fort. »Feste, Bälle, immer ausgelassen. Mal in London, mal im Ausland. Man mag sich vielleicht sagen, na und? Sie hatten doch immer Kindermädchen und Gouvernanten. Lily meint, so etwas sei unnatürlich.«

»Erzähl mir von den Kindern.«

»Crispin und Tamarisk. Tamarisk ist etwa so alt wie du, Crispin dürfte wohl zehn Jahre älter sein. Ich denke, als ihr Sohn geboren war, wollten sie keine weiteren Kinder mehr, obwohl die Kleinen, kaum daß sie auf der Welt waren, anderen überlassen werden konnten, die sich ihrer annahmen. Aber die Zeit vor ihrer Ankunft war sehr beschwerlich und ausgesprochen lästig für den Lebensstil, den Mrs. St. Aubyn liebte. Lange Zeit sah es so aus, als bliebe Crispin das einzige Kind. Er störte das muntere Leben der St. Aubyns nicht. Ich glaube, sie kannten ihn kaum. Man kann sich vorstellen, wie das so ablief – ab und an wurde er ihnen zur Besichtigung vorgefühlt. Er hatte zwei Kindermädchen, deren ein und alles er war. Er hat sie nicht vergessen, das muß ich ihm zugute halten. Er hat immer für die beiden gesorgt. Es sind nämlich zwei Schwestern. Die eine ist ein bißchen wunderlich geworden. Arme Flora. Sie sind immer zusammengewesen. Keine hat geheiratet. Sie haben ein Häuschen auf dem Anwesen der St. Aubyns. Crispin sorgt für ihr Wohl. Er hat seine Nannys nicht vergessen. Sein Vater ist gestorben. An seinem ausschweifenden Leben, sagen die Leute. Aber die reden ja immer, nicht wahr? Lange Nächte, zuviel unterwegs in London und im Ausland, zuviel Alkohol. Es war von allem zuviel für Jonathan St. Aubyn. Sie ist danach zusammengebrochen. Man erzählt sich, sie hänge seitdem zu sehr an der Rasche, aber die Leute reden ja alles mögliche. Ein Segen, daß Crispin in einem vernünftigen Alter war, als sein Vater starb. Er hat die Leitung des Gutes übernommen. Ich glaube, er ist in diesen Dingen sehr tüchtig, ein rechter Landjunker, der es einem verübelt, wenn man vergißt, wer der Herr ist. Die meisten Leute finden, er sei genau der Richtige für das Gut, aber es gibt auch welche, die kein gutes Haar an ihm lassen. Das ficht ihn aber nicht an, denn er hat eine sehr hohe Meinung von sich. Soweit der Sohn des Hauses, der jetzige Gutsherr.«

»Gibt es auch eine Gutsherrin?«

»Das sollte eigentlich Mrs. St. Aubyn sein, die Mutter. Aber sie verläßt das Haus kaum noch. Sie hat sich gehenlassen, als ihr Mann starb, und seither kränkelt sie. Sie waren einander sehr zugetan. Und ihr war an nichts anderem gelegen als an dem ausschweifenden Leben mit ihm. Crispin war verheiratet.«

»War?« fragte ich.

»Sie hat ihn verlassen. Die Leute sagen, das sei nicht verwunderlich.«

»Dann hat er also noch eine Frau?«

»Nein. Sie ging nach London, und bald darauf kam sie bei einem Eisenbahnunglück ums Leben.«

»Wie furchtbar!«

»Manche Leute sagen, das sei die gerechte Strafe für ihre Sünden gewesen. Der fromme alte Josiah Dorian in Bell House war davon überzeugt. Die Nachsichtigeren sagten, sie könnten verstehen, daß die Ärmste fortwollte von ihrem Ehemann.«

»Das hört sich sehr dramatisch an.«

»Je nachdem, wie man es betrachtet, Liebes. Bei uns gärt es wie in jedem Dorf. Alles sieht so ruhig und friedlich aus, aber wenn man unter der Oberfläche bohrt, stößt man auf etwas, was man nicht erwartet hat. Es ist, wie wenn man einen Stein umdreht, um nachzuschauen, was darunter ist. Hast du das schon mal gemacht? Versuche es eines Tages, dann wirst du sehen, was ich meine.«

»Dieser Crispin war also verheiratet.«

»Er ist recht jung für einen Witwer, aber ich vermute, das arme Ding hat das Leben mit ihm nicht ertragen. Vielleicht ist es eine Warnung für andere, es nicht zu versuchen. Obwohl ich sagen muß, ein herrschaftliches Anwesen wie St. Aubyn’s Park, und er der Herr über das Ganze, das könnte für manche eine Verlockung sein.«

»Erzähl mir von Tamarisk.«

»Darauf wollte ich gerade kommen. Sie muß etwa einen Monat älter sein als du ... vielleicht auch jünger, ich weiß es nicht genau. Sie war ein Nachzügler. Ich glaube nicht eine Minute, daß das muntere Paar noch ein Kind wollte. Man denke, Madam hätte für ein paar Monate auf ihr ausgelassenes Leben verzichten müssen. Wie dem auch sei, Tamarisk wurde geboren. Es muß mindestens zehn Jahre nach Crispins Geburt gewesen sein.«

»Sie waren sicher sehr verstimmt, daß sie auf die Welt kam.«

»Ach, als sie erst einmal da war, war es kein Problem mehr. Sie wurde einem Kindermädchen übergeben, dem niemand dreinredete. Kein Wunder, daß Tamarisk als eigensinnig und widerspenstig gilt. Genau wie ihr Bruder. Ich nehme an, die Kindermädchen haben ihnen immer alles durchgehen lassen. Es war gewiß eine bequeme Aufgabe, ohne jede Einmischung von oben. Die armen Kleinen. Ihre Eltern müssen fast Fremde für sie gewesen sein. Aber vielleicht sollte ich sagen, arme Mrs. St. Aubyn. Sie hat ihren Mann verloren, der ihr alles im Leben bedeutete. Maud Hetherington und ich besuchen sie abwechselnd. Sie empfängt uns nicht gern, und wir mögen sie eigentlich auch nicht besuchen. Aber Maud sagt, es muß sein, und Maud duldet keinen Widerspruch.«

»Werde ich die St. Aubyns kennenlernen?«

»Darauf komme ich noch. Doch zuerst zu den Dorians in Bell House. Ein hübsches Anwesen. Steht etwas abseits der Straße. Roter Ziegelbau. Sprossenfenster. Ein Jammer.«

»Wieso Jammer?«

»Ein Jammer, daß die Dorians dort wohnen. Es könnte ein fröhliches Haus sein. Ich würde gern dort leben. Ziemlich groß für mich, aber wir könnten es gebrauchen. Ich glaube, der alte Josiah Dorian kann nicht vergessen, daß es einmal ein Versammlungsort war. Höchstwahrscheinlich von den Quäkern. Es ist zwar keine richtige Kirche, aber so groß ist der Unterschied nicht. Ein Treffpunkt für Menschen, stelle ich mir vor, für die ein Lachen eine Fahrkarte zur Hölle bedeutet. Das merkt man dem Haus noch heute an. So etwas bleibt haften, und Josiah Dorian ist nicht der Mann, das zu ändern.«

»Sagtest du nicht etwas von einem Mädchen in meinem Alter?«

»Ja, Rachel. Sie ist gleich alt wie Tamarisk St. Aubyn und du. Das arme Kind! Sie hat vor einer Weile ihre Eltern verloren. Ein Jammer, daß sie zu Onkel und Tante gekommen ist.«

»Ich bin auch zu meiner Tante gekommen.«

Sie lachte. »Ja, Liebes, aber ich bin nicht Josiah Dorian.«

»Ich glaube, ich habe großes Glück gehabt.«

»Du bist ein Schatz. Wir bringen uns gegenseitig Glück. Mir tut die arme Rachel leid, weil sie bei denen leben muß. Da geht’s sehr knickerig zu, wenn du verstehst, was ich meine. Kein Dienstbote hält es lange bei ihnen aus. Hilda Dorian wiegt den Zucker ab und schließt den Tee ein, auf Anweisung ihres Mannes, heißt es. Josiah Dorian ist ein knauseriger Mensch. Rachel ist Hilda Dorians Nichte. So, nun weißt du Bescheid über die Leute, die du demnächst kennenlernen wirst. Und nun zu deiner Erziehung. Ich möchte, daß du eine Schule besuchst ... eine gute Schule.«

»Ist das nicht sehr teuer?«

»Wir kommen zurecht, wenn es sein muß. Aber das hat noch etwas Zeit. Sagen wir, in einem Jahr. Bis dahin ... Tamarisk hat eine Gouvernante, Miß Lloyd. Rachel wird von derselben Gouvernante unterrichtet. Sie geht jeden Tag nach St. Aubyn’s Park und nimmt an Tamarisks Schulstunden teil. Siehst du, worauf ich hinauswill?«

»Du meinst, daß ich ...?«

Tante Sophie nickte eifrig. »Ich habe noch nichts unternommen, aber ich sehe nicht, warum du nicht an ihrem Unterricht teilnehmen sollst. Ich glaube nicht, daß es Schwierigkeiten gibt. Ich muß die Zustimmung von Mrs. St. Aubyn einholen, aber sie kümmert sich kaum um solche Dinge, und ich rechne nicht mit Einwänden ihrerseits. Ich denke, ich brauche auch Josiah Dorians Zustimmung. Nun, wir werden sehen. Es würde auf alle Fälle unsere Probleme fürs erste lösen.«

Ich war ganz aufgeregt.

»Du müßtest jeden Morgen nach St. Aubyn’s Park gehen. Es wird bestimmt nett für dich, mit Gleichaltrigen zusammenzusein.«

Während wir so sprachen, steckte Lily den Kopf zur Tür herein. »Miß Hetherington ist da«, sagte sie.

»Führ sie herein«, rief Tante Sophie, dann wandte sie sich mir zu. »Jetzt wirst du die Tochter unseres Pastors kennenlernen – seine rechte Hand und gute Ratgeberin, in deren tüchtigen Händen das Geschick von Harper’s Green liegt.«

Sie trat ins Zimmer, und sie war genau so, wie Tante Sophie gesagt hatte. Ich spürte sogleich, daß eine gewisse Macht von ihr ausging. Sie war hochgewachsen, die Haare waren streng aus dem Gesicht gekämmt und von einem kleinen Hut gekrönt, der mit Vergißmeinnicht verziert war. Sie trug eine Bluse, deren mit Stäbchen gestützter Kragen ihr fast bis ans Kinn reichte und ihr ein strenges Aussehen verlieh; die braunen Augen hinter der Brille waren lebhaft. Sie hatte etwas vorstehende Zähne und strahlte eine unübersehbare Autorität aus.

Ihr Blick fiel sogleich auf mich. Ich trat vor sie hin. »Das ist also die Nichte«, sagte sie.

»Ja«, bestätigte Tante Sophie mit einem Lächeln.

»Willkommen, Kind«, sagte Miß Hetherington. »Du gehörst nun zu uns. Du wirst hier glücklich sein.« Es klang eher nach einem Befehl als nach einer Prophezeiung.

»Ja, ich weiß«, erwiderte ich.

Sie machte ein zufriedenes Gesicht und betrachtete mich ein paar Sekunden eindringlich. Sie versuchte wohl einzuschätzen, welche nützlichen Aufgaben man mir übertragen könnte.

Tante Sophie erklärte ihr, sie hoffe, ich könne an den Unterrichtsstunden der Mädchen in St. Aubyn’s Park teilnehmen.

»Selbstverständlich«, sagte Miß Hetherington. »Das ist sehr vernünftig. Miß Lloyd kann ebensogut drei wie zwei Schülerinnen unterrichten.«

»Ich muß noch die Zustimmung von Mrs. St. Aubyn und den Dorians einholen.«

»Natürlich müssen sie zustimmen.«

Ich fragte mich, welche Schritte sie unternehmen würde, wenn sie nicht zustimmten, aber ich hielt es für kaum wahrscheinlich, daß sie es wagen würden, ihr die Einwilligung zu verweigern.

»So, Sophie, es gibt da einige Angelegenheiten zu regeln ...«

Ich verließ das Zimmer.

Ein paar Tage später eröffnete mir Tante Sophie, daß das Thema Gouvernante geregelt sei. Ich würde Tamarisk und Rachel im Schulzimmer von St. Aubyn’s Park Gesellschaft leisten.

Praktisch, wie sie war, und da sie es für gut befand, daß ich meine Gefährtinnen ein wenig kennenlernte, bevor ich gemeinsam mit ihnen unterrichtet wurde, lud Tante Sophie die zwei Mädchen nach The Rowans zum Tee ein. Ich war deswegen ganz aufgeregt, und voller Neugierde und Spannung ging ich ins Wohnzimmer hinunter.

Rachel Grey kam als erste. Sie war ein schmächtiges, dunkelhaariges Mädchen mit großen braunen Augen. Wir musterten einander eingehend und gaben uns feierlich die Hand. Tante Sophie sah lächelnd zu. »Ihr werdet euch gut verstehen«, sagte sie. »Meine Nichte ist neu in Harper’s Green, Rachel. Du wirst ihr doch helfen, sich einzugewöhnen, Liebes, nicht wahr?«

Rachel lächelte zaghaft und erwiderte: »Gern, soweit ich es vermag.«

»So, nachdem ihr euch nun bekannt gemacht habt, wollen wir uns setzen und ein bißchen plaudern.«

»Du wohnst in Bell House«, begann ich. »Ich finde, es sieht bezaubernd aus.«

»Das Haus ist hübsch«, sagte Rachel, dann verstummte sie.

»Ein echter historischer Bau«, sagte Tante Sophie.

»Fast so alt wie St. Aubyn’s Park.«

»Oh, aber nicht so vornehm«, sagte Rachel.

»Es hat Charme. Tamarisk verspätet sich wohl.«

»Tamarisk kommt immer zu spät«, sagte Rachel.

»Hm«, brummte Tante Sophie.

»Sie ist sehr gespannt auf dich«, sagte Rachel zu mir.

»Sie wird bald hier sein.«

Und da kam sie auch schon. »Ah, da bist du ja, meine Liebe«, sagte Tante Sophie. »Wurdest du aufgehalten?«

»Ja«, sagte die soeben Angekommene. Sie war recht hübsch, mit sehr blonden Kraushaaren, blitzenden blauen Augen und einer kleinen Stupsnase, die ihr ein keckes Aussehen verlieh. Sie musterte mich mit unverhohlener Neugierde.

»So, du bist also die Nichte.«

»Und du bist Tamarisk St. Aubyn.«

»Von St. Aubyn’s Park«, ergänzte sie, während sie den Blick durch Tante Sophies geschmackvoll eingerichteten, aber nicht sehr großen Salon schweifen ließ, wodurch dieser irgendwie noch kleiner wirkte. »Du wirst also mit Rachel und mir unterrichtet«, sagte sie.

»Ja, und ich freue mich darauf.«

Sie verzog das Gesicht zu einem Flunsch – eine Gebärde, die mir später noch sehr vertraut werden sollte –, um anzudeuten, ich würde meine Meinung vielleicht ändern, wenn ich erst die Gouvernante kennenlernte. »Lallie ist eine Sklaventreiberin, stimmt’s, Rachel?« sagte sie.

Rachel antwortete nicht. Sie wirkte scheu und ein wenig von Tamarisk eingeschüchtert.

»Lallie?« fragte ich.

»Lallie Lloyd. Sie heißt Alice. Ich nenne sie Lallie.«

»Aber nicht, wenn sie es hören kann«, warf Rachel leise ein.

»Das würde ich mich durchaus trauen«, gab Tamarisk zurück.

»Ich fange Montag an«, eröffnete ich ihnen.

»Ihr drei könnt euch jetzt ein bißchen miteinander vertraut machen«, sagte Tante Sophie. »Ich sehe nach dem Tee.«

Dann war ich mit den beiden allein.

»Du wohnst jetzt wohl für immer hier, nehme ich an«, sagte Tamarisk.

»Meine Mutter ist krank. Sie ist in einem Pflegeheim in der Nähe. Deshalb bin ich hier.«

»Rachels Eltern sind tot. Deshalb ist sie hier bei ihrem Onkel und ihrer Tante.«

»Ja, ich weiß. In Bell House.«

»Das ist nicht so fein wie unser Haus«, erklärte mir Tamarisk. »Aber auch nicht übel.« Wieder musterte sie Tante Sophies Salon mit ihrem abschätzenden Blick.

»Später werden wir eine Internatsschule besuchen«, sagte Rachel zu mir. »Tamarisk und ich gehen zusammen.«

»Ich denke, ich werde auch ins Internat kommen.«

»Dann sind wir zu dritt.« Tamarisk kicherte. »Ich freu’ mich auf die Schule. Schade, daß wir noch zu jung sind.«

»Das wird sich natürlich ändern«, sagte ich, vielleicht etwas geziert, und Tamarisk brach in Lachen aus.

»Du hörst dich jetzt schon an wie Lallie«, sagte sie. »Erzähl uns von deinem früheren Zuhause.«

Ich erzählte, und sie hörten aufmerksam zu. Unterdessen kam Lily mit dem Tee herein, gefolgt von Tante Sophie. »Du wirst dich um unsere Gäste kümmern, Freddie«, sagte sie. »Ich überlasse das dir. Dann könnt ihr euch ohne die Hilfe Erwachsener näher kennenlernen.«

Ich kam mir sehr wichtig vor, als ich den Tee einschenkte und den Kuchen herumreichte.

»Das ist aber ein komischer Name«, sagte Tamarisk, »nicht wahr, Rachel? Freddie! Hört sich an wie ein Junge.«

»Eigentlich heiße ich ja Frederica.«

»Frederica!« Ihre Miene drückte Geringschätzung aus. »Mein Name ist ausgefallener. Arme Rachel, deiner ist gewöhnlich. Kommt eine Rachel nicht in der Bibel vor?«

»Ja«, erwiderte Rachel.

»Tamarisk gefällt mir am besten. Ich möchte nicht mit einem Jungennamen gerufen werden.«

»Niemand würde dich mit einem Jungen verwechseln«, versetzte ich, was bei Tamarisk einen Lachanfall hervorrief.

Danach unterhielten wir uns zwanglos, und ich hatte das Gefühl, daß sie mich akzeptierten. Sie berichteten mir von Lallies Marotten und wie leicht sie hinters Licht zu führen sei. Allerdings müsse man dabei vorsichtig zu Werke gehen. Sie erzählten mir, daß sie einen Liebsten gehabt habe, der in jungen Jahren an einer mysteriösen Krankheit gestorben sei, daß sie deswegen unverheiratet geblieben sei und Menschen wie Tamarisk, Rachel und mich unterrichten müsse, statt ein Heim mit einem liebenden Gatten und einer Familie zu haben.

Nach dieser Tee-Einladung verlor ich meine Beklemmungen. Ich hatte das Gefühl, mit Tamarisk von gleich zu gleich umgehen zu können, und vor Rachel hatte ich keine Scheu.

Am Montag darauf machte ich mich, voll verhaltener Zuversicht und gespannt auf Miß Alice Lloyd, auf den Weg nach St. Aubyn’s Park.

St. Aubyn’s Park war eine große Tudorvilla mit einer geschwungenen Zufahrt, die auf beiden Seiten von blühenden Sträuchern gesäumt war. Tante Sophie und ich gingen unter einem imposanten Pförtnerhaus hindurch und gelangten in einen mit Kopfsteinen gepflasterten Innenhof. Tante Sophie war mitgekommen, um mich »mit dem Anwesen bekannt zu machen«.

»Laß dich nicht von Tamarisk einschüchtern«, riet sie mir. »Sie wird es tun, wenn du ihr nur die geringste Chance gibst. Denke daran, du bist ebenso gut wie sie.«

Ich versprach ihr, mich nicht einschüchtern zu lassen.

Wir wurden von einem Stubenmädchen hereingeführt. »Miß Lloyd erwartet die junge Dame, Miß Cardingham«, sagte sie.

»Danke. Dann wollen wir hinaufgehen, hm?«

»Wenn Sie so gut sein möchten«, lautete die Antwort.

Die Eingangshalle war ein sehr hoher Raum. Sie enthielt einen langen Refektoriumstisch mit Stühlen, und an der Wand hing ein lebensgroßes Porträt von Königin Elisabeth, die in einer mit Edelsteinen besetzten Robe mit Halskrause sehr streng dreinblickte.

»Sie ist einmal hier gewesen«, flüsterte Tante Sophie. »Die St. Aubyns sind sehr stolz darauf.«

Sie ging voraus die Treppe hinauf; wir kamen an ein Podest und gelangten nach weiteren Treppen in eine Galerie, wo sich etliche Sofas, Sessel, ein Spinett und eine Harfe befanden. Ob Tamarisk diese Instrumente spielen konnte? fragte ich mich. Dann ging es weitere Treppen hinauf.

»Schulzimmer sind scheint’s immer ganz oben im Haus«, bemerkte Tante Sophie. »In Cedar Hall war es genauso.«

Endlich waren wir da. Tante Sophie klopfte an die Tür und ging hinein.

Dies war also das Schulzimmer, das mir noch sehr vertraut werden sollte. In der Mitte des großen, hohen Raumes stand ein langgestreckter Tisch, an dem Tamarisk und Rachel säßen. Hinter der halboffenen Tür eines großen Schrankes waren Bücher und Schiefertafeln zu sehen. An einer Wand war eine große Tafel. Es war eine typische Schulstube.

Eine Frau trat zu uns. Das mußte Miß Alice Lloyd sein. Sie war groß und hager, ich schätzte sie auf Anfang Vierzig. Ich bemerkte ihre Geduldsmiene, die wohl von den Bemühungen herrührte, junge Menschen wie Tamarisk St. Aubyn zu unterrichten. In diesen Ausdruck mischte sich Wehmut, und ich erinnerte mich, daß Tamarisk gesagt hatte, sie blicke auf eine Vergangenheit zurück, in der es einen Liebsten und Zukunftsträume gegeben hatte.

»Miß Lloyd, dies ist meine Nichte Freddie, vielmehr Frederica.«

Miß Lloyd lächelte mir zu, und das Lächeln verwandelte sie. Von diesem Augenblick an war sie mir sympathisch.

»Willkommen, Frederica«, sagte sie. »Du mußt mir alles über dich erzählen, damit ich sehe, wo du im Vergleich zu meinen anderen Schülerinnen stehst.«

»Du wirst bestimmt gut mitkommen«, sagte Tante Sophie. »Dann bis später, Liebes.« Sie verabschiedete sich.

Ich wurde aufgefordert, mich zu setzen, und Miß Lloyd stellte mir ein paar Fragen. Sie schien nicht unzufrieden mit meinen Kenntnissen. Dann begann der Unterricht.

Ich war von jeher lernbegierig gewesen; ich hatte viel gelesen, und ich merkte bald, daß ich gegenüber meinen Mitschülerinnen keineswegs im Rückstand war.

Um elf Uhr brachte ein Hausmädchen ein Tablett mit drei Gläsern Milch und drei Keksen. »Ich habe Ihnen Ihrs in Ihr Zimmer gestellt, Miß Lloyd«, sagte sie.

»Danke«, sagte Miß Lloyd. »So, ihr Mädchen, fünfzehn Minuten Pause.«

Tamarisk grinste ihr nach, als sie hinausging.

Die warme Milch schmeckte vorzüglich. Jede von uns nahm sich einen Keks.

»Für eine Weile erlöst«, bemerkte Tamarisk.

»Ist es jeden Tag so?« fragte ich.

Tamarisk nickte. »Um elf gibt’s Milch. Elf Uhr fünfzehn ist wieder Unterricht bis zwölf. Dann geht ihr zwei nach Hause, du und Rachel.«

Rachel nickte bestätigend.

»Ich nehme an, du findest unser Haus hochherrschaftlich«, sagte Tamarisk zu mir.

»Nicht so herrschaftlich wie das, in dem meine Mutter aufgewachsen ist«, versetzte ich. Eine kleine Übertreibung schien mir durchaus angebracht. »Cedar Hall. Vielleicht hast du davon gehört.«

Tamarisk gab mir mit einem Kopfschütteln zu verstehen, daß das Thema für sie erledigt sei. Aber davon wollte ich nichts wissen. Ich setzte zu einer Beschreibung an, wobei ich freilich phantasierte, denn ich hatte Cedar Hall nie von innen gesehen. Aber ich konnte das elegante Interieur beschreiben anhand dessen, was ich in St. Aubyn’s Park gesehen hatte, wobei ich darauf achtete, alles noch großartiger, noch eindrucksvoller erscheinen zu lassen.

Rachel lehnte sich aufmerksam lauschend zurück, und sie schien immer mehr auf ihrem Stuhl zusammenzusinken.

Mit einem Blick auf Rachel sagte Tamarisk: »Rachel weiß natürlich nicht, wovon wir reden.«

»Weiß ich doch«, sagte Rachel.

»Weißt du nicht. Du wohnst ja bloß in Bell House, und davor ... wo bist du eigentlich hergekommen? Du kannst doch gar nichts wissen von Häusern wie unserem, was meinst du, Fred?«

Ich sagte: »Man kann auch etwas davon verstehen, ohne unbedingt darin zu wohnen. Außerdem ist Rachel ja hier, oder?«

Rachel blickte dankbar drein, und in diesem Augenblick beschloß ich, sie zu beschützen. Sie war klein und hübsch, so zierlich, daß sie zerbrechlich wirkte. Ich mochte Rachel. Bei Tamarisk war ich mir nicht so sicher.

Wir prahlten weiter mit unseren Häusern, bis Miß Lloyd mit dem Hausmädchen hereinkam. Das Mädchen nahm das Tablett fort, und der Unterricht wurde fortgesetzt.

An diesem ersten Morgen hatten wir Erdkunde und englische Grammatik. Ich arbeitete gut mit, zur sichtlichen Freude von Miß Lloyd.

Es war ein recht befriedigender Vormittag, bis wir uns auf den Heimweg machten. Ich sollte in Rachels Begleitung nach The Rowans zurückkehren; Bell House und The Rowans lagen nicht weit voneinander entfernt.

Miß Lloyd lächelte mir wohlwollend zu und sagte, es freue sie, daß ich mich zu ihnen gesellt habe, und sie sei überzeugt, daß ich eine gute Schülerin sein würde. Dann verließ sie uns und ging nach nebenan in das kleine Zimmer, das sie als ihr »Studierzimmer« bezeichnete.

Tamarisk kam mit uns die Treppe hinunter. »Huh!« sagte sie und versetzte mir einen kleinen Schubs. »Ich sehe schon, du wirst Lallies Liebling. Einschmeicheln nenne ich das, Fred Hammond. ›Ich bin überzeugt, daß du eine gute Schülerin sein wirst‹«, äffte sie Miß Lloyd nach. »Ich kann Schmeichler nicht leiden«, setzte sie drohend hinzu.

»Ich war doch ganz normal«, sagte ich. »Ich kann Miß Lloyd gut leiden, und ich werde eine gute Schülerin sein, wenn ich will. Mindestens eine braucht sie doch.« Dann sah ich Rachel an, die zu beschützen ich mir vorgenommen hatte, und ich fügte hinzu: »Oder zwei.«

»Streberin!« sagte Tamarisk. »Ich kann Streber nicht ausstehen.«

»Ich bin zum Lernen hergekommen. Das wird von uns allen erwartet. Was hätte es sonst für einen Sinn, hierherzukommen?«

»Hör sie dir an!« sagte Tamarisk zu Rachel.

Rachel schlug die Augen nieder. Sie war zweifelsohne an Tamarisks Schikanen gewöhnt und meinte wohl, sie müsse sie hinnehmen als Preis dafür, daß sie an den Unterrichtsstunden teilnehmen durfte. Diese Teilnahme aber war nicht von Tamarisk ausgegangen. Sie war von den Erwachsenen verabredet worden, und ich war nicht gewillt, mich deswegen unterdrücken zu lassen.

Tamarisk beschloß, das Thema nicht weiter zu verfolgen. Ich sollte bald erfahren, daß ihre Anwandlungen von kurzer Dauer waren. Sie konnte in einem Augenblick beleidigend sein und einen im nächsten ihrer Freundschaft versichern. Ich spürte im tiefsten Innern, daß meine Teilnahme am Unterricht sie freute; und daß ich ihr die Stirn bot, amüsierte sie. Es war eine Abwechslung gegenüber Rachels duldsamer Unterwürfigkeit.

Als wir das breite Treppenhaus hinunterkamen, stand unten ein Mann, der gerade hinaufgehen wollte.

»Tag, Crispin«, sagte Tamarisk.

Crispin! Der Bruder! Der Gutsherr, der es nicht duldete, wenn die Menschen vergaßen, wer er war. Er war genau so, wie ich ihn mir nach Tante Sophies Beschreibung vorgestellt hatte. Groß, schlank, mit dunklen Haaren und hellgrauen, kühlen Augen, die recht verachtungsvoll dreinblickten. Er war im Reitdreß; offenbar war er soeben hereingekommen.

Er erwiderte den Gruß seiner Schwester mit einem Nicken und ließ den Blick kurz über Rachel und mich schweifen. Dann lief er an uns vorbei die Treppe hinauf.

Tamarisk sagte: »Das ist mein Bruder Crispin.«

»Ich weiß. Du hast seinen Namen gesagt.«

»Das hier gehört alles ihm«, sagte sie stolz mit einer weitschweifenden Gebärde.

»Er hat dich kaum beachtet.«

»Weil ihr hier seid.«

Dann hörte ich seine Stimme. Sie hatte einen klaren, vollen Klang. »Wer ist das häßliche Kind bei den andern?« sagte er oben zu jemandem. »Eine Neue, nehme ich an«, fügte er hinzu.

Tamarisk unterdrückte ein Lachen. Mir schoß das Blut ins Gesicht. Ich wußte, ich war nicht reizvoll wie Tamarisk oder die hübsche kleine Rachel, aber »das häßliche Kind«! Ich war bitterlich verletzt und gedemütigt.

»Also«, sagte Tamarisk, die wenig Achtung vor den Gefühlen anderer hatte, »er hat sich erkundigt, wer du bist. Dies ist schließlich sein Haus, nicht wahr, und du bist häßlich.«

Ich sagte: »Das ist mir egal. Miß Lloyd hat mich gern. Meine Tante hat mich lieb. Ist mir egal, was dein ungehobelter Bruder denkt.«

»Das war nicht ungehobelt. Es war die reine Wahrheit. ›Die Wahrheit währet ewiglich ...‹ oder so ähnlich. Du wirst es kennen, du bist ja Lallies Liebling.« Wir gingen zur Tür, und Tamarisk sagte ganz freundlich: »Auf Wiedersehen, bis morgen.«

Während ich mit Rachel die Zufahrt entlangging, dachte ich: Ich bin häßlich.

Das war mir nie zuvor in den Sinn gekommen, und nun mußte ich der nackten Wahrheit ins Auge sehen.

Rachel hängte sich bei mir ein. Sie hatte selbst Demütigungen erlitten und wußte, wie mir zumute war. Sie sagte nichts, und dafür war ich dankbar. Stumm ging ich neben ihr her und dachte dabei: Ich bin häßlich.

Wir gelangten bei Bell House an. Im Sonnenschein sah es einladend aus. Ein Mann trat aus dem Tor. Er war im mittleren Alter, mit drahtigen, rotblonden, an den Schläfen ergrauenden Haaren und einem kurzen, stachligen Bart. Seine Hand lag auf dem Tor, und ich sah, daß sie rotblond behaart war. Er hatte einen schmalen, verkniffenen Mund und kleine, helle Augen.

»Guten Tag, ihr zwei«, sagte er und sah mich dabei an. »Du mußt die Neue von The Rowans sein. Ihr wart zum Unterricht in St. Aubyn’s Park.«

»Das ist mein Onkel«, sagte Rachel leise.

»Guten Tag, Mr. Dorian«, sagte ich.

Er nickte, wobei er die Lippen mit der Zunge befeuchtete. Ich fühlte mich plötzlich so abgestoßen, daß ich mich selbst nicht verstand.

Auch mit Rachel war eine Veränderung vorgegangen.

Sie wirkte ein wenig furchtsam. Aber das war sie ja eigentlich immer.

»Gott segne dich«, sagte Mr. Dorian und sah mich unverwandt an.

Ich verabschiedete mich und ging nach The Rowans. Tante Sophie und Lily warteten auf mich. Das Mittagessen stand schon auf dem Tisch.

»Nun«, sagte Tante Sophie, »wie ist es dir ergangen?«

»Ganz gut.«

»Schön. Ich hab’s ja gesagt, daß es gutgehen wird, nicht wahr, Lily? Schätze, du hast die beiden andern in den Schatten gestellt.«

»Miß Lloyd findet, ich komme gut mit. Sie hat gesagt, sie freut sich, daß ich an ihrem Unterricht teilnehme.«

Die beiden wechselten Blicke. Dann sagte Lily: »Ich hab’ nicht den ganzen Vormittag am Herd geschwitzt und gekocht, damit das Essen kalt wird.«

Wir setzten uns an den Tisch, und sie trug das Mahl auf. Ich konnte nicht viel essen.

»So«, sagte Tante Sophie, »dann war es also ein aufregender Morgen.«

Ich war froh, als ich in mein Zimmer entfliehen konnte. Ich sah in den Spiegel. Häßlich! dachte ich. Jawohl, das war ich. Mein dichtes Haar war dunkel und glatt. Tamarisk hatte Locken und eine herrliche Haarfarbe, Rachels Haar war hübsch gewellt. Meine Wangen waren weich gerundet, aber blaß, meine Augen hellbraun mit langen, mattbraunen Wimpern. Ich hatte eine ziemlich große Nase und einen breiten Mund.

Während ich mein Gesicht betrachtete, kam Tante Sophie herein. Sie setzte sich aufs Bett. »Nun heraus mit der Sprache«, sagte sie. »Was ist geschehen? Ist es nicht gutgegangen?«

»Meinst du die Schulstunden?«

»Ich meine alles. Hat Tamarisk dich in irgendeiner Weise beleidigt? Das würde mich nicht wundern.«

»Ich werde schon mit ihr fertig.«

»Das kann ich mir denken. Sie ist ein aufgeblasener Luftballon. Wenn man die Luft herausläßt, schrumpft sie zusammen. Arme Tamarisk. Sie hat bestimmt keine schöne Kindheit gehabt. Nun, was war los?«

»Es war ... der Bruder.«

»Tamarisks Bruder Crispin! Was hat der damit zu tun?«

»Er war in der Halle, als wir herunterkamen.«

»Was hat er zu dir gesagt?«

»Zu mir hat er nichts gesagt ... aber über mich.«

Sie sah mich ungläubig an. Ich schilderte die flüchtige Begegnung und wie ich ihn hatte sagen hören: »Wer ist das häßliche Kind?«

»So ein Schuft!« sagte Tante Sophie. »Du darfst ihn überhaupt nicht beachten.«

»Aber es ist wahr. Er hat gesagt, ich bin häßlich.«

»Das bist du nicht. Du wirst doch nicht auf so einen Unsinn hören.«

»Es ist aber wahr. Ich bin nicht hübsch wie Tamarisk oder Rachel.«

»Du bist mehr als bloß hübsch, mein Kind. Du hast etwas Besonderes an dir. Du bist interessant. Das zählt. Ich bin froh, daß du meine Nichte bist. Die andern würde ich nicht wollen.«

»Wirklich?«

»Wirklich und wahrhaftig.«

»Meine Nase ist zu groß.«

»Mir gefällt eine Nase, die eine richtige Nase ist ... nicht bloß so ein Stöpsel, der wie aufgesteckt aussieht.«

Ich mußte unwillkürlich lachen, und sie fuhr fort: »Große Nasen haben Charakter.«

»Deine ist aber nicht sehr groß, Tante Sophie.«

»Du bist nach deinem Vater geraten. Er hatte eine ansehnliche Nase. Er war einer der stattlichsten Männer, die ich je gesehen habe. Du hast schöne Augen. Ausdrucksvoll. Strahlend. Sie zeigen deine Gefühle. Dafür sind Augen da – und zum Durchschauen natürlich. Nun gräme dich nicht mehr. Die Menschen sagen solche Sachen, ohne viel nachzudenken.

Er war in Eile und hat nicht richtig hingesehen. Er würde dasselbe über jeden gesagt haben. Wenn du häßlich bist, dann bin ich Napoleon Bonaparte!«

Da mußte ich lachen. Die gute Tante Sophie! Sie hatte mich wieder einmal gerettet.

Von Montag bis Freitag ging ich nun regelmäßig nach St. Aubyn’s Park. Ich holte Rachel am Tor von Bell House ab, und wir legten die restliche Wegstrecke zusammen zurück. Wir schlossen ein Bündnis gegen Tamarisk, und ich wurde gewissermaßen Rachels Beschützerin.

Aber ich konnte Crispin St. Aubyns Bemerkung nicht vergessen. Sie hatte eine Veränderung in mir bewirkt. Ich war nicht häßlich. Das hatte Tante Sophie mir deutlich gemacht. Ich hätte schönes, volles Haar, versicherte sie mir. Ich bürstete meine Haare, bis sie glänzten. Oft trug ich sie offen statt zu Zöpfen geflochten. Ich achtete darauf, daß meine Kleider nie zerknittert waren. Tamarisk fiel das auf. Sie sagte nichts, aber sie lächelte in sich hinein.

Sie war freundlich zu mir. Ich denke, manchmal versuchte sie, mich aus meinem Bündnis mit Rachel herauszulocken. Ich war darüber erfreut und geschmeichelt.

Crispin St. Aubyn sah ich nur selten, und dann auch nur von weitem. Er hatte offensichtlich nichts übrig für seine kleine Schwester und ihre Gefährtinnen.

Tante Sophie hatte gesagt, er sei ein »Schuft«, und ich fand, sie hatte recht. Er suchte jedermann mit seiner Bedeutsamkeit zu imponieren. Das sollte ihm bei Tante Sophie und mir nicht gelingen.

Als ich Rachel eines Tages abholen wollte, war sie nicht da. Ich war ein wenig zu früh gekommen. Das Tor von Bell House stand offen, und ich trat in den Vorgarten. Dort setzte ich mich auf eine Bank, um auf Rachel zu warten.

Ich betrachtete das Haus. Es war wirklich anmutig, reizvoller als St. Aubyn’s Park, fand ich. Es hätte ein fröhliches Haus sein sollen, ein behagliches Heim, aber das war es gewiß nicht. Tamarisk mochte von ihrer Familie vernachlässigt und von Kindermädchen großgezogen worden sein, aber vielleicht hatte selbst das etwas für sich. Rachel war nicht so unbefangen wie Tamarisk. Rachel war schüchtern ... sie fürchtete sich vor etwas. Ich hatte das Gefühl, daß sie vor etwas in diesem Haus Angst hatte.

Vielleicht ging meine Phantasie mit mir durch. Meg hatte gemeint, ich sei eine Träumerin, ich dächte mir Geschichten über Menschen aus, und die Hälfte davon enthalte kein Körnchen Wahrheit.

Ich hörte eine Stimme hinter mir. »Guten Morgen, liebes Kind.« Es war Mr. Dorian, Rachels Onkel. Ich verspürte sogleich den Drang, aufzuspringen und vor ihm davonzulaufen, so schnell ich konnte. Warum nur? Seine Stimme war sehr gütig.

»Wartest du auf Rachel?«

»Ja.« Ich stand auf, denn er machte Anstalten, sich zu mir zu setzen. Er legte seine Hand auf meinen Arm und zog mich auf die Bank zurück.

Er sah mich eindringlich an. »Gehst du gern zu Miß Lloyd in den Unterricht?«

»Ja.«

»Das ist gut ... das ist sehr gut.« Er saß ganz dicht neben mir.

»Wir müssen gehen«, sagte ich, »sonst kommen wir zu spät.« Und da sah ich zu meiner Erleichterung Rachel aus dem Haus kommen.

»Entschuldige, daß ich zu spät bin«, begann Rachel. Dann sah sie ihren Onkel.

»Du hast Frederica warten lassen«, sagte ihr Onkel mit mildem Vorwurf.

»Ja, es tut mir leid.«

»Komm jetzt«, drängte ich, denn ich wollte schleunigst fort von da.

»Seid schön brav, ihr zwei«, ermahnte Mr. Dorian uns. »Gott segne euch.«

Als wir gingen, sah er uns nach. Ich wußte nicht, warum, aber er machte mich schaudern.

Rachel sagte nichts, aber sie war ja oft schweigsam.

Irgendwie glaubte ich jedoch, daß sie wußte, wie mir zumute war.

Die Erinnerung an Mr. Dorian hielt eine Weile an. Es war mir unangenehm, deshalb suchte ich es zu vergessen, doch als ich Rachel das nächstemal abholte, ging ich nicht in den Garten, sondern wartete draußen.

Miß Lloyd und ich kamen sehr gut miteinander aus, und es war eine Genugtuung, daß ich ihre Lieblingsschülerin war. Sie sagte, ich sei aufgeschlossen. Wir liebten beide die Poesie, und oft interpretierten wir zusammen Gedichte, während Rachel verwundert zuhörte und Tamarisk gelangweilt dreinsah, als ginge es sie nichts an.

Miß Lloyd meinte, es wäre nett, wenn Rachel und ich zu Tamarisk zum Tee eingeladen würden. »Findest du nicht auch, Tamarisk?« fragte sie.

»Ich hab’ nichts dagegen«, sagte Tamarisk unfreundlich.

»Schön. Wir geben eine kleine Teegesellschaft.« Tante Sophie war erfreut, als ich es ihr erzählte. »Du solltest wirklich etwas mehr von dem Haus kennenlernen als nur das Schulzimmer«, bemerkte sie. »Es ist durchaus sehenswert. Ich bin froh, daß du dich so gut mit Miß Lloyd verstehst. Eine vernünftige Person. Es entgeht ihr nicht, wieviel klüger du bist als die andern.«

»Vielleicht bin ich nicht so hübsch wie sie, aber ich begreife schneller.«

»Unsinn. Ich meine, das erste ist Unsinn, und das zweite ist wahr. Kopf hoch, mein Liebes. Denkst du gut von dir selbst, dann tun es auch die andern.«

Ich ging zu der Teegesellschaft. Es gab leckere Sandwiches und köstlichen Kirschkuchen. Miß Lloyd sagte, als Gastgeberin müsse Tamarisk uns unterhalten.

Tamarisk machte die vertraute abschätzige Gebärde und benahm sich wie immer.

Ich erfuhr, daß Mrs. St. Aubyn an den Tagen, da sie sich wohl genug fühlte, Tamarisk um halb fünf zu sich kommen ließ. Miß Lloyd hatte Mrs. St. Aubyn gefragt, ob sie die Mädchen kennenlernen wolle, die am Unterricht ihrer Tochter teilnahmen. Zu Miß Lloyds Überraschung hatte sie zugestimmt, vorausgesetzt, daß sie sich zu der betreffenden Zeit wohl genug fühle und sie nicht zu lange blieben.

So lernte ich die Dame des Hauses kennen, die Mutter von Tamarisk und Crispin. Miß Lloyd führte uns hinein. Mrs. St. Aubyn trug ein Negligé aus mauvefarbenem Chiffon, das mit Spitzen und Bändern verziert war. Sie ruhte auf einem Sofa, neben dem ein Tischchen mit einer Schachtel Konfekt stand. Mrs. St. Aubyn war ziemlich füllig, aber sie sah sehr schön aus mit ihrem goldblonden Haar – dieselbe Farbe wie das von Tamarisk –, das sie hochgesteckt trug. Sie hatte einen Diamantanhänger um den Hals, und an ihren Fingern glitzerten ebenfalls Diamanten. Sie sah uns lustlos an, und ihr Blick fiel auf mich.

»Das ist Frederica, Mrs. St. Aubyn«, sagte Miß Lloyd, »Miß Cardinghams Nichte.«

Sie winkte mich näher zu sich heran. »Deine Mutter ist krank, wie ich höre«, sagte sie.

»Ja.«

Sie nickte. »Ich verstehe, ich verstehe nur zu gut. Sie ist in einem Pflegeheim, soviel ich weiß.«

Ich bestätigte es.

»Das ist traurig. Armes Kind. Du mußt mir davon erzählen.«

Ich wollte zu sprechen anheben, da fügte sie hinzu: »Eines Tages, wenn ich mich kräftiger fühle.«

Miß Lloyd legte mir die Hand auf die Schulter und zog mich fort, und mir wurde klar, daß Mrs. St. Aubyns Interesse mehr der Krankheit meiner Mutter gegolten hatte als mir.

Ich wollte fort aus dem Zimmer, und Miß Lloyd schien es ebenso zu ergehen, denn sie sagte: »Sie dürfen sich nicht überanstrengen, Mrs. St. Aubyn.« Und Mrs. St. Aubyn nickte ergeben.

»Und dies ist Rachel«, sagte Miß Lloyd. »Sie und Frederica sind gute Freundinnen.«

»Wie nett.«

»Es sind brave Mädchen. Tamarisk, verabschiede dich von deiner Mutter ... und ihr auch, Mädchen.« Wir gehorchten erleichtert.

War das eine seltsame Familie! Mrs. St. Aubyn hatte nicht die geringste Ähnlichkeit mit ihrem Sohn oder ihrer Tochter. Tante Sophie hatte gesagt, daß sie einst ein sehr ausschweifendes Leben geführt habe und ihr an nichts anderem gelegen gewesen sei, als dieses Leben zu genießen. Jetzt sah alles ganz anders aus. Aber ich stellte mir vor, daß sie es genoß, zu kränkeln und in Chiffon und Spitze gehüllt auf dem Sofa zu liegen.

Was gab es doch für merkwürdige Menschen.

Tamarisk und ich verstanden uns eigentlich ganz gut, wenngleich auf streitlustige Weise. Sie versuchte stets, sich mir überlegen zu zeigen, und wenn ich ehrlich sein soll, es machte mir Spaß. Sie hatte mehr Achtung vor mir als vor Rachel, und wenn ich ihr widersprach, was ich häufig tat, genoß sie unsere Wortgefechte. Sie empfand für Rachel eine leichte Verachtung und gab vor, auch mich zu verachten, doch ich glaube, daß sie mich in gewisser Weise bewunderte.

Manchmal gingen wir nachmittags auf dem ausgedehnten Gelände von St. Aubyn’s Park spazieren. Tamarisk liebte es, ihr Wissen vorzuführen und uns auf Sehenswürdigkeiten hinzuweisen. So kam es, daß ich Flora und Lucy Lane besuchte. Sie wohnten in einem Cottage nicht weit vom Gutshaus entfernt. Beide seien früher Crispins Kindermädchen gewesen, erklärte Tamarisk.

»Die Leute hängen immer an ihren alten Nannys«, fuhr sie fort, »vor allem wenn ihre Eltern sich nicht viel um sie kümmern. Ich hab’ die alte Nanny Compton ziemlich gern, obwohl sie andauernd so ein Getue macht und sagt: ›Tu dies nicht, tu das nicht.‹ Crispin hält große Stücke auf Lucy Lane. Zuerst war Flora sein Kindermädchen, und dann ist sie so komisch geworden. Dann hat Lucy sie abgelöst. Er sorgt nun für beide und sieht zu, daß es ihnen an nichts fehlt. Das hättest du von Crispin nicht erwartet, oder?«

»Ich weiß nicht«, sagte ich. »Ich kenne ihn ja kaum.« Meine Stimme klang kalt wie jedesmal, wenn ich seinen Namen aussprach, was freilich nicht oft der Fall war. Seine Stimme aber, die gefragt hatte, wer das häßliche Kind sei, war mir unvergeßlich.

»Die zwei wohnen in einem Häuschen auf unserem Grund. Lucy wäre vielleicht mein Kindermädchen geworden, aber sie hat uns verlassen, bevor ich auf die Welt kam, um sich um ihre Schwester zu kümmern, weil ihre Mutter gestorben war. Flora braucht Pflege. Sie macht seltsame Sachen.«

»Was für Sachen?«

»Sie trägt eine Puppe mit sich herum und denkt, sie sei ein Baby. Sie singt ihr vor. Ich habe sie gehört. Sie sitzt im Garten hinter dem Häuschen bei dem alten Maulbeerstrauch und spricht mit der Puppe. Lucy hat es nicht gern, wenn die Leute mit Flora reden. Sie meint, es rege sie auf. Wir könnten bei ihnen vorbeischauen, dann kannst du sie sehen.«

»Wäre ihnen das recht?«

»Was spielt das für eine Rolle? Sie sind auf unserem Grund und Boden, oder?«

»Es ist ihr Heim, das dein Bruder ihnen großzügig zur Verfügung gestellt hat, und vielleicht sollte man ihr Privatleben respektieren.«

»Ho, ho, ho«, höhnte Tamarisk. »Ich gehe trotzdem hin.«

Und ich konnte nicht widerstehen, mitzugehen.

Das Häuschen stand für sich allein. Es hatte einen kleinen Vorgarten. Tamarisk öffnete das Törchen und ging den Pfad entlang. Ich folgte ihr.

»Ist jemand zu Hause?« rief sie.

Eine Frau kam an die Tür. Ich wußte sogleich, daß sie Miß Lucy Lane war. Sie hatte graumeliertes Haar und einen bekümmerten Gesichtsausdruck. Sie war adrett gekleidet, graue Bluse und grauer Rock.

»Ich habe Frederica Hammond mitgebracht«, sagte Tamarisk. »Wir wollen euch besuchen.«

»Wie nett«, sagte Lucy Lane. »Kommen Sie herein.« Wir traten durch eine kleine Diele in ein kleines, reinliches, auf Hochglanz poliertes Wohnzimmer.

»Sie sind also die neue Schülerin im Gutshaus«, sagte Miß Lucy Lane zu mir. »Miß Cardinghams Nichte.«

»Ja«, erwiderte ich.

»Und Sie nehmen an Miß Tamarisks Unterricht teil. Wie nett.« Wir setzten uns.

»Und wie geht es Flora heute?« fragte Tamarisk. Man merkte ihr ihre Enttäuschung an, weil Flora nicht zugegen war und ich sie nicht sehen konnte. »Sie ist in ihrem Zimmer. Ich möchte sie nicht stören. Und wie gefällt Ihnen Harper’s Green, Miß?«

»Es ist sehr hübsch«, gab ich zur Antwort.

»Und Ihre arme Mama, sie ist krank, soviel ich weiß.«

Ich bestätigte es und rechnete halbwegs damit, daß sie »wie nett« sagen würde. Aber sie sagte erstaunlicherweise: »Oh ... das Leben kann hart sein.«

Tamarisk begann sich zu langweilen. »Ob wir Flora wohl guten Tag sagen können?« meinte sie.

Lucy Lane machte ein bestürztes Gesicht. Ich war sicher, sie wollte gerade sagen, das sei nicht möglich, als zu ihrem Entsetzen und zu Tamarisks Freude die Tür aufging und eine Frau auf der Schwelle stand.

Sie hatte eine entfernte Ähnlichkeit mit Lucy, und ich wußte, es mußte Flora sein; aber während Lucys Miene äußerste Wachsamkeit zeigte, machten Floras große, wirre Augen den Eindruck, daß sie etwas zu sehen suchte, das außerhalb ihres Gesichtsfeldes lag. Sie trug eine Puppe auf dem Arm. Es hatte etwas ungemein Verstörendes, diese Frau mittleren Alters mit einer Puppe zu sehen.

»Guten Tag, Flora«, sagte Tamarisk. »Ich bin gekommen, um Sie zu besuchen, und dies ist Fred Hammond. Sie ist ein Mädchen, aber bei dem Namen kommt man nicht gleich darauf.« Sie kicherte. Ich sagte: »Mein Name ist Frederica. Frederica Hammond.«

Flora nickte und sah von Tamarisk zu mir.

»Fred wird bei uns zu Hause unterrichtet«, fuhr Tamarisk fort.

»Möchtest du gern in dein Zimmer gehen, Flora?« fragte Lucy fürsorglich.

Flora schüttelte den Kopf. Sie sah auf die Puppe. »Er ist heute quengelig«, sagte sie. »Er zahnt.«

»Es ist ein kleiner Junge, ja?« fragte Tamarisk.

Flora setzte sich und legte die Puppe auf ihren Schoß. Sie blickte zärtlich zu ihr herunter.

»Wird es nicht Zeit für sein Schläfchen?« fragte Lucy. »Komm, laß uns nach oben gehen. Entschuldigen Sie mich«, sagte sie zu uns.

Und damit nahm sie Floras Arm und führte sie hinaus.

Tamarisk sah mich an und tippte sich an die Stirn. »Ich hab’s dir gesagt«, flüsterte sie. »Sie ist plem-plem. Lucy versucht sich einzureden, daß es nicht so schlimm ist, aber sie hat wirklich den Verstand verloren.«

»Die Ärmste!« sagte ich. »Es muß für sie beide traurig sein. Ich finde, wir sollten gehen. Sie wollen uns nicht hier haben. Wir hätten nicht herkommen sollen.«

»Na gut«, sagte Tamarisk. »Ich wollte ja bloß, daß du Flora siehst.«

»Wir werden warten müssen, bis Lucy zurückkommt, dann gehen wir.«

Gesagt, getan. Als wir fortgingen, fragte Tamarisk: »Nun, was meinst du?«

»Es ist sehr traurig. Die ältere Schwester – Lucy ist doch die Ältere?« Tamarisk nickte. »Sie ist wirklich um die Verrückte besorgt. Wie furchtbar, zu glauben, daß die Puppe ein Baby sei.«

»Sie glaubt, es sei Crispin. Crispin als Baby!«

»Wieso ist sie so geworden?«

»Darüber habe ich nie nachgedacht. Es ist eine Ewigkeit her, seit Crispin ein Baby war, und als Flora so komisch wurde, hat Lucy ihn übernommen – und da war er immer noch ein Baby. Als er neun war, kam er ins Internat. Er hatte die alte Lucy immer gern. Ihr Vater war Gärtner bei uns, deswegen hatten sie das Cottage. Er starb, bevor Lucy hierher zurückkam. Vorher hatte sie irgendwo im Norden gearbeitet. Die Mutter blieb nach dem Tod des Vaters in dem Häuschen, und Lucy kam zurück. So habe ich es gehört. Und kurz darauf ist Flora plemplem geworden, und Lucy wurde Crispins Kindermädchen.«

»Es ist lieb von Crispin, daß er sie in dem Cottage wohnen läßt, obwohl keine von ihnen mehr bei euch arbeitet.«

»Er hat Lucy gern. Die meisten Menschen hängen an ihren ehemaligen Kindermädchen.«

Auf dem Rückweg mußte ich immerzu an die seltsame Frau und ihre Puppe denken, die sie für das Baby Crispin hielt. Ich konnte mir diesen arroganten jungen Mann schwerlich als Baby vorstellen.

Das Haus der sieben Elstern

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